Zum 8. und 9.Mai 2022, das Gedenken an die „östlichen Völker“ betreffend – Hintergründe zu diesem 9.Mai von Thomas Röper

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Liebe Friedensfreunde, Kollegen, Genossen,
wie zuletzt 2020 haben Heiner Holl und ich am 8.Mai auf dem Nördlinger Friedhof rote Nelken an den Gräbern von ermordeten russischen und ukrainischen Kriegsgefangenen niedergelegt, die in den hiesigen Betrieben als Zwangsarbeiter beschäftigt waren. Auf dem Gedenkstein steht:
IN DIESEM FRIEDHOF RUHEN 49 ANGEHÖRIGE ÖSTLICHER VÖLKER ALS OPFER DES KRIEGES 1939-1945.

Und aktuell auszugsweise ein guter Artikel von Thomas Röper zum Tage, der sich wohltuend von den Speichelleckereien der hiesigen Medien-TUIs (so B.Brecht *) abhebt:
https://www.anti-spiegel.ru/2022/warum-der-9-mai-den-russen-so-wichtig-ist-und-wie-im-westen-die-geschichte-umgeschrieben-wird/

Warum der 9. Mai den Russen so wichtig ist und wie im Westen die Geschichte umgeschrieben wird

Am 9. Mai wird in Russland der Sieg über Nazideutschland gefeiert, was in Russland einer der wichtigsten Feiertage ist. Umso schockierter ist man in Russland über die zunehmenden Bestrebungen im Westen, die Geschichte umzuschreiben.

Der 9. Mai ist in Russland einer der wichtigsten Feiertage, weil der 2. Weltkrieg in Russland immer noch präsent ist.
Die Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger Russland ist, hat in dem Krieg 27 Millionen Menschen verloren.
Das bedeutet, dass jedes zweite Opfer des 2. Weltkrieges aus der Sowjetunion kam.
Dieser Blutzoll hat in Russland Spuren hinterlassen und selbst junge Menschen, die keine Kriegsveteranen mehr kennengelernt haben, wissen genau, wo ihre Vorfahren gekämpft oder den Krieg durchlitten haben. Diese Erinnerungen werden in Russland von Generation zu Generation weitergegeben.

Die Feiern zum 9. Mai sind in Russland ein Volksfest, dessen Ausmaße man es sich in Deutschland kaum vorstellen kann. Dabei dominiert aber kein Hass auf Deutsche, sondern Stolz auf das von den Vorfahren erreichte.
Besonders beeindruckend ist dabei jedes Jahr das unsterbliche Regiment, bei dem Menschen mit Plakaten mit Bildern ihrer Vorfahren unterwegs sind. In Petersburg, wo ich lebe, ziehen die Menschen eng an eng ber eine vierspurige Straße im Stadtzentrum und der Zug dauert Stunden. Wenn Millionen Menschen mit diesen Bildern an einem vorbeiziehen, bekommt ein Gefühl für die vielen Menschen, die in dem Krieg gelitten haben, wie es keine Doku vermitteln kann. Und das sind nur die Menschen einer Stadt.

Ich habe 2020 einen sehr ausführlichen Artikel über diese Feierlichkeiten geschrieben und möchte das hier nicht wiederholen, bei Interesse können Sie es hier nachlesen https://www.anti-spiegel.ru/2020/75-jahre-nach-kriegsende-wie-die-geschichte-fuer-die-tagespolitik-missbraucht-wird/ , auch Bilder und Videos habe ich in dem Artikel gezeigt. Heute geht es mir um etwas anderes.

Die Erinnerung wach halten

In Russland wird die Erinnerung an den Krieg anders wach gehalten als in Deutschland. In Deutschland liegt der Fokus der Erinnerungen nicht mehr auf dem Krieg, sondern er liegt auf den deutschen Verbrechen. In Deutschland wird, wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, immer weniger ber den Krieg selbst gesprochen, sondern über die Verbrechen deutscher Soldaten und über Konzentrationslager.

Das sind wichtige Themen, aber sie lenken von dem Krieg selbst und dem Leid, das er gebracht hat, ab. Anstatt an Leid und Tod zu denken, das einfache Soldaten und wehrlose Zivilisten im Krieg er- und berleben mussten, wird in Deutschland an die eigene Schuld erinnert.
Das übrigens versteht man auerhalb von Deutschland, also in den meisten anderen Ländern, kaum. In Russland zum Beispiel sind die Menschen immer sehr überrascht, wenn ich davon erzhle, denn die Russen trennen zwischen den wirklichen Tätern, also aktiven Nazis, und den einfachen Deutschen, die auch unter dem Krieg gelitten haben.
Und die Russen verstehen nicht, wie man sich für etwas eine eigene Schuld zurechnen kann, das Jahrzehnte vor der eigenen Geburt geschehen ist.

In Russland wird bei der Erinnerung an den Krieg kaum über Konzentrationslager gesprochen. In Russland wird über den Krieg selbst gesprochen. Darüber, wie junge Männer eingezogen wurden und welche Grausamkeiten sie dann an der Front durchleben mussten, wie sie verwundet wurden, wie sie zusehen mussten, wie ihre Freunde gefallen sind. Es wird über das Schicksal der Zivilisten gesprochen, die im belagerten Leningrad verhungern, oder in den Kellern von Stalingrad ausharren mussten. Oder ber die Menschen auf dem Lande, deren Dörfer niedergebrannt wurden.

In Russland wird die Erinnerung an den Krieg selbst wach gehalten. An die Grausamkeiten des Krieges an sich, während es bei der Erinnerung in Deutschland eher um die Erinnerung an die eigenen Verbrechen geht.

Der Unterschied zwischen Russland und Deutschland

Und dieser Unterschied macht etwas mit den Menschen, denn wenn ich mir die derzeitigen Medienberichte und Aussagen von deutschen Politikern anhöre, dann sehe ich, dass sie die Angst vor dem Krieg selbst verloren haben. Wie sonst kann ein Friedrich Merz sagen, er htte keine Angst vor einem Atomkrieg https://www.n-tv.de/politik/Merz-Habe-keine-Angst-vor-Atomkrieg-article23303793.html ?
Wie sonst lsst sich erklären, dass ein Robert Habeck sagen kann, er habe keine Angst vor einem dritten Weltkrieg https://www.welt.de/politik/deutschland/article238542871/Robert-Habeck-Angst-vor-einem-Dritten-Weltkrieg-Habe-ich-nicht.html ?

Das waren nur zwei von ganz vielen Beispielen der letzten Tage, die mich ehrlich schockiert haben. Wissen diese Leute nicht, was sie da sagen?
Ist in Deutschland die kollektive Erinnerung an die Grausamkeiten und das Leid des Krieges derartig ausgelöscht worden, als die Medien 20 Jahre lang alle amerikanischen Angriffskriege verharmlost haben?

Kein russischer Politiker wrde so etwas sagen. In Russland ist die kollektive Erinnerung an das Leid des Krieges noch wach und kein russischer Politiker kme auf die Idee, derartigen Unsinn von sich zu geben, wie man ihn von den westlichen Politikern allenthalben hrt.
Glauben die wirklich, dass sie einen dritten Weltkrieg berleben wrden? Und wenn ja, was wre das dann fr ein Leben?
Ein Leben im Bunker, weil man nicht mehr raus an die Luft kann. Und weil Lebensmittel auch im Bunker zu Ende gehen knnen, wrden sie eben nicht den Strahlentod, sondern den Hungertod sterben.

Ist diesen Leuten das nicht bewusst, wenn sie so etwas von sich geben?

Das Umschreiben der Geschichte in der Ukraine

In Russland ist der Kampf gegen Nazis und Neonazis bis heute ein beherrschendes Thema. Mir ist klar, dass die westlichen Medien bestreiten, es gebe in der Ukraine ein neonazistische Regierung. Um diesen Artikel nicht zu lang werden zu lassen, gehe ich darauf hier nicht im Detail ein, denn dass die Ukraine von Neonazis regiert wird, habe ich oft genug erklärt und belegt, Beispiele finden Sie hier:
https://www.anti-spiegel.ru/2022/wie-der-westen-nazis-verteidigt/
https://www.anti-spiegel.ru/2022/in-der-ukraine-gibt-es-keine-nazis/

https://www.anti-spiegel.ru/2022/uns-kann-es-jetzt-nicht-darum-gehen-zwischen-boesen-russen-und-guten-russen-zu-unterscheiden/
Würde man es in Deutschland mit dem Kampf gegen Nazis ernst meinen, müsste man sich Russland gegen die Ukraine anschließen.
In den dortigen Geschichtsbüchern wird der Zweite Weltkrieg kaum erwhnt, stattdessen ist der Nationalheld des Landes Stefan Bandera, der in der SS-Division Galizien auf Seiten der Nazis gekämpft hat und grausamste Kriegsverbrechen gegen ganze Dörfer begangen hat, übrigens auch an Polen, was immer wieder zu Spannungen zwischen Polen und der Bandera verehrenden Ukraine geführt hat.
Dass der wichtigste Nationalheld der heutigen Ukraine ein Nazi und SS-Mann war, wird in Deutschland jedoch verschwiegen.

