Nein zum Aachener Aufrüstungsvertrag ! Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien und ein Kommentar dazu auf Makroskop

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute 2 wichtige Artikel zu diesem Elaborat der Rüstungs- und Finanzlobby:
s_dagdelenA. von MdB Sevim Dagdelen:

Gastkommentar der abrüstungspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag

https://www.heise.de/tp/features/Nein-zum-Aachener-Aufruestungsvertrag-4283180.html
Dort auch über 90 sinnvolle Kommentare
Auszüge:

Am 22. Januar 2019 wird im Krönungsaal des Aachener Rathauses der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag in Erweiterung des Élysée-Vertrags von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron unterzeichnet.
Der Vertrag von Aachen soll „Begegnungen und den Austausch der Bürgerinnen und Bürger“ unterstützen und eine engere Abstimmung vor EU-Gipfeln auf den Weg bringen. Deutschland und Frankreich halten demnach „vor großen europäischen Treffen regelmäßig Konsultationen auf allen Ebenen ab und bemühen sich so, gemeinsame Standpunkte herzustellen und gemeinsame Äußerungen der Ministerinnen und Minister herbeizuführen“.

Dagegen scheint nichts zu sprechen. Doch der Vertrag hat es in sich. Anders als der Vorläufer, der Élysée-Vertrag von 1963, ist der Vertrag von Aachen im Wesentlichen ein binationaler Aufrüstungsvertrag. Denn das Kernstück des Vertragswerks sind die Aufrüstung im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und eine Stärkung der jeweiligen Rüstungsindustrie, insbesondere durch noch schwammigere Rüstungsexportrichtlinien als die bisher geltenden. Und so liest sich denn der Vertragstext wie ein gemeinsamer Militarismus à la carte.

Auch in der Reihenfolge der Artikel sind die Militarisierungsbestimmungen ganz nach vorne gerückt. Umso bemerkenswerter übrigens, dass viele Medien sie nicht einmal erwähnen in der Berichterstattung.
Gleich in Artikel 1 wird erklärt, dass man sich für das Ziel einer „wirksamen und starken Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ einsetzt. Deutschland und Frankreich sollen ihre Zusammenarbeit gerade auch in Angelegenheiten der „Verteidigung“ sowie der „äußeren und inneren Sicherheit“ vertiefen. Die Passage gipfelt dann in der Willenserklärung zur gemeinsamen militärischen Intervention.

Man wolle die „Fähigkeit Europas stärken eigenständig zu handeln“, heißt es in Artikel 3. In der Überzeugung, dass „ihre sicherheitspolitischen Zielsetzungen und Strategien sich einander zunehmend“ (Artikel 4) annähern, wird eine engere militärische Kooperation beschworen.
Zugleich wird sich konkret zur Aufrüstung verpflichtet, um „Lücken bei den europäischen Fähigkeiten zu schließen und damit die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz zu stärken“ (Artikel 4).

Die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Militäreinsätzen soll gestärkt werden. Kern der künftigen Militärachse sollen aber gemeinsame „Verteidigungsprogramme“ sein und generell die Stärkung der jeweiligen Rüstungsindustrie durch staatliche Maßnahmen.
Im Technokratensprech des Vertragstexts wird sodann als gemeinsames Ziel formuliert, „die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern“ (Artikel 4). Eine „engstmögliche Zusammenarbeit“ beider Rüstungsindustrien wird angestrebt.
Und auch bei Rüstungsexporten zur globalen Machtprojektion soll es künftig nur noch grünes Licht geben. „Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln“, heißt es in Artikel 4.

Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien

Wem das zu abstrakt ist, der konnte den Ausführungen von Bundeskanzlerin Merkel am Wochenende entnehmen, worum es konkret geht.
Merkel dringt auf eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik mit Frankreich. Auf dem CDU-Landesparteitag Mecklenburg-Vorpommerns hatte sie angekündigt, man werde gemeinsam ein neues Kampfflugzeug entwickeln.
„Aber wer mit uns gemeinsam ein Flugzeug entwickelt, der möchte natürlich auch wissen, ob er das Flugzeug mit uns gemeinsam verkaufen kann“, so die Kanzlerin. Es gehe nicht, dass man dann sage, dass die eigenen Schrauben und Teile nicht mitexportiert werden dürften.
„So können wir nicht zusammenarbeiten. Da werden wir Kompromisse machen müssen. Darüber sprechen wir im Augenblick“, fügte Merkel hinzu. Denn heute habe Deutschland sehr strenge Exportkontrollen, andere EU-Länder seien aber weniger streng.

