Kinder der Ungleichheit in Deutschland: „Das offen zu sagen, wagt kaum jemand“ – sagt Christoph Butterwegge

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.nachdenkseiten.de/?p=75647
Politiker halten Sonntagsreden, doch die Kinderarmut ist eine Realität in Deutschland und die Ungleichheit, basierend auf den finanziellen Möglichkeiten, ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Das sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge im Interview mit den NachDenkSeiten.
Mit deutlichen Worten zeigt der Politikwissenschaftler auf, was es bedeutet, wenn arme und reiche Kinder in einer Gesellschaft existieren: Nie war eine junge Generation zerrissener als die heutige.
Auf der anderen Seite, so führt Butterwegge aus, steht das, was man als Kinderreichtum bezeichnen kann: 90 Kinder unter 14 Jahren bekamen zwischen 2011 und 2014 im Durchschnitt je 327 Millionen Euro geschenkt. Steuerfrei, wohlgemerkt.
Butterwegge hält zusammenfassend fest: Wo eine Villa ist, da ist auch ein Weg. Von Marcus Klöckner.

Mein Kommentar: eine mögliche Erklärung dafür, warum die Armut nicht abgeschafft wird, ist, dass sie die bestehenden Herrschaftsverhältnisse mit Scham und Angst zementiert, was die Herrschenden schon seit Jahrtausenden wissen. Im Neoliberalismus ist das zur offen erklärten Doktrin geworden. Armut ist gewollt und bewusst erzeugt, weil sie die „Aktivierung“, Motivierung und Disziplinierung der Bevölkerungsmehrheit gewährleistet.Siehe schon 2014 https://josopon.wordpress.com/2014/06/18/die-angst-vor-der-armut-sichert-den-fortbestand-der-bestehenden-herrschaftsverhaltnisse-deshalb-werden-die-ursachen-von-armut-in-deutschland-verschwiegen/

Auszüge:

Herr Butterwegge, was bedeutet formale Gleichheit unter faktisch Ungleichen?

Nichts als Ungerechtigkeit. Die formale Gleichheit nützt den Mitgliedern einer Gesellschaft wenig, sofern zwischen ihnen materielle Ungleichheit besteht.
Damit es in einem Land gerecht zugeht, müssen Gleiche gleich und faktisch Ungleiche ungleich behandelt werden. Das wussten bereits die griechischen Philosophen der Antike.
Mich veranlasst diese Tatsache heute zu einer Fundamentalkritik am bedingungslosen Grundeinkommen und an einem Konzept der Kindergrundsicherung, das besser als Kindergrundeinkommen bezeichnet würde, weil Familien unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit für jedes Kind denselben Geldbetrag erhalten sollen. Kinder, die in Armut leben, brauchen aber erheblich mehr staatliche Unterstützung als Kinder aus wohlhabenden, reichen oder hyperreichen Familien, die Privilegien unterschiedlicher Art genießen.

Damit wären wir bei dem Titel Ihres neuen Buches: Kinder der Ungleichheit haben Sie es genannt. Dass wir in unserem Land ein reales Problem haben, was Chancengleichheit angeht, ist seit langem bekannt. Aber trotz immer wiederkehrender Medienbeiträge und Diskussionen scheint bei Vielen immer noch nicht angekommen zu sein, was es bedeutet, wenn Kinder hinsichtlich der ökonomischen Bedingungen in Ungleichheit aufwachsen. Was sagen Sie denjenigen, die den Kindern aus armen Verhlötnissen nicht helfen wollen?

Das offen zu sagen, wagt ja kaum jemand, erst recht im laufenden Bundestagswahlkampf kein Politiker der etablierten Parteien. Sie halten Sonntagsreden, die Kinderarmut in Deutschland verharrt jedoch seit über 20 Jahren, in denen meine Frau und ich uns damit beschäftigen, auf einem skandalös hohen Niveau.
Dabei ist die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht bloß moralisch verwerflich, sondern auch schädlich für eine Volkswirtschaft.
Letztlich bremst die ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen das Wirtschaftswachstum. Vielleicht kann dieses mit der Standortlogik kompatible Argument sogar Wirtschaftsliberale von der Notwendigkeit überzeugen, einer weiteren Polarisierung entgegenzutreten.

armut auf rekordniveau

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Die soziokonomische Ungleichheit ist zudem Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der nicht bloß von Konservativen immer wieder als Ziel ihrer Bemühungen benannt wird. Je mehr die Sozialstruktur in Arm und Reich zerfällt, umso eher bilden sich Parallelwelten und Subkulturen heraus, in denen die Kinder der einzelnen Klassen und Schichten unter sich bleiben.
Es geht aber um die Zukunft unserer Kinder in einer wohlhabenden Gesellschaft der Gleichheit, die ihnen ausnahmslos ein glückliches Leben ohne materielle Sorgen und ohne Diskriminierung wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität ermglicht.

Auch wenn das eigentlich Jedem klar sein sollte: Lassen Sie uns doch einmal genauer darauf schauen, was es bedeutet, wenn Kindern aus den unteren Schichten Mittel fehlen, um am Leben in dieser Gesellschaft teilzuhaben. Was sind Ihre Beobachtungen? Wo fängt die Ungleichheit an?

Eine große Rolle spielt die zunehmende Kommerzialisierung von Kultur, Freizeit und Sport. Es gibt Kinder, die so gut wie nie in den Zoo, den Zirkus oder auf die Kirmes gehen können, weil ihren Familien das nötige Geld fehlt.

In einer Gesellschaft, deren wohlhabende Mitglieder viel Wert auf den privaten Konsum, Luxusgüter und kostspielige Statussymbole legen, wirken schon eine Minderausstattung mit Kinderspielzeug oder fehlende Markenklamotten für junge Menschen diskriminierend.

Wie gestaltet sich die Ungleichheit, wenn die Kinder etwas älter sind?

Wer als Jugendliche/r nichts von dem hat, was angesagte Stars und Influencer gerade auf ihren Kanälen promoten, wird im Kreis seiner Peers nicht akzeptiert. Ausgelacht oder sozial ausgegrenzt zu werden, ist zweifellos eine der schlimmsten Konsequenzen von Armut und Unterversorgung im Jugendalter.
Gerade junge Menschen sind davon abhängig, dass sie im Kreis ihrer Freunde und Klassenkameraden anerkannt werden.
Nichts ist schlimmer für ihr Selbstbewusstsein, als bei Gleichaltrigen auf Ablehnung zu stoßen und keine Freunde zu finden.

