Der Oktoberfestanschlag in München 1980 – Vom irren Einzeltäter und Schutz des Staatswohles

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Auf Langeoog ist es schön, wechselndes Wetter, langsames Internet. 
Ein ergiebiges Thema der Psychotherapietage ist überigens der Hamburger Feuersturm von 1943 und welche traumatischen Auswirkungen im Seelenleben der Überlebenden und auch noch deren Nachkommen hinterlassen hat.
Seit 2005 hat eine Kooperation von Historikern und Psychoanalytikern hierzu gezielt geforscht und ein einmaliges Ergebnis erarbeitet:
Lamparter, Wieland-Grefe, Wierling(2013): Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und ihre Familien. Vandenhoeck&Ruprecht(2013)
Der_Rechtsstaat_im_UntergrundDarüber hinaus lassen mir einige Angelegenheiten keine Ruhe. Womöglich hat mit Unterstützung der CIA der deutsche Staat analog zu Südamerika, Spanien, Portugal, Italien (Gladio), in der Neonazi-Szene Todesschwadronen rekrutiert für den Fall einer linken Regierungsübernahme, die dann ein bisschen aus dem Ruder gelaufen sind.
Wolf Wetzel bleibt dran:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=33409
Auszüge:
Der Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980 liegt heute über 35 Jahre zurück, aber die Art und Weise, wie dieser damals „aufgeklärt“ wurde, kann einiges erhellen, was heute im Kontext der NSU-Terror- und Mordserie noch im Dunkel verweilt.
Gerade hat der Mitteldeutsche Rundfunk eine „Pannenchronik“ zum NSU-Komplex veröffentlicht (Verfassungsschutz und NSU – eine Pannenchronik vom 12. 5.2016), die überwiegend als einmalig bis bedauerlich qualifiziert wird. Wenn man zum Vergleich dazu die „Pannenchronik“ zum Oktoberfestanschlag in München danebenlegt, wird man verblüffende Parallelen feststellen:
Akten, Asservate und Beweismittel verschwinden, V-Mann-Akten bleiben verschlossen, falsche Fährten werden gelegt, wichtige Spuren unterschlagen, die Aufklärungssabotage als Staatswohl ausgelobt. Von Wolf Wetzel [*]EyesWideShut

Der Terroranschlag auf das Oktoberfest in München ereignete sich am 26. September 1980. Dreizehn Personen wurden ermordet, über 200 zum Teil schwer verletzt.
Kurz und doch lang genug wurde dieser Anschlag der Roten Armee Fraktion/RAF zugeschrieben. Dann wurde daraus ein schrecklicher Anschlag eines verwirrten und unpolitischen Einzeltäters. Daran hielt man sich – auch ohne Fakten, denn diese machten einen neonazistischen Anschlag, der von mehreren Personen geplant und ausgeführt wurde, viel wahrscheinlicher, als die ›Einzeltäterthese‹.
Auch mehrere Versuche, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen einzufordern, wurden abgewiesen. Die Weigerung, mehr als einen (toten) Täter finden zu wollen, dauerte über 30 Jahre.

Ende 2014 erklärte die Generalbundesanwaltschaft, dass sie das Ermittlungsverfahren wieder aufnehmen werde: »Es gebe nun Hinweise, die auf ›bislang unbekannte Mitwisser hindeuten könnten, sagte Generalbundesanwalt Range.« (DER SPIEGEL vom 11.12.2014)

Das ist vor allem der unermüdlichen Arbeit des Opferanwaltes Werner Dietrich zu verdanken. Genau das, was Aufgabe der Ermittlungsbehörden wäre, hat er getan: Hinweisen und Zeugenaussagen zu folgen, die bis heute ›unter den Tisch fielen‹, die der Einzeltäterthese vehement widersprechen.

Der Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980

Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 1980 läuft auf Hochtouren. Die maßgeblichen Parteien, die um die Macht ringen, stimmen ihre WählerInnen auf eine tragödienhafte Schicksalsentscheidung ein, ganz vorneweg CSU/CDU.
Ihre Parole lautet nicht mehr und nicht weniger: ›Freiheit statt Sozialismus‹.

Das Gespenst des Kommunismus sollte wieder umgehen, ein Gespenst, mit dem man einen Weltkrieg begann und verlor. Ein Gespenst, das schon so verwirrt ist, dass es gar die SPD systemüberwindender Vorstellungen verdächtigte.
Nun galt es wieder einmal, zusammenstehen: die Christlichen, die Nationalen, die Deutschen, die Vaterländischen, die Konservativen. Eine Einladung nach ganz rechts. Mit mörderischen Folgen.

Am 26. September 1980 explodierte im Herzen Bayern, auf dem Oktoberfest in München, eine Bombe – dieses Mal mit militärischem Sprengstoff, am Zugang zur Wiesn in einem Mülleimer deponiert, mit dem klaren Kalkül, x-beliebige BesucherInnen zu töten.
Der Plan ging auf blutige Weise auf. Dreizehn Menschen wurden ermordet, über 200 zum Teil schwer verletzt.

Renate Martinez war Mitarbeiterin im Papierhandel. Sie hatte vor, auszuwandern und wollte mit einem Bummel über das Oktoberfest Abschied nehmen. Sie befand sich am Ausgang, »als mich die Druckwelle von hinten traf. Fast gleichzeitig konnte ich den Feuerschein sehen. (…) Ich bin geflogen, und noch im Fliegen habe ich gedacht: Das werden sie den Linken in die Schuhe schieben

(Es war ein Alptraum, SZ vom 12.12.2014)

Renate Martinez sollte Recht behalten.

Die Spuren waren noch nicht gesichert, geschweige denn ausgewertet, da ließ der Bundeskanzlerkandidat von CSU/CDU, Franz Josef Strauß, die nächste Bombe platzen. Er bezichtigte die RAF des Anschlages und bot sich sogleich als der Mann an, der mit diesem ›Terror von links‹ ein für alle Mal aufräumen würde.

Sowohl die Bombe als auch die Rettervision passten in die Schicksalsinszenierung. Nur einer der Toten nicht. Bereits einen Tag später stand fest, dass sich auch ein Attentäter unter den Opfern befand: Gundolf Köhler. Seine persönliche und politische Biografie war nicht zu übersehen. Er hatte ein Hitlerbild über seinem Bett hängen. Die RAF verschwand, das Hitlerbild auch.
Aus Gundolf Köhler wurde in den folgenden zwei Jahren ein junger verwirrter Mann, ein Einzeltäter, der alles hatte, nur kein politisches Motiv. Das war dann auch das Ermittlungsergebnis – bis heute.

Was macht also das Wiederaufnahmeverfahren so brisant, während gleichzeitig der NSU-Prozess in München läuft, der sich der lückenlosen Aufklärung der Mord- und Terrorserie des NSU verschrieben hat?