Der Aachener Vertrag bedeutet also nichts weniger als einen Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien, so dass man künftig beispielsweise ein gemeinsames Kampfflugzeug auch an kriegsführende Staaten wie Saudi-Arabien rechtssicher exportieren können wird.
Dazu passt, dass die bis Ende 2018 im Koalitionsvertrag angekündigte Überarbeitung und „Schärfung“ der Rüstungsexportrichtlinien aus dem Jahr 2000 bisher ausblieb. Kurz vor Jahresende sagte Merkel bei einer Regierungsbefragung im Bundestag, die Regierung wolle damit erst im ersten Halbjahr 2019 fertig sein. Honi soit qui mal y pense – Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Für die deutsche Rüstungslobby ist das quasi eine Lizenz zum Gelddrucken, die in Aussicht stellt, durch eine engere Kooperation mit Frankreich endlich die verbliebenen Restriktionen loswerden zu können.
Es ist ein unheimlich anmutender imperialer Gestus, in dem der neue Vertrag verfasst ist. Während die EU und die europäische Zusammenarbeit durch die neoliberale und undemokratische Orientierung in eine immer tiefere Krise geraten, wird allein schon durch die Wahl des Ortes Aachen, fernab im Übrigen von jeder deutsch-französischen Grenze und unter Bezug auf das Reich Karls des Großen (Stichwort: Staatsakt im Krönungssaal), die ganze Mottenkiste vordemokratischer Reichsmythen bemüht, um künftige binationale imperiale Größe heraufzubeschwören.
Als wäre die Schaffung eines imperialen Kerneuropas eine Lösung der Krise der EU und nicht ihre Zerstörung.

Verzicht auf parlamentarische Kontrolle

Wo aber, so könnte man fragen, sind bei diesem Festakt des Militarismus eigentlich die Parlamente geblieben?
Die bittere Antwort auf diese Frage ist, der Deutsche Bundestag hat sich schlicht selbst entmächtigt. Im Vertrag selbst wird eine parlamentarische Kontrolle für die enge deutsch-französische Kooperation nicht einmal erwähnt.

In Eigeninitiative hat nun der Bundestag ein Parlamentsabkommen zum Aachener Vertrag auf den Weg gebracht, das diesen Namen nicht verdient. Denn abgesehen von der militärischen Orientierung der Präambel des Parlamentsabkommen, in der die Bestimmung des Bestrebens verankert wurde, „eine Konvergenz der Standpunkte Deutschlands und Frankreichs auf europäischer Ebene zu erreichen, um die Integration innerhalb der Europäischen Union in allen Bereichen zu fördern“, also auch bei Militär und Rüstung, verzichtet man selbst großmütig auf den Anspruch einer parlamentarischen Kontrolle.
So will man lediglich darauf achten, dass die Bestimmungen des Aachener Aufrüstungsvertrags korrekt umgesetzt werden.

Im Parlamentsabkommen heißt es zu den Aufgaben der deutsch-französischen Parlamentarierversammlung: „Die Versammlung hat folgende Zuständigkeiten: – Sie wacht über die Anwendung der Bestimmungen des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22. Januar 1963 und des Vertrages […] sowie über die Umsetzung und die Evaluierung der auf diesen Verträgen beruhenden Projekte“, also etwa über die Umsetzung des Rüstungsprojekts eines gemeinsamen Kampfflugzeuges.
Ein einziges Trauerspiel. Im Übrigen will man die Aktivitäten des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats „begleiten“. So würdigen sich die beiden Parlamente zum Begleitservice für die Exekutive herunter.