Sollten die Kinder aus armen Familien den Weg auf ein Gymnasium geschafft und das Abitur in der Tasche haben, geht das Problem weiter.
Was heißt es, ohne eine Familie, die einem finanziellen Halt gibt, zu studieren?

Da hat die Covid-19-Pandemie manchem die Augen geöffnet. Studierende, deren Eltern sie finanziell nicht unterstützen knnen oder die mit ihrem Bafög-Satz nicht auskommen, sondern arbeiten gehen mssen, standen plötzlich vor dem Nichts, als der Nebenjob etwa in der Gastronomie ber Nacht wegfiel.
Da nur zwölf Prozent der 2,8 Millionen Studierenden vor der Pandemie staatliche Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz erhielten und mehr als zwei Drittel von ihnen einen Nebenjob hatten, gehörten sie zu den Hauptleidtragenden des wiederholten Lockdowns.
Bei einer Geschäftsaufgabe oder Betriebsschließung konnten Studierende weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II erhalten. Akuter Geldmangel und manchmal der Abbruch des Studiums waren die Folge, es sei denn, dass es ihnen gelang, einen Aushilfsjob im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder bei einem Lieferdienst zu bekommen. Auch war der Gang zur Lebensmitteltafel manchmal die einzige Alternative zur dichtgemachten Mensa, wo sie vorher preiswert gegessen hatten.

Ich denke gerade daran, wie schwer es für junge Menschen aus armen Familien ist, wenn sie zum Beispiel den Beruf des Journalisten ergreifen wollen.
Für viele Medien sind Praktika unabdingbar, um einen Fuß in den journalistischen Beruf zu bekommen. Aber welche alleinerziehende Mutter, die von Hartz IV lebt, kann ihrem Sohn oder ihrer Tochter schon mehrere Monate dauernde Praktika in Berlin, München oder Hamburg finanzieren?

Während der Pandemie litten die jungen Menschen unter einem signifikanten Rückgang des Lehrstellenangebots in krisengeschüttelten Branchen und Betrieben. Offenbar folgte der Generation Praktikum, die zur Jahrtausendwende mit unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten abgespeist wurde, statt sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu erhalten, im Zeichen der Coronakrise eine Generation kein Praktikum, der 2020/21 weder genug Ausbildungs- noch genug Praktikumsplätze zur Verfügung standen.
Deshalb machte die Warnung vor einer verlorenen Generation die Runde, wenngleich sicher nicht alle jungen Menschen über einen Leisten geschlagen werden dürfen. Dazu sind ihre Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen einfach zu unterschiedlich. Nie war eine junge Generation zerrissener als die heutige.

Halten wir fest: Was das Wahrnehmen von Möglichkeiten in dieser Gesellschaft angeht, zieht sich Ungleichheit wie ein roter Faden durch das Leben der Kinder, die aus armen Verhältnissen stammen, oder?

Die soziokonomische Ungleichheit hat sich in Deutschland wie in allen Klassengesellschaften verfestigt und prägt das Leben der Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Sie ist bereits in Kindertagesstätten deutlich spürbar, sofern dort Sprsslinge unterschiedlicher Bevölkerungsschichten aufeinandertreffen, sie bestimmt die Bildungsbiografien junger Menschen, sie macht sich im (Erwerbs-)Leben stark bemerkbar und prägt auch das Alter.
Ferner beschränkt sich die soziale Ungleichheit nicht auf die asymmetrische Verteilung von Einkommen und Vermögen, sie erstreckt sich vielmehr auf sämtliche Lebensbereiche der Familien.

Lassen Sie uns die Perspektive wechseln. Wie sieht es auf der anderen Seite aus?
Was bedeutet es für ein Kind, in soliden finanziellen Verhältnissen oder gar in Reichtum aufzuwachsen?

Kinder wohlhabender, reicher und hyperreicher Eltern finden weit bessere Rahmenbedingungen für ein sorgenfreies Aufwachsen vor. Hierzu gehren ein luxuriöses Wohnen und ein anregendes Wohnumfeld, optimale Bildungsmöglichkeiten (z.B. Besuch angesehener Privatschulen oder ausländischer Eliteinternate) und eine hervorragende Gesundheitsversorgung.
Ob ein Kind im Umfeld von parkähnlichen Grten, Garagen mit der Größe von Einfamilienhäusern, Grünflächen sowie Tennis- und Hockeyclubs oder im Umfeld von Spielhallen, Sonnenstudios, Wettbüros, Imbissbuden und Billigläden aufwächst, prägt sein ganzes Leben.
Die tief ins kindliche Gemüt eingebrannte Erfahrung der persönlichen Benachteiligung oder der familiären Privilegierung lässt Menschen bis ins hohe Alter nie los, beeinflusst ihren Bildungsweg, ihre Berufswahl und ihre Entscheidung für eine Partnerin/einen Partner ebenso wie ihre Persönlichkeit, Lebenseinstellung und Weltanschauung.*)

Können Sie die Unterschiede vielleicht auch mal an Zahlenbeispielen veranschaulichen?

Reichtum bleibt in der Familie. Aus den Steuerstatistiken der Bundesländer geht hervor, wie stark sich ein riesiger Kapitalreichtum bei wenigen Kindern konzentriert. Eltern verschenken Unsummen aus steuerrechtlichen Gründen an ihre Nachkommen.
Vor allem sogenannte Familienunternehmer, die man in anderen Ländern als Oligarchen bezeichnet, haben große Teile ihres Vermögens auf ihre Kinder übertragen aus Furcht, dass die Erbschaftsteuer für Firmenerben erhöht werden könnte, was übrigens wegen der erfolgreichen Lobbyarbeit ihrer Verbände gar nicht geschah. 90 Kinder unter 14 Jahren bekamen zwischen 2011 und 2014 im Durchschnitt je 327 Millionen Euro geschenkt. Steuerfrei, wohlgemerkt.
Da kann man mit Fug und Recht von Kinderreichtum sprechen, obwohl dieser Begriff im Deutschen ausschließlich für große Familien und Länder mit einer besonders jungen Bevölkerung verwendet wird.
Auf der anderen Seite sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland arm oder armutsbedroht.
Leben sie in einer Familie, die von Hartz IV abhängt, mssen sie je nach Alter mit 283, 309 oder 373 Euro im Monat auskommen.

