Die Moralfalle und die planmäßige Zerstörung des Klassenbegriffs mit dem Ziel, die Linken zu spalten

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sehr ausführliches gutes Interview von Bernd Stegemann vom Trägerverein von Aufstehen! durch Paul Schreyer *) über die Aufstehen-Bewegung, über Ausgrenzung, Doppelmoral und das Fehlen einer linken Erzählung, „die die soziale Frage ins Zentrum stellt“auf Telepolis, dort auch lesenswerte Diskussion: https://www.heise.de/tp/features/Der-Klassenbegriff-ist-planmaessig-zerstoert-worden-4336430.html

Auszüge:
Herr Stegemann, Sie sind seit 20 Jahren Dramaturg am Theater, außerdem Professor an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, Autor von politischen Sachbüchern und seit 2018 auch Vorsitzender des Trägervereins der Aufstehen-Bewegung. Zunächst: Wie ist zur Zeit der Stand bei „Aufstehen“? Wie geht es weiter nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht aus der Spitze der Sammlungsbewegung?
Bernd Stegemann: Wagenknecht zieht sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem organisatorischen Tagesgeschäft von Aufstehen zurück, so wie sie auch nicht mehr als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei kandidieren wird. Sie hat Aufstehen gegründet und wird auch weiterhin Teil der Bewegung bleiben, die sie nach Maßgabe ihrer Kräfte solidarisch unterstützt.
Wie geht es nun weiter?
Bernd Stegemann: Brecht würde sagen, damit sind wir endgültig in den „Mühen der Ebene“ angekommen. Nach der großen Anfangseuphorie, wo wir wirklich überrascht und sehr erfreut waren, haben sich viele Detailprobleme aufgetürmt, überwiegend organisatorischer Natur, die wir jetzt versuchen müssen zu lösen.
Und das ist natürlich sehr schwer bei einer Bewegung, die nur aus Ehrenamtlichen und Freiwilligen besteht. Vom Programmieren der Webseite bis zur Verwaltung der Daten, der Finanzen und so weiter ist das ein Wust an Arbeit, der momentan noch keine entsprechende Organisationsstruktur gefunden hat, um sie wirklich zu bewältigen.

Gibt es in diesem Jahr größere Aktionen?
Bernd Stegemann: Ja, die gibt es laufend. Ende Februar fand ein großes Aktionscamp in Dortmund statt.
Am 14. März gab es eine große Veranstaltung in Hamburg, wo Sahra Wagenknecht auftrat, außerdem in Leipzig, es gibt in Berlin ein großes Treffen der dortigen Gruppen im April.
Aufstehen lebt in über 200 lokalen Gruppen, die sich alle regelmäßig treffen. Auf der konkreten Ebene läuft es eigentlich verblüffend gut, auf der Ebene der Gesamtorganisation schleppt’s.

Vereinbarkeit von offenen Grenzen mit einem hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat

Kommen wir zu Ihrem neuen Buch „Die Moralfalle“. Ich möchte gerne mit dem Titel anfangen, weil vielleicht nicht jeder weiß, was damit gemeint ist. Sie schreiben: „Die Moralfalle bezeichnet eine Kommunikationsstrategie, die vermeintlich der moralischen Seite nutzt, deren Folgen die verfochtenen Werte jedoch schwächen.
Das Dilemma besteht darin, dass es mit den humanistischen Werten Europas unvereinbar ist, Menschen leiden oder gar sterben zu lassen, zugleich aber die Aufnahme aller Menschen in Not zu einer Zerstörung des humanistischen Europa führen würde.“

Am Ende des Buch heißt es: „Um die utopische Kraft einer internationalen Solidarität in Europa zu bewahren, muss sie in einer anderen Politik umgesetzt werden als in der einfachsten und darum gefährlichen Form einer Open-Border-Politik, die jede Steuerung unterbinden will.“ Denn das sei eine Forderung, die nicht bedenke, „wie ihre Realisierung das Fundament der eigenen Werte zerstört.“
Konkret gefragt: Was wird zerstört – wie ist das gemeint?

Bernd Stegemann: Die Werte, denen das aufgeklärte, abendländische Europa folgt, das der französischen Revolution und dem sozialen Gedanken verpflichtet ist, sind nicht vom Himmel gefallen. Das sind Werte, die einerseits in der Philosophie vorgedacht wurden, aber andererseits erst durch harte, konkrete, soziale Kämpfe Wirklichkeit geworden sind.
Dahinter stehen eine 150-jährige Tradition der Sozialdemokratie, ein Bildungssystem, das diese Werte vermittelt, ein ethisches Gerüst und so weiter.
Das sind alles materielle Bedingungen dafür, dass diese Werte nicht nur Sonntagspredigten füllen, sondern im gesellschaftlichen Alltag zur Wirklichkeit werden. Es ist also ein komplexes Gefüge, das nicht beliebig irritierbar ist.
Das haben wir in allen großen Ausnahmesituationen gesehen. Der Faschismus, der Deutschland ab 1933 regierte, hat diese Werte in relativ kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehrt. Also, diese Werte sind nicht ewig und sie sind auch nicht vom Himmel gefallen, sondern sie müssen täglich neu bestätigt, beglaubigt, gelernt und verteidigt werden. Sie sind angreifbar.

Was heißt das konkret bezogen auf die Zuwanderung?
Bernd Stegemann: Zuwanderer müssen integriert werden in diese Komplexität, damit es nicht zu dauerhaften Parallelgesellschaften kommt.
Es kann nicht sein, dass diese Werte relativiert werden, egal von welcher Seite, indem man zum Beispiel sagt, die Scharia ist auch eine Gesetzgebung mit jahrhundertelanger Tradition, die Gültigkeit beanspruchen darf.
Dafür sind Abstimmungsprozesse erforderlich, die konkret stattfinden müssen. Und dabei geht es natürlich auch darum, ab wann so ein kompliziertes System überfordert ist.
Die große Frage, die ich immer allen Open-Border-Aktivisten stelle, ist: Erklärt mir doch bitte mal, wie ihr offene Grenzen für alle vereinbaren wollt mit einem hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat. Wie soll das gehen, praktisch?

Welche Antworten bekommen Sie da?
Bernd Stegemann: Keine! Dann bekomme ich die Moral um die Ohren gehauen. Denn die Grenzenlosigkeit sei doch ein absoluter Wert, und ich würde mit der Verteidigung des Wohlfahrtsstaates dessen Werte verraten.
Das ist für mich die Moralfalle in Reinkultur. Man tut so, als wäre der Wert eine abstrakte Größe, die ich vor mir hertragen kann, und dann wird alles gut.
Dabei wird ignoriert, dass der Wert nur dann Relevanz hat, wenn er auch lebenspraktisch Wirklichkeit wird.

Sie schreiben in ihrem Buch: „Moralismus ist auf einer psychologischen Ebene vor allem eine Selbstimmunisierung gegen Kritik.“ Können Sie das erklären?
Bernd Stegemann: Meine Kritik besteht darin, dass die Open-Border-Fraktion nicht in der Lage ist, zu erklären, wie das mit dem Wohlfahrtsstaat vereinbar sein soll. Stattdessen wird eine Moralkeule herausgeholt oder ein Moralballon steigen gelassen, mit dem man denkt, man hätte sich alle Probleme vom Hals geschafft, und wäre in seiner eigenen – letztlich unhaltbaren – Position trotzdem in der besseren Position.
Man immunisiert sich gegen jede Art von konkreter Kritik mit einer allgemeinen, leeren Abstraktion.

Sie konstatieren in Ihrem Buch auch eine Spaltung der Linken und erklären: „Die Beschäftigung mit allen ethnischen und sexuellen Minderheiten verspricht seit Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit als die uncoole Klasse der Armen.“ So habe sich die Linke in einen identitätspolitischen und einen sozialpolitischen Flügel gespalten. Die Bezeichnung „links“ drohe „auseinanderzubrechen“. Aktuell fehle „eine linke Erzählung, die die soziale Frage ins Zentrum stellt“.
Die Ablehnung der Klassenfrage komme dabei inzwischen auch aus dem linken Milieu. Woran machen Sie diese Ablehnung fest?

Bernd Stegemann: Von der identitätspolitischen Seite wird gesagt, dass die beiden Merkmale „Gender“ und „Race“ zentral wären für alle Formen von emanzipatorischer Politik. Der dritte Aspekt, die „Klasse“, sei zu vernachlässigen, da sich dahinter in Wirklichkeit nur die Dominanz des weißen, heterosexuellen, patriarchalischen Arbeiters verberge.
Das heißt, die Klassenfrage wird auch zu einer identitätspolitischen Frage gemacht.
Also Klasse ist nicht mehr ökonomisch begründet, nicht mehr aufgrund von Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen, sondern wird auch auf Geschlecht, Hautfarbe und patriarchale Denkmuster reduziert.
Damit hat der identitätspolitische Flügel die Diskurshoheit über die Dreiheit der Diskriminierung übernommen. Denn diese Trias besteht aus der ethnischen Diskriminierung, der sexuellen Diskriminierung und der Diskriminierung durch Ausbeutung und Entfremdung.
Aber wenn alle drei Dinge nur identitätspolitisch gedacht werden, dann sind Ausbeutung und Entfremdung sozusagen unter die Räder gekommen.

Der blinde Fleck der Moralisten

Sie beschreiben einen „blinden Fleck der Moralisten“. Diese sähen nicht die tatsächlichen Ursachen gesellschaftlicher Konflikte, sondern würden eine „Fehlerhaftigkeit des Individuums“ behaupten. Moralische Urteile ersetzten die konkrete Analyse.
Sie sagen: „Der moralisierende Blick auf die Realität führt dazu, dass die Beschreibung eines Zusammenhangs mit dessen Herstellung oder Verteidigung verwechselt wird. Wer beschreibt, dass sich durch den Zuzug von Flüchtlingen die Lage auf dem sozialen Wohnungsmarkt, im Niedriglohnsektor und in den Schulen für den ärmeren Teil der Bevölkerung verschlechtert hat, produziert nicht diese Verschlechterung, sondern hebt die alltäglichen Probleme ins Licht der Öffentlichkeit.
An der Benennung realer Probleme müssten doch eigentlich alle ein gemeinsames Interesse haben. Warum wird das Aussprechen dieser Dinge so kritisch gesehen?

Bernd Stegemann: Es haben eben nicht alle ein Interesse daran und daraus entsteht die verhängnisvolle Kollaboration. Der Unternehmer, dem die Wohnungen gehören, der hat natürlich kein Interesse daran, dass über Dinge wie Mietpreisbremse oder Schaffung von sozialem Wohnungsbau öffentlich diskutiert wird.
Und jetzt gibt es die verhängnisvolle Verbrüderung dieser Interessen einer Kapitalrendite mit einer Moralfraktion innerhalb der Linken, die sagt: Das sind auch gar nicht die wichtigen Themen, sondern wichtig sind die Themen der Minderheiten, der Identitätspolitik und so weiter.
Das ist das, was die Philosophin Nancy Fraser den „progressiven Neoliberalismus“ genannt hat. Darin wird das berühmte Freiheitsversprechen des Liberalismus in sein Gegenteil verkehrt, weil es nicht mehr um das zu befreiende und freie Subjekt geht, sondern um den freien Konsumenten und die freie Arbeitskraft.
Und beide sind natürlich überhaupt nicht frei, denn der Konsument ist durch seinen Geldbeutel beschränkt und die Arbeitskraft ist durch ihren Arbeitsvertrag beschränkt. Und außerdem sind vor allem die ethnisch diskriminierten Minderheiten besonders von der sozialen Ungleichheit betroffen, weswegen ihnen eine andere Sozialpolitik am meisten helfen würde.

„Die offenen Gesellschaften befinden sich in einer Phase der Refundamentalisierung“

Kommen wir zu einem anderen Punkt. Sie beschreiben in ihrem Buch, dass die Kommunikation zwischen den Lagern heute nicht auf Augenhöhe stattfände. Es sei vielmehr eine „urteilende Kommunikation, die nicht auf Veränderung, sondern auf Bestrafung“ ziele.
Sie zitieren den Soziologen Niklas Luhmann mit den Worten: „Praktisch gehen Moralisten davon aus, dass sie es mit Gegnern zu tun haben, die nicht überzeugt werden können.“ Was heißt das für eine Diskussion?

Bernd Stegemann: Das heißt, dass man Ausgrenzung für ein probates Mittel der Auseinandersetzung hält. Es gibt gerade im Theatermilieu eine nicht kleine Zahl von Menschen, die würden am liebsten ein Schild an ihr Theater hängen: „Keine Theatertickets und kein Zutritt für AfD-Wähler!“
Dann sage ich immer: Wenn wir daran glauben, dass wir hier Theater machen und damit irgendwie versuchen, die Welt etwas aufgeklärter, freundlicher und zivilisierter zu machen, dann müssten wir doch im Gegenteil sagen: „Freier Eintritt für AfD-Wähler!“

Was ist die Reaktion, wenn Sie so argumentieren?
Bernd Stegemann: Dann kommt die Empörung: Aha, „Nazis rein“, sagst du also. Ich sage: Ja, der Spruch „Nazis raus“ klingt toll, aber was ist die Wirkung?
Die Wirkung ist doch: Die, die das sagen, fühlen sich in dem Moment unglaublich mutig und schlau. Und die, die damit beschimpft werden, fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt, dass die anderen sie tatsächlich nicht dabeihaben wollen.
Die Spaltung wird dadurch immer größer, weil die einen sich immer selbstsicherer und selbstgerechter fühlen in ihrer moralischen Haltung und die anderen fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt. Darum führt das nirgendwo hin.
Abgesehen davon: Wo soll auch „raus“ sein? Man kann sie doch nicht in die Schweiz schicken, oder nach Holland.

Sie sagen, dass immer mehr Themen tabuisiert werden und auch von „den Guten“ nicht mehr angesprochen werden dürfen. Jeder, der es dennoch tue, gerate schnell in den Verdacht, selbst zu „den Bösen“ zu gehören, Stichwort „AfD-nah“.
So gerieten immer mehr Themen in den Bereich des Unsagbaren, wo Parteien wie die AfD sie nur aufzusammeln bräuchten, um dann große Aufmerksamkeit zu erregen. Im Buch schreiben Sie: „Die Realität ist zu einer unmoralischen Provokation geworden.“ Viele würden nach dem Dogma der mittelalterlichen Kirche verfahren, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ist Ihrer Ansicht nach Dogmatismus ein Merkmal der heutigen Zeit?