Es gibt drei Ebenen, die sich hier ineinanderschieben und sich auf verblüffende Weise überschneiden:

  1. ZeugInnen, Rechtsanwälte, Journalisten bezweifeln seit Jahren die Einzeltätertheorie und werfen den Ermittlungsbehörden vor, Spuren und Erkenntnissen nicht zu folgen, die einen neonazistischen Hintergrund belegen und die Beteiligung von mehreren Personen verifizieren.
  2. Während immer wieder unterschlagene Fakten und neue öffentlich werden, werden asservierte Beweise Zug um Zug vernichtet. Bereits ein knappes Jahr nach dem Oktoberfestanschlag werden 48 Zigarettenkippen aus Köhlers Auto entsorgt. Dann werden die sichergestellten Bombensplitter für eine spätere Beweiswürdigung vernichtet. Und als wären diese Straftaten im Amt nicht genug, verschwindet ein Arm auf unerklärliche Weise: »Die Bundesanwaltschaft bestätigte (…), dass keine Spuren des Attentats mehr vorhanden sind. ›Die Asservate wurden Ende des Jahres 1997 vernichtet, weil der Fall als aufgeklärt gilt und sämtliche Ermittlungen nach eventuellen Mittätern ergebnislos verlaufen sind‹, sagte Sprecher Frank Wallenta.« (SZ vom 17.5.2010) Begleitend und unterstützend verschwinden Akten bzw. werden unter Verschluss gehalten.
  3. Die Frage steht im Raum: Warum weigern sich staatliche Behörden so vehement dagegen, den neonazistischen Hintergrund dieses Anschlages aufzuklären? Gibt es etwas zu verteidigen, zu schützen, was weit über eine neonazistische Tat hinausreicht? Welches Motiv haben Politiker, Ermittler und Journalisten, die ›Einzeltäterthese‹ zu decken? Warum wird bis heute jeder Zusammenhang zur neonazistischen ›Wehrsportgruppe Hoffmann‹ und anderen paramilitärisch organisierten Neonazis (wie den ›Deutschen Aktionsgruppen‹) geleugnet?

Was macht also diesen neonazistischen Mordanschlag in München 1980 so brisant und aktuell?

Der neonazistische Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980 wirft lange Schatten – bis in die Gegenwart

Wer glaubt und hofft, vorsätzlich falsche Ermittlungen, Vernichtung von Beweisen, Falschaussagen im Amt, das (Ver-)Decken neonazistischer Strukturen und der politische und mediale Wille, all die zu schützen, beschreiben nur den NSU-VS-Komplex, der sollte sich in gutem Sinnen desillusionieren lassen.

Denn das, was (im besten Fall) als Ermittlungspannen (damals wie heute) ausgegeben wird, wird eben nicht durch ›bedauerliche Zufälle‹ zusammengehalten, sondern durch die Zusammenarbeit aller Behörden und aller politischen Institutionen, die an der (Nicht-)Aufklärung beteiligt waren und sind. Die Hoffnung auf etwas Einmaliges, auf eine Vielzahl von Zufällen dient vielleicht auch dem Schutz vor der Tatsache, dass dies eine lange, ungestörte Kontinuität hat.

Kaum eindringlicher lässt sich dies am Oktoberfestanschlag in München 1980 nachzeichnen.

Aber es gibt noch eine viel wichtigere Überschneidung. Im NSU-Kontext kann man an Details belegen, wo und wie staatliche Behörden den Aufbau eines neonazistischen Untergrundes ermöglicht bzw. nicht verhindert haben. Ob diese vielen Puzzles ein Bild ergeben, ob sie nur ›spontan‹ zusammenwirken oder eine Systematik abbilden, ist noch offen. Auch die Frage, ob und wann staatliches Handeln zentral veranlasst, koordiniert und gedeckt wurde (wie z.B. die Aktenvernichtungen in allen Behörden ab November 2011).

Die Linie zwischen aktiver Unterlassung und passiver Aktivierung eines neonazistischen Untergrundes, zwischen aktivem Gewährenlassen und direkter Unterstützung ist im NSU-Kontext schwer zu ziehen, vor allem im Hinblick auf den Gesamtkomplex.

Ganz anders sieht es hingegen mit dem neonazistischen Terror der 70er und 80er Jahre aus. Was auch damals als schriller Alarmismus und blanke Verschwörungstheorie abgetan wurde, trägt spätestens seit 2013 ein staatliches Hoheitssiegel: Seit über 40 Jahren wurden neonazistische Gruppierungen als legale und terroristische Variante gestärkt und gedeckt und in einen staatlichen Untergrund integriert. Dieser staatseigene Untergrund bekam den Namen ›stay behind‹. Bewaffnet, angeleitet und instruiert wurde er vom Bundesnachrichtendienst/BND.

Das hört sich auch heute noch ungeheuerlich an. Man fühlt sich gleichzeitig an die ›Banalität des Bösen‹ (Hannah Arendt) erinnert, wenn man dazu die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Partei DIE LINKE liest, die im Plenarprotokoll 17/236 dokumentiert ist. Auf die parlamentarische Anfrage des Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE), »welche eigenen Anstrengungen (…) die Bundesregierung in den letzten 20 Jahren unternommen (hat), um die Beteiligung ihrer Behörden an weiteren Tätigkeiten der besagten ›Gladio/Stay behind‹-Truppe der NATO auszuschließen oder zu bestätigen«, erklärte der Staatsminister Eckard von Klaeden:

»Infolge der weltpolitischen Veränderungen hat der Bundesnachrichtendienst in Abstimmung mit seinen alliierten Partnern zum Ende des 3. Quartals 1991 die Stay-behind-Organisation vollständig aufgelöst.« (Plenarprotokoll 17/236, Anlage Nr.15, S. 64 vom 24.4.2013)

Was hier in einem Satz ad acta gelegt wird, ist keine Verordnung für alte Glühbirnen, sondern die jahrzehntelange Zusammenarbeit von Neonazis und Geheimdienst, mit einer Blutspur, die sich durch ganz Europa zieht.

Ende der 50er Jahre wurde auf NATO-Ebene beschlossen, Faschisten in einem geheimen Programm zu bewaffnen und auszubilden, um sie als irreguläre Einheiten einzusetzen. Das Szenario, das die Wiederbewaffnung von Faschisten in Europa rechtfertigen sollte, ging von einem militärischen Überfall der Sowjetunion auf den friedliebenden Westen aus. Die Faschisten sollten darin die Aufgabe übernehmen, sich ›überrollen‹ zu lassen, um dann hinter den Linien den kommunistischen Feind zu bekämpfen. Aus dieser Zeit stammt auch der Name dieses Programmes: stay behind. Dazu legte man über die ganze Bundesrepublik verteilt geheime Waffendepots an und unterrichtete die Neofaschisten in Techniken des Nachrichtenwesens und der Sabotage.

In den 70er Jahren passte man das Bedrohungsszenarium den veränderten Bedingungen an. Die ›Russen‹ kamen nicht – aber der Feind, der die ›rote Gefahr‹ ersetzen sollte, war schon da. Durch die zahlreichen Proteste und Bewegungen in Europa im Anschluss an die 68er-Revolten sah man Regierungen oder gar die kapitalistische Ordnung in Gefahr. Was mit legalen Mitteln nicht mehr unterdrückt werden konnte, sollte mithilfe dieser faschistischen Reserve bekämpft werden.
In Italien bekam diese Form des Staatsterrorismus den Namen ›Gladio‹. Faschisten sollten durch gezielte Angriffe auf AntifaschistInnen die Linke schwächen, und durch Anschläge auf linke Parlamentarier ein Klima schaffen, das der Regierung freie Hand dabei geben sollte, Schutzrechte außer Kraft zu setzen oder gar einen Militärputsch zu legitimieren (wie dies als Worst Case geplant war). Hunderte von Toten und Dutzende von Bombenanschlägen gehen auf das Konto dieser ›stay-behind-Operationen‹.

In einigen Ländern wurde die Geschichte dieses Staatsterrorismus politisch aufgearbeitet, zumindest in Angriff genommen, wie in Italien, der Schweiz und zuletzt in Luxemburg.

Und in Deutschland? Hat die lapidare Erklärung der Bundesregierung aus dem Jahre 2013 Entrüstung, Empörung ausgelöst? Wurde auch nur einmal im Parlament die Frage laut gestellt: Wer hat diesen Staatsterrorismus politisch befürwortet und gedeckt? Wer

ist bis heute politisch und strafrechtlich dafür verantwortlich? Welche Terroranschläge tragen die Handschrift von ›stay-behind‹?
Dabei geht es nicht nur um den Oktoberfestanschlag in München, sondern auch um das Attentat auf einen jüdischen Buchhändler in Nürnberg 1980 oder den Brandanschlag auf das jüdische Altersheim und Gästehaus in München 1970, bei dem sieben Menschen ermordet wurden. Anschläge, die bis heute ›unaufgeklärt‹ sind.