Das Europa Merkels und Macrons à la Aachener Vertrag ist eine bizarre Mischung aus Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie neoliberaler und autoritärer Orientierung im Namen der Völkerfreundschaft. Es verdient jeden Widerstand im Kampf um Frieden, soziale Gerechtigkeit und Internationalismus.
Sevim Dagdelen ist stellvertretende Vorsitzende und abrüstungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag.

B. https://makroskop.eu/2019/01/die-deutsch-franzoesische-achse-eiert/
Auszüge:

makroskopDie deutsch-französische Achse eiert

Von Peter Wahl

Der Elysée-Vertrag von 1963 war Symbol für eine historischen Wende. Der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag ist Ausdruck für das, was heute in den deutsch-französischen Beziehungen noch geht – sehr, sehr wenig.

Am 22. Januar 1963 schlossen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den Elysée-Vertrag ab, der das Ende der Jahrhunderte alten „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland symbolisierte.
Auf den Tag genau 55 Jahre später unterzeichnen Merkel und Macron diesen Dienstag in Aachen einen neuen Vertrag.

Die Idee zu einem Elysée-Vertrag 2.0. stammt von Emmanuel Macron. Sie war Bestandteil seiner europapolitischen Reformvorschläge, die er in seiner vielgerühmten Rede an der Sorbonne im September 2017 ankündigte.
Er glaubte damals zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können: die Eurozone wieder flott und gleichzeitig den Abstieg Frankreichs zum Juniorpartner der Deutschen mindestens wieder rückgängig, wenn nicht gar France great again machen zu können.
Der neue Freundschaftsvertrag war dafür als zusätzliches Gleitmittel gedacht.

Mit dem Versuch, die Eurozone wieder flott zu machen, ist Macron gescheitert. In erster Linie an der Bundesregierung. Das was von seinen Plänen übrig blieb, wurde in der Erklärung von Meseberg im Juni 2018 fixiert.[1]
Statt eines Eurozonenbudgets in Höhe von „mehreren Prozentpunkten des BIP“ wie er es sich gewünscht hatte, gibt es nur die Zusage, sich in den EU-Budgetverhandlungen für einen Sonderposten in unterer zweistelliger Milliardenhöhe einzusetzen.
Statt eines europäischen Währungsfonds wird der Krisenfonds ESM fest etabliert.
Statt eines Eurozonen-Finanzminister und -parlaments gibt es überhaupt nichts.
Und selbst bei der Bankenunion, die auch zehn Jahre nach dem Crash noch immer nicht vollendet ist, steht Berlin auf der Bremse.

Wenig ambitioniert

Um Macron nicht komplett hängen zu lassen, soll jetzt der neue Freundschaftsvertrag als Trostpflaster dienen. Dabei kann das Abkommen niemanden so richtig vom Sockel reißen. Le Monde bezeichnet es dann auch enttäuscht als „wenig ambitioniert.
Neben viel Europathos und blumiger Freundschaftsrhetorik enthalten die 28 Artikel viele Absichtserklärungen, aber kaum Konkretes.

Typisches Beispiel: die Außenpolitik soll enger abgestimmt werden, darunter in der UNO (Art. 8), wo Berlin derzeit einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat hat. Die Realität sieht freilich anders aus: so forderte Olaf Scholz im vergangenen November, Frankreich möge seinen ständigen Sitz und das dazugehörige Veto-Recht der EU zu Verfügung stellen – und damit natürlich auch entsprechenden deutschen Einfluss.
An den pikierten Reaktionen aus Paris wurde schnell klar, dass die französische Liebe weder zur EU noch zu Deutschland so groß ist, als dass man ausgerechnet auf einem der wenigen Terrains, wo man noch über Großmachtstatus verfügt, bereit wäre, auch nur ein Jota davon abzutreten.[2] Im Vertrag bleibt dann nur noch eine unverbindliche diplomatische Phrase:

„Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie.“

Dieser Stil zieht sich durch das ganze Dokument. Auch bei der militärischen Zusammenarbeit, wo es Macron vor allem darum geht, die Deutschen an den Kosten von Frankreichs Militäreinsätzen in seinen ehemaligen Kolonien zu beteiligen, während die militärpolitische Community in Deutschland ungeniert über die „atomare Teilhabe“ der Deutschen unter anderem an der Force de Frappe spekuliert,[3] sind die Interessen so unterschiedlich, dass der Vertrag vage bleibt.