Das ist sehr plastisch. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Vor allem, dass die extreme Ungleichheit beim Vermgen das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der ganzen Menschheit ist. Ob ein Kind nach dem Schulunterricht auf den Bolzplatz oder in die Ballettschule geht, hängt nicht bloß von seinem Geschick und seinem Geschlecht, sondern auch oder vielleicht sogar noch mehr vom Einkommen, vom Vermögen und vom sozialen Status seiner Eltern ab.
Während die Kinder aus einkommensschwachen Familien im deutschen Schulwesen zu den größten Bildungsverlierern gehren, sind die Kinder reicher Eltern eindeutig im Vorteil. Man kann daher in Abwandlung eines Sprichwortes sagen: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg, sei es zum Abitur, zum Studium und/oder zur beruflichen Karriere.
Wer das Glück hatte, in eine Familie hineingeboren worden zu sein, die vermögend ist, muss sich gar nicht groß anstrengen, um mehr zu erreichen als sein der Unterschicht entstammender Altersgenosse. Habitus, sozialer Status und bekannter Name der Herkunftsfamilie reichen meist schon aus, um Personalchefs großer Firmen, Beratungsagenturen oder Anwaltskanzleien von der Qualifikation eines Bewerbers zu berzeugen.

Auch in der Pandemie zeigt sich die Ungleichheit bei den Kindern. Wo liegen die Probleme?

Deutlich wurde, dass sich die Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermgen der Familien in gesundheitlicher, Wohn- und Bildungsungleichheit der Kinder niederschlägt. Whrend viele Minderjährige aus sozial benachteiligten Familien whrend des wiederholten Lockdowns aufgrund fehlender digitaler Endgeräte regelrecht abgehängt wurden, verfügen Kinder aus gutem Hause manchmal bereits sehr früh ber ein Laptop, ein Tablet oder ein iPhone.
Finanzschwäche zieht Immunschwäche nach sich, weil Arbeitslose, Arme und sozial Ausgegrenzte häufiger als die übrigen Gesellschaftsmitglieder schwere Vor- und Mehrfacherkrankungen aufweisen.
Auch katastrophale Arbeits- und Lebensbedingungen sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhhten das Risiko für eine Infektion mit SARS-CoV-2 sowie für einen schweren Krankheitsverlauf.**)
In den Gemeinschaftsunterkünften von Werkvertragsarbeiter(inne)n und Flüchtlingsheimen, wo selbst große Familien keine eigenen Sanitäranlagen haben sowie Abstands- und Hygieneregeln nur mit erheblicher Mühe oder gar nicht einzuhalten sind, ist die Ansteckungsgefahr besonders groß.

Sie sind schon lange als Ungleichheitsforscher tätig und bekannt. Wie reagieren Politiker, wenn Sie mit ihnen reden?
Was sagt beispielsweise ein konservativer Politiker der CDU, wenn Sie ihm die Auswirkungen der Ungleichheit schildern?

Er setzt in der Regel eher auf karitatives Engagement, auf das Spenden, Stiften und Sponsoring. Je mehr wohlfahrtsstaatliches Handeln um die Jahrtausendwende whrend der neoliberalen Reformära zurckgedrängt wurde, desto umfassender wurde das Bettigungsfeld für karitatives, bürgerschaftliches bzw. zivilgesellschaftliches Engagement.
Einrichtungen wie die Lebensmitteltafeln schossen zu jener Zeit nicht zufällig wie Pilze aus dem Boden. Inzwischen gibt es fast 1.000 Tafeln, deren Dachverband angibt, wchentlich 1,65 Millionen Kund(inn)en zu haben, wie die Bedürftigen im wirtschaftsliberalen, marktfixierten Neusprech genannt werden.
Ungefähr 30 Prozent davon sind Kinder und Jugendliche, 44 Prozent Erwachsene im erwerbsfähigen Alter und 26 Prozent Senioren.

Welche Lösungsansätze haben Sie?

Karitatives Engagement reicht jedenfalls nicht aus. Ja, sie kann sogar kontraproduktiv sein, wenn Tafeln an die Stelle des Sozialstaates treten und zur Legitimation seiner neoliberalen Transformation beitragen.
Armut lässt sich in einem reichen Land nur politisch bekämpfen, und zwar, indem eine Um- oder Rückverteilung des privaten Reichtums stattfindet.
Kinder_d_UngleichheitWenn unsere Ursachenanalyse richtig ist, muss die Bekämpfung der Ungleichheit von Kindern bei einer Anhebung der nicht existenzsichernden Löhne ihrer Eltern beginnen. Neben einer sofortigen Anhebung des Mindestlohns auf deutlich mehr als 12 Euro ist die Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung nötig, in die alle Wohnbürger/innen einzahlen, also auch Selbstsätndige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister.
Außerdem bedarf es einer sozialen Grundsicherung, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient. Sie muss armutsfest, bedarfsgerecht und repressionsfrei sein, also ohne Sanktionen auskommen.
Was Familien und Kinder in Armut berdies brauchen, ist ein Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur.
Ntig wre eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf (junge) Menschen, die Unterstützung bentigen, um in Würde leben zu können.

Wohlhabende müssten hingegen nicht mehr Geld für ihre Kinder erhalten, sondern ebenso wie Reiche und Hyperreiche durch höhere Steuern stärker in die Pflicht genommen werden.
Zwar lsst sich der Kapitalismus mit steuerpolitischen Manahmen nicht abschaffen, es lsst sich auf diesem Weg jedoch etwas mehr Gerechtigkeit schaffen. Solange sich die Ungleichheit im bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem reproduziert, stellt sich darüber hinaus die Frage, wie durch Staatseingriffe unter Wahrung der Verhltnismigkeit dafür gesorgt werden kann, dass Armut gar nicht mehr entsteht.
Wenn die soziokonomische Ungleichheit ein strukturelles, das heißt ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, kann sie nur durch tiefgreifende Strukturveränderungen beseitigt werden.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Märchenonkel Gabriel: Zu TTIP ein Schreiben an die Genossen voller Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen und Auslassungen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Thorsten Wolff hat genau hingeschaut und seine Hinweise bei Jens Berger auf den NachDenkSeiten eingestellt:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=24825
Dort findet sich auch das vollständige Schreiben.
Hier Auszüge:

Sigmar Gabriels Schreiben an die SPD-Mitglieder: Mit Halbwahrheiten zum Freihandelsabkommen?