Wie sehr die neonazistischen Regierungen, die der Maidan-Putsch in der Ukraine an die Macht gebracht hat, die Geschichte umschreiben wrden, wurde in Deutschland sptestens am 7. Januar 2015 sichtbar. Damals war der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk in Deutschland und in den Tagesthemen und sagte https://www.youtube.com/watch?v=RqKtRhYvKxc&t:

Wir können uns alle sehr gut an den sowjetischen Einmarsch in die Ukraine und Deutschland erinnern.

Das hat er gesagt, ohne dass die Moderatorin mit der Wimper gezuckt oder es hinterfragt htte. Aber das ist es, was ukrainische Kinder heute in der Schule lernen.

Ein weiteres Beispiel für das Umschreiben der Geschichte in der Ukraine ist der ukrainische Botschafter in Deutschland, der am 8. Mai 2022, also jetzt, nach der Kranzniederlegung am Berliner Ehrenmal auf die Frage eines Journalisten, wer denn 1945 Berlin befreit habe, geantwortet hat https://t.me/AntiSpiegel/4116:

Die Ukraine!

Das Umschreiben der Geschichte im Westen

Und auch im Westen wird die Geschichte fleißig umgeschrieben. Die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wird immer mehr marginalisiert, obwohl es die Sowjetunion war, die im Kampf gegen die Nazis den größten Blutzoll entrichtet und die militärische Entscheidung gebracht hat.
Wenn US-Präsidenten an das Kriegsendes erinnern, reden sie vom Sieg der USA und ihren Alliierten und erwähnen die Sowjetunion mit keinem Wort.

Und auch in Deutschland wird der Fokus in den Geschichtsbchern und Dokus immer mehr von der Sowjetunion weggelenkt und auf die Rolle der Westalliierten gelenkt. Dabei testet man aus, wie weit man schon gehen kann.
So hat der Spiegel zum Beispiel 2020 zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz allen ernstes geschrieben https://www.anti-spiegel.ru/2020/geschichtsfaelschung-oder-peinlicher-fehler-laut-spiegel-und-us-botschaft-haben-die-usa-auschwitz-befreit/:

Auschwitz war das größte Vernichtungslager der Nazis. Sie ermordeten dort mindestens 1,1 Millionen Menschen. Vor 75 Jahren wurde es von der amerikanischen Armee befreit.

Von wem???

Und das ist keine Ausnahme, davon gab es in dem Jahr viele Beispiele, auch von amerikanischen Botschaften in Europa, die das gleiche gemeldet haben.
Mir kann keiner erzählen, dass das nur dumme Versehen waren, das sind orchestrierte Versuche, um auszutesten, was man mit dem Umschreiben der Geschichte in Schulbüchern und Dokus schon erreicht hat und ob es nennenswerten Protest gegen solche Geschichtsrevisionen gibt.

In diesem Jahr wird die Erinnerung an das Kriegsende im Westen generell heruntergespielt. Gedenkveranstaltungen mit Beteiligung von Vertretern Russlands werden abgesagt, Bundeskanzler Scholz ist zu keiner einzigen Gedenkveranstaltung gegangen, sondern hat nur eine Rede an die Nation gehalten, in der er weniger an das Kriegsende, als an die Notwendigkeit erinnert hat, Putin entschlossen entgegenzutreten.
Es war keine Gedenkrede für das Kriegsende, es war eine Kriegsrede gegen Russland.

Der Ekel in Russland

In Russland, wo die Geschichte anders gelehrt wird, also so, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, rufen diese offenen Versuche, die Geschichte umzuschreiben, regelrechten Ekel hervor.
In Russland findet sich übrigens kein Mensch, der das, was derzeit in der Ukraine vor sich geht, gut findet.

Aber in Russland weiß man, welche Kräfte in Kiew regieren und im Donbass seit acht Jahren Krieg gegen Zivilisten führen.
Man feiert den Krieg nicht, aber ber 80 Prozent der Russen unterstützen ihn https://vesti7.ru/video/2408805/episode/08-05-2022/, weil es aus ihrer Sicht keine andere Mglichkeit mehr gegeben hat, gegen diese Nazi-Regierung in Kiew vorzugehen.
Acht Jahre lang hat Russland seit dem Maidan geduldig verhandelt, aber der Westen war in Sachen Kiew auf dem rechten Auge blind und hat Kiew gewähren lassen.

Putin hat es in seiner Rede zum Beginn der russischen Intervention in der Ukraine deutlich gesagt https://www.anti-spiegel.ru/2022/putins-komplette-rede-an-das-russische-volk-zum-beginn-der-militaeroperation/:

Wir wissen aus der Geschichte, dass die Sowjetunion 1940 und Anfang 1941 alles getan hat, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Dazu gehört auch, dass man buchstäblich bis zur letzten Minute versucht, den potenziellen Angreifer nicht zu provozieren, indem man die notwendigsten und naheliegendsten Schritte zur Vorbereitung auf die Abwehr des unvermeidlichen Angriffs nicht durchgeführt oder aufgeschoben hat. Und die Schritte, die schlielich unternommen wurden, waren katastrophal verspätet.

Infolgedessen war das Land auf den Einmarsch Nazi-Deutschlands, das am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung unser Land angriff, nicht vollstndig vorbereitet. Der Feind konnte gestoppt und dann vernichtet werden, allerdings zu einem kolossalen Preis.
Der Versuch, dem Aggressor am Vorabend des Groen Vaterländischen Krieges zu gefallen, war ein Fehler, der unser Volk teuer zu stehen kam. In den ersten Monaten der Kämpfe haben wir große, strategisch wichtige Gebiete und Millionen von Menschen verloren. Wir werden einen solchen Fehler nicht ein zweites Mal machen, dazu haben wir kein Recht.

Russische Werte vs. westliche Werte

Ob es einem gefällt, oder nicht, aber so sehen es auch die Russen. Nach acht Jahren Verhandlungen, nach acht Jahren Appeasement-Politik gegenüber Kiew, während die ukrainische Armee im Donbass Zivilisten ermordet hat https://www.anti-spiegel.ru/2020/osze-bericht-75-der-zivilen-opfer-des-krieges-in-der-ukraine-sind-opfer-der-regierungstruppen/, haben die Russen keinen anderen Weg mehr gesehen, als militrisch einzugreifen.

Und es ist nicht nur so, dass über 80 Prozent der Russen Putins Entscheidung unterstützen, ganze 89 Prozent sind der Meinung, Russland sollte nach seinen eigenen Werten leben und sich nicht um das scheren, was der Westen als seine Werte propagiert. Dabei geht es um das Verdrehen der Geschichte, wie es im Westen blich geworden ist, dabei geht es aber auch um das aggressive Vertreten von Political Correctness, LGBT, Gender, Cancel-Culture (was übrigens Geschichtsrevision in Reinkultur ist) und so weiter.

In Russland kann jeder nach seiner Fasson glücklich werden, aber die traditionellen Werte wie Familie stehen im Vordergrund.
Im Westen ist es inzwischen ein Qualitätsprdikat für Politiker, wenn sie homosexuell sind, in Russland zählt die Leistung eines Menschen als Qualittsprädikat und seine Vorlieben im Schlafzimmer sind seine Privatangelegenheit.

Die Kinder des Donbass

Zum Abschluss will ich ein Beispiel zeigen. Die Menschen im Donbass wissen seit acht Jahren was Krieg ist, das gilt besonders für die Kinder, die kein anderes Leben als den Krieg kennen. Ich habe vor einigen Tagen über Faina berichtet, ein 13-jähriges Mädchen aus Lugansk https://www.anti-spiegel.ru/2022/ein-maedchen-aus-lugansk-antwortet-dem-kinderkommentar-aus-den-tagesthemen/, das dadurch bekannt wurde, dass es vor der UNO aufgetreten ist und seitdem offene Briefe an vor allem westliche Politiker schreibt, in denen es auf die Lage in seiner Heimatstadt hinweist.