Bernd Stegemann: Die offenen Gesellschaften befinden sich auf jeden Fall in einer Phase der Refundamentalisierung.

Was heißt das?
Bernd Stegemann: Was eine aufgeklärte Kultur ausgezeichnet hat, war Säkularisation und Rationalität. Das heißt, Argumente waren keine Glaubensfrage, sondern eine Frage der nachvollziehbaren Überzeugungen, im Sinne von: Ich lasse mich von einem Argument überzeugen oder ich habe ein besseres Gegenargument, was dann den Anderen überzeugt. Daran wird immer weniger geglaubt.
Die jeweiligen Communities schließen sich immer weiter gegenseitig ab: Alle, die etwas anderes sagen als wir selber, sind der Feind, und haben darum grundsätzlich nicht recht. Das ist eine Refundamentalisierung, die stattfindet, und zwar flächendeckend in der westlichen Welt.
Also von den USA, von den Trump-Wählern bis nach Europa. Man kann es überall sehen, auf dem rechten Rand ganz deutlich, aber leider auch auf einem bestimmten Sektor des linken Spektrums der Politik.

Würden Sie sagen, das ist in gewisser Weise ein Rückfall hinter die Prinzipen der Aufklärung?
Bernd Stegemann: Es ist auf jeden Fall ein Vergessen dieser Prinzipien.

Woher kommt das?
Bernd Stegemann: Viele versuchen ja, das gerade zu analysieren. Ich neige denen zu – Nancy Fraser habe ich schon erwähnt -, die sagen, es ist ein falscher Reflex auf die Zersetzung der Gesellschaft durch den Neoliberalismus.
Wenn so grundsätzlich Solidarität zerstört worden ist, und zwar sowohl auf der Überbau-Ebene – also dass die Erzählungen nicht mehr verbindend sind, dass die Weltanschauungen nicht mehr verbindend sind, sondern spaltend und vereinzelnd -, als auch auf der ökonomischen Ebene, wo jeder immer mehr zum Einzelkämpfer trainiert werden soll, um nicht unterzugehen -, also wenn sowohl der Überbau als auch die Basis zerrüttet sind, dann ist das wie eine Art psychologischer Übersprungshandlung, wenn man sagt: Ja, dann fundamentalisiere ich mich, da habe ich wenigstens noch eine Stammesgesellschaft, mit der ich auf Gedeih und Verderb verschworen bin. Sei es die Blut-und-Boden-Ideologie der Rechten oder sei es der Moralismus der Linken.
Darüber wird dann auch intern nicht mehr diskutiert, sondern die Welt wird in Freund und Feind eingeteilt. Freundschaft gibt es nur noch im Inneren meiner tribalen Gemeinschaft, meiner Community. Jeder, der auch nur einen Fußbreit neben meiner Meinung steht, ist dann „der Andere“, und gegen den muss man etwas tun.

Voraufklärerisches Freund-Feind-Denken

Das klingt so, als würden Sie eine Kapitulation vieler Menschen gegenüber den heutigen Widersprüchen beschreiben, gegenüber der Realität, die wir erleben.
Bernd Stegemann: Ich fürchte, in den Strukturen zeichnet sich immer mehr das Freund-Feind-Denken ab, was etwas Voraufklärerisches ist. Mit Feinden kann man bekanntlich keine Kompromisse mehr aushandeln. Und die gesamte Demokratie besteht ja darin, kollektiv bindende Entscheidungen herbeizuführen.
Aber kollektiv bindend heißt eben, dass auch diejenigen, die in einer Abstimmung unterlegen sind, trotzdem mit dem Abstimmungsergebnis ihren Frieden machen und sagen können: Ich bin zwar anderer Meinung, aber ich akzeptiere, dass die Mehrheit das jetzt so entschieden hat.
Trump hat den antidemokratischen Fundamentalismus auf den Punkt gebracht: „Ich akzeptiere das Wahlergebnis nur, wenn ich Präsident werde.“ Das ist der Inbegriff von Freund-Feind-Denken in der Politik. Allerdings, und das ist mir wichtig: Es ist eben nicht nur Trump! Es ticken immer mehr auf der anderen politischen Seite in dieser falschen, fatalen Logik.

Ich möchte gern über den Begriff „Identitäten“ mit ihnen sprechen. Sie sagen: „Es gibt in der öffentlichen Debatte eine schützenswerte Identität, zum Beispiel die Roma, und es gibt eine problematische Gruppe, zum Beispiel die Einwohner von Sachsen.“
Zugleich heißt es: „Alle Identitäten sind nur Konstruktionen, und wer sich eine sächsische Identität herbeikonstruiert, der macht sich eines gefährlichen Nationalismus schuldig.“

Bernd Stegemann: Identitätspolitik arbeitet mit Doppelstandards und das führt zu unlösbaren Problemen. Die eigene Identität ist immer besonders schützenswert und toll und darf darum mit allen Mitteln verteidigt werden. Wenn ein anderer aber etwas Ähnliches tut, dann ist das zu bekämpfen, weil der zum Beispiel ein böser Sachse ist und das nicht darf.
Das ist so offensichtlich widersprüchlich, dass ich nicht verstehen kann, wie sich das so unglaublich ausbreiten konnte. Es widerspricht dem einfachsten Verständnis von Universalismus und Gleichberechtigung, wenn man dem Einen zugesteht, er darf eine Identität haben, dem Anderen aber seine Identität vorwirft.

Also klassische Doppelmoral?
Bernd Stegemann: Ganz klassische Doppelmoral, und zwar schlimmster Ausprägung.

Das Deutschland-Paradox

In dem Zusammenhang beschreiben Sie auch das sogenannte „Deutschland-Paradox“: „Deutschland gibt sich kollektiv den Auftrag, kein Kollektiv mehr zu sein.“ Können Sie das kurz erläutern?
Bernd Stegemann: Das kommt aus der deutschen Geschichte. Die Deutschen haben einen übergroßen Schluck aus der Pulle des Nationalismus genommen, sind mit einem ganz schweren Kater aufgewacht und haben dann versucht, sich nicht mehr als Nation zu begreifen, sondern als eine Art Wirtschaftskraft. Ich rede hier natürlich von Westdeutschland. Das große Wirtschaftswunder hat allen eine neue Identität verliehen. Wir sind die Tollen, die so viele Autos bauen und exportieren. Das trägt bis heute.
Dass die deutsche Automobilindustrie in die Krise kommt, ist ja ein Trauma für die Deutschen. Auf der anderen Seite ist es bis heute hochproblematisch, eine Deutschlandfahne irgendwo hinzuhängen oder zu sagen, man sei Deutscher. Die Deutschen möchten am liebsten alle Europäer sein.
Dahinter verbirgt sich aber, und das meine ich mit dem Paradox, ein sehr starker machtpolitischer Anspruch der Bundesrepublik Deutschland, die EU ökonomisch zu dominieren.
Deutschland hat mit Hartz IV einen großen Niedriglohnsektor geschaffen und nutzt den Euro als unterbewertete Währung. Die Exportüberschüsse gibt es also nicht nur, weil die Deutschen so tolle Autos bauen, sondern vor allem, weil in Deutschland die Löhne so niedrig sind, und der Euro im Vergleich zu einer virtuellen D-Mark extrem unterbewertet ist. Deutschland kann so viel exportieren, weil es über eine Währung verfügt, die nicht der deutschen Wirtschaftskraft entspricht.

Ich würde gern noch einmal auf die Beziehung zur Identität zurück kommen. Sie schreiben im Buch, die Deutschen seien in ihrem Selbstbild in gewisser Weise doppelt Weltmeister, einmal moralisch, weil sie so extrem gründlich ihre Vergangenheit aufarbeiten und dann ökonomisch. Was macht das mit der deutschen Identität?
Bernd Stegemann: Die deutsche Identität interessiert mich eigentlich gar nicht. Mich interessiert die Funktion, die ihre paradoxe Form in der Politik erfüllt. Und diese Funktion ist eben eine ziemlich brutale.
Durch das, was ich eben beschrieben habe, sind wir innerhalb der EU die absolut stärkste Macht. Gleichzeitig nehmen wir für uns immer noch in Anspruch, dass wir die Oberlehrer sind, und allen anderen nicht nur erklären können, wie sie sich ökonomisch zu verhalten haben, siehe Griechenland, sondern auch, wie sie mit Flüchtlingen umzugehen haben, siehe Ungarn, Polen und all die anderen Länder.
Sprich, wir sind moralisch auf einem hohen Ross und ökonomisch auch, und leugnen zugleich, dass wir die Nutznießer einer sehr ungerechten EU-Politik sind, die uns immer hilft und den anderen schadet.

Kommen wir zu einem anderen Aspekt. Sie beschreiben einen „Sprachverlust“ bei den Verlierern des Systems, die sich nicht mehr äußern können und denen „die Sprache geraubt wird, mit der sie von sich und ihrer Not berichten können“. Können Sie das erläutern?
Bernd Stegemann: Das ist der gesamte Komplex der Political Correctness. Das ist ein Phänomen, das aus den Hochschulen kommt, den amerikanischen und inzwischen auch den deutschen, wo man davon ausgeht, dass das Böse in der Welt verschwindet, wenn man kränkende und böse Begriffe aus der Sprache eliminiert.
Das ist eine Art magisches, mittelalterliches Denken und darum wenig hilfreich.
Zugleich wird mit dieser Sprachregulierung Gewalt ausgeübt und Ungleichheit reproduziert.
Es gibt ein wunderbares Beispiel aus den USA, was das schön auf den Punkt bringt. Da sagt ein klassischer Trump-Wähler: Ihr in den liberalen Medien sagt immer, wir sollen nicht mehr „Neger“ sagen, aber „Redneck“ (Schimpfwort für wenig gebildete, konservative Weiße aus den Südstaaten; Anmerkung P.S.) wird ständig benutzt.

Auch wieder Doppelmoral?
Bernd Stegemann: Wieder die Doppelmoral. Bei einer Gruppe wird genau aufgepasst, welche Worte kränkend sein können. Und auf der anderen Seite heißt es, der Hartz-IV-Empfänger sei dumm, ungebildet, isst nur Chips, guckt Fernsehen und räumt den Aldi leer. Das kann man alles ungestraft sagen.
Wenn das aber nicht der Hartz-IV-Empfänger wäre, sondern der syrische Flüchtling, dürfte man es auf gar keinen Fall machen. Das ärgert mich. Ich will weder den Einen noch den Anderen diskriminieren. Beide sollen auch nicht gegeneinander ausgespielt werden.

„Ich kann nicht verstehen, wie man sagen kann, dass es keine Klassen mehr gibt“

Sie sagen, dass Hochqualifizierte, die nicht auf das Bildungs- und Gesundheitssystem ihres Heimatlandes angewiesen sind, oftmals die Fähigkeit verloren hätten, „die Gefühle ihrer Gemeinschaft zu teilen“.
Als Ausweg nennen Sie, dass diese Eliten reflektieren sollten, dass sie einen Klassenstandpunkt vertreten. Dazu müsste doch aber überhaupt erst einmal die Existenz von Klassen eingeräumt werden. Davon scheinen wir weit weg zu sein.

Bernd Stegemann: Ja, der Neoliberalismus hat es wunderbar hinbekommen, dass alle immer nur noch von Individuen sprechen, allenfalls noch von „Milieus“.
Es ist eines der größten strategischen Kampfziele gewesen, den Klassenbegriff zu zerstören.
Man muss sich darüber klar sein, dass der nicht von alleine abhandengekommen ist. Er ist planmäßig zerstört worden durch bestimmte Diskurse, die in die Soziologie und in die Ideologie eingeflossen sind.

In welcher Zeit ist das passiert?
Bernd Stegemann: Das fing in den 70er Jahren an. Es gibt von Didier Eribon einen tollen Text, der leider nur auf Französisch erschienen ist, der darüber geforscht hat, wie große Denkfabriken, aus den USA finanziert, überall Kongresse veranstaltet haben, um den Klassenbegriff sozusagen zu „widerlegen“ und als absurd hinzustellen. Bis heute wird mir in Kritiken immer wieder vorgeworfen, dass ich von so einem seltsam antiquierten Begriff wie „Klasse“ rede. Und man meint, diese Lächerlichkeit zeigen zu können, indem man sagt: Ja, wo sind denn hier die Arbeiter mit den schwarzen Gesichtern und den schmutzigen Fingernägeln, die zu Tausenden vor den Fabriktoren stehen?
Das ist ein absolut kitschiges, diffamierendes Bild von Klasse. Klasse hat nichts mit dem schmutzigen Fingernagel zu tun, sondern ist ein ökonomisches Verhältnis.
Alle, die nicht von der Rendite ihres Kapitals leben können, gehören einfach mal zur Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Da gibt es natürlich große Unterschiede, große Privilegierungen und große Prekarisierungen, trotzdem ist das die Grundlage der Klassenfrage.
Über 40 Millionen Menschen in Deutschland gehen jeden Tag arbeiten. Ich kann nicht verstehen, wie man da sagen kann, dass es keine Klassen mehr gibt.

Sie sprachen gerade Didier Eribon an. Die FAZ veröffentlichte vor einiger Zeit einen Text von ihm, in dem er ebenfalls erwähnte, wie die Zerstörung des Klassenbegriffs planvoll von Denkfabriken aus Banker- und Unternehmerkreisen organisiert wurde. Tatsächlich waren auch westliche Geheimdienste in diesen Kulturkampf um die Begriffe involviert.
Vor wenigen Jahren wurde eine Studie der CIA von 1985 veröffentlicht, in der erfreut Bilanz gezogen wurde, wie französische Intellektuelle zunehmend auf US-Linie argumentieren würden und wie die Linke von innen heraus geschwächt worden sei. Das zeigt, welche machtpolitische Bedeutung solchen philosophischen Debatten beigemessen wird.
Aber bevor wir vielleicht gleich noch auf die Theorie kommen, die dahinter steht, zunächst noch einmal zurück zur Moral. Sie sagen: „Die Moral rückt in die Rolle des großen Anderen, der als Autorität dafür sorgt, dass sich die Guten nicht mit den unbequemen und bösen Teilen der Gesellschaft beschäftigen müssen.“
Der „große Andere“ sei Ausdruck einer „uneingestandenen Sehnsucht des postmodernen Menschen nach totalitärer Führung“. Die modernen Liberalen wünschen sich demnach eigentlich eine lenkende Autorität?