Auch wenn die Entscheidung der Bundesanwaltschaft guttut, die Ermittlungen im Fall des Oktoberfestanschlages 1980 wieder aufzunehmen, so wundert doch sehr, dass mit keinem einzigen Wort ein möglicher Zusammenhang zu besagten ›stay-behind‹- Terrorgruppen hergestellt wird.

Die Frage, wer hat diesen Staatsterrorismus ermöglicht und gedeckt, ist nicht nur im Hinblick auf diesen staatseigenen Untergrund von grundsätzlicher Bedeutung. Nicht minder wichtig ist es, öffentlich und vernehmbar die Frage zu beantworten: Warum wurde die Einzeltäterthese bis zuletzt – auf Teufel komm raus – verteidigt? Wohin kommt man, wenn man den zahlreichen Spuren zu weiteren Neonazis folgt?

Wenn heute unbestritten ist, dass (Neo-)Nazis vom deutschen Auslandsgeheimdienst BND in ›stay-behind‹-Operationsgruppen organisiert wurden, dann ist es Aufgabe dieses Geheimdienstes und dieser Bundesregierung, im Detail zu belegen, woran sich diese Terrorgruppen beteiligt haben, woran sie nicht beteiligt waren!

Kann es also sein, dass die Einzeltäterthese nicht von Fakten gedeckt wird, sondern einzig und allein von dem geballten Willen, den Weg zu Mittätern zu versperren, die in Verbindung zu ›stay-behind‹ stehen? Ja.

Gundolf Köhler war nur in den Augen der Ermittlungsbehörden ein Unpolitischer. Um diese Lüge nicht zu gefährden, war man bereit, selbst die Beweislage zu manipulieren: »In Gundolf Köhlers Zimmer in Donaueschingen fanden die Polizisten seinen Wikingjugend-Ausweis – und ließen ihn liegen.« (Vernichtete Spuren – Ermittlungsfehler mit Tradition, BR vom 31.1.2015)

Auch seine engen Verbindungen zur neonazistischen ›Wehrsportgruppe Hoffmann/WGH‹ waren den Ermittlern bekannt, was auch zahlreiche Zeugen zu Protokoll gegeben hatten. Diese Begeisterung ging so weit, dass er selbst eine ›Wehrsportgruppe‹ im Raum Donaueschingen gründen wollte (Bundestagsdrucksache 18/3117, S.17)

Er war nicht alleine am Tatort. Zeugen hatten mindestens zwei weitere Personen an jenem Mülleimer gesehen, in dem die Bombe platziert worden war. Eine Zeugenbeobachtung, die so präzise war, dass sie auch von einem Streit zwischen drei Personen berichten konnte.

Der ehemalige Beamte, der sich jetzt als Zeuge bei Rechtsanwalt Dietrich meldete, würde nicht nur die bisherigen Zeugenaussagen bestätigen. Er würde den Tatablauf um ein entscheidendes Puzzle ergänzen.
Der Beamte war am Tag des Oktoberfestanschlages mit fünf weiteren Arbeitskollegen auf dem Weg zur Wiesn. Kurz vor der Detonation standen sie zusammen vor dem Ausgang des Oktoberfestes. In dieser Zeit beobachtete er »einen jungen Mann, der zunächst zu einem schwarzen Auto gegangen sei, das am Bavariaring geparkt war. Darin sollen vorne zwei, hinten mindestens eine Person gesessen haben. Mit diesen habe er durch das heruntergekurbelte Fenster gesprochen. Dann sei der Mann, den er bis heute sicher für Gundolf Köhler hält, zu jenem Papierkorb gegangen, in dem dieser den Ermittlungen zufolge die Bombe zündete.« (SZ vom 8.12.2014)

Kurze Zeit später detonierte die Bombe. Dass der Beamte diesen Anschlag überlebt hatte, verdankte er einer Person, die vor ihm stand und durch die Wucht der Explosion auf ihn fiel – und wenig später an den schweren Verletzungen starb. Diesem tragischen Umstand verdankt er, dass ihn ›nur‹ einige Metallsplitter trafen, die er bis heute mit sich herumträgt.
Genauso lang trägt er den Ärger mit sich herum, dass seine damaligen Aussagen keinen Eingang in die Ermittlungen gefunden hatten – im Gegenteil: sie störten nur: »Doch jetzt will er sich mit dem Vergangenen auseinandersetzen – damit den 13 Toten und 211 Verletzten des Anschlags mit einer neuen Suche nach den Hintergründen der Tat Gerechtigkeit widerfahren kann.« (s.o.)

Lassen sich seine Aussagen verifizieren, dann müssten Polizei und Staatsanwalt die Frage beantworten, warum sie diesen Aussagen, die der Beamte bereits damals gegenüber der Polizei gemacht hatte, nicht nachgegangen sind. Außerdem müssten sie eine Erklärung dafür finden, warum sich nach Kenntnis des Rechtsanwaltes diese Aussagen nicht mehr in den Ermittlungsakten finden, was einer Manipulation von Ermittlungserkenntnissen gleichkäme.

Auch die Spezifika der Bombe könnten zu Mitwissern führen. Belegt ist, dass es sich um militärischen Sprengstoff handelte. Genau dieser Spur ging ein ›Frontal 21‹-Beitrag vom 25.3.2014 nach: »Am 27. September, einen Tag nach dem Anschlag in München, sagten zwei deutsche Rechtsextremisten bei der bayrischen Polizei aus. Sie wiesen auf einen Gleichgesinnten hin, auf Heinz Lembke, einen Förster aus Uelzen. Die Neonazis machten klare Angaben: ›Herr Lembke zeigte uns verschiedene Sprengstoffarten, Zünder, Lunten, Plastiksprengstoff und militärischen Sprengstoff … Er sagte uns, dass er mehrere Waffenverstecke im Wald habe.‹«

Obwohl die Ermittler sowohl von diesen Aussagen wussten als auch Kenntnis davon hatten, dass Heinz Lembke »enge Kontakte zur WSG Hoffmann« (taz vom 7.8.2009) und zu verschiedenen neonazistischen Organisationen hatte, unternahmen sie lange nichts.

Ein Jahr später, im Oktober 1981, wurde man – dank eines Waldarbeiters – rund um die Försterei Lembke fündig: Auf über 30 Erddepots verteilt wurden u.a. 156 Kilo militärischer Sprengstoff, 230 Kilo Sprengkörper, 256 Handgranaten, 50 Panzerfäuste entdeckt.
Heinz Lembke arbeitete anhand einer von ihm selbst erstellten Liste beim Auffinden dieser Waffenlager bereitwillig mit, bis auf ein Depot, das die Nummer 82 trug: »Er verweigerte die Lokalisierung eines als Depot 82 bezeichneten Verstecks, weil dessen Inhalt geeignet sei, andere Personen zu belasten. Dieses Versteck konnte nicht aufgefunden werden.« (Bundestagsdrucksache 18/3117, S.7)

Liest man die Antwort der Bundesregierung aufmerksam, müsste man doch die Frage stellen: Warum wurde das Depot Nr. 82 nicht gefunden? Denn selbst wenn Herr Lembke hier nicht mitgearbeitet haben soll, wäre es doch ein Leichtes, anhand der Liste und der dort verzeichneten Lokalisierungsdaten, das Depot zu finden.
Hatten der Neonazi Lembke und die Ermittler ein gemeinsames Interesse daran, genau jenes Depot nicht zu finden, das zu weiteren Beteiligten führen würde? Die Spekulation darüber könnte sehr schnell beendet werden, indem man die Liste öffentlich zugängig macht und dabei von unabhängigen Gutachtern überprüfen lässt, ob an diesem Originaldokument Manipulationen vorgenommen wurden.