Selbst bei eher harmlosen Themen, wie der Förderung des Schulunterrichts in der jeweils anderen Sprache, klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. So konnte noch unter Hollande nur mit Ach und Krach verhindert werden, den Deutsch-Unterricht an französischen Schulen drastisch zu reduzieren. Auch die französischen Kinder lernen heute lieber Englisch.

Andere Artikel des Vertrages bekräftigen nur, was auch ohne Freundschaftsvertrag bereits läuft, so zum Beispiel die Durchführung gemeinsamer Rüstungsprojekte und die Intensivierung der militärischen Kooperation im Rahmen der sogenannten Permanenten Strukturierten Kooperation (PESCO) der EU (Art. 3-5), oder die engere Kooperation bei der Entwicklung des digitalen Kapitalismus, bei künstlicher Intelligenz und digitaler Industrie (Art. 21).

Am weitreichendsten ist die Absicht, „die Integration ihrer Volkswirtschaften hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln“ zu entwickeln (Art. 20). Falls das tatsächlich ernsthaft in Angriff genommen würde, wäre es europapolitisch insofern interessant, als das auf das Konzept „Kerneuropa“ hinausliefe.
Macron hat sich ohnehin schon früher als Anhänger des „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ geoutet. Ein Kerneuropa würde die Ausdifferenzierung der Integration in die jetzt schon bestehenden vier oder fünf Geschwindigkeiten vertiefen und die zentrifugalen Tendenzen in der Gesamt-EU weiter verstärken.

Andererseits dürften die strukturellen Unterschiede zwischen dem exportgetriebenen Starkwährungsmodell der Deutschen und dem eher binnenmarktorientierten Schwachwährungssystem Frankreichs einer Integration der beiden Volkswirtschaften ziemlich enge Grenzen setzen.
Die jüngste Weigerung der Bundesregierung, dem französischen Vorschlag zur Einführung einer Digitalsteuer für die Internetgiganten zu folgen, spricht Bände.

Wirtschaftspolitische Bilanz Macrons mager

Auch aus Macrons Versprechen, die französische Wirtschaft anzukurbeln, ist nichts geworden. Das Wachstum ist von 2,2 Prozent in 2017 auf 1,7 Prozent in 2018 gesunken und liegt damit unter dem Durchschnitt der Eurozone (2,1 Prozent).[4]
Für 2019 und 2020 wird mit jeweils 1,6 Prozent gerechnet, die vorwiegend durch die Binnennachfrage erreicht werden. Die Arbeitslosenquote ist Ende 2018 knapp unter 9 Prozent gesunken. Auch das ist kein Ruhmesblatt.
Der Stand der öffentlichen Schulden lag 2018 bei 98,7 Prozent des BIP und soll bis 2020 nur geringfügig auf 97,2 Prozent sinken. Das Leistungsbilanzdefizit hält mit 0,6 Prozent des BIP unverändert an.
Der „Exportweltmeister“ hat demgegenüber einen Überschuss von 7,8 Prozent. Deutschland ist Frankreichs wichtigster Handelspartner, umgekehrt liegt Frankreich auf dem zweiten Platz der deutschen Partner.
Also auch hier ist Macron, der mit dem Anspruch einer „jupiterhaften“ Präsidentschaft angetreten war, auf menschliches Maß geschrumpft.
Die Operation Make France great again ist vorerst abgesagt.

Die Gelbwesten

Am härtesten aber wurde Macron von der Bewegung der Gelbwesten getroffen. Anfangs herrschte – bis in Teile der Linken hinein – Unsicherheit in der Bewertung der Proteste. Sie kamen buchstäblich aus dem Nichts und passten so gar nicht in das bekannte Schema sozialer Bewegungen. Weder die Sozialwissenschaften noch die Gewerkschaften noch linke Parteien hatten etwas gemerkt.
Die Protagonisten sind vorher nicht politisch aktiv gewesen. Sie erhoben den Anspruch, weder links noch rechts zu sein und wandten sich gegen die Vereinnahmung von außen. Zentrale Organisationsstrukturen und überregionale Repräsentation werden abgelehnt.