Bernd Stegemann: Mit Slavoj Žižek würde ich sagen, sie wünschen es sich, sie wissen es aber nicht. Natürlich würden sie das immer leugnen. Das ist klar. Auf der einen Ebene tun sie alles dafür, dass es das nicht gibt.
Aber eine vollends postmodernisierte Welt zerfällt in kleine, tribalistische, verfeindete Gemeinschaften, springt also hinter die Aufklärung zurück. Und genau so ist es auch im Diskurs zu beobachten.
Am Ende der ganzen Dekonstruktionsbemühungen steht dann plötzlich der „große Andere“ der Moral, der sagt: Deine Identität muss dekonstruiert werden, meine Identität muss geschützt werden. Das ist aus der Theorie nicht abzuleiten, sondern eine magische Wiederauferstehung der Moral.
Das ist irritierend für mich, denn wenn diese Leute die Mühe, die sie aufgewendet haben, um den Klassenbegriff auseinanderzunehmen, darauf verwenden würden, den Moralbegriff auseinanderzunehmen, dann würden sie womöglich etwas realistischer auf die Welt schauen können.

Postmoderne, Marktlogik und „ideologiefreie“ Welt

Stichwort Postmoderne, ein Begriff, mit dem manche vielleicht nicht viel anfangen können. Sie schreiben dazu: „Genau die Theorie, die dem Kapitalismus in den letzten 30 Jahren seine wichtigsten Impulse gegeben hat, gilt auch dem linken Denken seit fast 50 Jahren als fortschrittlichste Position.“ Sie erwähnen den französischen Philosophen Jean-François Lyotard, der 1979 meinte, es gebe keine große Erzählung mehr und die Realität sei in unendlich viele kleine Probleme zerfallen, die sich nicht mehr miteinander verbinden ließen. Solche Gedanken wurden damals, nach der 68er Zeit, von vielen als Erlösung von ideologischen Verkrampfungen empfunden und prägen die westliche Gesellschaft bis heute.
Sie sagen dazu: „Die ideologiefreie Weltanschauung der Postmoderne wurde zur neuen herrschenden Ideologie unserer Zeit.“ Das klingt paradox.

Bernd Stegemann: Eigentlich gar nicht. Am Anfang ist das postmoderne Denken ein Befreiungsschlag gewesen: Wenn man sagt, nicht mehr die große Erzählung des Sozialismus oder die große Erzählung der Religion bindet alles ein, sondern die Welt besteht aus einem Management von Ausnahmeproblemen.
Die negative Wendung kam dadurch hinein, dass das nicht im luftleeren Raum stattgefunden hat, sondern in kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Das heißt, das Vakuum, das durch die Abschaffung der großen Erzählung entstand, ist gefüllt worden von der kapitalistischen Erzählung, also der Marktlogik.
Die Marktlogik hat dann das Management der Einzelprobleme übernommen und gesagt: Ab jetzt ist jeder Mensch seines Glückes Schmied, jedes Unternehmen kämpft gegen jedes andere.
Die Folge ist, dass seitdem alle im dauernden Wettbewerb miteinander stehen, die Schulen sind im Wettbewerb miteinander wie die Schüler, und so weiter.
Die Postmoderne war ein nachvollziehbarer, aber dann in seiner Wirkung verhängnisvoller Türöffner für die Durchkapitalisierung der Gesellschaft.

Seither, so heißt es in Ihrem Buch, „gilt jede Suche nach einer Bindung oder einem Zusammenhang als Zwang und böse“. Erklärt sich daraus vielleicht auch die pauschale Ablehnung gegenüber dem Begriff „Verschwörungstheorie“ in weiten Teilen der Gesellschaft?
Große Verschwörungen und geheime Absprachen Mächtiger gelten ja manchen als extrem unwahrscheinlich, da die Welt viel zu zersplittert und komplex sei.

Bernd Stegemann: Das Problem beim Verschwörungsbegriff ist, dass davon ausgegangen wird, dass es eine Gruppe von Verschwörern gibt, also ein Subjekt, was das tut. Das ist letztlich ein Holzweg. Es gibt nicht irgendwo ein paar alte Männer, die an irgendwelchen Telefonen hängen und die Welt regieren. Das ist ein falsches Bild. Die Verschwörung liegt auf einer systemischen Ebene.
Luhmann würde sagen, die Systeme selber sind süchtig geworden nach Rendite. Die Systeme selber reproduzieren immer wieder diese Zersplitterung des Menschen, die Entsolidarisierung und so weiter.
Das ist kein menschlicher Akteur, der das macht, sondern es ist in die Logik der Interaktion eingedrungen – wie Menschen miteinander umgehen, wie Menschen über Dinge sprechen, wie Argumente verwendet werden, wann Argumenten geglaubt wird und wann nicht.
Und darum versuche ich mit meinem Buch eine Art von Aufklärung zu betreiben. Ich möchte immer wieder auch im Kleinen zeigen: Schau mal, da steckt doch die Entsolidarisierung in der Formulierung drin!

Der Soziologe Zygmunt Baumann schrieb vor 20 Jahren: „Wenn die Zeit der Revolutionen, deren Objekt das System war, vorbei ist, dann deswegen, weil es heute kein Schaltzentrum mehr gibt, das die Revolutionäre stürmen könnten.“ Würden Sie dem zustimmen?
Bernd Stegemann: Man kann Google natürlich nicht angreifen, indem man eine Bombe auf die Google-Zentrale wirft. Das zerstört Google nicht. Das besagt die Netzwerk-Theorie. Aber es gibt natürlich immer noch Knoten in den Netzwerken. Zum Beispiel verteidigen sich die Kapitalinteressen momentan gegen Kritik, indem sie es hinbekommen haben, sich selber als moralisch höherwertige Instanz hinzustellen.
Das ist für mich so ein Knoten. Wenn man das einmal aufbricht und dadurch eine andere Erzählung möglich wird, dann verändert sich auch wieder etwas, da die Menschen plötzlich eine andere Perspektive auf die Realität bekommen.

Konzentriertes Eigentum und Arbeitszwang

Zum großen Rahmen und Hintergrund der Konflikte, über die wir hier sprechen, gehört die extreme Konzentration von Eigentum. Sie sagen, es gab ein „Ursprungsereignis des Frühkapitalismus“ im 16. Jahrhundert in England, als die Gemeindeäcker von mächtigen Adligen enteignet wurden und die Vertriebenen in der Folge in ein System des „Arbeitszwangs“ gerieten. Was geschah damals?
Bernd Stegemann: Das ist die berühmte Urgeschichte des Kapitalismus, die Karl Polanyi in „The Great Transformation“ beschrieb.
Also: Es gab eine große Nachfrage nach englischer Wolle aus Oberitalien. Da war viel Geld, die haben viel für die englische Wolle bezahlt. Daraufhin haben die englischen Adligen gesagt: Wir müssen mehr Wolle produzieren und darum müssen wir mehr Schafe halten. Mehr Schafe brauchen aber mehr Land, und um das zu bekommen, wurden die Gemeindeäcker eingezäunt und die Zäune mit Waffengewalt verteidigt. Es hieß: Das gehört jetzt den Schafen und nicht mehr den Menschen.

Es gibt aus dieser Zeit das berühmte Pamphlet „Schafe fressen Menschen“. Dadurch wurden viele Menschen ihres natürlichen, gemeinschaftlichen Lebensraumes beraubt. Sie wurden landlos, obwohl sie vorher keine Eigentümer waren, aber eben Teil einer Gemeinschaft, die Eigentum hatte. Sie zogen dann als Bettler, Vagabunden, Räubertruppen oder als Schauspieler durch das Land und sammelten sich zum Großteil in London. Dadurch entstand ein großes Lumpenproletariat aus rechtlosen, landlosen Menschen.
Als Reaktion darauf wurden dann die Arbeitshäuser gegründet, eine Mischung aus Wohltätigkeit und brutaler Disziplinierung. Das war eine große Bewegung in England: Arbeit als eine sinnlose Form der Bestrafung. Und daran dockte dann die Industrialisierung an. Die nutzte, mit der Erfindung der Maschinen, diese Arbeitskraft für renditeträchtige Unternehmen. Das ist die entscheidende Vorgeschichte für die Industrialisierung.
Mit bestehenden Gemeindeäcker-Strukturen hätte die Industrialisierung gar nicht funktioniert, weil niemand freiwillig in die Fabriken gegangen wäre.

Und da kann man vielleicht den Bogen zur Gegenwart schlagen.
Bernd Stegemann: Da fällt einem natürlich sofort der Niedriglohnsektor durch Hartz IV ein: Den Leuten wird eine Sicherheit weggenommen und dadurch werden sie gezwungen, sich in Arbeitsverhältnisse zu begeben, die sie sonst niemals angenommen hätten.

Am Ende Ihres Buches heißt es: „Die Argumente für den Liberalismus sind schal geworden, wenn mit ihnen gleichzeitig Menschenrechte und Kapitalrechte begründet werden.“ Sie sagen, unsere Zeit brauche „eine neue Aufklärung„. Ist das das eigentliche Projekt von „Aufstehen“?
Bernd Stegemann: (lacht) Ja, natürlich! Diese Refundamentalisierung ist verhängnisvoll. Man muss, glaube ich, niemandem erklären, dass eine Gesellschaft, in der die Spaltungen immer tiefer werden, nur noch Gewalt produziert. Und die Gewalt nimmt ja auch zu in den westlichen Gesellschaften.
Auf der anderen Seite gehen viele Erklärungsmuster in die falsche Richtung. Kapitalrechte werden mit moralischen Argumenten verteidigt, mit denen man eigentlich Menschen verteidigen müsste.
Und dann ist man natürlich auf einer schiefen Ebene: Reichtum und Armut klaffen immer weiter auseinander, von Jahr zu Jahr. Auch in Deutschland werden die Reichen jedes Jahr ein paar Prozent reicher, und das untere Drittel sinkt immer tiefer.

In Frankreich gehen seit einigen Wochen die Menschen auf die Straße, Stichwort Gelbwesten.
In Deutschland ist so etwas nicht abzusehen. Wie erklären Sie sich das?

Bernd Stegemann: (seufzt) Das ist sicherlich auch ein Temperamentsunterschied. Die Franzosen haben ja 1968 einen großen Generalstreik auf die Beine gestellt. Mit ihrer französischen Revolution im Hintergrund sind sie, glaube ich, ein ganz anders entflammbares Volk.

Wo würden Sie dann einen Weg für Deutschland sehen?
Bernd Stegemann: Ich glaube, solange diese schwarz-grüne Erzählung – „eigentlich ist der Kapitalismus eine prima Sache, wenn jeder Einzelne sich moralisch verhält“ – so dominant bleibt, ist es unmöglich, etwas zu verändern.
Solange es noch so viele gibt in den privilegierten Berufen, in den besseren Wohngebieten, Schulen und so weiter, die zugleich auch die Meinungsführerschaft haben in den Zeitungen, im Fernsehen und im Internet, solange dieses Milieu die Erzählung schreibt, also die „Robert-Habeck-Erzählung“, solange wird sich im Sozialpolitischen nichts verändern.
* Zu Paul Schreyer siehe hier:

https://paulschreyer.wordpress.com/2017/01/26/in-eigener-sache-paul-schreyer-ken-jebsen-juergen-elsaesser-compact-und-die-querfront/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Unsere Tagesschau berichtet wie kremltreue Medien – Masterarbeit vergleicht Tagesschau und Wremja

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Nicht ohne Grund leide ich seit Jahren unter Wut und Brechreiz, wenn ich Tagesschau oder heute sehe. Mir kommt es bei vielen Themen so vor, dass mit einer ungeheuren Dreistigkeit gelogen wird.
Die von Prof. Rainer Mausfeld hier beschriebenen Psychotricks werden in ganzer Breite angewendet.

„Die Russlandberichterstattung der Tagesschau ist einseitig und tendenziös“, sagt Daria Gordeeva im Interview mit den NachDenkSeiten.
Gordeeva, die für ihre Masterarbeit sowohl die Tagesschau als auch die Hauptnachrichtensendung in Russland, Wremja, einer Analyse unterzogen hat, stellt fest, dass in beiden Sendungen ein zu eindimensionales Bild vom jeweils anderen Land vermittelt wird.
„Die Journalisten“, so Gordeeva, „verzichten auf Perspektivenwechsel und greifen stattdessen auf bestehende Freund-Feind-Bilder zurück“, so Gordeeva.
Ein Interview von Marcus Klöckner: http://www.nachdenkseiten.de/?p=42537
Auszüge :

Wie nehmen russische Medien Deutschland wahr, wie deutsche Medien Russland?
Dieser Frage ist die Kommunikationswissenschaftlerin Daria Gordeeva in ihrer Masterarbeit am Institut für Kommunikationswissenschaften und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München nachgegangen.
Der Titel ihrer Arbeit:

„Russlandbild in den deutschen Medien – Deutschlandbild in den russischen Medien. Konstruktion der außenpolitischen Realität in den TV-Hauptnachrichtensendungen.“

Im NachDenkSeiten-Interview geht die gebürtige Russin auf ihre Arbeit näher ein und stellt im Hinblick auf die journalistische Berichterstattung fest:

„Die Lage ist auf beiden Seiten beunruhigend.“

Frau Gordeeva, Sie haben sich für ihre Masterarbeit intensiv mit der Berichterstattung der Tagesschau über Russland auseinandergesetzt. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Das Ergebnis ist eigentlich erwartbar, dennoch traurig: Die Russlandberichterstattung der Tagesschau ist einseitig und tendenziös und deckt sich weitgehend mit der Perspektive der Bundesregierung.
Also nicht viel anders als das, was kremltreue Medien den Russen über Deutschland erzählen. Die Journalisten verzichten auf Perspektivenwechsel und greifen stattdessen auf bestehende Freund-Feind-Bilder zurück.

Also eine Berichterstattung in Schieflage?

Die Lage ist auf beiden Seiten beunruhigend.

Lassen Sie uns gleich weiter darauf eingehen. Aber erzählen Sie uns doch zunächst ein wenig Grundlegendes zu Ihrer Masterarbeit.
Sie haben sich sowohl das Russlandbild in den deutschen Medien als auch das Deutschlandbild in den russischen Medien angeschaut. Was war Ihre Motivation, dieses Thema zu bearbeiten?