Wer dermaßen kalkuliert kooperiert, hat nicht mit dem Leben abgeschlossen. Genau das soll aber passiert sein:

»Nach seiner Verhaftung kündigt Lembke an, seine Hintermänner zu nennen. Doch dann fand man ihn erhängt in seiner Zelle (s.o.)

Wenn man sich die Dimension dieser paramilitärischen Anlage vergegenwärtigt, dann deckt sich all das mit der Infrastruktur der stay-behind-Operationen, die für Sabotageaktionen klandestine Waffen- und Sprengstoffdepots angelegt hatten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Lembke nicht nur für Neonazis, sondern im Auftrag des BND diese Depots angelegt hatte, ist naheliegend. Dann war er auch Angestellter dieser staatlichen Terrorgruppen.

Aus diesem Grunde wurde in einer Kleinen Anfrage (Bundestagsdrucksache 18/3117) auch die Frage gestellt, welche Beziehungen Heinz Lembke zu stay-behind-Operationsgruppen unterhielt. Die Antwort darf man als vorsätzliche Lüge bezeichnen: »Zu dieser Frage (…) liegen der Bundesregierung keine Informationen vor.« (S. 14)

Denn bei der nächsten Frage, ob Heinz Lembke als V-Mann oder auf eine ähnliche Weise für den Geheimdienst tätig war, schnellten die Schutzinteressen des Staates so dermaßen in die Höhe, dass die Rechte des Parlaments darunter begraben wurden. Dabei greift die gängigste und auch hier lang ausgeführte Schutzbehauptung, man habe ggf. die Unversehrtheit eines ›V-Mannes‹ zu schützen, nicht wirklich. Er ist bereits sehr lange tot. Was vielmehr – bis heute – gedeckt wird, sind staatsterroristische Strukturen.

Ob sich hier ein Kreis schließt, kann u.a. der BND bzw. das Bundeskanzleramt beantworten, indem sie alle Unterlagen zu stay-behind freigeben und endlich Aufklärung darüber betreiben, welche Neonazis und welche neonazistischen Organisationen in ihrem staatseigenen Untergrund integriert waren. Dazu zählt auch, die politische und juristische Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Bundesregierung bis heute keine Ahnung habe, was mit dem Waffenarsenal passierte, als man Ende 1991 ›stay-behind‹ für aufgelöst erklärte.

Wenn statt Sabotage der Ermittlungen Aufklärung betrieben werden würde, könnte anhand der ›stay behind‹ -Akten auch geklärt werden, ob die von Lembke angelegten und verwalteten Waffendepots zum Bestand dieser staatsterroristischen Struktur gehört haben.

Der Nebel, der über dem Oktoberfestanschlag liegt, ist kein Naturereignis

Die Bundesanwaltschaft hat vor über fünfzehn Monaten an das Bundeskanzleramt, den Bundesnachrichtendienst und den Inlandsgeheimdienst/VS eine lange Liste an Suchbegriffen geschickt –

„von Karlheinz Hoffmann, dem Anführer der paramilitärischen Wehrsportgruppe Hoffmann, mit der Gundolf Köhler trainierte, bis hin zum Neonazi Heinz Lembke, der im Verdacht stand, den Sprengstoff für das Attentat geliefert zu haben. Lembke erhängte sich in seiner Zelle, kurz bevor er vor einem Staatsanwalt aussagen sollte. In seinen Akten steht der Sperrvermerk ‚Nur zum Teil gerichtsverwertbar’, was auf eine V-Mann-Tätigkeit schließen lässt.“ (SZ vom 12.5.2016)

Die Bundesregierung hat bereits geantwortet und sich geweigert. Sie untersagt es, die Klarnamen der V-Leute zu nennen, die möglicherweise zur Tataufklärung beitragen könnten, „weil angeblich immer noch Leib und Leben der früheren V-Leute bedroht sein könnten“. (s.o.)

Dass „Leib und Leben“ von betagten V-Männern schützenswerter sind als die Aufklärung eines neonazistischen Terroranschlages, ist heute keine Aufregung mehr wert.
Auch der BND hat Medienberichten zufolge Akten geliefert, wobei das Wichtigste fehlt: die Namen der V-Leute. Sie sind geschwärzt worden.

Die abgestufte Aufklärungssabotage komplettiert der Inlandsgeheimdienst. Er sucht bis heute nach den angeforderten Akten. Das liegt wahrscheinlich am Nebel.

Weitere Quellen:

Mein Kommentar: Die Psychoanalyse lehrt, dass das Verdrängte, Verheimlichte wiederkehrt, in immer kränkerer Form, solange bis es aufgedeckt wird.

Jochen

Daniela Dahn: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Fluchtursachen schweigen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute auf den NDS die von mir sehr geschätzte Daniela Dahn. Sie fordert u.a. eine Fakultät für Atheismus:

http://www.nachdenkseiten.de/?p=30582

Verantwortlich: Jens Berger

Kaum einer kennt einen. Doch alle reden über sie. Sie sind anders. Nicht wie wir. Gefährlich. Und auch für Köln verantwortlich, wie man meint. Die Flüchtlinge. Aber warum flüchten Menschen überhaupt? In welchem Kontext findet die aktuelle Debatte statt? Und was verschweigen die Leitmedien uns? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit der Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn, die meint, dass das Gegenwärtige längst unhaltbar sei und daher gelte: „Solidarisches Gemeinwesen oder Barbarei“.

und das ist erst der anfang

Frau Dahn, die im Dezember bei Rowohlt herausgegebene Anthologie „Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge“, erscheint nun schon in der 5. Auflage. Auch Sie mischen sich darin mit einem Beitrag in die Debatte ein. Eine Debatte, die seit Silvester gekippt ist.

Ja, die Geschichte von den potenten arabischen Sextätern und den impotenten Polizei-Nichtstuern kam mächtigen und ohnmächtigen Kreisen, die möglichst viele Flüchtlinge abschieben und an der Einreise hindern wollen, wie gerufen. Wie hier mit dem Leid der betroffenen Frauen Stimmung gemacht wurde, hat für mich eine neue Qualität von Einflussnahme auf politische Debatten.

Nachdem die Polizei für ihre verbale und praktische Zurückhaltung kritisiert wurde und es zu schnellen Entlassungen kam, war nur noch satisfaktionsfähig, wer nachträglich voll zuschlug. Die Schlagzeilen sprachen von barbarischer Silvesternacht, von Horror, Albtraum, Gewaltexzessen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Besonders in den sogenannten sozialen Medien war mehrheitlich Schluss mit Willkommenskultur.

Die Hassbotschaften gingen nicht nur unter die Gürtellinie, sie waren derart unterirdisch, dass viele Portale geschlossen werden mussten. Ich muss sagen, mir hat das mehr Angst gemacht als die eigentlichen Vorkommnisse. Ein paar Dutzend, vielleicht ein paar hundert ausländische Täter wurden instrumentalisiert, um einen Schatten des Vorurteils über eine Million Flüchtende zu werfen. Vertreter ausnahmslos aller Parteien sorgten sich um ihre Wählerschaft und versprachen konsequenter zu strafen und abzuschieben.
Selbst der sonst so bedachtsame Justizminister gab unbewiesene Verdächtigungen ab, was ein Jurist unterlassen sollte.

Die Taten sind aber doch durch Anzeigen belegt. Unterstellen Sie, dass die Dynamik der Ereignisse einerseits aufgebauscht und andererseits Bedenkenswertes verschwiegen wurde?

Wer Überlegungen darüber anstellt, mit welchen Mitteln in Geschichte und Gegenwart Interessen durchgesetzt werden, bekommt seit einiger Zeit sofort die Totschlagskeule Verschwörungstheoretiker übergezogen – ein selten dämlicher Vorwurf. Darüber war ja auf den Nachdenkseiten immer wieder Erhellendes zu lesen.