Von Regierungsseite wurde anfangs ein harter Konfrontationskurs eingeschlagen. Budgetminister Gérald Darmanin sprach von „brauner Pest.“ Aber bei aller Heterogenität der Bewegung stellte sich bald heraus, dass sich die konsensfähige Schnittmenge der Forderungen gegen die neoliberale Reformen Macrons richtete. „Es handelt sich in der Substanz also um eine anti-neoliberale Revolte.[5]
Deshalb bekam die Bewegung bald die Sympathie von zwei Dritteln der Bevölkerung und die Unterstützung der Mehrheit der französischen Linken.

Was den Gewerkschaften und der Linken bisher nicht gelungen war, schafften die Gelbwesten schon nach drei Wochen: Macron sah sich zu sozialpolitischen Zugeständnissen gezwungen. Die Benzinsteuererhöhung, Auslöser der Bewegung, wurde zurückgenommen und sozialpolitische Konzessionen mit einem Volumen von 10,3 Milliarden Euro verabschiedet.

Niemand kann wissen, wie die Bewegung weiter geht. Sie kann ermüden und zerfallen, es kann aber auch zu neuen Zuspitzungen, etwa einem Generalstreik, kommen. Wie auch immer, schon jetzt gibt es Effekte, die weit über das Sozialpolitische hinausgehen:

  • nachdem Merkel eine Lame duck ist, in London Chaos herrscht, die sozialdemokratische Minderheitsregierung in Madrid es nicht mehr lange machen dürfte und Italien nicht gerade vor europapolitischer Führungskraft strotzt, ist nun auch der europapolitische Hoffnungsträger aus Paris ausgefallen;
  • vor dem Hintergrund von Brexit, Trump, nachlassender Konjunktur und all der anderen ungelösten Probleme der EU wird deren europapolitische Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit weiter sinken;
  • ein weiter so mit Macrons Reformprogramm à la Hartz-IV dürfte nicht mehr möglich sein. Wenn er an seinem neoliberalen Kurs festhält, riskiert er noch massiveren Widerstand als jetzt;
  • die internen Spannungen in seiner République en Marche haben stark zugenommen. Der Präsident ist neuerdings in den eigenen Reihen nicht mehr unumstritten;
  • Frankeich wird die Maastricht-Kriterien mit voraussichtlich 3,2 Prozent des BIP reißen. Ohne Gegenfinanzierung sogar mit 3,4 Prozent. Vor den Protesten waren 2,8 Prozent geplant. Damit ist Macrons Standing gegenüber Berlin und den anderen Hardlinern beim Management der Euro-Krise ziemlich auf Null;
  • bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai droht Macron eine schwere Blamage. Sie werden – anders als alle anderen Wahlen – nach reinem Verhältniswahlrecht durchgeführt, das heißt, sie zeigen einigermaßen realistisch die tatsächlichen Kräfteverhältnisse an. In Umfragen liegt der „Retter Europas“ seit Monaten unter 20 Prozent. An der Spitze liegt Marine Le Pen, die nach ihrer Niederlage in den Präsidentschaftswahlen viele für politisch erledigt hielten. Auch wenn das EU-Parlament machtpolitisch nicht sehr relevant ist, so sind die bevorstehenden Wahlen doch von hoher symbolischer Bedeutung.

Der alte Vertrag von 1963 war Symbol für eine historischen Wende: das Ende der Jahrhunderte alten „Erbfeindschaft zwischen den beiden Ländern. Man muss das nicht verklären, es waren damals weniger hehre Gefühle aus der Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen, wie Versöhnung und Freundschaft, sondern knallharte geopolitische Fakten – wie die totale Niederlage Deutschlands und der Kalte Krieg –, die die Rahmenbedingungen des Elysée-Vertrags bildeten. Aber es war von historischer Tragweite.
Der neue Vertrag ist Ausdruck für das, was heute in den deutsch-französischen Beziehungen noch geht – nämlich sehr, sehr wenig.