Faina hat zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland einen langen offenen Brief geschrieben, den sie an ihre Vorfahren gerichtet hat.
Darin hat sie sich im Namen der heutigen Generationen bei der Generation der Kriegsteilnehmer dafür entschuldigt, dass es zugelassen wurde, dass die Nazi-Ideologie, gegen die die Kriegsgeneration unter Einsatz ihres Lebens gekämpft hat, in der Ukraine, ihrer ehemaligen Heimat, wieder an die Macht gekommen ist.
Unter anderem hat sie sich in dem Brief bei ihrer Urgroßmutter entschuldigt und weil der Brief zu lang ist, um ihn vollstndig zu zitieren, nehme ich dieses Beispiel:

Hallo, Ur-Oma Elsa. Entschuldige, dass der gelbe Stern wieder in Mode ist, nur diesmal für die Russen. Jetzt sagen sie, der Russe sei kein Befreier, sondern ein Untermensch. Wie vertraut. Während der Pogrome in Lemberg und Kiew sagte man dasselbe ber Dich. Wer hat denen das Recht gegeben, zu entscheiden, wer würdig ist, ein Mensch zu sein und wer nicht? Das waren wir. Durch unsere Gleichgltigkeit gegenber unserer Geschichte.

Es wäre schön, wenn man sich auch im Westen wieder an die Geschichte erinnern wrde, anstatt sie mithilfe von Cancel-Culture gewaltsam umzuschreiben. Manchmal können wir auch von 13-jhrigen Kindern, die im Krieg viel zu früh erwachsen werden mussten, eine Menge lernen, denn:

Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben.

Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt und erinnern uns an den Krieg und gedenken der unschuldigen Opfer auf allen Seiten und hren wir auf, die Geschichte für heutige politische Ziele umzuschreiben. Sonst müssen wir sie vielleicht wirklich neu durchleben.

Soweit Thomas Röper.

Dieses bedenkend fordere ich die Ukraine zum sofortigen Beginn von Friedensverhandlungen und die westliche Entente zum sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen auf !

Brecht_TUI-Roman*:Siehe https://josopon.wordpress.com/2016/09/27/salven-aus-den-verlagshausern-der-anteil-der-medien-an-den-kriegen-des-westens/
https://josopon.wordpress.com/2014/
07/25/politiker-und-journalisten-im-wahn-ihrer-ideologie-die-weiswascher-sind-wieder-da/

https://josopon.wordpress.com/2021/01/08/abstosende-heuchelei-eine-systemjournalistin-des-dlf-lasst-sich-uber-julian-assange-aus/

sowie auf den NachDenkSeiten https://www.nachdenkseiten.de/?p=83648

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Die Linke und Corona – postideologischer Totalitarismus?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine sehr ernst zu nehmende, aber für Nicht-Psychoanalytiker schwer verständliche Analyse im Neuen Deutschland:
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162247.die-linke-und-corona-ein-postideologischer-totalitarismus.html
Auszüge:

Die Linke hat gravierende Maßnahmen wie die Lockdowns unterstützt, obwohl diese die Ungleichheit verschärft haben und der Staat autoritärer geworden ist.
Ist die dadurch entstandene Verwirrung das Anzeichen einer neuen Form des Totalitären?
Versuch einer Klärung und Diskussionsbeitrag zu einer Debatte über die Linke und Corona

  • Von Tove Soiland

Zuweilen konnte man sich in den vergangenen zwei Jahren nur wundern, mit welcher Selbstverständlichkeit der Großteil der Linken davon überzeugt war, in ihrer vorbehaltlosen Unterstützung der rigorosesten staatlichen Corona-Maßnahmen auf der politisch richtigen Seite zu stehen, auf der linken nämlich. Man habe der Wissenschaft zu folgen, hieß es, es sei ein Gesundheitsnotstand, alles andere sei irrational.
Als hätte es in Deutschland nie eine problematische Indienstnahme der Medizin gegeben, die sich in das Gewand von Wissenschaftlichkeit und Fortschritt kleidete – was uns eigentlich die politische Pflicht auferlegte, genau in diesem Feld besonders wachsam und vorsichtig zu sein.
mona lisa with face maskDoch die Mehrheit der Linken tut bis heute das Gegenteil: Wer berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen äußert, deren Wirksamkeit nie evidenzbasiert untersucht wurde, wird kurzerhand in die rechte Ecke gestellt, das Gespräch verweigert; Rückfragen an die Zweckmäßigkeit von Massenimpfungen, ja, überhaupt die Frage, warum die Impfung der einzige Ausweg aus der Krise sein soll, wird mit dem Hinweis auf »die Wissenschaft« als reaktionäre Antifortschrittshaltung von rechten Esoterikern und Sozialdarwinisten abgetan – obwohl namhafte Wissenschaftler seit Beginn der Krise darauf hinwiesen, dass eine Impfung gegen Coronaviren als Mittel der Immunisierung der Bevölkerung nicht funktionieren werde.

An einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung scheint man merkwürdigerweise gerade im linken Lager bis heute nicht wirklich interessiert.
Stattdessen ist man mit Worten rasch zur Hand und nimmt es mit der Logik nicht allzu genau: Wer von Diktatur spricht, verharmlose wahre Diktaturen und sei damit ein Holocaustleugner.
Eine Mutter, die ihr Kind nicht impfen lassen will, als Nazi zu beschimpfen, ist aber kein Problem und auch, dass damit die Frage des Antisemitismus völlig sachfremd instrumentalisiert wird. Hauptsache man wähnt die Moral auf seiner Seite. Jedenfalls beansprucht dieser linke Diskurs, in Sachen Schutz der Bevölkerung der einzig legitime Standpunkt zu sein und seine Vertreter sind überzeugt davon, mit dieser Haltung rechtes Gedankengut abzuwehren. Doch stimmt das auch?

Eurozentrismus statt Globalisierungskritik

Das Frappanteste ist, wie weitgehend sich die Linke seit Beginn der Coronakrise aus ihren angestammten Kritikfeldern, allen voran der Kritik an den internationalen Organisationen der Globalisierung verabschiedet hat, sodass ihre Haltung in weiten Teilen etwa von derjenigen des World Economic Forums und seines Begründers Klaus Schwab kaum mehr zu unterscheiden ist.
Dass durch die Maßnahmen, nicht durch das Virus, weltweit mit 20 Millionen mehr Hungertoten zu rechnen ist, wie Oxfam schon im letzten Sommer warnte; dass die Impfallianz Gavi, von der auch die jetzige Impfkampagne ausgeht, in ihrer Vergangenheit immer wieder negative Schlagzeilen machte – unter anderem, weil sie in Indien und Afrika Impfungen mit der Massensterilisierung von Frauen verbanden; ja, dass die von der WHO instrumentierte Corona-Politik, wie Toby Green in seinem Buch »The Covid Consensus. The New Politics of Global Inequality« darlegt, global gesehen, zu einer massiven Verschärfung der eh schon skandalös großen sozialen Ungleichheit führt: Dass all dies kein Thema für die Linke mehr sein soll, hat etwas Unfassbares. *)

Weil es um den Schutz der Bevölkerung geht? Aber um was für einen Schutz kann es sich dabei handeln, wenn weltweit ein Großteil der Bevölkerung seiner Existenzgrundlage beraubt wird, wenn, wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen berechnet, dadurch weltweit 70 bis 161 Millionen mehr Menschen hungern und, wie die Uno berechnet, 140 Millionen Kinder zusätzlich in Armut gestürzt werden?
Um welches Leben also geht es, wenn vom »Leben retten« die Rede ist? Nur um westliches, weißes? Ist das kein Rassismus?
Und ist es sozialdarwinistisch oder gar rechts, solche Fragen zu stellen – und nicht vielmehr links?

Angesichts dieser weltweiten Umverteilung von unten nach oben lässt sich jedenfalls nicht sagen, dass die westlichen Staaten mit ihrer Corona-Politik den Kapitalinteressen in die Quere gerieten.
Ja, es ist umgekehrt nicht von der Hand zu weisen, dass viele der Maßnahmen – ob bewusst dafür eingesetzt oder nicht, sei einmal dahingestellt – der Durchsetzung eines neuen Akkumulationsregimes dienen. Umso erstaunlicher ist es, dass die immer autoritärer werdende Staatsform kein Thema mehr sein soll. Denn diese setzt etwas fort oder fügt sich jedenfalls problemlos in das ein, was schon seit längerem als autoritärer Neoliberalismus bezeichnet wird: Eine illiberale Version des Neoliberalismus – falls dies nicht überhaupt seine Grundform ist -, die sehr gut, wenn nicht sogar noch besser ohne das auskommt, was wir gemeinhin als bürgerliche Freiheit bezeichnen.
Der digitalisierte Mensch im Homeoffice, der sich von Amazon beliefern lässt und der gelernt hat, sein Dasein auf die warenförmige Befriedigung von Bedürfnissen zu reduzieren: In dieser digitalen Dystopie braucht es keine Sphäre des Politischen mehr, da Experten die Steuerung, die dann auch nicht mehr politisch sein wird, übernommen haben werden – auch die Steuerung des Fußvolkes von Heloten, die die materielle Basis dieser Dystopie bereitstellen.
Wir sind immer noch im Kapitalismus und der Staat stellt sich immer noch, mit autoritären Mitteln, in dessen Dienst, aber sein Gesicht hat sich verändert.