Natürlich gibt es Verschwörungen auf dieser Welt. Die Anschläge vom 11. September waren auf jeden Fall eine weit verzweigte Verschwörung. Fragt sich nur, von wem genau. Theorien darüber können gut oder schlecht sein, sie sind aber keinesfalls unnötig und von vornherein verdammenswert.

Was nun Anzeigen betrifft so sind sie, auch das weiß jeder Jurist, zunächst Schuldzuweisungen, keine Beweise. Die Häufigkeit der Anzeigen erhöht natürlich ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Beweiskraft. Die entwürdigenden Übergriffe sind überhaupt nicht zu bezweifeln oder in ihrer Erbärmlichkeit zu verharmlosen.
Dennoch fällt auf, dass naheliegende Fragen, deren Beantwortung von dem abweichen könnte, was zur Zeit gehört werden will, nicht verfolgt werden.

Zum Beispiel?

Es ärgert mich, wenn nur im Netz fundierte Analysen darüber zu finden sind, woher auf Twitter Hashtags wie Arrest Merkeloder Merkel Has To Go kommen, wer sie womöglich aufgreift und weiterverbreitet und welche nachvollziehbaren politischen Großziele dahinter stehen könnten, die bis zu Merkels in letzter Zeit reservierten Haltung gegenüber den privaten Schiedsgerichten bei TTIP reichen.
Es ist offenbar leicht, den Volkszorn aufs Grapschen „maghrebinischer Wüstlinge“ zu lenken, um das ganz große Grapschen der Wirtschaftseliten politisch zu ermöglichen. Abstrakt über Cyber-War zu schreiben, gilt als Beleg für Durchblick, konkreten Beispielen nachzugehen und Interessen offen zu legen, ist zu heiß. Wer meint, der Tatort spiele nur am Kölner Hauptbahnhof, ist wohl dem Böller-Nebel erlegen.

Aber auch in Köln ist noch viel Widersprüchliches unaufgeklärt …

Richtig. Peter Pauls vom Kölner Stadtanzeiger sprach von „Bildern, die die Welt erschüttern“. Da ist einem wohl was entgangen, wenn man den Kölner Stadtanzeiger nicht liest.
In den überregionalen Medien habe ich bisher kein einziges Bild gesehen, das mich erschüttert hat. Ich sehe auf dem Bahnhofsvorplatz dunkle Gestalten im spärlichen Licht von Laternen stehen, die Böller werfen. Ganz normale Silvester-Bilder. Ich sehe sie weder rennen, noch raufen noch saufen. Die zwei Videos, die widerliche Übergriffe auf blonde Frauen zeigten, stammten vom ägyptischen Tahrir-Platz und aus Budapest.
Dabei ist doch vollkommen unumstritten, dass die sexuellen Übergriffe und Taschendiebstähle stattgefunden haben, dass es unmittelbar vor dem Bahnhof, da wo die meisten Kameras installiert sind und es am hellsten ist, die reisenden Frauen dem Spießrutenlauf hilflos ausgesetzt waren. Warum dauert das Auswerten der Überwachungsbilder derart lange? Warum ist eine Hundertschaft bewaffneter Polizisten nicht mit Gruppen unbewaffneter Männer fertig geworden?

Glauben Sie, dass Informationen bewusst zurück gehalten werden oder darauf verzichtet wird, sie überhaupt zu recherchieren?

Die Kollegen von Hintergrund.de schreiben auf ihrer Seite, es dränge sich der Eindruck auf, dass die Polizei nicht hilflos war, sondern hilflos gemacht wurde. Es sei um eine mutwillige Demonstration staatlicher Machtlosigkeit gegangen, um die Asylgesetze und die Überwachung zu verschärfen, und die Stimmung gegen Merkel zu wenden. Die Redaktion zitiert hierzu den einstigen CDU-Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer mit der Bemerkung, man müsse stets an die nachrichtendienstliche Komponente bei der Vorbereitung und Durchführung derartiger Abläufe denken. Was immer das heißen mag.
Bei solchen Erwägungen bewegt man sich natürlich immer am Rande der Lächerlichkeit, weil man gegenüber Geheimdiensten nie oder erst Jahre später etwas beweisen kann. Und es ist journalistischer Grundsatz, über Unbeweisbares nicht zu schreiben. Die Alternative ist, sich alles bieten zu lassen.

Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner?

Gern. Eine Kölner Kollegin erzählte mir von einem Gespräch mit einem Polizisten, der sich ihr gegenüber beklagte, dass unter den Anzeigenden viele Trittbrettfahrerinnen aus dem rechten Milieu und sich in lauter Widersprüche verwickelnde Wichtigtuerinnen seien. Ein Interview oder auch nur eine Namensnennung lehnte er vehement ab, die Polizisten sind nach all der Kritik extrem verunsichert. Lieber lassen sie sich Unfähigkeit nachsagen als anzuecken.
Gab es Interviews mit den normalen Streifenpolizisten der Silvesternacht? Die Öffentlichkeitsarbeit ist auf zwei, drei Chefs reduziert. Nachdem in den rechten Seiten im Netz geradezu angestachelt wurde, jetzt nicht feige zu sein, sondern die Gunst der Stunde zu nutzen, um den „arabischen Sex-Mob“ kaltzustellen, wäre doch aber naheliegend gewesen, dass Journalisten zum Thema Anzeigen und Stimmungsmache recherchieren.

Auf YouTube findet man das Video eines jungen türkischen Bloggers, der zeigt, was für Leute auf Facebook mit ihren Videos und Gepostetem zu den ersten Stimmungsmachern gehörten. So Ivan Jurevic, Anhänger der Tea-Party, Schauspieler bei Privatsendern wie RTL, Sat.1 oder ProSieben, Kölner Türsteher, der sich im Video damit brüstet, schutzbedürftige Mädchen in seiner Kneipe aufgenommen und „Flüchtlinge weggeklatscht“ zu haben.
Ich kann das nicht überprüfen, ich stelle nur fest, dass sich die großen Medien um solche vermeintlichen Nebensächlichkeiten nicht kümmern. Wichtige Fragen werden nicht gestellt.

Kümmern sie sich denn noch um die Hauptsächlichkeiten? Im Herbst hatten wir eine nicht unwichtige Debatte über die Beseitigung von Fluchtursachen. Droht die nicht nun, im Gerangel um Obergrenzen, Quoten, Abschiebungen und Merkel-Rücktrittsforderungen unterzugehen?

Damit kommen wir zum eigentlichen Thema meines eingangs erwähnten Essays, ein Thema, zu dem ich mehr beitragen kann, als nur Fragen zu stellen.

Merkels humane Haltung gegenüber Flüchtlingen gilt als unklug und naiv. Ich halte dagegen alle für naiv, die sich weigern zu begreifen, dass wir einen Point of no Return erreicht haben. Es gibt kein Zurück mehr. Es ist ignorant, nicht wahrhaben zu wollen, dass die Flüchtlinge uns eine Lektion erteilen: Es war eine Lebenslüge zu glauben, ein kleiner Teil der Welt könne auf Dauer in Frieden und Wohlstand leben, während der Großteil in von den westlichen Eliten mitverschuldeten Kriegen, Chaos und Armut versinkt. Dass sich eine Völkerwanderung früher oder später in Bewegung setzen würde, haben wir geahnt. Eigensüchtig haben wir gehofft, es würde später losgehen.

Wie sehr der Wohlstand im wohlhabenden Westen, gerade auch in Deutschland, auf Kosten anderer geht, wollten wir so genau nicht wissen. Die Unerträglichkeit auf der anderen Seite hat inzwischen ein Maß erreicht, an dem kurzfristig nichts zu ändern ist. Die meisten Fluchtursachen sind so gravierend, dass sie für Generationen irreparabel sein werden. Selbst dann, wenn man sich in der EU oder der UNO wider Erwarten sofort auf einen Plan zu ihrer Beseitigung einigen könnte. Das ist nicht fatalistisch, sondern realistisch.