Peter Wahl ist Vorsitzender der NGO WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung. Er hat Gesellschaftswissenschaften und Romanistik in Aix-en-Provence, Mainz und Frankfurt studiert und ist einer der Gründer von attac Deutschland. Seine Themenschwerpunkte: Europapolitik, Entwicklungspolitik und internationale Beziehungen.

[1] PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG. Erklärung von Meseberg. Das Versprechen Europas für Sicherheit und Wohlstand erneuern. 19.6.2018. https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/BPA/2018/06/2018-06-19-erklaerung-meseberg.html

[2] Le Figaro, 30.11.2018; S.8

[3] Major, Claudia (2018): Germany’s Dangerous Nuclear Sleepwalking. Carnegie Europe.

http://carnegieeurope.eu/strategiceurope/?fa=75351&utm_source=rssemail&utm_medium=email&mkt_tok=eyJpIjoiTURFME1EaGxaRFE0Wm1ZeiIsInQiOiIzVm1ZY1g1NXBmUFp2Wm5YejMyYThnZGl3N1REM25VTVhQN2l5dHJQZ2tyZnlva2NuUzVXTUJvMmZLTURtOUZQdGEwXC9MbEsyejd6UTNBZlJQb3BTOERjWUx0RFZTYzJ4Q21HalRJMHhkMENVZDBneW5uM3d6Sjh5elBiNlF2TUwifQ%3D%3D

[4] Alle Zahlen in diesem Absatz nach: Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages;  Referat PE 2 EU-Grundsatzangelegenheiten, Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion. Aktuelle wirtschaftliche Lage in Frankreich und Auswirkungen der Protestbewegung „gilets jaunes.” Stand: 11. Januar 2019

[5] Aus der knappen, aber ziemlich treffende Analyse der Bewegung (in deutscher Sprache) unter: https://www.attac.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/Europa/Downloads/Attac_DE-Projektgruppe_Europa_-_Solidarita__t_mit_Gelbwesten_18jan2019.pdf

Militarisierung der EU – Jean-Claude Junckers „State of the Union“-Rede

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Schon am 13.9. hielt der EU-Präsident diese Erbauungsrede zur Ablenkung von den echten sozialen Spannungen, die leider nicht viele alarmiert hat:
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7720/

german foreign policy logo

Auszüge:

BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Die EU soll „weltpolitikfähig“ werden und als „Architekt der Welt von morgen“ auftreten. Dies hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am gestrigen Mittwoch in seiner diesjährigen „State of the Union“-Rede gefordert, deren Bezeichnung der berühmten gleichnamigen Rede des US-Präsidenten vor beiden Kammern des Kongresses in Washington nachgebildet ist.
Juncker will dazu insbesondere die Militarisierung der Union und die Hochrüstung ihrer Außengrenzen forcieren.
Während der deutsch dominierte Staatenbund um jeden Preis zur Weltmacht aufsteigen will, nehmen die Spannungen im Inneren erheblich zu. Das gestern vom Europaparlament auf den Weg gebrachte EU-Verfahren gegen Ungarn, das seit Jahren demokratische Rechte abbaut, verschärft den Konflikt zwischen den westeuropäischen Machtzentren und dem Osten der Union.
Das krasse Wohlstandsgefälle zwischen dem Zentrum der EU und der verarmten Peripherie besteht ungebrochen fort.
Schwere Menschenrechtsverstöße vor allem gegen Flüchtlinge begleiten das globale Machtstreben der im Innern zerklüfteten Union.