Geschmeidig smarte Exponenten

So betrachtet haben wir es mit dem – verwirrenden – Umstand zu tun, dass der Staat in seinem autoritären Charakter den Kapitalinteressen dient, womit er der Definition eines rechten autoritären Staates entspricht, ohne dass er es dabei nötig hat, auf das zurückzugreifen, was wir gemeinhin als rechte Ideologien bezeichnen: offene Rassismen, konservative Werthaltungen und einen Anti-Egalitarismus.
Im Gegenteil: Dieser Staat kommt im Gewand der »Political Correctness« daher, seine Exponenten sind geschmeidig smart, nicht fanatisch polternd, und sie sprechen viel vom Guten für die Welt. **)
Sie sprechen von Inklusion, auch wenn sie dabei einen Gutteil der Bevölkerung von fast allem, was an gesellschaftlichem Leben noch verblieben ist, ausschließen, und zwar im Namen des Fortschritts. Dieser Staat – und dieser Kapitalismus – braucht die alten Insignien rechter Ideologien ganz einfach nicht mehr. Im Gegenteil: Ich meine, dass rechte Ideologien überhaupt dysfunktional für die Erfordernisse der heutigen Kapitalakkumulation geworden sind.

Wenn wir wie gebannt und, ich würde sagen, mit einer guten Portion moralischer Selbstgerechtigkeit auf die Szenen starren, die sich zuweilen am Rande der maßnahmenkritischen Demonstrationen abspielen, verpassen wir es, dieses Auseinandertreten von rechter Ideologie und rechtem Staat zu verstehen und die Gefahr wahrzunehmen, die von letzterem ausgeht: von einem Staat, der sich zunehmend in Richtung dessen entwickelt, das ich in Anlehnung an den italienischen Psychoanalytiker Massimo Recalcati als »postideologischen Totalitarismus« bezeichnen möchte.

Doch auch wenn wir eine Gefahr von rechts befürchten: Es ist absolut unverständlich, warum die Linke, die seit Anfang der Coronakrise nichts Besseres zu tun weiß als mit dem moralischen Zeigefinger auf rechts zu zeigen, sich weigert anzuerkennen, dass die Politik der weltweiten Verelendung, die die Linke mitträgt, der beste Nährboden für rechte Bewegungen ist.
Rechte Ideologien greifen nämlich dort, wo Menschen in eine ökonomisch ausweglosen Situation geraten sind.
Es ist die Linke, die mit ihrer Haltung das Feld der berechtigten Kritik der Rechten überlassen hat, weil sie sich weigern, irgendetwas in Frage zu stellen, obwohl die Ungereimtheiten sich längst bis zum Himmel türmen. Sie sind verantwortlich für einen Zulauf nach rechts, wenn es ihn denn geben wird.
Doch die neue Gefahr wird nicht von rechts kommen. Sie scheint mir vielmehr in dieser neuen postideologischen Konstellation zu liegen: Vielleicht müssten wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass der heutige Staat zwar autoritär ist, dass er mit diesem Autoritarismus dem Kapital dient und demnach der Definition eines rechten Totalitarismus entspricht, aber ohne dass er sich dabei klassisch rechtsextremer Ideologie bedient.

Grenzenlose Unterwerfung

Jacques_LacanMit dem Begriff des Postideologischen verbindet die marxistische Lesart des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan ganz allgemein jene »ideologische« Konstellation, die der kapitalistischen Produktionsweise am adäquatesten ist. Dabei greifen diese Ansätze auf eine Feststellung Lacans zurück, dass der kapitalistischen Produktionsweise eine totalitäre Tendenz inhärent ist, deren Autoritarismus sich gerade nicht aus der Verpflichtung auf ein höheres Ideal herleitet, dem »ideellen« Gehalt der deshalb so genannte Ideologie, sondern umgekehrt aus dem Schwinden oder Bedeutungsverlust jeglichen Ideals.
Dass der im Zuge des fortschreitenden Kapitalismus vorangetriebene Untergang der väterlichen Autorität ein Vakuum hinterließ, das in Gestalt des Führers von einer pervertierten Vater-Figur wieder eingenommen werden konnte – dem Vater der Urhorde, wie ihn der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud nannte -, dies ist eine These, die viele psychoanalytisch orientierte Zeitdiagnosen des Nationalsozialismus teilen. Auch Lacan steht in dieser Tradition, indem er bereits in seiner Dissertation von 1938 festhält, dass Freud nur deshalb die Rolle des Vaters ins Zentrum seines Denkens stellen konnte, weil dessen Bedeutung zu seiner Zeit bereits im Untergang begriffen war.

Doch anders als die Theoretiker der »vaterlosen Gesellschaft« interessiert Lacan sich für den mit diesem Schwinden verbundene Zusammenbruch der symbolischen Dimension.
Es ist nicht länger der »Diskurs des Herrn«, also die traditionell ödipale Konstellation mit ihren Gesetzen und Verboten, auch nicht seine Pervertierung in Form eines Urvaters. Es ist vielmehr die mit dem Schwinden des Namens des Vaters verbundene Aufhebung der »symbolischen Kastration«, die in Lacans Gegenwartsdiagnose eine Tendenz zum Totalitären aufweist.
Denn das Schwinden der symbolischen Schranke lässt das Reale mit seinem Versprechen einer totalen Ermöglichung in den Vordergrund treten: dem uneingeschränkten, da nicht symbolisch vermittelten Zugangs zum Genießen, aber auch der totalen Administrier- und damit Optimierbarkeit des Lebens.
Diese psychoanalytische Version der Biopolitik hebt ein totalitäres Moment hervor, das in der Auslöschung der Dimension des Subjektes liegt. Dies nicht so sehr deshalb, weil die Biopolitik in ihrem Allgemeinheitsanspruch das Individuum überrollt, sondern weil diese Ermöglichung in ihrer Entgrenzung das Subjekt einem Zwang zur grenzenlosen Optimierung unterwirft, die seinem Begehren nach einer Dimension jenseits des reinen Lebens keine Rechnung trägt.
Das Postideologische reduziert das Dasein auf die Immanenz des Lebens und entkleidet es so jeder transzendenten Dimension. In der Wüste des Realen sind wir zum Biotop geworden.

Hypermoderner Hygienismus

Erstaunlicherweise hat der italienische Psychoanalytiker Massimo Recalcati bereits vor 15 Jahren in Anlehnung an Lacans Überlegungen die These aufgestellt, dass der postideologische Totalitarismus sein bevorzugtes Tätigkeitsfeld auf dem Gebiet der Gesundheit findet und prägte dafür den Begriff des »hypermodernen Hygienismus«.
Recalcati verbindet damit eine Macht, die angeleitet von einem »hoch spezialisierten Wissen« die Führung des Lebens technisch-wissenschaftlichen Praktiken zugänglich machen will.
Dabei greift diese »horizontale Regierung des Lebens« nicht auf offene Formen von Gewalt zurück, sondern auf aseptische Evaluations- und Auswertungsverfahren. Sie hat nicht die Form repressiver Verbote, sondern »jene der fälschlicherweise als fortschrittlich verstandenen einer allgemeinen Quantifizierung des Lebens«.
Dieser Drang zur Vermessung hat jedoch den fatalen Effekt, dass das Begehren verschwindet. Er vergisst die Dimension einer strukturellen Versehrtheit des Lebens und versucht stattdessen, »nach Maßgabe einer verrückten moralischen Pädagogik«, anzugeben, welches das richtige Verhältnis zum Glück ist.
Diese – in Recalcatis Worten – »Ideologie des Wohlbefindens« verpflichtet uns auf das Prinzip des Guten; in ihr ist das »hygienische Ideal der Gesundheit« das einzige noch verbleibende Ideal, sie lässt der »antihedonistischen Dimension« des Begehrens, das nicht einfach nach dem reinen Wohlergehen strebt, keinen Raum. Denn es gibt kein richtiges Maß für das Begehren, es gibt, wie Recalcati festhält, »keine Möglichkeit anzugeben, was das richtige Verhältnis zum Realen wäre, was das allgemeingültige Maß für ›Glück‹ wäre, weil das Glück nie nach einer vorgegebenen normativen Skala bewertet werden kann, die allgemein gültig wäre. Wenn dies geschieht – und es geschieht heute mittels einer propagandistisch verbreiteten Medikalisierung der Gesundheit -, so sind wir, wie Lacan stets betont, nur noch einen Schritt von jener ›innerlichen Katastrophe‹ entfernt, die wir Totalitarismus nennen.«

