Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN
Wichtiger Überblick über das, was einem Land unter neoliberaler Herrschaft so alles passieren kann:
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Wer will das hier auch so haben ?
Ansätze davon sind hier schon lange zu erkennen. Aber auch in Großbritannien läuft es ähnlich – wenm nutzt es ? Und ist den Ukrainern, die nach der EU gieren, das bewusst ?
Auszüge:
von: Helen Kelly
In Europa gibt es wieder Forderungen nach einer stärkeren Liberalisierung der Wirtschaft, z.B. in Form einer Deregulierung der Arbeitsmärkte oder einer Privatisierung staatlicher Aufgaben.
Welche Folgen dies für die Beschäftigten haben könnte, lässt sich abschätzen, wenn man einen Blick auf die Folgen ähnlicher Politiken in Neuseeland wirft. Hierzu zählte unter anderem ein in den 1980er Jahren gestartetes umfassendes Programm, das in diesem Jahr seinen Höhepunkt in der Privatisierung der meisten Stromerzeuger fand.
Von der Weltbank wird Neuseeland seit diesen Maßnahmen regelmäßig als eine der „unternehmensfreundlichste Ökonomien“ der Welt eingestuft.
Die Auswirkungen der Arbeitsmarktderegulierung sind ein Teil der über die letzten Jahrzehnte voran schreitenden und umfassenden Liberalisierungspolitik.
Andere Beispiele betreffen die Deregulierung der Bauindustrie in den 1990er Jahren. Danach bestanden für die Bauunternehmen nur noch wenige Restriktionen hinsichtlich des für Neubauten verwendeten Baumaterials.
Als Resultat dessen müssen nun Tausende Häuser aufgrund von Feuchtigkeitsschäden grundsaniert werden. Die Kosten hierfür werden auf über 11 Mrd. neuseeländische Dollar geschätzt (1 € = 1,58 NZD).
Von 1994 an wurde die Stromindustrie privatisiert und dereguliert und alleine in den letzten Jahren sind die Strompreise für die Verbraucher um 22 Prozent gestiegen.
Grundlegende Versorgungsleistungen, wie das Luftverkehrs- und Eisenbahnwesen, wurden privatisiert und ausgeschlachtet.
Schließlich musste der Staat die Unternehmen zurückkaufen und sanieren, um zu retten, was noch zu retten war.
Der Arbeitsmarkt
Bis in die 1980er Jahre besaß Neuseeland ein System industrieller Beziehungen, das auf Branchenverhandlungen sowie starken Industriegewerkschaften und Arbeitgeberverbänden basierte. Zudem genoss das Tarifverhandlungssystem einen starken staatlichen Rückhalt.
Dieses System wurde durch eine Reihe von Maßnahmen aufgelöst, insbesondere im Jahr 1991, als praktisch alle Beschäftigungsverhältnisse quasi ‚über Nacht’ dereguliert wurden.
Das Ergebnis war, dass nahezu 80% aller Beschäftigten in ein System direkter, individueller Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wechselten. Das bewirkte einen dramatischen Niedergang der Mitgliedszahlen der Gewerkschaften und der Kollektivverhandlungen.
Während dieser Zeit beruhten die meisten Beschäftigungsverhältnisse auf individuellen Verträgen ohne jeglichen Einfluss der Gewerkschaften. Es gab keine gesetzlichen Mittel zur Anerkennung von Gewerkschaften und auch das Streikrecht war hochgradig reguliert.
Im Jahr 2000 wurde zwar ein neues Gesetz erlassen, das auf vertrauensvolle Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern abstellte, in der Realität blieben Kollektivverhandlungen für die meisten Beschäftigten jedoch weiterhin nur auf Unternehmensebene möglich.
Das Gesetz reichte nicht aus, um das Kollektivverhandlungssystem wieder herzustellen und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften liegen im Privatsektor heute auf einem Rekordtief von nur 12%.
Kollektivverhandlungen sind der einzige Weg, der den Beschäftigten zur Verfügung steht, um auf die Einkommensverteilung Einfluss zu nehmen.