Weltpolitikfähigkeit

Die Forderung nach einem geschlossenen, machtvollen Auftreten der EU in der Weltpolitik stand im Mittelpunkt der „State of the Union“-Rede, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am gestrigen Mittwoch vor dem Europaparlament gehalten hat. Der Name „State of the Union“, der seit September 2010 für die jährliche Positionsbestimmung des Kommissionspräsidenten genutzt wird, entstammt dem Vorbild der berühmten US-amerikanischen „State of the Union address“, mit der der US-Präsident einmal im Jahr vor beide Kammern des US-Kongresses tritt. Juncker übernahm in seiner Rede teilweise wörtlich Formulierungen, mit denen deutsche Regierungspolitiker in den vergangenen Jahren für eine aggressivere deutsche Weltpolitik auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten geworben haben.[1]
So forderte er etwa, „Europa“ müsse sich „von den Außenlinien der Weltpolitik“ verabschieden; es dürfe kein „bloßer Kommentator des internationalen Geschehens“ bleiben.[2]
Vielmehr solle die EU endlich als „global player“ auftreten; es sei Zeit, dass sie endlich ihr „Schicksal in die eigenen Hände“ nehme.[3]
Die gewünschte „Fähigkeit, als Union eine Rolle bei der Gestaltung globaler Angelegenheiten“ zu spielen, bezeichnete Juncker, dafür den deutschen Begriff nutzend, als „Weltpolitikfähigkeit„; die EU solle „ein Architekt der Welt von morgen“ sein.

Faktor 20

Einen zentralen Platz nimmt in Junckers Plänen die Militarisierung der EU ein, die er freilich, wie er in seiner gestrigen Rede erklärte, nicht als Militarisierung verstanden wissen will. Juncker kündigte an, er werde „in den nächsten Monaten Tag und Nacht arbeiten“, um den EU-Militärfonds (European Defence Fund [4]) und die EU-Militärkooperation (Permanent Structured Cooperation, PESCO [5]) fortzuentwickeln.
Auch stellte er in Aussicht, „die Verteidigungsausgaben um den Faktor 20 zu erhöhen“.[6]
Ergänzend treibt die EU-Kommission die Hochrüstung der EU-Außengrenzen weiter voran. So soll die EU-Grenzbehörde Frontex bis 2020 massiv ausgebaut werden und 10.000 zusätzliche „Grenzschützer“ erhalten; sie sollen vor allem das Mittelmeer noch stärker als bisher gegen Flüchtlinge abschotten.
Darüber hinaus will der Kommissionspräsident die Abschiebung unerwünschter Flüchtlinge aus der Union beschleunigen; demnach wird die Kommission die Mitgliedstaaten dabei unterstützen.

Im Innern gespalten

Während Juncker, Träger mehrerer deutscher Verdienstorden und politisch der Bundesregierung gewöhnlich eng verbunden [7], den Ausbau der EU zur auch militärisch global operierenden Macht vorantreibt, nehmen die inneren Spaltungen in der deutsch dominierten Union unverändert zu.
Am gestrigen Mittwoch hat das Europaparlament ein Verfahren gegen Ungarn wegen dessen massiver Rechtsstaatsverstöße auf den Weg gebracht; es sanktioniert damit erhebliche Einschränkungen etwa der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Rechte von Minderheiten und Flüchtlingen, zudem die Schwächung der unabhängigen Justiz durch die Regierung in Budapest.
Ein Verfahren wegen Schwächung der unabhängigen Justiz ist bereits gegen Polen in Gang gesetzt worden. Damit geht Brüssel inzwischen gegen zwei östliche EU-Mitglieder wegen der Aushebelung elementarer demokratischer Regelungen vor.
Die Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten der Union drohen sich zusätzlich dadurch zu verschärfen, dass der künftige EU-Haushalt die Aufnahme von Flüchtlingen finanziell belohnen soll; dies würde die östlichen Mitgliedstaaten, die so gut wie keine Flüchtlinge aufgenommen haben, deutlich schlechter stellen als die wohlhabende Bundesrepublik.
Erst kürzlich hat der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian – vor allem auf Polen und Ungarn gemünzt – gedroht, Frankreich werde keine Unterstützung mehr für Mitgliedstaaten leisten, die „grundlegende Prinzipien der EU nicht respektieren“: „Wir sind nicht bereit, für dieses Europa zu bezahlen“, sagte Le Drian auf der diesjährigen französischen Botschafterkonferenz.[8]