Verantwortlich: Jens Berger

Der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat sich jüngst per E-Mail an die Mitglieder seiner Partei gewandt. Thema seines Schreibens: Das derzeit verhandelte Freihandelsabkommen “TTIP” zwischen der Europäischen Union und den USA sowie das “CETA”-Abkommen mit Kanada.
Ziel seines Schreibens: Die SPD-Mitglieder zu beruhigen und auf Linie bringen.
Überzeugend sind Gabriels Argumente nicht. Auch, weil er so manches verschweigt und anderes herunterspielt. Eine Analyse von Thorsten Wolff.

Der Mitgliederbrief wurde am 28. Januar per E-Mail versandt. Wir kommentieren im Nachstehenden zunächst einzelne Passagen des Schreibens (in kursiv) und dokumentieren dieses anschließend nochmals komplett.

  1. Analyse zentraler Passagen des Mitgliederbriefs:

    Viele Bürgerinnen und Bürger, auch uns nahestehende Verbände und Organisationen, äußern teils heftige Kritik an diesen geplanten Freihandelsabkommen, sind verärgert über die mangelnde Transparenz der Verhandlungen und haben die Befürchtung, dass durch die Freihandelsabkommen bewährte europäische Standards etwa im Verbraucher- und Umweltschutz, bei den Arbeitnehmerrechten, in der Daseinsvorsorge und der Kultur ausgehöhlt werden könnten. Insbesondere auch die Frage des Investorenschutzes weckt großes Misstrauen.

    Freihandelsabkommen ja, aber nicht um jeden Preis.

    In den Gesprächen, die ich in unserer Partei führe, nehme ich Unbehagen und Unsicherheit wahr. Manchmal gibt es auch die Sorge, dass sich die SPD auf Bundesebene oder in der Bundesregierung bereits auf eine bedingungslose Zustimmung zu diesen geplanten Freihandelsabkommen festgelegt habe. Weil gerade das nicht stimmt, möchte ich Dich zu Beginn des neuen Jahres über den Stand der Verhandlungen auf europäischer Ebene, über meine Haltung als Vorsitzender der SPD und als Bundeswirtschaftsminister informieren.

    In den hier zitierten Absätzen macht Gabriel deutlich, worum es ihm geht: Die Menschen glauben zu machen, dass Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) gar nicht so schlimm seien, wie alle denken, und dass die SPD nicht um jeden Preis zustimmen werde. Hierzu beginnt er mit einer sachlichen, inhaltlich zutreffenden Hinführung zum Thema.
    Diese Passage ist taktisch durchaus klug formuliert: Gabriel schreibt von “heftige[r] Kritik”, er schreibt, die “Bürgerinnen und Bürger” seien “verärgert” und hätten eine “Befürchtung”. Damit weckt er die Erwartung, dass Kritik, Verärgerung und Befürchtung im Nachfolgenden widerlegt werden. Was er dann ja auch versucht.

    Früh und recht direkt spricht Gabriel auch das Hauptproblem der SPD im Allgemeinen und seiner Person im Besonderen an, nämlich mangelnde Glaubwürdigkeit.
    Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Partei (mindestens) in der Haltung zu internationalen Abkommen sind berechtigt. Man erinnere sich etwa an den europäischen “Fiskalpakt” 2011/2012, den die damals oppositionelle SPD hätte verhindern können, den sie aber nicht verhindert hat. Und das, obwohl sie monatelang so tat, als sei eine Ablehnung eine ernsthaft ins Auge gefasste Option. Am Ende aber siegte die Staatsräson, wollte sich die Partei nicht als einziger Akteur in Europa gegen diesen ausverhandelten internationalen Vertrag wenden.

    Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sich Gabriel und die SPD bei internationalen Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP anders verhalten.
    Denn genau das eben am Beispiel des “Fiskalpakts” geschilderte Verhalten hat Gabriel am 27. November 2014 im Bundestag, bezogen auf CETA, sogar schon angekündigt: “Es ist überhaupt kein Problem für mich, zu wiederholen, dass wir im Hinblick auf CETA am Ende vor der Frage stehen, ob unser Unwohlsein und die Kritik an dem ‘Schweizer Käse’ des Investitionsschutzes – der Gutachter hat es so bezeichnet; so schwach findet er es – dafür ausreichen, dass Deutschland als alleiniges Land in Europa den gesamten Prozess anhalten kann. Sie werden sich als grüne Fraktion fragen müssen, wie Sie als europäisch-orientierte Partei, die Sie ja sind, mit Ihrer Position umgehen, wenn der Rest Europas dieses Abkommen will. Ich sage Ihnen: Deutschland wird dem dann auch zustimmen. Das geht gar nicht anders.”

    Wenn Gabriel im Mitgliederbrief also behauptet, die SPD hätte sich noch nicht auf eine “bedingungslose Zustimmung” festgelegt, so sind an dieser Äußerung mindestens Zweifel angebracht.

    Der Abbau von Zöllen und anderen Handelsbarrieren liegt im natürlichen Interesse einer Exportnation wie der deutschen. Millionen Arbeitsplätze hängen in unserem Land vom Export und von möglichst freien Handelswegen ab. Deshalb hat sich die SPD mit CDU und CSU im Koalitionsvertrag auch darauf verständigt, das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) zu unterstützen und den Freihandel zu stärken. Dies gilt auch für das Abkommen mit Kanada (CETA).