Im letzten Jahr erhielten 46% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Neuseelands überhaupt keinen Lohnzuwachs. Nahezu ein Drittel der Beschäftigten erhält gerade oder annähernd den Mindestlohn und zwei Drittel verdienen weniger als den Durchschnittslohn. Die Lohnquote ist im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte dramatisch gefallen und ist nun eine der niedrigsten in der OECD, lediglich unterboten von Mexiko, der Türkei und der Slowakei. Zugleich wächst die Ungleichheit schneller als in den meisten anderen OECD-Ländern. Über 265.000 Kinder leben unterhalb der Armutsgrenze, wobei eines von drei dieser Kinder in einem Haushalt mit einer vollzeitbeschäftigten Person lebt.
Das ist aber noch nicht alles. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts hatte dramatische Auswirkungen auf die Arbeitssicherheit. Die Rate der Arbeitsunfälle ist in Neuseeland sechsmal so hoch wie in Großbritannien, denn mit dem Arbeitsrecht wurde zugleich auch der Arbeits- und Gesundheitsschutz dereguliert.
Zusammen mit dem Mangel an gewerkschaftlicher Vertretung und unzureichenden Arbeiterrechten hatte diese Entwicklung verheerende Folgen. So gab es eine Reihe aufsehenerregender Unfälle. Im Jahr 2010 kam es in einem Minenbergwerk nach nur einem Jahr im Betrieb zu mehreren Explosionen, bei denen 29 Bergleute ums Leben kamen.
Die Bergbausicherheit war in den 1980er Jahren mit dem Abbau von Regulierungen für den Bergbau und der Einschränkung des Inspektorats auf nur einen Bergbauinspektor pro Mine dereguliert worden.
Obwohl von den Bergleuten über 200 Beinahe-Unfälle und Sicherheitsvermerke gemeldet worden waren, wurde nichts unternommen, um die Sicherheit der Mine zu gewährleisten. Als sich die Explosion ereignete, existierte weder ein zweiter Ausgang, über den die Bergleute hätten entkommen können, noch gab es Sicherheitsbereiche mit Frischluft, in die sie sich hätten retten können.
Es gab auch kein angemessenes Gasfrühwarnsystem, obwohl die Mine allgemein als gashaltig galt. Von den verantwortlichen Minenbetreibern wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.
Beispiel Forstwirtschaft
Die Forstwirtschaft Neuseelands stellt ein weiteres, allerdings weitaus weniger offenkundiges Beispiel dafür dar, wie sich die Deregulierung auf die Beschäftigten auswirkt.
Nach der Deregulierung in den 1980er Jahren wurden die vormals staatlichen Wälder privatisiert und dann weiterverkauft. Infolge der damit verbundenen Fragmentierung wird diese Industrie – die hinsichtlich der Exporteinkünfte Neuseelands an dritter Stelle liegt – nun von neun großen und überwiegend in ausländischem Besitz befindlichen Investmentgesellschaften kontrolliert.
Darunter beschäftigen über 300 kleine Vertragsunternehmen die rund 6.500 Holzarbeiter. Die Deregulierung hatte zur Folge, dass diejenigen, die die Arbeit machen, nun zwei Subebenen von denen entfernt sind, die von der geleisteten Arbeit profitieren. Die beschäftigenden Vertragsfirmen wiederum werden in einem Preiswettbewerb gegeneinander ausgespielt. Die Konsequenz sind sehr schlechte Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.
Die Holzarbeiter hatten eine gewerkschaftliche Vertretung, die allerdings im Zuge der Deregulierung und Privatisierung verschwand. In einer solchen Industrie und im Kontext eines Beschäftigungssystems, das auf unternehmensbezogenen Verhandlungen basiert, wurde die Aufrechterhaltung einer Industriegewerkschaft unmöglich. Die Gewerkschaft brach dann auch zwangsläufig zusammen und existiert nun nicht mehr.
Der Lohnanteil in der Forstindustrie ging währenddessen von 70% in den späten 1980er Jahren auf gerade einmal 19% heute zurück. Forstarbeiter haben nun extrem lange Arbeitszeiten bei sehr niedrigen Löhnen.