Liest man Recalcatis Text vor dem Hintergrund der vergangenen zwei Jahre, so muss es einem erscheinen, als hätte er eine Dystopie vorweggenommen, die nun real geworden ist.
Denn wir sehen alle Züge eines hypermodernen Hygienismus: Nicht nur ist das szientistische Wissen zu einem »unerhörten Imperativ des Guten« geworden, der uns die Gesundheit als neue soziale Pflicht auferlegt.
In seinem Rigorismus kann dieser Imperativ auch jederzeit in sein Gegenteil kippen: in ein technokratisch-aseptisches Verständnis von Gesundheit, das uns krank macht.
Die erbarmungslose Akribie, mit der die Gesundheit verfolgt wird, gleicht in dieser Janusköpfigkeit einem profanen Glauben an das Leben, der sich trotz seines Glaubenscharakters von jeglicher Transzendenz entbindet.
Was wir hier vor uns haben, ist jene von Lacan beschriebene grausame Dimension des Über-Ichs, das in seiner puristischen Verfolgung des moralisch Richtigen an ein obszönes Genießen stößt: Die Verzichtsleistung, die das Über-Ich fordert, wird in ihrer Absolutheit ihrerseits triebhaft.

Alles kommt zum Stillstand

Der Kollaps von Genießen und Askese ist für Lacan der problematische Effekt des Untergangs des Symbolischen überhaupt.
Und so muss man sich fragen, ob die Corona-Maßnahmen in ihrer Rigidität und Maßlosigkeit nicht Ausdruck davon sind, dass das im Symbolischen verworfene Gesetz nun im Realen wieder auftaucht: ein reales Gesetz oder ein Zusammenfallen von Gesetz und Realem, in der das Gesetz nur noch in seiner sinnlos-grausamen Dimension erscheint.
Die im Symbolischen verworfene Schranke kehrt als reale wieder. Jedenfalls hat dieses Nebeneinander von totaler Ermöglichung, die geradewegs in einen Lockdown führt, viel mit dem zu tun, was Lacan als die dem Diskurs des Kapitalismus eigene Aufhebung der symbolischen Kastration bezeichnet: sie eröffnet unendliche Möglichkeitsräume, in denen alles zum Stillstand kommt.

logo steht kopf

Die Linke scheint nicht nur zu verkennen, dass dies zugleich eine, wenn auch für uns vollkommen neue Form des Totalitären ist, sondern auch, dass sie selbst längst zu dessen Promotorin geworden ist. Womit sie sich ganz in die Logik des Diskurses des Kapitalismus stellt, dem sie sich offenbar vollumfänglich verschrieben hat – selbst dann, wenn dieser sich zunehmend eines autoritären Staat bedient und damit eigentlich dem entspricht, was sie selbst als rechts bezeichnen würde.

Tove Soiland ist Historikerin und Philosophin. Nach zahlreichen Lehraufträgen und Gastprofessuren ist sie derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck.
Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich feministische Theorie, französische Psychoanalyse und Marxismus. Für das »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« verfasste sie den Eintrag über »Lacanismus«.
Sie engagiert sich seit Frühjahr 2020 in dem linken Kollektiv »Feministischer Lookdown«, das die Corona-Politik kritisiert, und ist Mitglied von »Linksbündig«, einem soeben neu gegründeten linken Zusammenschluss gegen den Maßnahmenstaat. Zusammen mit Marie Frühauf und Anna Hartmann hat Tove Soiland einen zweibändigen Reader zur postödipalen Gesellschaft herausgegeben, der dieser Tage im Verlag Turia+Kant erscheint.
Darin enthalten ist auch der Aufsatz »Das Verschwinden des Begehrens und der postideologische Totalitarismus« von Massimo Recalcati, dem die obigen Zitate entnommen sind.

*: Mehr dazu im Buch von Thomas Röper:
Inside Corona – Die Pandemie, das Netzwerk und die Hintermänner – Die wahren Ziele hinter Covid-19
**: Siehe https://josopon.wordpress.com/2021/08/05/8-hauptziele-des-great-reset/

Mein Kommentar: Man hätte sich – bei aller Bemühung um Kürze – doch etwas ausführlichere Erklärungen für die Thesen gewünscht.
Der Schluss von der rationalen Lebensoptimierung auf das Verschwinden des Begehrens könne ja auch daran liegen, das durch die Überflutung mit normierten Konsumanreizen für die Ausbildung eines individuellen Begehrens kein Raum mehr zur Verfügung seht –
aber auch nicht zur Verfügung stehen soll, weil das individuelle Begehren so zu einer Unzufriedenheit führen könnte, die innerhalb des Systems nicht mehr zu stillen ist und so einer unkalkulierbaren revolutionären Entwicklung Treibstoff gibt – dem Schrei nach Freiheit.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Die Moralfalle und die planmäßige Zerstörung des Klassenbegriffs mit dem Ziel, die Linken zu spalten

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sehr ausführliches gutes Interview von Bernd Stegemann vom Trägerverein von Aufstehen! durch Paul Schreyer *) über die Aufstehen-Bewegung, über Ausgrenzung, Doppelmoral und das Fehlen einer linken Erzählung, „die die soziale Frage ins Zentrum stellt“auf Telepolis, dort auch lesenswerte Diskussion: https://www.heise.de/tp/features/Der-Klassenbegriff-ist-planmaessig-zerstoert-worden-4336430.html

Auszüge:
Herr Stegemann, Sie sind seit 20 Jahren Dramaturg am Theater, außerdem Professor an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, Autor von politischen Sachbüchern und seit 2018 auch Vorsitzender des Trägervereins der Aufstehen-Bewegung. Zunächst: Wie ist zur Zeit der Stand bei „Aufstehen“? Wie geht es weiter nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht aus der Spitze der Sammlungsbewegung?
Bernd Stegemann: Wagenknecht zieht sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem organisatorischen Tagesgeschäft von Aufstehen zurück, so wie sie auch nicht mehr als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei kandidieren wird. Sie hat Aufstehen gegründet und wird auch weiterhin Teil der Bewegung bleiben, die sie nach Maßgabe ihrer Kräfte solidarisch unterstützt.
Wie geht es nun weiter?
Bernd Stegemann: Brecht würde sagen, damit sind wir endgültig in den „Mühen der Ebene“ angekommen. Nach der großen Anfangseuphorie, wo wir wirklich überrascht und sehr erfreut waren, haben sich viele Detailprobleme aufgetürmt, überwiegend organisatorischer Natur, die wir jetzt versuchen müssen zu lösen.
Und das ist natürlich sehr schwer bei einer Bewegung, die nur aus Ehrenamtlichen und Freiwilligen besteht. Vom Programmieren der Webseite bis zur Verwaltung der Daten, der Finanzen und so weiter ist das ein Wust an Arbeit, der momentan noch keine entsprechende Organisationsstruktur gefunden hat, um sie wirklich zu bewältigen.

Gibt es in diesem Jahr größere Aktionen?
Bernd Stegemann: Ja, die gibt es laufend. Ende Februar fand ein großes Aktionscamp in Dortmund statt.
Am 14. März gab es eine große Veranstaltung in Hamburg, wo Sahra Wagenknecht auftrat, außerdem in Leipzig, es gibt in Berlin ein großes Treffen der dortigen Gruppen im April.
Aufstehen lebt in über 200 lokalen Gruppen, die sich alle regelmäßig treffen. Auf der konkreten Ebene läuft es eigentlich verblüffend gut, auf der Ebene der Gesamtorganisation schleppt’s.

Vereinbarkeit von offenen Grenzen mit einem hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat

Kommen wir zu Ihrem neuen Buch „Die Moralfalle“. Ich möchte gerne mit dem Titel anfangen, weil vielleicht nicht jeder weiß, was damit gemeint ist. Sie schreiben: „Die Moralfalle bezeichnet eine Kommunikationsstrategie, die vermeintlich der moralischen Seite nutzt, deren Folgen die verfochtenen Werte jedoch schwächen.
Das Dilemma besteht darin, dass es mit den humanistischen Werten Europas unvereinbar ist, Menschen leiden oder gar sterben zu lassen, zugleich aber die Aufnahme aller Menschen in Not zu einer Zerstörung des humanistischen Europa führen würde.“

Am Ende des Buch heißt es: „Um die utopische Kraft einer internationalen Solidarität in Europa zu bewahren, muss sie in einer anderen Politik umgesetzt werden als in der einfachsten und darum gefährlichen Form einer Open-Border-Politik, die jede Steuerung unterbinden will.“ Denn das sei eine Forderung, die nicht bedenke, „wie ihre Realisierung das Fundament der eigenen Werte zerstört.“
Konkret gefragt: Was wird zerstört – wie ist das gemeint?