    Der transatlantische Handel ist heute schon in hohem Maße “frei”. Zölle spielen kaum noch eine Rolle.
    Eine demgegenüber größere Rolle spielen die so genannten “nichttarifären Handelshemmnisse”, von Gabriel hier als “andere Handelsbarrieren” bezeichnet: Gemeint sind damit staatlich-öffentlichen Regularien und Verfahren, die von Unternehmen als “Hindernisse” im transatlantischen Handel empfunden werden können. BefürworterInnen von Freihandelsabkommen nennen als Beispiele gerne etwa (doppelte und unterschiedliche) Zulassungsverfahren und technische Vorschriften. Sie leiten daraus die Forderung ab, Verfahren und Vorschriften einander anzugleichen oder wechselseitig anzuerkennen.
    Sofern beide Seiten das gleiche Schutzniveau haben, ist dies halbwegs unproblematisch. Wenn das Schutzniveau allerdings unterschiedlich ist, besteht durchaus die Gefahr, dass Standards nach unten angeglichen (und damit abgesenkt) werden. Dass dies nicht passieren werde, wie Gabriel oben schreibt und wie auch andere immer wieder behaupten, kann man glauben oder auch nicht.

    Darüber hinaus werden oft sogar Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards schlechthin als Handelshemmnisse angesehen – meist mit der Begründung, diese seien unnötig und dienten alleine dem Zweck, ausländischen Unternehmen den Zugang zum Markt zu verwehren. Tatsächlich können sie den grenzüberschreitenden Handel von Waren und Dienstleistungen erschweren, weshalb die Forderung nach Absenkung dieser Standards zu einer Hauptforderung der Unternehmenslobby in Sachen TTIP geworden ist.
    Die Spielzeugproduzenten beider Kontinente etwa fordern, die höheren europäischen Standards bei Spielzeugen einer kritischen Prüfung anhand wissenschaftlich-objektiver Kriterien zu unterwerfen; umgekehrt wünschen die europäischen Rohmilchkäse-Produzenten einen Zugang zum US-Markt, der ihnen heute aus hygienischen Gründen versagt ist.

    Ähnliches bei Sozialstandards: So ist es in der Freihandelszone “Europäischer Binnenmarkt” heute beispielsweise nicht mehr möglich, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Tarifbindung vorzuschreiben, wenn die Tarifverträge nicht Gesetzescharakter haben (also allgemeinverbindlich sind). Der Grund: Die Einhaltung von Tarifverträgen ist für ausländische Unternehmen schwieriger umzusetzen als für inländische, insofern würden ausländische Unternehmen benachteiligt, wenn Tarifbindung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vorgeschrieben wird. So legen es jedenfalls die Freihandelslogiken nahe, die dem Europäischen Binnenmarkt wie auch klassischen Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) zu Grunde liegen.

    Die Gefahr der Absenkung von Standards durch Freihandelsabkommen ist also real. Über all das verliert Gabriel in seinem Mitgliederbrief allerdings kein Wort – von oberflächlichen Bekundungen abgesehen, dass er Standards nicht absenken wolle. Der Begriff der “anderen Handelsbarrieren” hätte da durchaus einige Anmerkungen verdient gehabt.

    Stattdessen bringt Gabriel das standortnationalistische Argument der Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ins Spiel. Eine Erklärung, weshalb eine weitere Liberalisierung des transatlantischen Handels notwendig und nützlich sein soll, bleibt er dabei allerdings ebenso schuldig wie eine ökonomische Erklärung für den behaupteten Zusammenhang zwischen Handelsliberalisierung und Arbeitsplätzen.
    Mehr als unbegründete Allgemeinplätze (“natürliche[s] Interesse”, “Millionen Arbeitsplätze hängen…”) hat er nicht zu bieten. Nicht zuletzt die zweifelhaften ökonomischen Studien über angebliche positive Effekte eines TTIP-Abkommens lassen Skepsis gegenüber seinen Ausführungen berechtigt erscheinen.
    Von der Fragwürdigkeit des von Gabriel gefeierten deutschen Exportwahns ganz abgesehen.

    Danach haben wir auf der Grundlage einer Vereinbarung mit dem DGB auf unserem Parteikonvent beschlossen, dass wir grundsätzlich die geplanten Freihandelsabkommen begrüßen – allerdings nicht um jeden Preis. Vor allem ist für SPD und DGB wichtig:

    Der Verweis auf das gemeinsame Papier seines Ministeriums (und indirekt der SPD) mit dem DGB soll den Eindruck erwecken, dass SPD und DGB in der Frage der Freihandelsabkommen gemeinsame Positionen vertreten. Allerdings bleibt Gabriels Bezug auf das Papier oberflächlich, selektiv und unvollständig, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Nur durch diese selektive und unvollständige Wiedergabe gelingt es Gabriel, den Eindruck gemeinsamer Positionen beider Organisationen zu wecken.

    • dass die Verhandlungen endlich transparent und für alle Bürgerinnen und Bürger Europas nachvollziehbar geführt werden,

    Das Thema der Transparenz ist in der Tat Bestandteil des Papiers, allerdings nur einer von vielen und gewiss nicht der wichtigste. Dass Gabriel gleich zu Beginn seiner Aufzählung von Inhalten des SPD-DGB-Papiers hierüber spricht, kann getrost als Ablenkungsmanöver gelten.

    • dass die geplanten Freihandelsabkommen keine sozialen, ökologischen oder kulturellen Standards gefährden dürfen, dass weitere Verbesserungen dieser Normen möglich sein müssen und dass die Entscheidungsfreiheit regionaler Körperschaften über die öffentliche Daseinsvorsorge unberührt bleibt,

    Wenn Gabriel schreibt, er wolle, dass “weitere Verbesserungen dieser Normen möglich sein müssen”, dann wirft er eine Nebelkerze. Denn in den allerwenigsten Fällen wird ein Freihandelsabkommen explizit vorschreiben, dass “Normen” nicht weiter “verbessert” werden dürfen. (Wobei sich im Einzelfall ohnehin die Frage stellt, was mit “Verbesserungen” gemeint ist.) Die realen Gefahren sehen anders aus:

    • Erstens besteht die Gefahr, dass Freihandelsabkommen Möglichkeiten der Regulierung einschränken, etwa der Regulierung von Finanzmärkten oder von Produktmärkten. Dies muss nicht explizit mit einem Verbot einhergehen, “Normen” zu “verbessern”.
    • Zweitens führen Freihandelsabkommen zu verstärkter Konkurrenz zwischen den Unternehmen der beteiligten Länder. Hier besteht die Gefahr, dass höhere Standards in einem Land zu Nachteilen gegenüber anderen Ländern führen. Um “Wettbewerbsfähigkeit” wiederzuerlangen, werden Staaten dann von sich aus Normen absenken oder zumindest nicht weiter erhöhen. Dies geschieht bei arbeits- und sozialrechtlichen Normen derzeit etwa in Südeuropa (in Griechenland jetzt nicht mehr), und es geschah vor 10-15 Jahren unter Rot-Grün in Deutschland. Das SPD-DGB-Papier spricht die Gefahr eines Dumping-Wettbewerbs in Punkt 3 durchaus offen an, Gabriel aber schweigt sich in seinem Mitgliederbrief darüber aus. Mehr noch: Im SPD-DGB-Papier wird sogar gefordert, dass Freihandelsabkommen dazu beitragen sollen, “Mitbestimmungsrechte, Arbeits-, Gesundheits- und Verbraucherschutz- sowie Sozial- und Umweltstandards zu verbessern”. Gabriel aber stellt es so dar, als müsse es laut SPD und DGB lediglich möglich bleiben, Normen weiter zu verbessern. Er bleibt damit weit hinter dem zurück, was tatsächlich in dem Papier steht.