Wenn wir nicht ein eingemauertes Land in einem Europa sein wollen, dessen Strände eingezäunt sind, an dessen Grenzen geschossen wird und in dem Orwell´sche Überwachung herrscht, dann müssen wir uns damit abfinden, dass die Wanderungsbewegung nicht aufzuhalten ist.

Im Gegensatz zu weit verbreiteten Meinungen, „die Globalisierung“ oder „Diktatoren vor Ort“ seien an den aktuellen Fluchtbewegungen schuld, argumentieren Sie, der Westen trage einen Gutteil der Verantwortung selbst…

Die Globalisierung ist ja keine Naturgewalt, sondern Menschenwerk. Ein Prozent der Weltbevölkerung hat heute mehr Vermögen als der „Rest“ von 99 Prozent. Die Globalisierung begann bereits mit Kolonialismus und Sklavenhandel, in dem fünfzig Millionen Afrikaner verschleppt oder getötet wurden und mit ihrer nie entschädigten Schinderei den Reichtum des Westens mitbegründet haben.
Und sie reicht bis zu den imperialen Angriffskriegen der Neuzeit gegen Jugoslawien, den Irak und Afghanistan. Zu meinem Entsetzen bomben wir nun auch in Syrien und Libyen mit.
Das alles hat mentale und praktische Konsequenzen bis heute. Das Vergangene ist bekanntlich nicht vergangen. Der Schnee von gestern ist die Flut von heute.

Sie sehen den Grund für die Fluchtbewegung in einer Art Neokolonialismus?

Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch von der Beseitigung von Fluchtursachen schweigen. Die größten Flüchtlingslager sind heute in Afrika, von wo künftig die meisten Fliehenden zu erwarten sind. Die reichen G8-Staaten nutzen den Kontinent als Produktionsbasis für die Bedürfnisse des westlichen Marktes. Einheimischer Bedarf ist für sie ohne Belang. Sie haben von korrupten afrikanischen Führern hunderte Millionen Hektar erworben oder langfristig gepachtet, damit multinationale Konzerne Getreide und Mais nicht etwa für die Hungernden verarbeiten, sondern daraus „Biosprit“ für ihre westliche Kundschaft produzieren können. Deutschland ist in Äthiopien dabei.

Der Neokolonialismus funktioniert über gekaufte Gesetze, die ausländische Investoren begünstigen, etwa beim Land Grabbing. Oder durch Handelsschranken, die Afrikaner vom globalen Wettbewerb ausschließen. Sie verlieren allein durch den Agrarprotektionismus der US-Amerikaner, Europäer und Japaner jährlich rund 20 Milliarden Dollar – das Doppelte der Entwicklungshilfe, die nach Afrika fließt. Millionen bäuerliche Existenzen werden zerstört.
Und dann fallen die sogenannten Geierfonds über die Staaten her, die Kreditschulden billig aufkaufen, um die Länder über private Schiedsgerichte zur Rückzahlung mit Zins, Zinseszins und Verzugszinsen zu verklagen. Sambia, eines der allerärmsten Länder, ist so vom US-Fonds Donegal geschädigt worden, der dabei eine Rendite von 700 Prozent verbuchen konnte.

Solche Praktiken hinterlassen ja auch erhebliche immaterielle Schäden

Ja, und zwar nachhaltige. Der alte und neue Kolonialismus hat über vier Jahrhunderte in seinem rücksichtslosen Missionierungs- und Ausplünderungswahn die heimischen Traditionen und Werte der Unterworfenen ausgemerzt. So ist unter den Betroffenen ein kollektives Trauma zurück geblieben, das die behauptete Minderwertigkeit verinnerlicht hat. Fatalismus und mangelndes Selbstvertrauen sind weit verbreitet. Die eigene Kultur wird meist nicht geschätzt. Was Würde ist, hat man kaum erlebt.

Drei Viertel der Afrikaner leben in Armut, obwohl der Kontinent reich an Rohstoffen, Energiequellen und Arbeitskräften ist. In vielen Regionen liegt die Arbeitslosigkeit bei über 70 Prozent. Studien haben nachgewiesen, dass die meisten Länder, gerade Schwarzafrikas, in den nächsten 50 Jahren keine Chance haben werden, ihren Lebensstandard zu verbessern. Jeder, wirklich jeder von uns würde unter solchen Bedingungen fliehen.

Aber die Menschen fliehen, wie wir aus den Medien täglich erfahren, doch vor allem vor ihren Diktatoren vor Ort …

Sicher, man kann die Erklärung für das ganze Elend in Afrika und anderswo nicht nur in den Kolonialschoß legen. Überall in Afrika und dem Nahen Osten trifft man Menschen, die die eigene Elite äußerst kritisch beurteilen.
Es geht mir nicht um monokausale Geschichtsschreibung, sondern um die Aspekte, die in der Debatte gern verdrängt werden und deshalb im öffentlichen Bewusstsein unterrepräsentiert sind. Dazu gehört auch, genauer zwischen Aktion und Reaktion zu unterscheiden, also was folgt woraus?

Afrikanische Intellektuelle werfen ihren Diktatoren zurecht vor, sie seien brainwashed vom Kolonialgebaren, wirtschafteten alles in die eigene Tasche und kümmerten sich nicht um die Nöte ihrer Völker.
Da könnte man sich ja getrost zurück lehnen: überall dasselbe. Man kann aber auch nach der Kränkung fragen, die die Demütigung jahrelangen Beherrschtwerdens nur noch durch Selberherrschen kompensierbar macht. Ganz nach Camus: „Wer lange verfolgt wird, wird schuldig.“ Für mich ein Schlüsselsatz.

Danach hätten die Neokolonisatoren selbst für die Machtversessenheit und Korruptheit vieler afrikanischer Politiker eine Mitverantwortung. Zumal sie deutliche Zeichen gesetzt haben, dass sie gegenüber westlichen Interessen willfährige Diktatoren wünschen, keine Demokraten.

Mit dem Sturz des iranischen Premiersministers Mohammed Mossadegh, der bestialischen Ermordung des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba nach einem Plan der CIA und der einstigen Kolonialmacht Belgien, mit der Bombardierung des chilenischen Präsidentenpalastes beim Putsch gegen Salvadore Allende, bei der Unterjochung der Befreiungsbewegung in Nicaragua und vielem mehr, hat der Westen und haben, allen voran die USA, in den Entwicklungsländern schwere historische Schuld auf sich geladen. In den 27 Jahren, in denen Nelson Mandela im Kerker saß, war Südafrika ein enger Verbündeter der Bundesrepublik.

Nun ist aber eine neue Dimension hinzugekommen, der Kampf gegen Terrorismus und Islamismus. Mit dem Rückständigen an sich, wie behauptet wird.

Wer definiert, was rückständig ist? Natürlich ist jede Art von Gewalt und Fanatismus mit Fortschritt unvereinbar.
Aber war es nicht auch überaus rückständig, auf die schrecklichen Anschläge vom 11. September nur mit der alttestamentarischen, archaischen Blutrache zu antworten?
Rückständig, die Anschläge nicht rechtsstaatlich als das zu behandeln, was sie waren, nämlich Schwerstkriminalität, sondern von der „Koalition der Willigen“ einen „Krieg gegen den Terror“ auszurufen?
Wenn überhaupt, sieht das Völkerrecht militärische Verteidigung gegen Staaten vor, nicht gegen irgendwelche Banden, von denen man nicht mal weiß, in welcher Wüste genau sie sich eigentlich aufhalten.