Bernd Stegemann: Die Werte, denen das aufgeklärte, abendländische Europa folgt, das der französischen Revolution und dem sozialen Gedanken verpflichtet ist, sind nicht vom Himmel gefallen. Das sind Werte, die einerseits in der Philosophie vorgedacht wurden, aber andererseits erst durch harte, konkrete, soziale Kämpfe Wirklichkeit geworden sind.
Dahinter stehen eine 150-jährige Tradition der Sozialdemokratie, ein Bildungssystem, das diese Werte vermittelt, ein ethisches Gerüst und so weiter.
Das sind alles materielle Bedingungen dafür, dass diese Werte nicht nur Sonntagspredigten füllen, sondern im gesellschaftlichen Alltag zur Wirklichkeit werden. Es ist also ein komplexes Gefüge, das nicht beliebig irritierbar ist.
Das haben wir in allen großen Ausnahmesituationen gesehen. Der Faschismus, der Deutschland ab 1933 regierte, hat diese Werte in relativ kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehrt. Also, diese Werte sind nicht ewig und sie sind auch nicht vom Himmel gefallen, sondern sie müssen täglich neu bestätigt, beglaubigt, gelernt und verteidigt werden. Sie sind angreifbar.

Was heißt das konkret bezogen auf die Zuwanderung?
Bernd Stegemann: Zuwanderer müssen integriert werden in diese Komplexität, damit es nicht zu dauerhaften Parallelgesellschaften kommt.
Es kann nicht sein, dass diese Werte relativiert werden, egal von welcher Seite, indem man zum Beispiel sagt, die Scharia ist auch eine Gesetzgebung mit jahrhundertelanger Tradition, die Gültigkeit beanspruchen darf.
Dafür sind Abstimmungsprozesse erforderlich, die konkret stattfinden müssen. Und dabei geht es natürlich auch darum, ab wann so ein kompliziertes System überfordert ist.
Die große Frage, die ich immer allen Open-Border-Aktivisten stelle, ist: Erklärt mir doch bitte mal, wie ihr offene Grenzen für alle vereinbaren wollt mit einem hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat. Wie soll das gehen, praktisch?

Welche Antworten bekommen Sie da?
Bernd Stegemann: Keine! Dann bekomme ich die Moral um die Ohren gehauen. Denn die Grenzenlosigkeit sei doch ein absoluter Wert, und ich würde mit der Verteidigung des Wohlfahrtsstaates dessen Werte verraten.
Das ist für mich die Moralfalle in Reinkultur. Man tut so, als wäre der Wert eine abstrakte Größe, die ich vor mir hertragen kann, und dann wird alles gut.
Dabei wird ignoriert, dass der Wert nur dann Relevanz hat, wenn er auch lebenspraktisch Wirklichkeit wird.

Sie schreiben in ihrem Buch: „Moralismus ist auf einer psychologischen Ebene vor allem eine Selbstimmunisierung gegen Kritik.“ Können Sie das erklären?
Bernd Stegemann: Meine Kritik besteht darin, dass die Open-Border-Fraktion nicht in der Lage ist, zu erklären, wie das mit dem Wohlfahrtsstaat vereinbar sein soll. Stattdessen wird eine Moralkeule herausgeholt oder ein Moralballon steigen gelassen, mit dem man denkt, man hätte sich alle Probleme vom Hals geschafft, und wäre in seiner eigenen – letztlich unhaltbaren – Position trotzdem in der besseren Position.
Man immunisiert sich gegen jede Art von konkreter Kritik mit einer allgemeinen, leeren Abstraktion.

Sie konstatieren in Ihrem Buch auch eine Spaltung der Linken und erklären: „Die Beschäftigung mit allen ethnischen und sexuellen Minderheiten verspricht seit Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit als die uncoole Klasse der Armen.“ So habe sich die Linke in einen identitätspolitischen und einen sozialpolitischen Flügel gespalten. Die Bezeichnung „links“ drohe „auseinanderzubrechen“. Aktuell fehle „eine linke Erzählung, die die soziale Frage ins Zentrum stellt“.
Die Ablehnung der Klassenfrage komme dabei inzwischen auch aus dem linken Milieu. Woran machen Sie diese Ablehnung fest?

Bernd Stegemann: Von der identitätspolitischen Seite wird gesagt, dass die beiden Merkmale „Gender“ und „Race“ zentral wären für alle Formen von emanzipatorischer Politik. Der dritte Aspekt, die „Klasse“, sei zu vernachlässigen, da sich dahinter in Wirklichkeit nur die Dominanz des weißen, heterosexuellen, patriarchalischen Arbeiters verberge.
Das heißt, die Klassenfrage wird auch zu einer identitätspolitischen Frage gemacht.
Also Klasse ist nicht mehr ökonomisch begründet, nicht mehr aufgrund von Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen, sondern wird auch auf Geschlecht, Hautfarbe und patriarchale Denkmuster reduziert.
Damit hat der identitätspolitische Flügel die Diskurshoheit über die Dreiheit der Diskriminierung übernommen. Denn diese Trias besteht aus der ethnischen Diskriminierung, der sexuellen Diskriminierung und der Diskriminierung durch Ausbeutung und Entfremdung.
Aber wenn alle drei Dinge nur identitätspolitisch gedacht werden, dann sind Ausbeutung und Entfremdung sozusagen unter die Räder gekommen.

Der blinde Fleck der Moralisten

Sie beschreiben einen „blinden Fleck der Moralisten“. Diese sähen nicht die tatsächlichen Ursachen gesellschaftlicher Konflikte, sondern würden eine „Fehlerhaftigkeit des Individuums“ behaupten. Moralische Urteile ersetzten die konkrete Analyse.
Sie sagen: „Der moralisierende Blick auf die Realität führt dazu, dass die Beschreibung eines Zusammenhangs mit dessen Herstellung oder Verteidigung verwechselt wird. Wer beschreibt, dass sich durch den Zuzug von Flüchtlingen die Lage auf dem sozialen Wohnungsmarkt, im Niedriglohnsektor und in den Schulen für den ärmeren Teil der Bevölkerung verschlechtert hat, produziert nicht diese Verschlechterung, sondern hebt die alltäglichen Probleme ins Licht der Öffentlichkeit.
An der Benennung realer Probleme müssten doch eigentlich alle ein gemeinsames Interesse haben. Warum wird das Aussprechen dieser Dinge so kritisch gesehen?

Bernd Stegemann: Es haben eben nicht alle ein Interesse daran und daraus entsteht die verhängnisvolle Kollaboration. Der Unternehmer, dem die Wohnungen gehören, der hat natürlich kein Interesse daran, dass über Dinge wie Mietpreisbremse oder Schaffung von sozialem Wohnungsbau öffentlich diskutiert wird.
Und jetzt gibt es die verhängnisvolle Verbrüderung dieser Interessen einer Kapitalrendite mit einer Moralfraktion innerhalb der Linken, die sagt: Das sind auch gar nicht die wichtigen Themen, sondern wichtig sind die Themen der Minderheiten, der Identitätspolitik und so weiter.
Das ist das, was die Philosophin Nancy Fraser den „progressiven Neoliberalismus“ genannt hat. Darin wird das berühmte Freiheitsversprechen des Liberalismus in sein Gegenteil verkehrt, weil es nicht mehr um das zu befreiende und freie Subjekt geht, sondern um den freien Konsumenten und die freie Arbeitskraft.
Und beide sind natürlich überhaupt nicht frei, denn der Konsument ist durch seinen Geldbeutel beschränkt und die Arbeitskraft ist durch ihren Arbeitsvertrag beschränkt. Und außerdem sind vor allem die ethnisch diskriminierten Minderheiten besonders von der sozialen Ungleichheit betroffen, weswegen ihnen eine andere Sozialpolitik am meisten helfen würde.

„Die offenen Gesellschaften befinden sich in einer Phase der Refundamentalisierung“

Kommen wir zu einem anderen Punkt. Sie beschreiben in ihrem Buch, dass die Kommunikation zwischen den Lagern heute nicht auf Augenhöhe stattfände. Es sei vielmehr eine „urteilende Kommunikation, die nicht auf Veränderung, sondern auf Bestrafung“ ziele.
Sie zitieren den Soziologen Niklas Luhmann mit den Worten: „Praktisch gehen Moralisten davon aus, dass sie es mit Gegnern zu tun haben, die nicht überzeugt werden können.“ Was heißt das für eine Diskussion?