Das Thema Auslandsberichterstattung und Nationenbilder hat für mich vor allem eine persönliche Relevanz. Beide journalistische Kulturen kenne ich von innen:
Als gebürtige Russin bin ich mit 17 zum Studium nach München gekommen, meine Familie ist dagegen in Sankt Petersburg geblieben. Mein Deutschlandbild ‒ im Unterschied zum Deutschlandbild der meisten Russen ‒ ist vielmehr durch persönliche Erfahrungen geprägt als durch die Berichterstattung russischer Staatsmedien.
Dasselbe gilt auch für mein Russlandbild, denn ich bin in Russland ja aufgewachsen.
Trotzdem, oder gerade deswegen, wollte ich in meiner Masterarbeit die mediale Darstellung beider Nationenbilder untersuchen. Denn Medien vermitteln uns nicht nur Informationen, sondern auch Vorstellungen von Richtig und Falsch, Gut und Böse, Verbrechen und Normalität. Für außenpolitische Ereignisse, die sich hauptsächlich außerhalb unseres persönlichen Nahbereichs abspielen, trifft das ganz besonders zu.

Wie sind Sie vorgegangen? Auf welche Medien haben Sie sich konzentriert?

Jeder wissenschaftlichen Arbeit liegt eine Theorie zugrunde. Ich habe mich für den diskurstheoretischen Ansatz entschieden. Die zentrale Aufgabe der Kritischen Diskursanalyse ist es nämlich, Regeln, Strukturen und Deutungsmuster aufzudecken und sie in einen politischen, gesellschaftlichen und historischen Kontext einzuordnen.
Außerdem ermöglicht sie, die dahinterliegenden Interessen, seien es politische, ideologische oder wirtschaftliche, transparent zu machen.

Ich bin natürlich nicht die erste, die die mediale Konstruktion von Nationenbildern untersucht hat. Jedoch lag der Schwerpunkt der einschlägigen Untersuchungen auf dem Printsektor, vor allem auf den Leitmedien: Der Spiegel, SZ, F.A.Z. und Die Zeit.
Meine Arbeit fokussiert dagegen die bisher vernachlässigte Diskursebene: die Nachrichtenbeiträge im Fernsehen.

Sie haben sich auf die Tagesschau als Hauptnachrichtensendung im deutschen Fernsehen konzentriert und auf Wremja, ihr russisches Pendant.

Genau. Und dafür gab es viele Gründe: Lügenpresse-Vorwürfe, Fake News, geringes Vertrauen und Glaube an staatlich gelenkte Medien, um nur einige zu nennen.
Nichtsdestotrotz bleibt die Tagesschau nach wie vor Deutschlands Fernsehnachrichtensendung Nummer Eins, mit knapp 10 Millionen Zuschauern täglich.
Auch Wremja wird aufgrund ihrer Reichweite praktisch als Synonym für russische Fernsehnachrichten verwendet.
All das macht diese Nachrichtensendungen zu einem wesentlichen Instrument, um eine breite Aufmerksamkeit und Akzeptanz für bestimmte Themen und eine bestimmte Politik in der Bevölkerung zu schaffen und die Entscheidungen der Regierung zu legitimieren.

Insgesamt habe ich 89 Nachrichtenbeiträge (47 Tagesschau, 42 Wremja) im Zeitraum vom Dezember 2016 bis Mai 2017 einer Diskursanalyse unterzogen.

Sie führen den Begriff „Realitätskonstruktionen“ an. Medienvertreter sagen öfter mal, dass sie die Realität abbilden. Dass sie Realität konstruieren, hört man eher selten von ihnen. Warum haben wir es auch in der so genannten seriösen Berichterstattung mit Konstruktionen von Wirklichkeit zu tun?

Hier erinnert man sich an das berühmte Diktum des Soziologen Niklas Luhmann: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“.
Indem die Medien uns Informationen über Ereignisse oder Länder vermitteln, bestimmen sie maßgeblich, worüber wir sprechen, welche Bedeutung wir gewissen Themen zuweisen und mit welchen Argumenten wir diskutieren.
Im Prozess der vermeintlichen „Realitätsvermittlung“ ist es nicht selbstverständlich, dass die Medien ihrer Verantwortung und Funktion, die ihnen in unserer Gesellschaft zukommt, gerecht werden.
Es gibt mehrere Faktoren, die eine gründliche und „objektive“ Berichterstattung erschweren und den unvoreingenommenen Blick verstellen: Mangel an Korrespondenten, wirtschaftlicher Druck, Nachrichtenwerte, Klischees und Vorurteile, um nur einige zu nennen. Somit sind die Medien keine passiven „Realitätsvermittler“, sondern bringen ihre eigene, auf bestimmte Aspekte reduzierte Version der Realität hervor ‒ also konstruieren sie.

Was bedeutet es, wenn beispielsweise in der Berichterstattung der Tagesschau Konstruktionen von Realität den Zuschauern gezeigt werden?

Die mediale Darstellung Russlands in der Tagesschau setzt sich ja aus einer Reihe der berichteten Ereignisse zusammen. Dabei gelangen nur ausgewählte Themenaspekte, Meinungen und Argumente in die Berichterstattung, während die anderen ignoriert werden.
Am Ende haben wir kein „reales“, kein umfassendes Bild des Landes, sondern die „Tagesschau-Realität“, also das Bild, das die Tagesschau in diesem Auswahl- und Konstruktionsprozess an ihre Zuschauer vermittelt.

Und dieses Bild bzw. diese Perspektive entspricht dann „zufällig“ der Perspektive, die die Bundesregierung einnimmt?

Nein, das ist kein Zufall. An staatlich gelenkte Medien oder Anweisungen „von oben“ **) glaube ich jedoch nicht. Vielmehr geht es um das Weltbild und das Wertesystem, in dem die politische und wirtschaftliche Elite, aber auch viele einflussreiche Journalisten in Deutschland sozialisiert wurden.
Dabei sollte es nicht wundern, dass sich die Themen und Diskurse der Bundesregierung mit der Berichterstattung der Medien überschneiden. Das ist eine Art gegenseitige „Gesinnungsnähe“.

Gehen wir auf das Deutschlandbild ein, das in den russischen Medien vorzufinden ist. Was ist Ihnen aufgefallen?

Bemerkenswert ist, dass der Westen, so Wremja, die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges bis heute nicht überwunden hat. Die EU-Sanktionen sowie zahlreiche Vorwürfe gegen Russland, seien es staatlich gelenkte Hackerattacken oder Desinformationskampagnen, beeinträchtigen die politische Zusammenarbeit zwischen den Ländern. Für die Bundesregierung bedeutet das quasi ein „außenpolitisches Fiasko“.
Deutschland wird als Land am Abgrund dargestellt, das im Fokus von Terroristen ist, mit einer in Angst und Schock versetzten Bevölkerung, unprofessioneller Polizei, unzuverlässigen Sicherheitsdiensten und verantwortungslosen Politikern.

Was noch?

Deutsche Medien verschweigen, so Wremja, unangenehme Wahrheiten über Flüchtlinge. Neben Terroranschlägen mit zahlreichen Todesopfern sind auch sexuelle Übergriffe und Straftaten, die Flüchtlinge in Deutschland begehen, Folge der fehlerhaften Politik der Bundeskanzlerin, die „gefährliche Migranten“ in die Bundesrepublik einlädt. Die Bevölkerung muss nun die Fehler der Politiker ausbaden, erklärt die Nachrichtensendung.

Woher kommt dieses Bild?

Besonders auffällig ist hier nicht dieses Bild als solches, sondern vielmehr die Strategie, die hinter dieser Konstruktion liegt. Mit diesem Deutschlandbild lässt Wremja Russland unter Putins Führung trotz vieler unübersehbarer Probleme wesentlich besser aussehen.
Das Bild des unsicheren und gespaltenen Westens macht deutlich, zu welchen dramatischen Konsequenzen die vom Kreml scharf kritisierte Einwanderungs- und Integrationspolitik Merkels führt.
Nimmt man an, dass Wremja im Sinne der russischen Regierung berichtet, ist eine solche Argumentationslinie für die russische Regierung durchaus vorteilhaft.

Zurück zur Tagesschau. Erzählen Sie uns bitte genauer, wie berichtet die Tagesschau über Russland?

Russland ist mächtig und böse ‒ und immer ein Gegenpol zum Westen. Hier geht die Tagesschau über die reine Informationsvermittlung hinaus und betrachtet die Welt durch die „westliche“ Brille. Was heißt das genau?
Für die westliche Welt ist die Demokatie ja das höchste Gut. Dagegen ist Putin ein Antidemokrat, ein autoritärer Machthaber eines korrupten Landes. Der Kremlchef und sein Machtzirkel verkörpern das Böse und das Bedrohliche, während die Tagesschau sich als moralische Autorität inszeniert.
Hier betont die Nachrichtensendung jedoch das, was auch das Auswärtige Amt sagt:
„Die Tür für einen partnerschaftlichen Dialog steht offen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit begeht Russland, auch Wladimir Putin persönlich, so die Tagesschau, grausame Verbrechen und versucht, politische Prozesse in anderen Ländern zu beeinflussen: Russland unterstützt den syrischen Diktator, bombardiert Zivilisten, Krankenhäuser und humanitäre Hilfskonvois, will das Machtgefüge in anderen Regionen mitbestimmen, trägt zur Eskalation des Konfliktes in der Ostukraine bei, mischt sich mit Hackerangriffen in den US-Wahlkampf ein, annektiert ein fremdes Territorium, bedroht seine Nachbarn, betreibt ein staatliches Doping-System, unterdrückt und marginalisiert die Opposition. All das gibt einen Anlass für die massive Kritik seitens westlicher Spitzenpolitiker und Journalisten sowie internationaler Organisationen. Gleichzeitig muss die friedliche EU auch denjenigen helfen, die unter Russland und Putin leiden.“
Diese einheitliche Argumentationslinie führt leider zu einer schablonenhaften Berichterstattung.

Aber im Hinblick auf die russische Politik und so manchen Zustand im Land, gibt es doch tatsächlich auch einiges zu kritisieren.

Das stimmt, das bestreite ich ja auch nicht. Das Problem, das ich dabei jedoch sehe, ist eine zunehmende Negativierung des Russlandbildes. Russland als Aggressor, Putin als unberechenbarer und verbrecherischer Politiker ist zum common sense der Tagesschau-Berichterstattung geworden.
Dem guten Willen der westlichen Regierung, die sich auf freiheitlich-demokratische Grundwerte stützt, werden stets böse Absichten des Kremls gegenübergestellt. Durch den Verzicht auf Perspektivenwechsel schafft die Tagesschau eine Realität, in der das westliche Wertesystem als Bewertungsmaßstab gilt und Russland dagegen offenbar verstößt. Für positive Nachrichten aus Russland gibt es in dieser Tagesschau-Welt einfach keinen Platz mehr.

Wie erklären Sie sich die Berichterstattung der Tagesschau?

Viel plausibler als die gängigen Propaganda- und Verschwörungsvorwürfe erscheint mir eine Erklärung, die auch der Medienwissenschaftler Uwe Krüger*) liefert. Das habe ich vorher schon kurz angesprochen.
Der Grund für die einseitige Berichterstattung liegt vor allem in der beruflichen und persönlichen Sozialisation der meisten deutschen Journalisten. Diejenigen, die mit westlichen Werten und gewohnten Deutungsmustern, mit der Nähe zu den USA und zur NATO aufgewachsen sind und auch heutzutage in US- und NATO-affinen Strukturen eingebunden sind, tendieren eher dazu, Kräfte aus dem ehemaligen gegnerischen Lager als böse anzusehen.
Dagegen sind sie gegenüber denjenigen, die ihrem Wertesystem nahestehen, automatisch weniger kritisch und sehen sie eher als Verbündete. Es wundert nicht, dass die Journalisten ihr Weltbild dann auch verteidigen.
Dabei ist die Grenze zwischen einer vermeintlich objektiven und einer stereotypen Darstellung jedoch sehr verschwommen. Um eine „andere Geschichte“ zu erzählen und von den Stereotypen und Klischees wegzukommen, müssen die Journalisten gründlicher und tiefer recherchieren. Dies wäre wiederum nur mit großem Geld- und Zeitaufwand möglich.

Waren Sie eigentlich im Hinblick auf Ihren Befund überrascht?

Eigentlich nicht. Insbesondere die Russlandberichterstattung, vor allem der Vorwurf der Dämonisierung, ist schon seit Jahren ein umstrittenes Thema, an dem man kaum vorbeikommt.
Nichtsdestotrotz fand ich es äußerst spannend, einzelne Nachrichtenbeiträge unter die Lupe zu nehmen und das Unvergleichbare zu vergleichen. Und obwohl der zentrale Befund wenig überrascht, war mir viel wichtiger zu beschreiben, in welcher Form und mit welchen Inhalten die Nationenbilder vermittelt werden.
Genauso war von Interesse, welcher Strategien sich die Nachrichtensendungen Nummer Eins in den jeweiligen Ländern bedienen – also auf sprachlicher, visueller und auditiver Ebene.

Birgt so eine Berichterstattung auch Gefahren?

Ja, schon. Denn Massenmedien spielen die entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung Russlands und Deutschlands in der jeweiligen Gesellschaft. Ich möchte nicht bewerten, ob deutsche bzw. russische Journalisten absichtlich die negativen Bilder vermitteln, ob sie ganz bewusst als Teil einer staatlichen Propagandamaschine agieren oder tatsächlich „einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und länderbezogene Geschehen“ geben wollen, wie der NDR-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 1) dies erfordert.
Dennoch lässt sich die einseitige und tendenziöse mediale Berichterstattung als Ergebnis der Analyse festhalten. Und trotz intensiver Wirtschaftbeziehungen und eines interkulturellen Dialogs zwischen Russen und Deutschen führt sie zu einer wachsenden Kluft zwischen den beiden Nationen, die ich leider zunehmend feststelle.

Was müsste sich in der Berichterstattung deutscher und russischer Medien ändern?

Die Journalisten sollten aufhören, an die Überlegenheit des eigenen Weltbildes zu glauben. Denn das macht blind für die Interessen der Anderen.
Sie sollten aufhören, immer wieder auf gewohnte Klischees und Freund-Feind-Bilder zurückzugreifen, und mal einen Perspektivenwechsel wagen.
Aber auch jeder von uns sollte lernen, mit eigenen Fremdbildern und Stereotypen umzugehen und aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in historische und kulturelle Kontexte einzuordnen.
Schließlich sollte man versuchen, sich in die Lebensrealität und die Lage des Anderen zu versetzen.