So ist das verarmte Afghanistan, das sich kaum von der sowjetischen Invasion erholt und als Staat nichts mit den Anschlägen zu tun hatte, erneut ins Elend gestürzt worden. Und nach ihm sind unter heftiger Desinformation von Geheimdiensten der Irak, Libyen und nun Syrien ins Chaos gebombt worden.
Der Krieg gegen den Terror gebiert nur eins: Terror. Er destabilisiert eigene Entwicklungswege und wird in vielen arabischen Ländern als Instrument des Westens angesehen, anderen Kulturen eigene, gesellschaftspolitische Normen überzustülpen und sich die Welt untertan zu machen. Aber nun wird immer deutlicher: Wer Kriege säht, wird Flüchtlinge ernten.

Kann und sollte Deutschland eine Millionen Menschen überhaupt aufnehmen?

Niemand kann eine Zahl aus dem Ärmel schütteln, sehr viel kleinere und ärmere Länder wie der Libanon oder Jordanien sollten uns beschämen, mit den vielen Millionen, die sie aufgenommen haben. Das ist eine Frage des politischen Willens. Hierzulande werden zwei Begrenzungsgründe diskutiert – die kulturellen und die ökonomischen.

Auch nach Köln sind für mich die Pegida-Ängste vor Überfremdung und Islamisierung irrational und fremdenfeindlich. Dass wir jetzt massiv über den zivilisierten Umgang mit Frauen reden, sollen nicht nur die betreffenden einreisenden Männer zur Kenntnis nehmen und sich danach benehmen, wir sollten diese Diskussion auch als Chance und Notwendigkeit für die Defizite in unserer Kultur anerkennen. Es werden oft die falschen Geschichten erzählt.

Eine Freundin von mir hat als junges Mädchen im katholischen Spanien unter der Franco-Diktatur gelebt. Das war auch eine Zeit bigotter Prüderie, es durfte kein Aktbild gezeigt werden, wer sich öffentlich umarmte oder küsste konnte verhaftet werden. Eine neurotisierte Gesellschaft, die sich im Verborgenen austobte. Wenn meine Freundin ins Kino ging, so erzählt sie, wusste ihre sie begleitende Mutter gar nicht, auf welche Seite sie sich setzen sollte, um ihre hübsche Tochter vor Grapschereien zu bewahren. Wenn sie nach der Schule in den Bus steigen musste, hatte sie sich mit ihrer Freundin eine Strategie ausgedacht: Sie stellten sich Rücken an Rücken und hielten die Bücher vor die Brust.
Nach Francos Tod normalisierte sich die Lage. Eine Erfahrung, die noch nicht so lange her ist, als dass man nicht wissen könnte, dass unwürdiges Verhalten gegenüber Frauen weder an Regionen, noch an Religionen gebunden ist. Stattdessen immer an Politik.

Die sexuelle Befreiung und Emanzipation werden Sie den 68ern aber nicht absprechen?

Flächendeckend funktioniert sie dennoch nicht. Nehmen sie doch nur die Meldungen der letzten vier Wochen: Sexueller Missbrauch und hunderte Misshandlungen an den katholischen Regensburger Domspatzen aufgedeckt. In Berlin werden jährlich 76.000 Menschen auf der Straße Opfer von Raub, Körperverletzung oder sexuellem Missbrauch.
Wobei sich sexuelle Übergriffe noch häufiger zu Hause abspielen. Im Jahr 2014 waren in der Hauptstadt fast 10.000 Frauen von häuslicher Gewalt betroffen. Die Berliner Frauenhäuser sind wie in allen Großstädten und Ballungsgebieten hoffnungslos überfüllt, betroffene Frauen werden abgewiesen und müssen zu ihren Peinigern zurück. Die Politik kümmert sich ungenügend darum.

Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes sind in Deutschland jährlich mehrere Zehntausend Frauen von Menschenhandel zum Zwecke sexuellen Missbrauchs betroffen. Die Dunkelziffer ist so hoch, weil die Frauen sich schämen oder sich nicht wagen Anzeige zu erstatten. Im Jahr 2014 konnten 557 Opfer ermittelt werden, die meisten aus Rumänien und Bulgarien, fast ein Viertel aber auch aus Deutschland, einige aus Ungarn, Polen, der Slowakei und der Türkei. Fast die Hälfte der Opfer war unter 21 Jahren, 57 minderjährig, 5 sogar unter 14 Jahren.
Einen öffentlichen Aufschrei ist all das nicht wert. Aber über die Übergriffe auf deutsche Frauen in Köln soll die Welt erschüttert sein. Das ist doch bigotte Heuchelei.

Wir sollten also das Thema Sexualität auch selbstkritisch aufgreifen?

Durchaus. Vielleicht sollten wir auch mal über das Gegenteil reden, nämlich welche Missverständnisse unsere enthemmte öffentliche Feierkultur bei Fremden auslösen kann. Zwar höre ich jetzt schon den Vorwurf des Relativierens und damit angeblich Verharmlosens. Aber diesem dümmlichen Denkverbot habe ich mich nie gebeugt. Ich relativiere, so oft ich nur kann, weil man überhaupt nur durch Denken in Zusammenhängen, durch Setzen von Geschehnissen in Relation zu Vergleichbarem, der Gefahr des Verharmlosens oder Dämonisierens entgeht.
Nur so kommt die Wissenschaft, die Justiz, die Essayistik und jeder denkende Mensch zu belastbaren Schlüssen.

Also: Nach lustigen Knutschereien und Besäufnissen beim Münchner Oktoberfest gibt es jedes Wochenende etwa 150 sexuelle Nötigungen. Allein der kurze Weg zur Toilette sei der reinste Spießrutenlauf, schrieb die SZ am 29.9.2011. Umarmungen von besoffenen Männern, Klappse auf den Hintern, hochgehobener Dirndlrock und absichtlich ins Dekolleté geschütteter Bierschwall sei die normale Bilanz dieser 30 Meter. Am Security Point wird den Frauen geraten, das Fest keinesfalls allein oder mit Unbekannten zu verlassen.
Die Täter seien nie konsequent zur Rechenschaft gezogen worden, hat Bundesrichter Thomas Fischer in seiner einzigartigen Kolumne betont. Und er hat auch die Statistik vom Kölner Karneval 2014: Allein im Zülpicher Viertel gab es 55 Strafverfahren wegen Körperverletzung, die auch bei sexueller Nötigung passiert, wegen Taschendiebstählen und Raub.
Hat man vom Karneval je am laufenden Meter Interviews mit Kölner Opfern gesehen? Mit dieser Diskrepanz in der Berichterstattung bedienen unsere Medien rassistische Vorurteile.

Sie sehen also in Verhalten, das sich auf den Islam beruft, gar keine spezifische Herausforderung?

Doch, in manchen Punkten bin ich auch unversöhnlich. Ich bin für ein Verbot von Burka und Nikab, weil es eine spezifische Form der Gewalt gegen Frauen ist. Für mich erfüllt diese Sitte den Straftatbestand der Körperverletzung, wenn nicht der Folter. Widersprechen sollte mir keine und keiner, die und der nicht selbst unter glühender Sonne einen Vollschleier aus dem üblichen Kunststoff getragen hat.
Ich habe das im Jemen versucht. Bei jedem Atemzug legt sich der luftundurchlässige Stoff vor Mund und Nase und löst Atemnot aus. Unter den Schweißausbrüchen glaubte ich zusammen zu brechen.

Viele Trägerinnen leiden unter Ekzemen, wie mir Ärztinnen sagten. Es ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, mit schweren gesundheitlichen Folgen. 90 Prozent unseres lebensnotwenigen Vitamin D wird über die UV-Strahlung in der Haut gebildet. Das verhindert der Stoff ähnlich wie Fensterglas. Ohne direktes Sonnenlicht auf der Haut wird das Immunsystem geschwächt, die betroffenen Frauen werden anfälliger für Grippe, Osteoporose, Krebs, Herzinfarkt, selbst für Depressionen und Demenz.
Insofern ist diese Kleiderordnung keine Privatsache, mit ihrem frauen- und männerfeindlichen Menschenbild hat sie eine gesellschaftliche Dimension, die mit Religionsfreiheit nichts zu tun hat.