Bernd Stegemann: Das heißt, dass man Ausgrenzung für ein probates Mittel der Auseinandersetzung hält. Es gibt gerade im Theatermilieu eine nicht kleine Zahl von Menschen, die würden am liebsten ein Schild an ihr Theater hängen: „Keine Theatertickets und kein Zutritt für AfD-Wähler!“
Dann sage ich immer: Wenn wir daran glauben, dass wir hier Theater machen und damit irgendwie versuchen, die Welt etwas aufgeklärter, freundlicher und zivilisierter zu machen, dann müssten wir doch im Gegenteil sagen: „Freier Eintritt für AfD-Wähler!“

Was ist die Reaktion, wenn Sie so argumentieren?
Bernd Stegemann: Dann kommt die Empörung: Aha, „Nazis rein“, sagst du also. Ich sage: Ja, der Spruch „Nazis raus“ klingt toll, aber was ist die Wirkung?
Die Wirkung ist doch: Die, die das sagen, fühlen sich in dem Moment unglaublich mutig und schlau. Und die, die damit beschimpft werden, fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt, dass die anderen sie tatsächlich nicht dabeihaben wollen.
Die Spaltung wird dadurch immer größer, weil die einen sich immer selbstsicherer und selbstgerechter fühlen in ihrer moralischen Haltung und die anderen fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt. Darum führt das nirgendwo hin.
Abgesehen davon: Wo soll auch „raus“ sein? Man kann sie doch nicht in die Schweiz schicken, oder nach Holland.

Sie sagen, dass immer mehr Themen tabuisiert werden und auch von „den Guten“ nicht mehr angesprochen werden dürfen. Jeder, der es dennoch tue, gerate schnell in den Verdacht, selbst zu „den Bösen“ zu gehören, Stichwort „AfD-nah“.
So gerieten immer mehr Themen in den Bereich des Unsagbaren, wo Parteien wie die AfD sie nur aufzusammeln bräuchten, um dann große Aufmerksamkeit zu erregen. Im Buch schreiben Sie: „Die Realität ist zu einer unmoralischen Provokation geworden.“ Viele würden nach dem Dogma der mittelalterlichen Kirche verfahren, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ist Ihrer Ansicht nach Dogmatismus ein Merkmal der heutigen Zeit?

Bernd Stegemann: Die offenen Gesellschaften befinden sich auf jeden Fall in einer Phase der Refundamentalisierung.

Was heißt das?
Bernd Stegemann: Was eine aufgeklärte Kultur ausgezeichnet hat, war Säkularisation und Rationalität. Das heißt, Argumente waren keine Glaubensfrage, sondern eine Frage der nachvollziehbaren Überzeugungen, im Sinne von: Ich lasse mich von einem Argument überzeugen oder ich habe ein besseres Gegenargument, was dann den Anderen überzeugt. Daran wird immer weniger geglaubt.
Die jeweiligen Communities schließen sich immer weiter gegenseitig ab: Alle, die etwas anderes sagen als wir selber, sind der Feind, und haben darum grundsätzlich nicht recht. Das ist eine Refundamentalisierung, die stattfindet, und zwar flächendeckend in der westlichen Welt.
Also von den USA, von den Trump-Wählern bis nach Europa. Man kann es überall sehen, auf dem rechten Rand ganz deutlich, aber leider auch auf einem bestimmten Sektor des linken Spektrums der Politik.

Würden Sie sagen, das ist in gewisser Weise ein Rückfall hinter die Prinzipen der Aufklärung?
Bernd Stegemann: Es ist auf jeden Fall ein Vergessen dieser Prinzipien.

Woher kommt das?
Bernd Stegemann: Viele versuchen ja, das gerade zu analysieren. Ich neige denen zu – Nancy Fraser habe ich schon erwähnt -, die sagen, es ist ein falscher Reflex auf die Zersetzung der Gesellschaft durch den Neoliberalismus.
Wenn so grundsätzlich Solidarität zerstört worden ist, und zwar sowohl auf der Überbau-Ebene – also dass die Erzählungen nicht mehr verbindend sind, dass die Weltanschauungen nicht mehr verbindend sind, sondern spaltend und vereinzelnd -, als auch auf der ökonomischen Ebene, wo jeder immer mehr zum Einzelkämpfer trainiert werden soll, um nicht unterzugehen -, also wenn sowohl der Überbau als auch die Basis zerrüttet sind, dann ist das wie eine Art psychologischer Übersprungshandlung, wenn man sagt: Ja, dann fundamentalisiere ich mich, da habe ich wenigstens noch eine Stammesgesellschaft, mit der ich auf Gedeih und Verderb verschworen bin. Sei es die Blut-und-Boden-Ideologie der Rechten oder sei es der Moralismus der Linken.
Darüber wird dann auch intern nicht mehr diskutiert, sondern die Welt wird in Freund und Feind eingeteilt. Freundschaft gibt es nur noch im Inneren meiner tribalen Gemeinschaft, meiner Community. Jeder, der auch nur einen Fußbreit neben meiner Meinung steht, ist dann „der Andere“, und gegen den muss man etwas tun.

Voraufklärerisches Freund-Feind-Denken

Das klingt so, als würden Sie eine Kapitulation vieler Menschen gegenüber den heutigen Widersprüchen beschreiben, gegenüber der Realität, die wir erleben.
Bernd Stegemann: Ich fürchte, in den Strukturen zeichnet sich immer mehr das Freund-Feind-Denken ab, was etwas Voraufklärerisches ist. Mit Feinden kann man bekanntlich keine Kompromisse mehr aushandeln. Und die gesamte Demokratie besteht ja darin, kollektiv bindende Entscheidungen herbeizuführen.
Aber kollektiv bindend heißt eben, dass auch diejenigen, die in einer Abstimmung unterlegen sind, trotzdem mit dem Abstimmungsergebnis ihren Frieden machen und sagen können: Ich bin zwar anderer Meinung, aber ich akzeptiere, dass die Mehrheit das jetzt so entschieden hat.
Trump hat den antidemokratischen Fundamentalismus auf den Punkt gebracht: „Ich akzeptiere das Wahlergebnis nur, wenn ich Präsident werde.“ Das ist der Inbegriff von Freund-Feind-Denken in der Politik. Allerdings, und das ist mir wichtig: Es ist eben nicht nur Trump! Es ticken immer mehr auf der anderen politischen Seite in dieser falschen, fatalen Logik.

Ich möchte gern über den Begriff „Identitäten“ mit ihnen sprechen. Sie sagen: „Es gibt in der öffentlichen Debatte eine schützenswerte Identität, zum Beispiel die Roma, und es gibt eine problematische Gruppe, zum Beispiel die Einwohner von Sachsen.“
Zugleich heißt es: „Alle Identitäten sind nur Konstruktionen, und wer sich eine sächsische Identität herbeikonstruiert, der macht sich eines gefährlichen Nationalismus schuldig.“

Bernd Stegemann: Identitätspolitik arbeitet mit Doppelstandards und das führt zu unlösbaren Problemen. Die eigene Identität ist immer besonders schützenswert und toll und darf darum mit allen Mitteln verteidigt werden. Wenn ein anderer aber etwas Ähnliches tut, dann ist das zu bekämpfen, weil der zum Beispiel ein böser Sachse ist und das nicht darf.
Das ist so offensichtlich widersprüchlich, dass ich nicht verstehen kann, wie sich das so unglaublich ausbreiten konnte. Es widerspricht dem einfachsten Verständnis von Universalismus und Gleichberechtigung, wenn man dem Einen zugesteht, er darf eine Identität haben, dem Anderen aber seine Identität vorwirft.

Also klassische Doppelmoral?
Bernd Stegemann: Ganz klassische Doppelmoral, und zwar schlimmster Ausprägung.