*) Zur Veröffentlichung Uwe Krügers siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2017/03/29/die-luegenpresse-im-realitaetscheck/
und http://www.nachdenkseiten.de/?p=31990

**) Dass es „Sprachregelungen“ für die politische Berichterstattung der Staatsmedien auch in Deutschland gibt, hat eine ehemalige Mitarbeiterin derARD inzwischen zugegeben.

Passender Nachtrag Mai 2020 von Albrecht Müller:tagesschau

 

Terrorismus der westlichen Welt Teil 1: Kriege, Kriegsverbrechen und Propaganda

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Dieser erste Teil eines dreitiligen Artikels von Sascha Pommrenke ist so gut, dass ich ihn hier unbedingt fast komplett wiedergeben muss.
Er fasst alles, was zu sagen wäre, schön zusammen und ist trotzdem recht lang. Eine ausführliche Diskussion dazu findet sich hier:
http://www.heise.de/tp/artikel/43/43771/1.html

Der Terrorismus der westlichen Welt – Teil 1

„Unsere Kultur, unsere Demokratie steht gegen Unfrieden, Hass und todbringende Gewalt“, frömmelte[1] der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache.
Währenddessen beglückwünschte[2] sich die NATO für die besonders erfolgreiche ISAF-Mission in Afghanistan selbst.
Todbringende Gewalt, auch das weiß[3] Gauck, muss man bekämpfen: „Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ Und zu den Waffen greift die westliche Wertgemeinschaft schnell und gerne. Millionen Tote und unzählige Verstümmelte hinterlässt der „Kampf für Menschenrechte“.

Die Artikelserie zum Terrorismus der westlichen Welt wirft einen Blick auf die Realitäten der Kriege und „Interventionen“, die meist hinter einem medialen Schleier des Anscheins des sauberen und gerechten Krieges verschwinden.

Amerikaner und Europäer einen[4] die „gemeinsamen humanistisch-universalistischen, normativen Orientierungen und Ziele“. Die transatlantische Wertegemeinschaft steht für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und vor allem für die Einhaltung der Menschenrechte.
Diese höheren Werte werden bei jedem neuen Konflikt, als das zu verteidigende Banner vor sich her getragen. Und während Politik und Medien genau dieses Bild aufrechterhalten, vernichtete und vernichtet die westliche Wertegemeinschaft, jenseits der medialen Aufmerksamkeit, Millionen Menschenleben. „Freiheit“ und Wohlstand der westlichen Welt werden mit dem Tod von „Unpersonen“ erkauft.

MQ-1 Predator. Bild: U.S. Airforce

Noam Chomskys und Andre Vltchecks Gespräch „Der Terrorismus der westlichen Welt. Von Hiroshima zu den Drohnenkriegen“[5] aus dem Jahr 2012 steht Namenspate für die neue Artikelserie bei Telepolis.
Die Weltgeschehnisse, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, werden dabei aus einer anderen Perspektive als der gewohnten erzählt. Einer Perspektive, die nicht der offiziellen westlichen Geschichtsschreibung folgt, in der der Westen für Humanismus, Demokratie und Wohlstand steht.
Der emeritierte Linguistikprofessor Chomsky und der Publizist und Filmemacher Vltcheck beschreiben eine Welt, in der „hunderte Millionen Menschen direkt oder indirekt infolge westlicher Kriege und Interventionen ermordet wurden“.
Eine Welt, in der sich hinter den meisten Kriegen und Konflikten, „wirtschaftliche und geopolitische Interessen des Westens“ verbergen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Politik des Westens „jeden Terrorismus weit in den Schatten“ stellt.
Möglich wird dies unter anderem auch, weil die westlichen Medien Zensur üben, „indem sie Informationen unterschlagen oder falsche und abwegige Darstellungen liefern – oft genug, ohne sich dessen bewusst zu sein“.1

Die aktuellen Forderungen nach einer Debatte über „Deutschlands neue Macht“ und damit „Deutschlands neuer Verantwortung“, bedürfen eines realistischen Kontextes. Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, was „neue Verantwortung“ bedeuten kann. Es ist ein Einfaches, in Redaktionsstuben zu sitzen und einer interventionistischen Bundeswehr publizistisch den Weg zu bereiten. Die Forderung, es müsse eine Debatte geführt werden, ist solange propagandistisch, wie die wirklichen Folgen von Kriegen aus den Medien und somit aus den Debatten fern gehalten werden.

Vom massenhaften Töten und Unpersonen

Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte des massenhaften Tötens. Vltcheck geht von etwa 50 bis 55 Millionen getöteten Menschen als direkter Folge des Kolonialismus aus; nach dem Zweiten Weltkrieg. Hinzu kämen mehrere hundert Millionen „indirekt durch prowestliche Militärputsche und anderweitige Auseinandersetzungen“ vernichtete Menschenleben.2
Bedrückend daran sei zudem, dass die westlichen Medien nicht darüber berichten würden.

Chomsky verweist in diesem Zusammenhang auf George Orwell, der den Begriff „Unperson“ verwendete. „Die Welt teilt sich in Leute wie wir, und in Unpersonen – die bedeutungslosen anderen. […] Das Schicksal von Unpersonen kümmert uns nicht.“3
Hier wirkt der gleiche sozialpsychologische Mechanismus, der auch bei den direkten Tätern des massenhaften Tötens greift.

Entscheidend für die Herabsetzung der dem Menschen eingebauten Tötungshemmung ist die Aberkennung des Menschseins der zu Tötenden.

Elçin Kürşat-Ahlers4

Oder wie es Dave Grossmann[6] formuliert, sei ein entscheidender Mechanismus die Herstellung von kultureller Distanz, um Menschen zum Töten zu bewegen.
Kulturelle Distanz zielt darauf ab, den „Feind“ als minderwertiges Leben zu betrachten. Seine Lebensgewohnheiten, seine Kultur, seine Religion und seine „gesellschaftlichen Autoritäten“ werden dabei als „albern“ vorgeführt.5
Dem Töten geht immer die Abwertung bis hin zur Entmenschlichung des Opfers bzw. der Opfergruppe voraus. Dies ist kein individuelles Vorgehen seitens der Täter, sondern ein gesellschaftlicher Prozess. So, wie die Täter die Knöpfe bedienen, die Abzüge drücken, mit Messern, Beilen und Macheten Menschen abschlachten, so wird die „Heimatfront“ propagandistisch darauf eingestellt, dass das so auch in Ordnung, gar notwendig, sei.
Zu den „physischen Tätern“ gesellen sich „psychische Täter“. Politiker und Medien knüpfen an den Ängsten und Ressentiments der Bevölkerung an, sie erschaffen, schüren und befeuern die emotionalen Reaktionen auf den „Feind“.
Ohne eine mediale Hetze der symbiotischen Beziehung von Politik, Wirtschaft und Medien wären Kriege kaum möglich.
Das ist allerdings eine menschliche Universalie und keine Besonderheit des Westens.

So, wie die Täter zum Vollführen ihres massenhaften Tötens vom Menschsein der Opfer absehen, so sehen große Teile der Medien die Opfer ebenfalls nicht als gleichwertige Menschen. Das ist der Grund, warum in den meisten Nachrichten nichts über die zerstörerische Rolle des Westens in den vergangenen wie gegenwärtigen Krisen und Konflikten zu lesen ist.
Die Medienberichterstattung wird also nicht zentral gesteuert oder gar zensiert, auch wenn das selbstverständlich vorkommt. Der Mechanismus ist jedoch wesentlich fundamentaler. Ohne einige erkenntnistheoretische wie soziologische Überlegungen wird man das Grundproblem nicht ergründen können.

Alle Menschen einer Gruppe teilen bestimmte psychische Merkmale. Sie teilen gemeinsame Erfahrungen, Traditionen, Werte, Sitten und Normen.
In der Soziologie spricht man in diesen Zusammenhang auch von der sogenannten zweiten Natur. Denn die im Sozialisationsprozess verinnerlichten Empfindens- und Verhaltensweisen werden zum Teil der Persönlichkeitsstruktur, die genauso zwingend ist wie die erste Natur.
Der biologische Zwang zum Essen, Trinken, Schlafen usw. ist demnach genauso zwingend wie die psychosozialen Zwänge, die sich in Gruppen bzw. Gesellschaften herausbilden, z.B. die Bewertung, wer Freund ist und wer Feind.
Bei Norbert Elias und Pierre Bourdieu wird in diesem Zusammenhang auch vom (sozialen) Habitus gesprochen.

Der Habitus als verstetigte Empfindens- und Verhaltensweise gruppenspezifischer Prozesse setzt den Gruppenmitgliedern Grenzen der Erfahrung. Dieser Bezugsrahmen der Erfahrung kann nicht ohne weiteres überschritten werden. Johann Wolfgang von Goethe hat dieses Phänomen treffend beschrieben:

„Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“

Erkenntnistheoretisch formulieren es Lothar Schäfer und Thomas Schnelle in der Einleitung zu Ludwik Flecks Erfahrung und Tatsache6:

„Soziale Faktoren dreierlei Art wirken auf jede Erkenntnistätigkeit ein:

  1. „das Gewicht der Erziehung“: Kenntnisse bestehen zum überwiegenden Teil aus Erlerntem, nicht aus neu Erkanntem. Mit jeder Erkenntniswiedergabe im Lernprozeß aber verschiebt sich der Kenntnisgehalt gleichzeitig unmerklich.
  2. „die Last der Tradition“: Neues Erkennen ist immer schon durch das bisher Erkannte vorgeprägt.
  3. „die Wirkung der Reihenfolge des Erkennens“: Was einmal konzeptionell formuliert wurde, schränkt den Spielraum darauf aufbauender Konzeptionen immer schon ein.“

Unabhängig von bewusster Propaganda greifen gesamtgesellschaftliche wie gruppenspezifische, tradierte Bewertungsmuster.
Ein Großteil der Bevölkerung interessiert sich schlichtweg nicht für die Lebensbedingungen von Indern oder Indonesiern. Welches Schicksal erleiden die Menschen in Usbekistan oder Weißrussland? Wie viele Millionen Menschenleben wurden im Kongo vernichtet? Warum heißt Liberia Liberia?
Wo in Vietnam fanden die Bombardierungen der Amerikaner statt? Was ist in Falludscha geschehen?

Man macht es sich zu einfach, lediglich Journalisten vorzuwerfen, sie würden über die Verbrechen des Westens nicht berichten. Das ist zwar weitestgehend richtig. Aber Medienschaffende wie Rezipienten teilen in weiten Bereichen die Vorstellungen und Werturteile über Unpersonen.

Das mörderische Vermächtnis des Kolonialismus

Das ist der Grund, warum wir so wenig darüber wissen, was der Kolonialismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg angerichtet hat. Nachdem die Europäer die amerikanischen Kontinente eroberten, wurden zwischen 75 und 95 Millionen Menschenleben vernichtet.
Das antiamerikanische Ressentiment, dass doch die Amerikaner die „Indianer“ ausgerottet hätten, ist insofern absurd, da es sich um europäische Exilanten handelte, die die Massaker auf dem amerikanischen Kontinent verübten.
Von den 10 Millionen Native Americans, die zu Zeiten von Kolumbus auf dem heutigen Staatsgebiet der USA lebten, waren bei einer Volkszählung 1900 noch 200.000 übrig.7

Überall auf der Welt, in allen europäischen Kolonien, wurden die indigenen Bevölkerungen unterdrückt, ausgebeutet, gefoltert und massakriert.

Die ersten Konzentrationslager wurden nicht von den Nazis in Deutschland errichtet, sondern vom britischen Imperium in Kenia und in Südafrika. Und gewiss war der von den Deutschen an europäischen Juden und Roma verübte Holocaust nicht der erste deutsche Holocaust; die Deutschen waren bereits an schrecklichen Massakern an der Südspitze Südamerikas und in der Tat auf der ganzen Welt beteiligt gewesen. Die hatten schon den Großteil des Herero-Stammes in Namibia ausgelöscht, doch all das wird in Deutschland und im übrigen Europa kaum diskutiert.

Chomsky und Vltcheck8

1904 erließ General Lothar von Trotha einen sogenannten Vernichtungsbefehl9:

Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. […] Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.

Deutlicher kann man Menschen kaum zu Unpersonen deklarieren. Und noch 1907 rühmte man sich des Massenmordes an den Herero: „[…] wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur des eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes.“
Die vollständige Vernichtung von Unpersonen war schon immer Doktrin des militärischen Totalitarismus. So wurde von Trotha auch vom Chef des Generalstabs Alfred Graf von Schlieffen unterstützt: „Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.“

Überlebende Herero nach der Flucht. Bild: Public Domain

Der Genozid an den Herero gilt als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts und wurde als solcher auch von der Generalversammlung der Vereinten Nationen anerkannt. Nur Deutschland weigert[7] sich, den Völkermord anzuerkennen.
„Bundesregierung: Deutschland hat keinen Völkermord an Herero und Nama begangen“:

„Bewertungen historischer Ereignisse unter Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen, die im Zeitpunkt der Ereignisse weder für die Bundesrepublik Deutschland noch für irgendeinen anderen Staat in Kraft waren, werden von der Bundesregierung nicht vorgenommen.“
Was die historischen Fakten betreffe, so seien diese Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.

Was kümmern uns Unpersonen? Mit der gleichen Logik gelänge es der Bundesregierung auch, die Nürnberger Prozesse als Siegerjustiz nicht anzuerkennen.
Bei der Beschreibung Chomskys zum Völkermord an den Herero kommt es nicht darauf an, ob man den Begriff Holocaust in diesem Zusammenhang für richtig hält. Oder ob man den Begriff Konzentrationslager exklusiv für die nationalsozialistischen Lager benutzen möchte. Entscheidend ist zu erkennen, dass Geschichte ein sozialer Prozess ist. Die Vernichtungslager sind nicht plötzlich da gewesen.
Das Land der Dichter und Denker ist nicht über Nacht brutalisiert worden. Die menschenfeindliche Logik der Ausbeutung, Unterwerfung und wenn kein Nutzen zu erwarten ist, dann Vernichtung, ist eine mächtige Traditionslinie in den westlichen Gesellschaften.
Sie hat weder mit Auschwitz begonnen, noch wurde sie mit Nagasaki beendet.

In der Demokratischen Republik Kongo wurden sechs bis zehn Millionen Menschen getötet, ungefähr genauso viele wie Anfang des 20. Jahrhunderts durch den belgischen König Leopold II. […] Obwohl in den meisten Fällen Ruanda, Uganda und deren Stellvertreter Millionen unschuldiger Menschen umbringen, verbergen sich stets die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens dahinter.