Und es gibt noch etwas, was mich nervt. Die Mehrheit der Deutschen sind Atheisten oder Agnostiker. Uns wird die Beschäftigung mit Religion im öffentlichen Diskurs zunehmend aufgedrängt.
Ich wünschte mir, wie etwa auch Salman Rushdie, dass Religionen nach den Maßgaben der Aufklärung wieder stärker zur Privatsache werden.
An Universitäten soll nun Islam-Wissenschaft gefördert werden. Na bitte schön. Die gleichen Finanzmittel sollte dann aber auch eine zu gründende Fakultät für Atheismus bekommen.

Die Religionen haben keinen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Humanismus und Moralität. Natur- und geisteswissenschaftlich orientierte Freidenker müssen hörbar mitreden.
Eine solche Fakultät sollte sich auch wissenschaftlich mit Religionskritik befassen. Dort könnten erstmalig repräsentative Studien über die Motive von Terroristen und Selbstmordattentätern gemacht und so andere Strategien der Überwindung als Bomben angeboten werden.

Womit wir abschließend zu den wirtschaftlichen Vorbehalten gegen Flüchtlinge kommen. In Ihrem jüngsten Buch „Wir sind der Staat. Warum Volk sein nicht genügt“, beschreiben Sie nicht nur die inhumane Funktionslogik des Kapitalismus, sondern auch die Gebrechen des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie. Verteidigen Sie trotz dieser Gebrechen Merkels „Wir schaffen das“?

Ich hatte bisher wenig Grund, die Harte-Harke-Politik der Kanzlerin zu loben. Jetzt aber zeigt sie zu meiner Überraschung protestantische Nächstenliebe, gepaart mit mutigem Beharrungsvermögen und pragmatischer Klugheit. Sie hat verstanden, dass wir gar keine andere Wahl haben, als das zu schaffen.
Die Wirtschaftsverbände schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, bei der Vorstellung von Grenzkontrollen, die das kapitalistische Herzstück, den Warenverkehr, erheblich behindern würden. Sie wissen, dass junge, dynamische Zuwanderer den Mangel an Fachkräften und die Probleme einer altersdominanten Gesellschaft mildern können, dass sie Nachfrage und Wachstum schaffen.
Noch sind längst nicht alle leerstehenden Kasernen, Plattenbauten und Fabrikgebäude erfasst. Sicher, sie wohnlich zu machen, kostet Geld, genauso wie die Ausbildung und Versorgung der Geflüchteten.
Die Frage, woher wir dieses Geld nehmen, wird entscheiden, ob wir das schaffen.

Der Vorschlag des Finanzministers, europaweit die Benzinsteuer zu erhöhen, gießt Öl ins Feuer. Das trifft nicht nur die Autofahrer, sondern wieder mal alle kleinen Leute, die den unvermeidlich steigenden Preisen für Waren und Dienstleistungen nicht ausweichen können.

In einem sind die Pegida-Ängste ja berechtigt: Kapitalismus kann nichts anderes, als Umverteilung von unten nach oben. Privatleute besitzen in Deutschland ein Gesamtvermögen von mehr als 11 Billionen Euro. Das ist etwa so viel wie die jährliche Wirtschaftsleistung der gesamten EU.
Da wäre doch eine gesetzliche Solidaritätsabgabe von Milliardären für ausländische Neubürger recht und billig. Das gebieten die westlichen Bereicherungsmechanismen.
Aber das einzugestehen, widerspricht kapitalistischer Funktionslogik.

Unser Recht ist die Scharia der Konzerne. Im Grunde haben wir keine Flüchtlingskrise, sondern eine Besitzstandswahrungskrise.
Wir haben noch nicht begriffen, dass nicht nur die Ausländer sich bei uns integrieren müssen, sondern auf verträgliche Weise auch die Reichen in eine Welt der Armut und des Elends.

Bischof Tutu hat schon vor Jahren eine neue Weltordnung verlangt. Der Papst ist auch so zu verstehen. Es gibt keine systemimmanente Lösung mehr. Die Krise wäre zu schaffen, aber nicht mit dieser CDU/CSU und Europas Konservativen.
Die Alternative liegt links von der Mitte, das ist Chance und Herausforderung. Aber ich befürchte, die Linken, die sozialen Bewegungen und die Aktivbürger werden die Chance sorgenvoll verschlafen.

Entweder gibt es jetzt sehr rasch linke Antworten auf die Krise – oder der Weg in den totalitären Staat wird kaum mehr aufzuhalten sein. Stimmen Sie dem zu, mit Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Barbarei?

Ich zitiere Ihnen den Schluss meines Essays, das Anlass dieses Gespräches war:
„Weltweit sollen die Superreichen über 100 Billionen Euro verfügen. Wenn sie für die Stabilität des Weltgefüges 10 Prozent abgeben, können sie 90 Prozent behalten. Sonst vielleicht nichts. Eben weil das Vergangene nicht vergangen ist. Das Gegenwärtige nicht haltbar. Und das Künftige nicht gesichert. Solidarisches Gemeinwesen oder Barbarei.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Daniela Dahn ist Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Bei Rowohlt sind bislang zehn Essay-Bücher erschienen, zuletzt „Wehe dem Sieger!“ und „Wir sind der Staat!“. Mehr von ihr unter danieladahn.de.

kontext_tv_banner_grossWeiterlesen:

Über 60.000 Hektoliter Zellgift von unbekannten Terroristen auf Oktoberfest geschmuggelt, meldet der Postillion

Eine bedenkliche Nachricht, die einem aber das Wochenende nicht vermiesen sollte, hier auch fast 300 Kommentare dazu:

http://www.der-postillon.com/2013/10/uber-60000-hektoliter-nervengift-von.html

München (dpo) – Terroralarm auf dem Münchner Oktoberfest! Trotz verstärkter Polizeipräsenz und Präventivmaßnahmen ist es unbekannten Terroristen gelungen, rund 60.000 Hektoliter einer zu 6 bis 7 Prozent mit dem tödlichen Zellgift Ethanol versetzten gelblichen Flüssigkeit auf die Wiesn zu schmuggeln. Zahllose Festbesucher klagten über Übelkeit oder mussten sich übergeben.
Mediziner raten unbedingt vom Konsum dieser Substanz ab: „Dieses Teufelszeug führt in niedriger Dosierung zu leichten Wahrnehmungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten wie lautem Singen und Klatschen“, warnt ein Sprecher der Ärztekammer. „In größeren Mengen von fünf Litern und mehr kann der vergiftete Gerstensaft in Einzelfällen sogar tödlich wirken.“

Usien, CC BY-SA 3.0
Das Rote Kreuz ist rund um die Uhr im Einsatz, um die Vergifteten zu bergen

Zynisch: Nichtsahnende Festbesucher zahlen horrende Preise, um das schäumende Ethanol-Gebräu zu erwerben!
Noch ist unklar, wer für den Anschlag verantwortlich ist. Während einige von einer Verschwörung der Wiesn-Wirte ausgehen, sieht die bayerische Staatsregierung einen eindeutig islamistischen Hintergrund.
„Es ist schon sehr auffällig, dass ausgerechnet unsere muslimischen Mitbürger größtenteils die Finger von dem Gift lassen“, mutmaßt Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und streicht sich nachdenklich über das Kinn. „Als wäre es ihnen von ihren Imamen verboten worden…“
Die Aufgabe der Politik sieht Herrmann jetzt in erster Linie darin, den Schaden zu begrenzen: Daher wolle man die Großveranstaltung spätestens am 4. Oktober abbrechen.

Merke:

Dosis facit venenum !