Menschenrechte

Tatsächlich nehmen gravierende Menschenrechtsverstöße nicht nur im Osten, sondern auch im Westen der EU zu. Dies betrifft vor allem das Vorgehen der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten gegen Flüchtlinge.
So bricht etwa die Sperrung der italienischen Häfen für sämtliche Schiffe, die Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, diverse internationale Übereinkommen.[9]
Weil an den EU-Außengrenzen weiterhin Tausende Flüchtlinge zu Tode kommen – mehr als an allen anderen Außengrenzen weltweit zusammengenommen -, laufen Menschenrechtsorganisationen Sturm; seit 2000 sind beim Versuch, nach Europa zu gelangen, mindestens 36.000 Menschen ertrunken oder verdurstet (german-foreign-policy.com berichtete [10]).
Auch die Abschiebepraxis der EU-Staaten ruft in wachsendem Maß Menschenrechtsorganisationen auf den Plan und verstößt zudem gegen Schutzrichtlinien der Vereinten Nationen. So schiebt beispielsweise Deutschland immer noch Flüchtlinge nach Afghanistan ab; seit Dezember 2016 wurden in 16 Sammelabschiebungen bereits 366 Afghanen zwangsweise in ihr Herkunftsland zurückgebracht.
Der jüngste Abschiebeflug startete am Dienstag – entgegen den neuen Richtlinien des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die Abschiebungen nach Afghanistan strikt ablehnen: Dem UNHCR zufolge ist der Alltag in Kabul, wohin Flüchtlinge aus Deutschland abgeschoben werden, lebensgefährlich.

Wohlstand und Armut

Während die inneren Spannungen in der EU wachsen, Menschenrechtsverletzungen zunehmen und überdies fast flächendeckend die extreme Rechte erstarkt (german-foreign-policy.com berichtete [11]), bleibt die materielle Ungleichheit innerhalb der EU beinahe konstant. So waren im Jahr 2016 laut offiziellen Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat 117,5 Millionen Menschen in der Union von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – knapp ein Viertel der Bevölkerung (23,4 Prozent).[12]
Das entspricht ziemlich genau dem Wert des Jahres 2007, als Rumänien und Bulgarien der Union beitraten; die EU hat es nicht vermocht, die Armut vor allem an ihrer südlichen, südöstlichen und östlichen Peripherie zu reduzieren. Im Jahr 2016 waren in Spanien 27,9 Prozent, in Italien 28,7 Prozent, in Rumänien 38,8 Prozent und in Bulgarien 40,4 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht; in Griechenland stieg der entsprechende Bevölkerungsanteil wegen der von Berlin durchgesetzten EU-Kürzungsdiktate von 28,1 Prozent im Jahr 2008 auf 35,6 Prozent im Jahr 2016.
Die Konzentration der Ressourcen in den westeuropäischen Machtzentren und vor allem im deutschen Hegemonialpol trägt das Streben der EU nach „Weltpolitikfähigkeit“.

[1] State of the Union 2018. The Hour of European Sovereignty. By Jean-Claude Juncker, President of the European Commission. 12 September 2018.

[2] Die Begrifflichkeit hat der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Zeit als Außenminister gerne verwendet. S. etwa Der Weltordnungsrahmen.

[3] „Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen“ (Angela Merkel, Mai 2017). S. dazu Das Ende einer Ära.

[4] S. dazu Milliarden für europäische Kriege (II) und Europas strategische Rüstungsautonomie.

[5] S. dazu Der Start der Militärunion und Die Koalition der Kriegswilligen.

[6] State of the Union 2018. The Hour of European Sovereignty. By Jean-Claude Juncker, President of the European Commission. 12 September 2018.

[7] S. dazu Deutschland besonders nahe.

[8] Michaela Wiegel: Kampf für Europa. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2018.

[9] S. dazu Amoklauf am Mittelmeer.

[10] S. dazu Amoklauf am Mittelmeer (II).

[11] S. dazu Auf dem Weg nach rechts.

[12] 17. Oktober: Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut. eurostat Pressemitteilung 155/2017. 16.10.2017. S. auch „Frieden, Freiheit und Wohlstand“.

Jochen