Chomsky und Vltcheck10

Es ist nicht relevant, ob es vier, fünf oder sechs Millionen getötete Menschen sind. Entscheidend ist, dass wir über das Ausmaß und die Hintergründe nicht angemessen informiert werden.
Wer sucht, der findet[8] zwar auch, doch wäre es Aufgabe von Journalisten, zumal der öffentlich-rechtlichen Medien, über Krisen, Kriege und Völkermorde angemessen zu berichten.
So könnte man erfahren, dass der Ostkongo reich ist an Zinn, Wolfram, Tantal und Gold. Wichtige Rohstoffe für die Automobilindustrie und die Elektronik- und Computerindustrie. Millionen Tote sichern hohe Profite für neue Handys und Computer. Wir konsumieren Menschenleben.

Wenn sie tot sind, waren es Vietcong

Neben solch indirekter Kriege, bei denen sich die einheimische Bevölkerung gegenseitig abschlachtet, gibt es auch zahlreiche direkte Kriege mit Beteiligung des Westens. Der Vietnamkrieg ist ein Beispiel für die besondere Skrupellosigkeit des Westens bei der Vernichtung von Unpersonen.
Die Vereinigten Staaten setzten Napalm und chemische Kampfstoffe ein, trieben Menschen in „strategische Dörfer, … bei denen es sich in Wirklichkeit um Konzentrationslager oder städtische Slums handelte“.11

Der Einsatz von Agent Orange, den die USA nicht als chemische Kriegsführung anerkannt haben und deshalb den Opfern jedwede Entschädigung verweigern, führt noch heute zu starken Missbildungen bei Neugeborenen.
Etwa 100.000 Kinder mit Missbildungen sind auf die Vergiftung der Eltern mit Agent Orange zurückzuführen[9]: „Nach neuesten Forschungen versprühte die US-Armee während des Vietnamkrieges 80 Millionen Liter toxischer Chemikalien. Weil der vietnamesischen Regierung das Geld für großflächige Bodenversiegelungen fehlt, ist das Gift auch 30 Jahre nach Kriegsende noch im Nahrungskreislauf. Schätzungsweise zwei bis vier Millionen Menschen sind von den Spätfolgen betroffen.“

Die völlige Entgrenzung der Kriegsführung durch die USA hat etwa 4 Millionen Menschenleben in Vietnam, Kambodscha und Laos gekostet.
Der Spiegel weiß[10] bereits 1966 von etwa 35.000 Bombardierungen, erwähnt aber mit keinem einzigen Wort die Opfer. In den USA war es nicht anders.

In Media Control hat Chomsky auf eine Umfrage verwiesen12, die im Zuge des Golfkrieges durchgeführt wurde. Es wurde unter anderem nach der Anzahl der getöteten Vietnamesen gefragt. Im Durchschnitt gaben die Befragten 100.000 an. Was kümmern uns Unpersonen? Zehn Millionen Tonnen Bomben – mehr als alle Bomben im gesamten Zweiten Weltkrieg von allen Parteien abgeworfen – haben vier Millionen Menschen zerrissen. Napalm hat sich auf brutalste Weise durch die Körper gefressen, die chemische Kriegsführung, Landminen und nicht explodierte Splitter- und Brandbomben töten noch heute hunderte Menschen.
Und wir? Wir halten den Vietnamkrieg für eine Intervention gegen die Kommunisten. Denn die Kommunisten müssen mit allen Mitteln aufgehalten werden, weil die so grausam sind. Geradezu unmenschlich.

„…Bevor ich nach Saigon kam, hatte ich gehört und gelesen, daß Napalm das Fleisch schmilzt, und ich dachte, das ist Quatsch, weil ich einen Braten in den Ofen schieben kann und das Fett schmilzt, aber das Fleisch bleibt dran. Ich kam und sah diese von Napalm verbrannten Kinder, und es ist einfach wahr. Die chemische Reaktion des Napalms schmilzt ihr Fleisch einfach, das Gewebe läuft ihnen das Gesicht herunter und auf ihre Brust, und da bleibt es und wächst dort weiter. Diese Kinder konnten ihren Kopf kaum bewegen … Und wenn die Entzündung einsetzt, schneiden sie ihnen die Hände, Finger oder Füße ab. Das einzige, was sie nicht abschneiden können ist der Kopf.::Martha Gellhorn13

Es kümmert uns nicht, wenn unsere Verbündeten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, korrekt sollte es heißen: Verbrechen gegen die Menschheit, begehen. Verstöße gegen oder Bruch des Völkerrechts oder der Menschenrechte begehen nur Verbrecherregime.
Wir jedoch haben die Errungenschaften des Rechtsstaates. Bei uns werden Verbrechen geahndet und deswegen kommen sie auch nicht vor bzw. sind Einzelfälle denen mit der Härte des Gesetzes begegnet wird.
Das ist der Anschein, der Phantasiepanzer, den sich das Bürgertum zugelegt hat, um sich nicht mit der schrecklichen Wahrheit auseinandersetzen zu müssen.

Die Logik des Krieges

Im Falle des Massenmords von My Lai, der am 16. März 1968 stattfand, ging die Tötungsbereitschaft der amerikanischen Soldaten so weit, dass nicht nur Menschen ermordet, sondern auch noch ihr Vieh abgeschlachtet und ihre Häuser niedergebrannt wurden – so, als sollte buchstäblich nichts, keine Spur von den Opfern und ihrem Leben, übrig bleiben. Viele der Frauen des Ortes wurden vergewaltigt, bevor sie ermordet wurden. Es handelte sich um einen Massenmord, der […] niemanden ausließ, also im Ergebnis einen Vernichtungswillen erkennen ließ, der keine Ausnahmen vorsah. Insgesamt fielen diesem Massenmord 504 Vietnamesinnen und Vietnamesen zum Opfer; ganze drei von ihnen erfüllten als junge Männer das Kriterium, möglicherweise gegnerische Kämpfer zu sein, ein Einziger war nachweislich bewaffnet.

Quelle14

My Lai war das Ergebnis des militärischen Totalitarismus. Diese Logik kennt nur die Vernichtung des Feindes. Und Feind ist, wer zum Feind deklariert wird. Ist er tot, war er ein Feind.
Diese perverse, menschenverachtende Logik ist selten deutlicher dokumentiert als im Bodycount, dem Leichenzählen. Dahinter steckt die einfache Wahrheit, dass, wenn genügend Feinde getötet werden, niemand mehr übrig bleibt, der sich widersetzen könnte.
Um dieses Ziel zu erreichen, wurden Free-Fire-Zones eingerichtet. Der Auftrag war so einfach, wie illegal: „Tötet alles, was sich bewegt“.

Beim Massaker von My Lai ermordete vietnamesische Zivilisten. Bild: U.S. Army

Der Journalist Seymour Hersh, der das Massaker von My Lai recherchierte, benötigte ein Jahr bis er einen Verlag gefunden hatte, der die Geschichte veröffentlichen wollte. Erst eineinhalb Jahre nach dem Massaker wurde die Geschichte publiziert, nachdem bei 50 Herausgebern und Verlegern persönlich vorgesprochen wurde.

In Zeiten des vaterländischen Krieges gegen die grausamen Kommunisten möchte niemand als Vaterlandsverräter dastehen und so zensieren sich die Medien lieber selbst.
Wenn Politik und Medien versagen, dann bleibt immer noch der Rechtsstaat auf den die westliche Wertegemeinschaft stolz ist.
Für das Massaker von My Lai wurden vier Soldaten angeklagt. Lediglich Leutnant William Calley wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Einige Bundesstaaten setzten die Flaggen aus Solidarität mit dem Angeklagten auf Halbmast und die Gouverneure riefen zu Sympathiekundgebungen für Calley auf. Einer dieser Gouverneure war der spätere US-Präsident Jimmy Carter. Am 29. März 1971 wurde Calley, der auf Befehlsnotstand beharrte, der vorsätzlichen Tötung von 22 Zivilisten schuldig gesprochen und am 31. März 1971 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Schon am darauffolgenden Tag, dem 1. April 1971, verfügte Präsident Nixon seine Haftentlassung. Calley bekam lediglich Hausarrest.
Am 20. August 1971 wurde seine nominelle Strafe durch die Army jedoch auf 20 Jahre verkürzt, danach von Heeresminister Callaway nochmals halbiert.
1974 wurde Calley durch Richard Nixon endgültig begnadigt.

Wikipedia[1]

Um es mit den Worten Calleys15 zu sagen:

What the hell else is war than killing people?

My Lai wäre nicht aufgeklärt worden, wäre es nach den US-amerikanischen Militärs gegangen. Denen galt das Massaker lange als militärischer Erfolg.
Es waren einfache Soldaten, Fotografen und ein investigativer Journalist, die das Verbrechen aufdeckten. Der Soldat, der die Aufklärung des Verbrechens überhaupt erst ermöglicht hatte, wurde von einem Teil der Medien als „Verräter, Dreckskerl, Agent von Hanoi, Kommunist, Jude und eine Schande für unsere Gesellschaft“ beschimpft[11].
Das Mitgefühl gilt den eigenen tapferen Soldaten. Was interessieren uns Unpersonen?

Beim Massaker von My Lai getötete Frau. Bild: U.S. federal government

My Lai war keine Ausnahme auch wenn der Versuch recht erfolgreich war, dies so im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
Kriegsverbrechen des Westens finden entweder offiziell gar nicht statt oder werden als Einzelfall und absolute Ausnahme kommuniziert.
Doch die Wahrheit ist eine gänzlich andere. Der Krieg, den wir nicht sehen sollen, ist eine Aneinanderreihung von Verbrechen. Das wissen Militärs und Politiker, weshalb ein Großteil des Krieges im Geheimen stattfindet.
Der saubere Krieg rechtsstaatlich verpflichteter Soldaten, die für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte kämpfen, ist eine Lüge.

„Krieg ist Krieg“, begründete[12] der zuständige Richter die Freilassung Calleys, „und es ist keineswegs ungewöhnlich, daß unschuldige Zivilisten wie die Opfer von My Lai getötet werden. In der gesamten überlieferten Geschichte war es so. Es war so, als Josua Jericho einnahm.
Josua wurde allerdings nicht wegen Mordes an der Zivilbevölkerung Jerichos angeklagt. Aber schließlich, so sagt man uns, stand ja Gott auf Seiten Josuas.“ Und so ist es nur folgerichtig, Massenmörder straffrei zu belassen.
Krieg ist Krieg, ist die Logik der Menschenfeinde. Eine Logik, die bis heute wirkmächtig ist und als ultimatives (Schein-)Argument angeführt wird. Krieg ist Krieg, bedeutet nichts anderes als: Schweigt ihr Gutmenschen. Wer nur in Kategorien des Krieges denkt, der kennt keine Mörder in den eigenen Reihen. Der kennt nur pflichtbewusste Soldaten, die über die Stränge schlagen. Und das passiert nun mal leider ab und an.

Von US-Soldaten getötete Vietnamesen. Bild: U.S. federal government

Tatsächlich[13] aber werden ein „ums andere Mal, abertausendfach, […] Alte, Frauen, Kinder in einem entlegenen Dorf wahllos erschossen, in Bunkern mit Handgranaten getötet, erst vergewaltigt, dann ermordet […], in ihren Hütten verbrannt, verstümmelt, um aus ihren Ohren und Fingern Trophäen-Ketten zu fertigen“.
In der Logik des Totalitären existieren nur noch Feinde. Zivilisten gibt es nicht mehr. Insofern ist My Lai nicht ein Kriegsverbrechen des Vietnamkrieges, sondern der Vietnamkrieg ist das Kriegsverbrechen mit unzähligen My Lais.

Ich habe dieselben Grausamkeiten begangen wie Tausende andere Soldaten: Ich habe an Operationen in „Feuer-Frei-Zonen“ teilgenommen … Maschinengewehre auf Befehl in „Search and Destroy“-Aktionen gegen Menschen eingesetzt … Dörfer niedergebrannt … All das wider die Gesetze der Kriegsführung, wider die Genfer Konvention…als Teil der offiziellen Regierungspolitik.

John Kerry 1971

Kriegsverbrechen sind im Krieg die Regel und nicht die Ausnahme. Eine Erkenntnis, die der Westen immerfort zu verdecken versucht.

„Aus diesen Hinterhalten heraus haben wir wahllos getötet, und eine Menge Opfer waren keine Vietcong. Wir benutzten Claymores (Anti-Personenminen – B.G.) gegen jede Person und jedes Boot, das vorbeikam, und manchmal war es ein Kahn mit […] ein paar Frauen oder manchmal ein Bauer mit einer Hacke. Nix besonderes, sobald wir sie getötet hatten. Waren sie eben Vietcong.::Quelle16

„Nur ein toter Talib ist ein guter Talib“

An der Logik des Krieges und der Logik der Militärs hat sich bis heute nichts geändert.
Mit Drohnenanschlägen in Pakistan werden nie „Menschen“ getötet. Es sind immer „Militante“[14]. In Afghanistan ist es nicht anders.
Das NATO-Wording für jedweden Widerständigen ist Taliban. Auch wenn die Getöteten nichts mit den Taliban zu tun hatten.
Ein ehemaliger US-Offizier stellte 2009 resigniert fest, dass es in Afghanistan gar nicht gegen einen einheitlichen Feind ging, wie es immer kolportiert wird, sondern: „I thought it was more nationalistic. But it’s localism. I would call it valley-ism.“

Manche Gruppen würden nicht einmal Verbindungen zu Gruppierungen unterhalten, die nur wenige Kilometer entfernt seien. Von den „hunderten, vielleicht tausenden“ dieser Gruppen in ganz Afghanistan, gibt es seiner Anschauung nach nur wenige, die „ideologische Verbindungen“ zu den Taliban hätten.

„..aber warum und wozu?“[1]

Vltcheck schließt aus der krassen Diskrepanz zwischen tatsächlichem Geschehen, der Deutung der Geschehen aus westlicher Perspektive und der medialen (Nicht-)Berichterstattung:

Im Allgemeinen halte ich die Menschen im Westen, besonders Europäer, für extrem indoktriniert und von einem Gefühl ihrer Einzigartigkeit besessen.
Sie durchlaufen eine einseitige Erziehung und verlassen sich auf ihre Medien, und infolgedessen sehen sich viele als Auserwählte und suchen nicht nach alternativen Informationsquellen.