    Was Gabriel darüber hinaus auch hätte schreiben können und vielleicht müssen: Im DGB-Kongress-Beschluss zu TTIP wird gefordert, dass Arbeits- und Sozialstandards international auf höchstem Niveau einander angeglichen werden müssen. Diese Positionierung geht sogar noch einen Schritt über die Formulierung im SPD-DGB-Papier hinaus. Spätestens hier wird deutlich: In der Frage der Erhaltung/Setzung von Standards gibt es zwischen Gabriel und Gewerkschaften deutliche Differenzen, deren Darstellung Gabriel nur umschiffen kann, indem er entscheidende Sachverhalte schlicht verschweigt.

    Eine weitere kurze Bemerkung: Wenig beruhigend klingt es auch, wenn Gabriel schreibt, dass die “Entscheidungsfreiheit regionaler Körperschaften über die öffentliche Daseinsvorsorge unberührt” bleiben müsse. Denn erstens ist diese Formulierung schwammig. Zweitens und vor allem aber findet öffentliche Daseinsvorsorge nicht nur auf regionaler Ebene statt, sondern auch auf Bundesebene.
    Gabriels Formulierung schließt damit insbesondere eine unwiderrufliche Liberalisierung des Bahnverkehrs durch Freihandelsabkommen nicht aus.

    • dass beide Vertragspartner sich verpflichten sollen, internationale Übereinkünfte und Normen in den Bereichen Umwelt, Arbeit und Verbraucherschutz zu beachten und umzusetzen – insbesondere die ILO-Kernarbeitsnormen, auf deren Einhaltung im Rahmen von EU-Handelsabkommen auch der Koalitionsvertrag verweist,

    Hier gilt, was eben schon angesprochen wurde: Zwar gibt es Passagen im SPD-DGB-Papier, die diese Formulierungen Gabriels rechtfertigen. Es gibt aber eben auch Passagen, in denen weitergehende Forderungen erhoben werden – und die bleibt Gabriel schuldig.

    • dass die europäischen oder nationalen demokratischen Willensbildungsprozesse und Entscheidungen in Parlamenten und Regierungen durch die Freihandelsabkommen weder direkt noch indirekt eingeschränkt werden dürfen,

    Das SPD-DGB-Positionspapier ist auch hier konkreter und weitergehender, als Gabriel es wiedergibt. Unter Punkt 8 heißt es dort: “Die Fähigkeit von Parlamenten und Regierungen, Gesetze und Regeln zum Schutz und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu erlassen, darf auch nicht durch die Schaffung eines ‘Regulierungsrates’ im Kontext regulatorischer Kooperation oder durch weitgehende Investitionsschutzvorschriften erschwert werden.”

    • Das SPD-DGB-Papier nennt explizit einen “Regulierungsrat” sowie “Investitionsschutzvorschriften” als Mechanismen, durch die die genannten demokratischen Entscheidungen erschwert werden. Gabriel verschweigt dies – denn wenn er sie nennen würde, müsste er sie ablehnen. Dann hätte er sie als rote Linien ebenso benannt, wie sie im SPD-DGB-Papier als rote Linien benannt sind. Das möchte er offenbar nicht.
    • Das SPD-DGB-Papier spricht davon, dass demokratische Entscheidungen nicht “erschwert” werden dürfen, Gabriel aber will sie lediglich nicht “einschränken”. Etwas zu “erschweren”, bedeutet nicht, etwas ganz oder teilweise unmöglich zu machen. Etwas “einzuschränken” aber bedeutet genau das. Man kann Handlungen “erschweren”, ohne sie im Wortsinne “einzuschränken”. Damit schwächt Gabriel einmal mehr die Aussage des SPD-DGB-Papiers ab. Dies ist keineswegs zu vernachlässigen.
      Ein Beispiel: Ein Regulierungsrat oder Investitionsschutzvorschriften können sehr wohl das Handeln von Parlamenten und Regierungen erschweren, etwa, wenn bestimmte Gesetze oder Vorhaben zunächst auf ihre Notwendigkeit und Angemessenheit geprüft werden müssen. Das bedeutet noch nicht, dass das Handeln auch tatsächlich eingeschränkt würde.
    • dass die Gleichbehandlung von inländischen und ausländischen Investitionen und Investoren durch die ganz normalen verfassungsmäßig verbrieften Rechte und den demokratischen Rechtsstaat gesichert werden und wir im Rahmen der Verträge keine Investor-Staat-Schiedsverfahren einführen wollen. Wir entwickeln rechtsstaatliche Alternativen zu den bislang geplanten Schiedsgerichten. z.B. die Berufung oberer Bundesrichter oder die Einrichtung eines echten zwischenstaatlichen Handelsgerichtshofs zur Entscheidung über Handelsstreitigkeiten.

    Hier widerspricht sich Gabriel wohl selbst. Im ersten Satz schreibt er, er wolle “im Rahmen der Verträge keine Investor-Staat-Schiedsverfahren” einführen. Im zweiten Satz aber möchte er “Alternativen zu den bislang geplanten Schiedsgerichten” entwickeln. Gabriel würde sich nur dann nicht widersprechen, wenn solche “Alternativen” außerhalb der Freihandelsverträge verankert würden. Von entsprechenden Verhandlungen und Plänen aber ist bislang nichts bekannt.
    Im Gegenteil: In CETA, das schon ausverhandelt ist, soll es Schiedsverfahren geben, die direkt in den Verträgen geregelt sind. Zumindest bezogen auf CETA spricht Gabriel damit die Unwahrheit. Und da TTIP sich an CETA orientieren dürfte, wohl auch für TTIP.