Die anschaulichste Art zu beschreiben, wie das Leben eines Forstarbeiters heutzutage aussieht, ist anhand der Geschichte eines der zehn Arbeiter, die im letzten Jahr in unseren Wäldern ums Leben kamen. Charles Finlay arbeitete 27 Jahre im Wald. Am Abend bevor er ums Leben kam, war er um 18 Uhr nach Hause gekommen. Um 3 Uhr morgens stand er wieder auf, um gegen 4 Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Um 5:30 Uhr, noch bevor es hell war, war er tot. Es war mitten im Winter an einem dunklen Ort zu Beginn seines 11-Stunden-Tages. Charles verdiente nach all den Jahren 16 Dollar (9,90€) die Stunde. Seine Geschichte ist kein Einzelfall. Charles hinterlässt Zwillinge im Alter von 10 Jahren und einen 22 Jahre alten Sohn.
Forstarbeiter arbeiten unter extremem Produktionsdruck. In der Regel werden sie weder für die Fahrtzeiten (oft benötigen sie über eine Stunde pro Fahrt zur Arbeit) noch für schlechtwetterbedingte Arbeitsausfälle entlohnt.
Für die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter in Neuseeland gibt es – solange keine Tarifvereinbarung besteht – keine Begrenzung der maximalen Arbeitszeit. Die Arbeit wird pauschal und nicht nach geleisteten Stunden entlohnt.
Es besteht ein deutlicher Anreiz, Arbeitskräfte mit sehr langen Arbeitszeiten und sehr geringen Löhnen zu beschäftigen.
Neuseeland verfügt über eines der weltweit führenden Systeme der Unfallentschädigung für Beschäftigte. Im Gegenzug zu einer verschuldensunabhängigen Versicherung, die über den ganzen Tag sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause besteht, gibt es in Neuseeland kein Recht, wegen eines Unfalls zu klagen.
Solange die Beschäftigten keinen Anlass zu einer Klage haben, ist dies grundsätzlich vorteilhaft. Das Gegenstück zu dieser Regelung sollte allerdings eine rigorose Überwachung der Sicherheits- und Gesundheitsstandards sein, die gemeinsam mit Durchsetzungsmechanismen eine strafrechtliche Verfolgung von Arbeitgebern, die ihren Pflichten nicht nachkommen, ermöglicht.
Wie oben jedoch dargestellt, wurde dieses System ebenfalls nieder gerissen bzw. „modernisiert“, so dass sich Arbeitgeber „selbstregulierend“ verhalten und der Staat nur geringfügig eingreifen sollte.
Dies hatte zur Folge, dass nur sehr wenige Arbeitgeber in der Forstwirtschaft strafrechtlich verfolgt wurden und nicht ein Waldbesitzer angeklagt wurde.
Von den insgesamt relativ wenigen Forstarbeitern kamen seit 2009 28 ums Leben und über 900 wurden schwer verletzt. Zwar ist die Forstindustrie bei weitem die gefährlichste in Neuseeland, die Rate der Arbeitsunfälle ist aber durchweg hoch. Einer Gewerkschaft beizutreten, ist für die Forstarbeiter ein Risiko.
Die Chancen, durch Kollektivverhandlungen die Sicherheitsstandards zu erhöhen, sind überaus gering. Es gibt keinen „trickle down“-Effekt in dieser Industrie und die Deregulierung des Arbeitsmarktes war für die Arbeitskräfte ein Desaster.
Tatsächlich zahlen einige der produktivsten Industrien Neuseelands die niedrigsten Löhne. Die exportorientierte Landwirtschaft ist zum Beispiel völlig gewerkschaftsfrei, hat sehr niedrige Löhne, extrem lange Arbeitszeiten und eine fürchterliche Unfallbilanz.
Beispiel Bausektor
Die Bauindustrie ist ebenso gewerkschaftsfrei und durch Vergabeverhältnisse geprägt. Im Zuge des Wiederaufbaus von Neuseelands größter Stadt Christchurch nach dem schweren Erdbeben sind in der Bauindustrie wieder Jobs zu haben. Zugleich verweist der Wiederaufbau von Christchurch auf einen weiteren Bereich, der den Deregulierungspolitiken der vorherigen und der jetzigen Regierung zum Opfer gefallen ist: die Industrieausbildung
Neuseeland hat keine aktive Arbeitsmarktpolitik und wird in internationalen Studien als ein Land mit sehr geringem Beschäftigungsschutz klassifiziert.