Chomsky und Vltcheck17

Ausgehend von dem Diktum Niklas Luhmanns – „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“18 – lässt sich konstatieren, dass wir über die Kriege des Westens so gut wie nichts wissen. Oder besser: über aktuelle Kriege.
Die USA werden einen „Fehler“ wie in Vietnam nicht wiederholen. Die Kriegsberichterstattung findet nur noch „embedded“ statt. Bei der amerikanischen Armee ebenso wie bei der deutschen.
Am Beispiel Jonathan Schnitts „Foxtrott 4. Sechs Monate mit deutschen Soldaten in Afghanistan“[15] wird überdeutlich, dass es künftig gar keiner Journalisten mehr bedarf. Was Schnitt, sowohl physisch wie psychisch vollkommen „eingebettet“, als Journalist abliefert, unterscheidet sich nicht im Geringsten von den Beschreibungen der Pressestellen der Bundeswehr. Dazu ist Journalismus unnötig.
Was für ein Berufsverständnis muss ein Journalist haben, der Folgendes schreibt:

Die Strategie der ISAF in Afghanistan beruht letztlich auf einem ziemlich klugen Buch von General David H. Petraeus und Lt. General James F. Amos. 2006 gaben die beiden amerikanischen Generäle ein Handbuch für Aufstandsbekämpfung mit dem Titel „Counterinsurgency Field Manual“ heraus, das Anfang 2007 bei der Besetzung Iraks erfolgreich angewandt wurde.

Jonathan Schnitt

Besonders erfolgreich war vermutlich Phase 2 „Clear“ (Säuberung). Bei der die feindlichen Kräfte aus dem Zielgebiet „vertrieben“ werden.
Wer das Wording militärischer Propagandaabteilungen übernimmt, hat sich als Teil der sogenannten vierten Gewalt verabschiedet. Mit Kontrolle und Überwachung der Exekutive hat das nichts zu tun. Zu den Tätern der physischen Tat, gesellen sich Täter der psychischen Tat.
Selbst der Spiegel musste konstatieren[16], dass das „Field Manual 3-24“ problematisch sei.

Hinter verschlossenen Türen machten Petraeus und seine Leute deutlich, was mit „Säuberung“ gemeint war. Deutsche Politiker erinnern sich an einen Satz von Michael T. Flynn, damals Isaf-Geheimdienstchef in Afghanistan. „Nur ein toter Talib ist ein guter Talib“, erklärte der Offizier den Besuchern bei einem Briefing.

Aber der Spiegel wäre nicht der Spiegel, würde er jeglichen Ansatz von Kritik nicht sogleich relativieren: „Im Krieg gelten andere Regeln als bei der Verbrechensbekämpfung in Friedenszeiten.“ Krieg ist Krieg.
Und so zwängt der Spiegel das kritische Denken sofort in das Korsett militärischer Logik. Warum ein demokratischer Rechtsstaat, der für Menschenrechte einsteht, sich diesem Totalitarismus unterwerfen sollte, weiß man beim Spiegel sicherlich auch nicht.
Natürlich wollen Militärs ihrer eigenen Logik folgen: Sieg um jeden Preis. Koste es, was es wolle. Aber es gehört zur Demokratie, diesen Willen zur Macht gesellschaftlich zu diskutieren und gegebenenfalls zu begrenzen oder gar ganz zu verhindern.

Propaganda und Medien

Journalisten, die die Angaben von Militär und Geheimdiensten ungeprüft übernehmen, sind nichts anderes als PR-Agenten. Ramsey Clark, ehemaliger Justizminister der USA, hat in seinem überaus wichtigen Buch „Wüstensturm. US-Kriegsverbrechen am Golf.“ zahlreiche Medienmanipulationen, Selbstzensur, Desinformationen und Fälle von Propaganda beschrieben.

Von den 88.500 Tonnen Sprengmaterial, die auf den Irak herabregneten, waren nur 6.250 Tonnen von genauen Zielvorrichtungen gesteuert. Fast 93 Prozent der Bomben waren ungesteuert – sie fielen aus großer Höhe herab und waren nicht zielgenauer als die Bomben des Zweiten Weltkriegs. […] Eine der großen Mythen, die das Pentagon und die gesteuerten Medien verbreiten, war der von der chirurgischen Präzision der US-Waffen, die angeblich zum Schutz von Menschenleben beitrug. Mit diesem Argument hatten die USA schon früher Gewaltakte gegen ihre Feinde gerechtfertigt.

Ramsey Clark19

Es ist die identische Argumentation, mit der der Drohnenterror[17] gerechtfertigt wird. Entweder übernehmen Medien schlichtweg die Pressemeldungen des Militärs und verschleiern damit die Realität oder sie verschweigen die Wahrheit gleich ganz.

Die US-Divisionen, die Saddam Husseins Abwehrlinie durchbrach, setzte auf Panzern montierte Pflüge und für den Kampfeinsatz konstruierte Erdbewegungsfahrzeuge ein, um Tausende irakische Soldaten – manche noch lebend und aus ihren Waffen feuernd – in ihren mehr als 70 Meilen langen Gräben zu verschütten, so die US-Militärs. […] Dieses beispiellose Vorgehen wurde vor der Öffentlichkeit verborgen…

Ramsey Clark20

Einigen Journalisten wurde vom Pentagon ein Video von tatsächlichen Kampfeinsätzen gezeigt. Man wollte ermitteln, wie die Medienvertreter reagieren würden. AP-Reuters schrieb später über das Video, in dem unter anderem gezeigt wurde, wie Menschen durch eine 30mm Schnellfeuerkanone eines Hubschraubers in Stücke zerrissen werden:

Die Kriegsberichterstatter, die das Video sehen durften, erwähnten nicht, wo und wann das Gefecht stattgefunden hatte, und es wurden keine Gefallenenzahlen genannt … die Fernsehzuschauer bekamen die Aufnahmen nicht zu sehen: Nach Ansicht der Zensoren waren sie für das allgemeine Publikum zu brutal.

Ramsey Clark21

Politik, Militär, Rüstungsindustrie und Medienvertreter wissen ganz genau: würden die Kriege realistisch gezeigt werden, würde es nirgends Mehrheiten der Bevölkerung für Kampfeinsätze geben.
Wenn die Menschen sehen würden, was es bedeutet, wenn ein Körper durch eine Granate zerrissen wird, wenn die Eingeweide aus Schusswunden heraushängen, wenn Phosphor die Haut bis auf die Knochen verbrennt, würde sofort eine Beendigung jeglicher militärischer Gewalt gefordert werden.

Was sind das für Menschen, die Brandbomben zum Einsatz gegen Menschen erfinden? Wie entfremdet und menschenverachtend muss man sein, um das Phosphor mit Kautschuk zu vermischen, damit es zähflüssiger wird und sich besser auf dem gesamten Körper verteilt?

Da Phosphor in Brandbomben jedoch mit einer Kautschukgelatine versetzt wird, bleibt die zähflüssige Masse an der bis dahin noch nicht brennenden Hand haften und wird so weiter verteilt. Weißer Phosphor erzeugt in der Regel drittgradige Verbrennungen, zum Teil bis auf den Knochen. Da diese bei einem Angriff meist großflächig sind, sterben Betroffene langsam an ihren Verbrennungen, sofern sie nicht durch Inhalation der giftigen Dämpfe, Verbrennung der Atemwege oder Intoxikation zu Tode gekommen sind.

Wikipedia[1]

Die großen Medien packen die Bevölkerung des Westens in einen riesigen Wattebausch, der die Wirklichkeit verdrängt und ein wohliges Gefühl von Demokratie und Rechtstaatlichkeit erschafft. Solange alle Bürger weiter konsumieren, bleibt der Anschein der den Menschenrechten verpflichteten Demokratie aufrechterhalten.
Und während der Westen sich in seiner Parallelwelt über den Export seiner besten Ware „Demokratie“ selbst feiert, vernichtet der Militärapparat des Westens Unmengen an Menschenleben.

Aber wen kümmern schon Unpersonen?

Eine wahrhaftige, unzensierte, realitätsnahe Schilderung des Krieges zerstört unweigerlich die Moral der Heimatfront, dann jedenfalls, wenn der Krieg sich länger hinzieht.
Um erfolgreich Krieg zu führen, so hat schon Clausewitz erkannt, bedarf es einer engen Allianz von Armee und Volk. Diese Allianz zerbricht, wenn die Gesellschaft über einen längeren Zeitraum hinweg die grausame Wirklichkeit des Krieges täglich miterlebt und miterleidet.
Die Vereinigten Staaten haben den Vietnamkrieg ohne Sieg beenden müssen, nachdem ein wesentlicher Teil der Bevölkerung ihrer Armee die Unterstützung entzogen hatte. Mit einer freien und unzensierten Presse ist kein Krieg von Dauer zu gewinnen.

WinFried Scharlau22

Was sagt das über die deutschen Medien angesichts von 13 Jahren Afghanistankrieg aus? Während wir nicht annähernd realistisch über die Kriege der Gegenwart informiert werden, fordert[18] der Bundespräsident eine selbstbewusste Debatte über Deutschlands neue Rolle in der Welt. Manchmal müsse man eben auch zu den Waffen greifen. Schließlich stehe Deutschland nun für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: „Es steht an der Seite der Unterdrückten. Es kämpft für Menschenrechte.“

Angesichts der Millionen Toten, die der Kampf für Menschenrechte und die Verbreitung der Demokratie, die doch nur die Verbreitung von Absatzmärkten und Sicherung von Ressourcen meint, fordert, fällt es schwer, auch nur ansatzweise echte Empathie mit den Opfern von Kriegen beim Bundespräsidenten herauszuhören. Die Freiheit, die Gauck permanent verteidigt und verbreitet sehen will, ist die Freiheit zu konsumieren. Es ist die Freiheit, auf der Autobahn schnell zu fahren, und es ist die Freiheit, bei Menschheitsverbrechen so lange wegzuschauen, bis irgendwann einmal „deutsche Interessen“, also wieder Profitinteressen, berührt werden.

Doppelstandards und der Wert menschlichen Lebens

Für die Menschenrechte bombardierte eine „Internationale Koalition“ 2011 Libyen. Obwohl es sich um einen Bürgerkriegskonflikt handelte, positionierten sich Frankreich, die USA, Großbritannien und Kanada auf Seiten der „Rebellen“.
Offizielles Ziel war der Schutz von Zivilisten. Dazu sollte eine Flugverbotszone militärisch durchgesetzt werden.

Faktisch griffen die Menschenrechtsverteidiger aber in den Bürgerkrieg ein, zerstörten weite Teile der Infrastruktur Libyens, bewaffneten die Opposition, die mehrheitlich aus Islamisten bestand und hinterließen einen vollkommen zusammengebrochenen Staat.
Im Februar 2012, über ein halbes Jahr nach dem „Sieg der Rebellen“, freute sich die ARD über den Sieg der Menschenrechte und dass nun eine Demokratie aufgebaut werden könne ohne den Diktator Gaddafi.
Aktuell wird konstatiert[19], dass es keinen libyschen Staat mehr gibt, der diesen Namen verdient hätte. Der Bürgerkrieg wütet wie zuvor und es interessiert den Westen nicht im Geringsten.
Deutlicher kann man die Menschenrechtsmythen nicht desavouieren. Es ging nie um den Schutz von Zivilisten. Das ist lediglich der Anschein, den es bedarf, um die Allianz von Bevölkerung und Militär aufrecht zu erhalten. Es ging ausschließlich darum, Gaddafi abzusetzen. Was danach kommt, ist vollkommen irrelevant für die intervenierenden Staaten gewesen. Was kümmern uns schon Unpersonen?

Jochen Bittner, der sich seit der legendären „Neues aus der Anstalt“-Sendung lauthals empört[20], man verorte ihn zu Unrecht in habitueller und tatsächlicher Nähe zu transatlantischen Netzwerken, beweist nicht erst seit der Ukraine-Krise, dass Doppeldenk und Doppelstandards sein Metier sind:

Was eigentlich muss noch geschehen, damit ein Krieg als gerechtfertigt gelten kann? Welche Kriterien müssen noch erfüllt sein. Sicher, die Rebellen waren und bleiben unberechenbar. Ich halte unberechenbare Rebellen, wenn sie gegen eine Diktatur kämpfen, aber bei Weitem für besser als tote Rebellen.

Jochen Bittner

Bittner schreibt wohlfeil vom Kampf gegen eine Diktatur, ohne sich selbst und dem Leser jedoch bewusst zu machen, dass eben diese „Rebellen“ genauso töten und massakrieren wie die Truppen Gaddafis.
Gibt es gute und weniger gute Tote? Diese unberechenbaren Rebellen waren entgegen Bittners Prämisse jedoch durchaus berechenbar und machen da weiter, wo sie aufgehört haben. Sie gründen als ISIS ein neues Kalifat.
Nun könnte sich Bittner natürlich darauf zurückziehen, dass das nicht absehbar war, dankenswerterweise hat er aber im gleichen Artikel[21] seine Einschätzung der Weltgeschichte dargetan. Wer die Guten und wer die Bösen sind, das definiert nämlich immer noch der Mächtigere.

Es scheint leider noch immer ein sehr deutscher Reflex zu sein, jede Einmischung in einen militärischen Konflikt als ‚Aggressionspolitik‘ zu verdammen. Merken solche Kommentatoren eigentlich nicht, wie moral- und geschichtsblind sie argumentieren? Das vergangene halbe Jahrhundert war voll von völkerrechtswidrigen Interventionen. Bloß: den allermeisten davon lagen keine westlichen Aggressionen zugrunde. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan. Der Chinas in Vietnam. Der Ägyptens in den Jemen. Der des Irak nach Kuwait. Der Einmarsch Ugandas in Ruanda. Der Ruandas in den Kongo. Russlands Krieg in Tschetschenien. Alles vergessen?

Jochen Bittner

Bei dieser Geschichtsklitterung bleiben nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist Bittner ein Überzeugungstäter und Ideologe, der seine Leser absichtlich desinformieren will. Oder aber, er ist schlichtweg uninformiert und zwar so, wie es Vltcheck meinte, als er sagte23:

Nachdem ich auf allen Kontinenten der Erde gelebt habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Menschen im Westen die indoktriniertesten, am schlechtesten informierten und am wenigsten kritischen auf der ganzen Welt sind, wobei es natürlich manche Ausnahmen, wie Saudi Arabien, gibt. Doch die Menschen im Westen sind vom Gegenteil überzeugt und bilden sich ein, das bestinformierte und „freieste“ Volk der Erde zu sein.