    Möglicherweise versucht Gabriel hier lediglich, so zu argumentieren, wie es auch die Europäische Kommission tut: Man kritisiert “alte” Investor-Staat-Schiedsverfahren und gibt als Ziel aus, in jüngeren Freihandelsabkommen “neue” und “bessere” Verfahren zu etablieren. (Sollte Gabriel so argumentieren wollen, so würden sich sein Satz 1 und sein Satz 2 allerdings nach wie vor widersprechen.) Diese “neuen” Verfahren sollen beispielsweise Berufungsmöglichkeiten und Transparenz vorsehen, auf klareren Formulierungen beruhen und bisherige Interessenkonflikte der handelnden Akteure beenden. Sie beheben also ein paar Schwächen der bisherigen Verfahren – ein paar jener Schwächen, deretwegen die Investor-Staat-Schiedsverfahren zu Recht immer wieder in der Kritik stehen.
    Allerdings wird auch mit diesen “besseren” Verfahren eine Gerichtsbarkeit außerhalb des Rechtsstaats etabliert, die undemokratisch und rechtsstaatlich fragwürdig ist.

    In jedem Fall tut Gabriel so, als sei diese Positionierung Bestandteil des SPD-DGB-Papiers. Dies ist sie aber nicht, denn dort heißt es unmissverständlich: “Investitionsschutzvorschriften sind in einem Abkommen zwischen den USA und der EU grundsätzlich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIP eingeführt werden. In jedem Fall sind Investor-Staat-Schiedsverfahren […] abzulehnen.” Einmal mehr gibt Gabriel Inhalte des Papiers unzutreffend, abgeschwächt und im eigenen Sinne wieder.

    Exakt auf dieser Linie versuchen die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung und das SPD-geführte Bundeswirtschaftsministerium auf die Verhandlungen der Europäischen Kommission Einfluss zu nehmen. Außerdem haben wir einen nationalen Beirat zu den Verhandlungen auf europäischer Ebene eingerichtet, bei dem die Verbände und Organisationen von Wirtschaft, Gewerkschaften, Kultur, dem Umwelt- und Sozialbereich und dem Verbraucherschutz vertreten sind und regelmäßig informiert werden.

    Fragt sich, weshalb Gabriel hier einerseits die Europäische Kommission, andererseits die Zivilgesellschaft (über den genannten Beirat) als Zielobjekt sozialdemokratischer Einflussnahme/Information nennt. Offenbar beansprucht er für die Sozialdemokratie, eine dritte Position zu vertreten – einerseits etwas reflektierter als die Kommission, aber andererseits auch weniger freihandelskritisch als viele Akteure der Zivilgesellschaft.
    Immerhin macht er damit deutlich, dass die SPD nicht jene vertritt, die Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA ablehnen. Dies gilt umso mehr, als Gabriel die Akteure der Zivilgesellschaft in seinem Beirat lediglich “informieren” möchte, was umgekehrt bedeutet, dass er sich nicht auf deren Argumente einzulassen beabsichtigt. Genau dies haben einige Mitglieder des Beirats jüngst in einem Brandbrief kritisiert.

    Vor diesem Hintergrund habe ich bereits deutlich gemacht: Auch wenn der Teil zum Investorenschutz in CETA gegenüber vorherigen Abkommen erhebliche Fortschritte an Transparenz enthält, halte ich die Zeit noch nicht für reif, CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen.

    Gabriel schreibt hier explizit nicht, dass er CETA nicht zustimmen wird. Denn wenn “die Zeit noch nicht […] reif” ist, um “CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen”, so bedeutet dies, dass die Zeit irgendwann durchaus reif sein kann oder wird, um “CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen”.
    Dies entspricht auch der Position, die Gabriel Ende November 2014 im Bundestag geäußert hat und die von Medien und Verbänden zu Recht als Umfallen gewertet wurde (die Rede ist oben schon zitiert).

    Unser Ziel ist, weitere Verbesserungen zu erreichen.

    Man mag Gabriel glauben, dass er sich bemüht, “Verbesserungen” zu erreichen. Wird die SPD aber gegen das Abkommen stimmen, wenn diese Verbesserungen nicht erreicht werden? Und genügen die Verbesserungen, die Gabriel anstrebt, damit das Abkommen akzeptabel wird? Die voranstehenden Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass beide Fragen mit “Nein” zu beantworten sind. Auch, weil Gabriel an keiner Stelle gewillt ist, rote Linien zu formulieren und auch, weil er die im SPD-DGB-Papier benannten roten Linien verschweigt oder abschwächt.

    Was wir nicht für richtig halten, ist der von manchen öffentlichen Kritikern der Freihandelsabkommen geforderte Abbruch der Verhandlungen.

    Gabriel scheint es wichtig zu sein, eine Nähe seiner eigenen Person und seiner Partei zu den Gewerkschaften zu suggerieren. Dies wird an mehreren Stellen des Mitgliederbriefs deutlich. Vermutlich deshalb verschweigt er, dass der von ihm abgelehnte, “von manchen öffentlichen Kritikern der Freihandelsabkommen geforderte Abbruch der Verhandlungen” auch von den Gewerkschaften gefordert wird. Der DGB-Kongress-Beschluss aus 2014 ist da schon im Titel eindeutig: “Freihandelsverhandlungen mit den USA aussetzen”.

    Denn letztlich geht es bei den Freihandelsabkommen um die Regeln der Globalisierung. Nach dem Scheitern weltweiter Handelsstandards in der Welthandelsorganisation (WTO) versuchen jetzt die großen Wirtschaftsräume die politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Standards im Welthandel zu beeinflussen. Die Verlagerung der Zentren der Weltwirtschaft nach Asien und China setzen Europa unter Druck. Während bei uns die Bevölkerung und das Wirtschaftswachstum abnehmen und die sozialen und ökologischen Standards hoch sind, ist es im Asien-Pazifik-Raum eher umgekehrt. Noch sind die USA und Europa die größten Handelsräume, aber man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass wir diese Stellung nicht auf Dauer haben werden. Die Standards des Welthandels – auch die ökologischen und sozialen – werden in Zukunft weit mehr durch die Asien-Pazifik-Region bestimmt werden als durch Europa oder Deutschland. Im Grunde stehen wir vor der Alternative: Schaffen wir Europäer es, die politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Standards im Welthandel mit zu bestimmen, oder werden wir uns in absehbarer Zeit an die Standards anderer anpassen müssen?