In den späten 1980er Jahren wurden die Planung, das Management und die Kontrolle der industriellen Ausbildung der Industrie überlassen. Dies führte zu einem starken Rückgang der Ausbildungsplätze und dementsprechend zu einem erheblichen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. In einigen unserer grundlegendsten Berufe haben wir sehr wenige Auszubildende und die Industrie ruft nach vermehrter Zuwanderung, um die Lücke zu schließen. Gleichzeitig haben wir eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit.
…
Überall im Bausektor ist die Knappheit ernsthaft. Beim Wiederaufbau von Christchurch sind über die Hälfte der Arbeitskräfte über Leiharbeitsverträge beschäftigt. Der Wiederaufbau wird von einer kleinen Zahl großer Baufirmen dominiert, die wiederum kleinere Unternehmen mit der Durchführung beauftragen. Und letztere nutzen dann die Leiharbeit.
All dies resultiert aus einer zu geringen Beschäftigungssicherheit, die keine ausreichenden Qualifizierungsanreize bietet. In Zeiten einer hohen Nachfrage hält dies natürlich auch die Löhne niedrig, da Beschäftigte, die möglicherweise Kollektivverhandlungen anstreben, leicht entlassen werden können.
Die langfristige Aussicht für die Bevölkerung Neuseelands ist dementsprechend die einer Ökonomie, welche auf niedrigen Löhnen und geringen Qualifikationen basiert. Durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes wurden die Anreize, Arbeitskräfte auszubilden, verringert.
In der Abwesenheit von Industrielöhnen finden sich ausbildende Arbeitgeber mit dem Problem konfrontiert, dass die dann qualifizierten Arbeitskräfte schnell von anderen, nicht ausbildenden Arbeitgebern mithilfe etwas höherer Löhne abgeworben werden. Einerseits beschäftigen die Arbeitgeber, die am besten in der Lage wären auszubilden (die großen Bauunternehmen), selbst nur einen geringeren Teil der Arbeitskräfte. Und andererseits haben zahlreiche Arbeitskräfte (Leiharbeitskräfte) keinerlei Garantie auf eine dauerhafte Beschäftigung.
In der Konsequenz werden die Planungsmöglichkeiten hinsichtlich einer qualifizierten Arbeiterschaft ernsthaft eingeschränkt. Ohne industrieweite Verhandlungen gibt es auch keine starken Arbeitgeberverbände mehr und es existiert nicht einmal mehr ein Forum, in dem derartige Diskussionen entwickelt werden könnten.
Neuseeland hat eine ganze Menge zu bieten. Es ist dünn besiedelt, liegt in einem schönen Teil der Welt, das allgemeinbildende Schul- und das Gesundheitssystem sind ausgezeichnet und die soziale Sicherung vergleichsweise hoch. Ohne Institutionen, welche die Interessen der Arbeiterschaft fördern, sind diese Stärken weniger wert.
Niedrigere Löhne führen zu niedrigeren Steuereinnahmen und einer erhöhten Nachfrage nach Unterstützungsleistungen, um die Lücke zwischen Löhnen und Lebenshaltungskosten zu schließen.
Längere Arbeitszeiten belasten die Familien und entziehen den Gemeinden Ressourcen. Verletzte oder ums Leben gekommene Arbeiterinnen oder Arbeiter stürzen Familien ins Unglück.
Eine hohe Konzentration des Reichtums bringt die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht und unterwirft sie noch stärker der Einflussnahme durch die Vermögenden.
Geringe Ausbildungsinvestitionen lassen ganze Generationen mit wenig Hoffnung auf ein angemessenes und interessantes Arbeitsleben zurück.
Wir hoffen, in Europa ausgewogenere Modelle der wirtschaftlichen Entwicklung und der industriellen Beziehungen zu finden.
Deutschlands Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen jeglicher Rhetorik widerstehen, die auf eine Verringerung ihrer Mitsprachemöglichkeiten am Arbeitsplatz und ihrer politischen Macht in der Gemeinschaft abzielt.
Und wenn es der Nachhilfe bedarf, warum diese Errungenschaften wichtig sind – dann schaut nach Süden!
(Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Beck)
Helen Kelly ist Präsidentin des Neuseeländischen Gewerkschaftsbundes CTU
Jochen