Die Auswahl von Interventionen, die Bittner vorlegt, ist zynisch. Es ist die schlichte Weltsicht, die den Totalitarismus des Freund-Feind-Denkens ausmacht. Es gibt gute Tote und es gibt schlechte Tote. Man muss Menschenleben qualitativ bewerten lernen, um sich solch einem Denkkollektiv zu nähern. So schreibt Bittner weiter:

In Ruanda sind schätzungsweise 800.000 Menschen ermordet worden. So, das sollte sich jeder vor Augen führen, der die vermeintliche Gewaltlust des Westens anprangert, kann eine Bilanz ohne Intervention aussehen.

Bittner geht es nicht um den tatsächlichen Konflikt, ihm geht es um die Propaganda zum militärischen Eingreifen. Es ist schon eine besondere Erwartungshaltung, dass ausgerechnet Militaristen von sich glauben machen wollen, es gehe ihnen um Menschenleben. Es ist die gleiche Logik, in der Soldaten zu Idealisten stilisiert werden, die zur Bundeswehr gehen, weil Ihnen der Frieden so am Herzen liegt.

Ist Bittners Beispiel Ruanda tatsächlich ein Argument für militärische Interventionen? Denn Völkermord zu verhindern, ist schließlich eine Option für militärische Einsätze, der sich jeder empathiefähige Mensch anschließen können wird. Am 7. April 1994 werden zehn belgische Soldaten getötet.

Die Extremisten nahmen sich bewusst die belgischen Soldaten vor, um Angst zu verbreiten. Sie wussten, dass westliche Nationen nicht den Mut und nicht den Willen aufbringen, bei Friedenseinsätzen Verluste hinzunehmen. Sobald Tote zu beklagen sind, wie bei den Amerikanern in Somalia oder den Belgiern in Ruanda, rennen sie davon, ganz gleich, welche Folgen das für die im Stich gelassene Bevölkerung hat.

SZ[1]

Am 3. Mai schlagen die USA im UN-Sicherheitsrat vor:

Der Rat solle eine Delegation nach Ruanda schicken. Mit einer solchen Aktion, die einen gewissen „Symbolcharakter“ habe, würde man Schlagzeilen wie „Die UN sollten sich schämen‘“verhindern.

SZ

Bittner nutzt das absichtliche Wegsehen des Westens also auch noch als argumentative Hilfe, um „humanitäre“ Interventionen zu rechtfertigen. Erst lässt es der Westen zu, dass etwa 800.000 Menschen mit Macheten in Stücke geschlachtet werden und dann soll das absichtliche Nichteingreifen als Rechtfertigung für künftiges Eingreifen dienen. Die Instrumentalisierung eines Völkermords ist an Perfidie kaum zu überbieten.

Die Nachrichtenagentur Reuters schickt den Reporter Aidan Hartley nach Ruanda. Hartley erinnert sich, dass man ihm sagte, dies sei eine „klassische Bongo-Story“. Niemand würde Interesse haben an dem, was in Ruanda geschehe, „solange sie nicht anfangen, weiße Nonnen zu vergewaltigen“. Seine Aufgabe sei es, „über die Weißen zu berichten, davon, dass die Nonnen evakuiert werden“.

SZ

„Jeder wusste“, so erinnert sich die britische Journalistin Linda Melvern, „dass die Presse nach dem, was in Somalia passiert war, kleinen Kriegen in Afrika noch weniger Aufmerksamkeit schenken würde als zuvor.“

Was kümmern uns Unpersonen? Bittner, stellvertretend für die publizistischen Wegbereiter „deutscher Großmannssucht“, jedenfalls recht wenig. Ansonsten hätte er zumindest im Ansatz die Rolle der USA und Frankreichs beim Völkermord in Ruanda[22] in Betracht gezogen.

„Wir wollen versuchen, die Leute zu treffen“

Der Glaube an die eigene Höherwertigkeit ist Kern des Problems. Wenn der Westen immer wieder behauptet, das überlegenere System zu haben, und dabei mit einer pars-pro-toto-Verzerrung ausschließlich auf die exklusivsten Vorteile abzielt, gleichzeitig aber die Verbrechen, die Ausbeutung, Unterdrückung, Demütigung bis hin zur physischen Vernichtung ausblendet, wird das massenhafte Töten weitergehen.

Eine Debatte über interventionistische Einsätze der Bundeswehr muss geführt werden. Das ist richtig. Doch erfordert eine Debatte, so sie denn ehrlich und ergebnisoffen geführt werden soll, dass sie auf Tatsachen und nicht auf Propaganda beruht.
Dazu wäre es auch notwendig zu erfahren, was das KSK (Kommando Spezialkräfte[23]) in den letzten Jahren gemacht hat?
Egon Ramms, Nato-General a.D., etwa vier Jahre lang Kommandeur des Allied Joint Force Command in Brunssum, zuständig für die Afghanistaneinsätze, erklärte[24] im Deutschlandradio:

Deutsche Soldaten, Spezialkräfte, sind auch schon im Jahr 2002, Ende 2001, Anfang 2002 unter dem Mandat für Operation Enduring Freedom nach Afghanistan gegangen – ich wiederhole: deutsche Spezialkräfte -, und die sind dort nicht gewesen, um Blümchen zu pflücken.

Ein Tötungskommando[25], das weitestgehend außerhalb demokratischer Kontrolle existiert, delegitimiert eine demokratische Armee.
Mehr noch. Während ein Großteil der Soldaten tatsächlich defensive Aufgaben wahrnimmt und damit durchaus auch schützende Funktionen erfüllen kann, existiert parallel eine Geheimarmee, die mit ihren Aufträgen den gesamten Verband zu gefährden vermag.
Deutsche Soldaten, die in Afghanistan waren, wissen, wie die Stimmung der Bevölkerung umschlagen kann, wenn plötzlich amerikanische Killerkommandos in der „deutschen Zone“ umherwüten, so dass die einheimische Bevölkerung davon ausgeht, es wären deutsche Soldaten gewesen.

In Deutschland weiß man hingegen nicht einmal, wie alle deutschen Soldaten im Einsatz umgekommen sind. Und wir wissen fast nichts über die Opfer der Bundeswehr.
Wie viele Menschen wurden von der Bundeswehr getötet? Wie soll eine kritische Debatte geführt werden, wenn über den Gegenstand der Debatte kaum etwas bekannt ist?

Aus der sozialpsychologischen Täterforschung ist bekannt, dass prinzipiell alle Menschen zu Mördern, gar Massenmördern, werden können.
Situative Zwänge können „ganz normale Menschen“ dazu bringen, grausamste Verbrechen zu begehen. Ganz normal meint hier, dass es sich nicht um psychopathologische Täter handelt. Und in der Selbstwahrnehmung jedes einzelnen, in seiner moralischen Integrität, hätte jeder von sich vorher behauptet, er wäre nie zu solchen Taten fähig. Gesellschaftliche Aufgabe muss es demnach sein, die Herstellung entsprechender Situationen zu verhindern.

Das Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein und nach Verantwortungslosigkeit enthält, so scheint mir, das größte Potential zur Unmenschlichkeit; aus ihm resultiert die gefühlte Attraktivität einer klaren Aufteilung der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind, zugehörig und nicht-zugehörig. Hier hat auf Seiten der Individuen die Eskalation der Vernichtungsgewalt ihren Anfang.

Harald Welzer24

Es ist fahrlässig zu glauben, Deutschland oder „dem Westen“ könne so etwas nicht mehr passieren. Die Geschichte bis heute beweist das Gegenteil. Beim Luftangriff bei Kunduz[26] hatten die deutschen Verantwortlichen die Möglichkeit, die Menschen bei den feststeckenden Tanklastwagen zu warnen bzw. zu verjagen. Dazu wollten die amerikanischen Piloten tief über die Personen hinwegfliegen, um zu zeigen, dass sie da seien (show of force). Die Deutschen lehnten dies ab und forderten die umgehende Bombardierung. Auf Nachfrage ob man denn die Tanklastwagen oder die Personen treffen wolle, gaben die deutschen Militärs an: „Wir wollen versuchen, die Leute zu treffen“. Das Vernichten von Menschenleben ist die grundlegende Logik des Militärs. Töten ist der Beruf. Der Versuch politisch wie publizistisch Deutschland eine neue Verantwortung herbeizuschreiben, die mit Waffengewalt zu vertreten sei, muss genau dies diskutieren. Wie viel Menschenleben ist Deutschland bereit zu vernichten?

Eugen Kogon hat 1948 rückblickend auf den Zweiten Weltkrieg in einem Vortrag zum „Terror als Herrschaftssystem“ gewarnt:

Man muß den Terror in seinen Anfängen, in seinen Erscheinungsformen, in seinen Praktiken und in seinen Folgen entlarven. Denn wir wurden Zeugen davon, und werden es noch immer, wie er sich inmitten heutiger Demokratien entwickelt, wie er zur Macht kommt und sich als Demokratie selbst ausgibt, geradezu als eine Regierungsform von Freiheiten.

Eugen Kogon25

Anhang

Fußnoten

1)Alle Zitate sind dem Klappentext entnommen.
2)Noam Chomsky und Andre Vltcheck. Der Terrorismus der westlichen Welt. Von Hiroshima zu den Drohnenkriegen. Münster 2014. S. 15
3)Ebda. S. 17
4)Elçin Kürşat-Ahlers. Über das Töten in Genoziden. Eine Bilanz historisch-soziologischer Deutungen. In: Peter Gleichmann und Thomas Kühne (Hg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen 2004. S. 180-206.
5)Vgl. Dave Grossmann. Eine Anatomie des Tötens. In: Peter Gleichmann und Thomas Kühne (Hg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen 2004. S. 55-104, hier S. 72.
6)Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Einleitung: Die Aktualität Ludwik Flecks in Wissenschaftssoziologie und Erkenntnistheorie. In: Ludwik Fleck. Erfahrung und Tatsache. Frankfurt/Main 1983. S. 9-34, hier S. 16.
7)Vgl. Chomsky und Vltcheck, S. 16.
8)Ebda., S. 18.
9)http://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_der_Herero_und_Nama
10)Ebda, S. 20.
11)Chomsky und Vltcheck, ebda, S. 20.
12)Vgl. Noam Chomsky: Media Control. Hamburg 2003. S. 39
13)Martha Gellhorn, Suffer the little children …, Ladies Home Journal, Januar 1967. Zitiert nach Annette Jander. Kriegsberichterstattende und die „Kultur des Todes“. In: Peter Gleichmann und Thomas Kühne (Hg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen 2004. S. 394-410, hier S. 400.
14)Harald Welzer. Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main 2007. S. 220f.
15)Zitiert nach Harald Welzer. Täter. A.a.O. S. 245.
16)Bernd Greiner. Spurensuche – Akten über amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam. In Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär (Hg.). Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2001. S. 461-473, hier S. 463f.
17)S. 30.
18)Niklas Luhmann. Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996. S. 9
19)Ramsey Clark. Wüstensturm. US-Kriegsverbrechen am Golf. Göttingen 1995. S. 248.
20)Ebda. S. 88f.
21)Ebda. S. 194.
22)Winfried Scharlau. Wie realistisch schildern Medien den Krieg, die Täter und die Opfer? In: Peter Gleichmann und Thomas Kühne (Hg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen 2004. S. 383-393, hier S. 391f.
23)Chomsky und Vltcheck S. 51f.
24)S. 268
25)Eugen Kogon. Gesammelte Schriften. Band 1. Ideologie und Praxis der Unmenschlichkeit. Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Berlin 1995. S. 86.

Links

[1] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/12/141225-Weihnachtsansprache-2014.html;jsessionid=E4E626E3554460161BB3F9CA1F43D528.2_cid285
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/William_Calley#Gerichtsverhandlung
[1] http://www.heise.de/tp/news/aber-warum-und-wozu-2017256.html
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Phosphorbombe
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/voelkermord-in-ruanda-chronik-des-versagens-1.1929862
[2] http://www.heise.de/tp/artikel/43/43734/1.html
[3] http://www.deutschlandradiokultur.de/norwegen-reise-deutschland-steht-an-der-seite-der.1008.de.html?dram:article_id=289135
[4] http://www.bpb.de/apuz/31425/die-transatlantische-wertegemeinschaft-im-21-jahrhundert?p=all
[5] http://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/der-terrorismus-der-westlichen-welt-detail
[6] http://www.killology.com/bio.htm
[7] http://webarchiv.bundestag.de/archive/2013/1212/presse/hib/2012_08/2012_367/05.html
[8] http://www.bsr.org/reports/BSR_Conflict_Minerals_and_the_DRC.pdf
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Agent_Orange
[10] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46413942.html
[11] http://www.vietnam-kompakt.de/das-massaker-von-my-lai.html
[12] http://www.zeit.de/1974/41/richterspruch-gegen-das-gewissen
[13] http://www.welt.de/politik/ausland/article114155231/Als-US-Soldaten-auf-fliehende-Kinder-schossen.html
[14] http://www.theatlantic.com/politics/archive/2014/11/how-newspapers-should-report-on-lethal-drone-strikes/382927/
[15] http://www.amazon.de/Foxtrott-Monate-deutschen-Soldaten-Afghanistan/dp/3570101304
[16] http://www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-usa-geben-taliban-zum-abschuss-frei-a-1010629.html
[17] http://www.arte.tv/guide/de/048365-000/krieg-der-drohnen
[18] http://www.deutschlandfunk.de/aussenpolitik-gauck-auch-zu-waffen-greifen.694.de.html?dram:article_id=289120
[19] http://www.dw.de/andreas-dittmann-libyen-zerst%C3%B6rt-sich-selbst/a-18078929
[20] http://www.heise.de/tp/artikel/43/43771/http://www.heise.de/tp/news/Josef-Joffe-Jochen-Bittner-ZDF-Die-Anstalt-2404378.html
[21] http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-11/libyen-krieg-gerechtigkeit-replik/seite-2
[22] http://www.fr-online.de/politik/voelkermord-afrikas-weltkrieg,1472596,4616164.html
[23] http://www.spezialeinheiten.net/index.php?action=ksk
[24] http://www.deutschlandradiokultur.de/bundeswehr-in-afghanistan-die-sind-nicht-dort-gewesen-um.1008.de.html?dram:article_id=307423
[25] http://www.heise.de/tp/artikel/43/43737/
[26] http://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriff_bei_Kunduz#Verlauf

Man wende das hier Gehörte auf die Berichterstattung über die Ukraine und Syrien an.

Jochen