    Wir setzen darauf, dass auch in den rasant wachsenden Schwellenländern und den neuen globalen Wirtschaftsmächten das Bedürfnis zunimmt, soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung zu bekämpfen. Europa hat mit seinen eigenen Standards dabei etwas anzubieten. Doch der Erfolg hängt davon ab, ob wir unseren politischen Einfluss aktiv zur Geltung bringen.

    In den eben zitierten Passagen erweckt Gabriel den Eindruck, dass Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP dazu dienten, soziale und ökologische Standards zu sichern und weltweit zu verbreiten. Dies ist eine oft vorgetragene Behauptung der FreihandelsbefürworterInnen, die aber nicht dadurch richtiger wird, dass man sie immer wieder wiederholt.
    Da in Freihandelsabkommen allenfalls Mindeststandards festgeschrieben werden, und auch die nur unzureichend und unverbindlich, können Freihandelsabkommen keine Standards systematisch sichern oder gar ausbauen. Im Gegenteil, sie gefährden sie aus den bekannten Gründen.
    Standards zu sichern, ist letztlich auch gar nicht die Aufgabe und gar nicht das Ziel solcher Abkommen. Das weiß Gabriel auch, weshalb er seine Ausführungen im Anschluss sogleich wieder relativiert:

    Als Sozialdemokraten wissen wir: Die Globalisierung und der Welthandel werden nicht von heute auf morgen Spielregeln entwickeln, die aus unserer Sicht wirklich sozial gerecht und ökologisch verantwortungsbewusst sind. So wie der soziale Fortschritt in Deutschland jahrzehntelang Schritt für Schritt und über viele Reformen hinweg erkämpft werden musste, wird es auch bei der demokratischen, sozialen und ökologischen Gestaltung der Globalisierung eines langen Atems bedürfen. Aber die Geschichte der SPD zeigt: Mut, Selbstbewusstsein und Optimismus lohnen sich. Und wegducken hat das Leben noch nie besser gemacht. Darum geht es auch jetzt wieder.

    Gabriel tut hier so, als seien soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene und auf globaler Ebene unabhängig voneinander, als existierten sie in Parallelwelten – denn während Globalisierung und Welthandel bei sozialen Standards hinterherhinkten, wie er schreibt, habe und behalte Deutschland seine Standards.
    Damit suggeriert Gabriel, dass Freihandelsabkommen und Globalisierung die sozialen Errungenschaften auf nationaler Ebene nicht gefährdeten. Diese Annahme ist falsch: Erstens können Freihandelsabkommen direkten Druck auf soziale Standards ausüben. Zweitens setzen niedrigere Standards in manchen Ländern diejenigen Länder unter Druck, die höhere Standards haben – denn Arbeitsrechte, Sozialleistungen und ähnliches kosten die Unternehmen Geld und sind damit Wettbewerbsnachteile. Es braucht vor diesem Hintergrund soziale Errungenschaften auf globaler Ebene gerade deshalb, weil andernfalls soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene unter Druck geraten.
    Damit aber muss die Reihenfolge umgekehrt werden: Nicht zuerst klassische Freihandelsabkommen und Globalisierung einführen in der Hoffnung, globale soziale Standards würden später folgen, sondern Höchststandards für alle beteiligten Länder vom Beginn an. Freihandelsabkommen, die dies nicht gewährleisten, sind abzulehnen.

    Davon abgesehen, sei auch auf die Geschichtsvergessenheit dieser Gabrielschen Formulierungen hingewiesen. Denn nicht nur durch “Reformen”, wie er schreibt, sondern auch und vor allem durch Revolutionen, Proteste und Streiks wurde der “soziale Fortschritt” in Deutschland erreicht. Er wurde erkämpft. Und zwar gegen die herrschenden Eliten. Proteste und Streiks aber scheinen für Gabriel im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr stattzufinden oder nicht mehr notwendig zu sein. Gabriel suggeriert, dass die in Nationalstaaten hart erkämpften sozialen Errungenschaften durch die Sozialdemokratie auf globaler Ebene in Freihandelsverträgen erreicht werden können und sollen. Das ist an Selbstüberschätzung kaum mehr zu überbieten. Das Gegenteil ist wohl eher wahr: Die SPD ist längst Teil der Eliten, und gegen diese SPD müssen soziale Errungenschaften – auch durch Proteste und Streiks – auf globaler Ebene erkämpft sowie auf nationaler Ebene verteidigt werden.

  2. Fazit Gabriel schreibt seinen SPD-Mitgliedern eine E-Mail, die von taktischer Wortwahl und unverbindlichen Inhalten geprägt ist.
    Sein Ziel ist es, Zustimmung zu Freihandelsabkommen – TTIP, CETA – zu gewinnen. Um dies zu erreichen und um sich an einigen Punkten zugleich nicht zu sehr festzulegen, lässt Gabriel manches weg, was er der Ehrlichkeit und Vollständigkeit halber hätte erwähnen müssen. Er arbeitet mit Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen und Auslassungen.
    Im Ergebnis

    • spielt Gabriel die Gefahren herunter, die von Freihandelsabkommen ausgehen, und
    • suggeriert er eine Nähe zwischen sich, der SPD und den Gewerkschaften, die in dieser Frage bei Weitem nicht existiert.

Mein Fazit: Wer in der SPD sich noch als Sozialdemokrat versteht, soll bitte auf den Barrikaden gegen TTIP, TISA u.s.w. bleiben und das Gabriel und denen, die ihn bezahlen, unmissverständlich mitteilen!

Vergleiche dazu auch meine bisherigen Beiträge vom Dezember 2014:

https://josopon.wordpress.com/2014/12/04/transparenz-versus-ttip-nebelkerzen-der-eu-kommission-und-der-bundesregierung/

https://josopon.wordpress.com/2014/12/04/nochmal-zur-erinnerung-ttip-gefahrdet-hunderttausende-jobs/

Jochen