Das Deutschland-Paradox

In dem Zusammenhang beschreiben Sie auch das sogenannte „Deutschland-Paradox“: „Deutschland gibt sich kollektiv den Auftrag, kein Kollektiv mehr zu sein.“ Können Sie das kurz erläutern?
Bernd Stegemann: Das kommt aus der deutschen Geschichte. Die Deutschen haben einen übergroßen Schluck aus der Pulle des Nationalismus genommen, sind mit einem ganz schweren Kater aufgewacht und haben dann versucht, sich nicht mehr als Nation zu begreifen, sondern als eine Art Wirtschaftskraft. Ich rede hier natürlich von Westdeutschland. Das große Wirtschaftswunder hat allen eine neue Identität verliehen. Wir sind die Tollen, die so viele Autos bauen und exportieren. Das trägt bis heute.
Dass die deutsche Automobilindustrie in die Krise kommt, ist ja ein Trauma für die Deutschen. Auf der anderen Seite ist es bis heute hochproblematisch, eine Deutschlandfahne irgendwo hinzuhängen oder zu sagen, man sei Deutscher. Die Deutschen möchten am liebsten alle Europäer sein.
Dahinter verbirgt sich aber, und das meine ich mit dem Paradox, ein sehr starker machtpolitischer Anspruch der Bundesrepublik Deutschland, die EU ökonomisch zu dominieren.
Deutschland hat mit Hartz IV einen großen Niedriglohnsektor geschaffen und nutzt den Euro als unterbewertete Währung. Die Exportüberschüsse gibt es also nicht nur, weil die Deutschen so tolle Autos bauen, sondern vor allem, weil in Deutschland die Löhne so niedrig sind, und der Euro im Vergleich zu einer virtuellen D-Mark extrem unterbewertet ist. Deutschland kann so viel exportieren, weil es über eine Währung verfügt, die nicht der deutschen Wirtschaftskraft entspricht.

Ich würde gern noch einmal auf die Beziehung zur Identität zurück kommen. Sie schreiben im Buch, die Deutschen seien in ihrem Selbstbild in gewisser Weise doppelt Weltmeister, einmal moralisch, weil sie so extrem gründlich ihre Vergangenheit aufarbeiten und dann ökonomisch. Was macht das mit der deutschen Identität?
Bernd Stegemann: Die deutsche Identität interessiert mich eigentlich gar nicht. Mich interessiert die Funktion, die ihre paradoxe Form in der Politik erfüllt. Und diese Funktion ist eben eine ziemlich brutale.
Durch das, was ich eben beschrieben habe, sind wir innerhalb der EU die absolut stärkste Macht. Gleichzeitig nehmen wir für uns immer noch in Anspruch, dass wir die Oberlehrer sind, und allen anderen nicht nur erklären können, wie sie sich ökonomisch zu verhalten haben, siehe Griechenland, sondern auch, wie sie mit Flüchtlingen umzugehen haben, siehe Ungarn, Polen und all die anderen Länder.
Sprich, wir sind moralisch auf einem hohen Ross und ökonomisch auch, und leugnen zugleich, dass wir die Nutznießer einer sehr ungerechten EU-Politik sind, die uns immer hilft und den anderen schadet.

Kommen wir zu einem anderen Aspekt. Sie beschreiben einen „Sprachverlust“ bei den Verlierern des Systems, die sich nicht mehr äußern können und denen „die Sprache geraubt wird, mit der sie von sich und ihrer Not berichten können“. Können Sie das erläutern?
Bernd Stegemann: Das ist der gesamte Komplex der Political Correctness. Das ist ein Phänomen, das aus den Hochschulen kommt, den amerikanischen und inzwischen auch den deutschen, wo man davon ausgeht, dass das Böse in der Welt verschwindet, wenn man kränkende und böse Begriffe aus der Sprache eliminiert.
Das ist eine Art magisches, mittelalterliches Denken und darum wenig hilfreich.
Zugleich wird mit dieser Sprachregulierung Gewalt ausgeübt und Ungleichheit reproduziert.
Es gibt ein wunderbares Beispiel aus den USA, was das schön auf den Punkt bringt. Da sagt ein klassischer Trump-Wähler: Ihr in den liberalen Medien sagt immer, wir sollen nicht mehr „Neger“ sagen, aber „Redneck“ (Schimpfwort für wenig gebildete, konservative Weiße aus den Südstaaten; Anmerkung P.S.) wird ständig benutzt.

Auch wieder Doppelmoral?
Bernd Stegemann: Wieder die Doppelmoral. Bei einer Gruppe wird genau aufgepasst, welche Worte kränkend sein können. Und auf der anderen Seite heißt es, der Hartz-IV-Empfänger sei dumm, ungebildet, isst nur Chips, guckt Fernsehen und räumt den Aldi leer. Das kann man alles ungestraft sagen.
Wenn das aber nicht der Hartz-IV-Empfänger wäre, sondern der syrische Flüchtling, dürfte man es auf gar keinen Fall machen. Das ärgert mich. Ich will weder den Einen noch den Anderen diskriminieren. Beide sollen auch nicht gegeneinander ausgespielt werden.

„Ich kann nicht verstehen, wie man sagen kann, dass es keine Klassen mehr gibt“

Sie sagen, dass Hochqualifizierte, die nicht auf das Bildungs- und Gesundheitssystem ihres Heimatlandes angewiesen sind, oftmals die Fähigkeit verloren hätten, „die Gefühle ihrer Gemeinschaft zu teilen“.
Als Ausweg nennen Sie, dass diese Eliten reflektieren sollten, dass sie einen Klassenstandpunkt vertreten. Dazu müsste doch aber überhaupt erst einmal die Existenz von Klassen eingeräumt werden. Davon scheinen wir weit weg zu sein.

Bernd Stegemann: Ja, der Neoliberalismus hat es wunderbar hinbekommen, dass alle immer nur noch von Individuen sprechen, allenfalls noch von „Milieus“.
Es ist eines der größten strategischen Kampfziele gewesen, den Klassenbegriff zu zerstören.
Man muss sich darüber klar sein, dass der nicht von alleine abhandengekommen ist. Er ist planmäßig zerstört worden durch bestimmte Diskurse, die in die Soziologie und in die Ideologie eingeflossen sind.

In welcher Zeit ist das passiert?
Bernd Stegemann: Das fing in den 70er Jahren an. Es gibt von Didier Eribon einen tollen Text, der leider nur auf Französisch erschienen ist, der darüber geforscht hat, wie große Denkfabriken, aus den USA finanziert, überall Kongresse veranstaltet haben, um den Klassenbegriff sozusagen zu „widerlegen“ und als absurd hinzustellen. Bis heute wird mir in Kritiken immer wieder vorgeworfen, dass ich von so einem seltsam antiquierten Begriff wie „Klasse“ rede. Und man meint, diese Lächerlichkeit zeigen zu können, indem man sagt: Ja, wo sind denn hier die Arbeiter mit den schwarzen Gesichtern und den schmutzigen Fingernägeln, die zu Tausenden vor den Fabriktoren stehen?
Das ist ein absolut kitschiges, diffamierendes Bild von Klasse. Klasse hat nichts mit dem schmutzigen Fingernagel zu tun, sondern ist ein ökonomisches Verhältnis.
Alle, die nicht von der Rendite ihres Kapitals leben können, gehören einfach mal zur Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Da gibt es natürlich große Unterschiede, große Privilegierungen und große Prekarisierungen, trotzdem ist das die Grundlage der Klassenfrage.
Über 40 Millionen Menschen in Deutschland gehen jeden Tag arbeiten. Ich kann nicht verstehen, wie man da sagen kann, dass es keine Klassen mehr gibt.

Sie sprachen gerade Didier Eribon an. Die FAZ veröffentlichte vor einiger Zeit einen Text von ihm, in dem er ebenfalls erwähnte, wie die Zerstörung des Klassenbegriffs planvoll von Denkfabriken aus Banker- und Unternehmerkreisen organisiert wurde. Tatsächlich waren auch westliche Geheimdienste in diesen Kulturkampf um die Begriffe involviert.
Vor wenigen Jahren wurde eine Studie der CIA von 1985 veröffentlicht, in der erfreut Bilanz gezogen wurde, wie französische Intellektuelle zunehmend auf US-Linie argumentieren würden und wie die Linke von innen heraus geschwächt worden sei. Das zeigt, welche machtpolitische Bedeutung solchen philosophischen Debatten beigemessen wird.
Aber bevor wir vielleicht gleich noch auf die Theorie kommen, die dahinter steht, zunächst noch einmal zurück zur Moral. Sie sagen: „Die Moral rückt in die Rolle des großen Anderen, der als Autorität dafür sorgt, dass sich die Guten nicht mit den unbequemen und bösen Teilen der Gesellschaft beschäftigen müssen.“
Der „große Andere“ sei Ausdruck einer „uneingestandenen Sehnsucht des postmodernen Menschen nach totalitärer Führung“. Die modernen Liberalen wünschen sich demnach eigentlich eine lenkende Autorität?

Bernd Stegemann: Mit Slavoj Žižek würde ich sagen, sie wünschen es sich, sie wissen es aber nicht. Natürlich würden sie das immer leugnen. Das ist klar. Auf der einen Ebene tun sie alles dafür, dass es das nicht gibt.
Aber eine vollends postmodernisierte Welt zerfällt in kleine, tribalistische, verfeindete Gemeinschaften, springt also hinter die Aufklärung zurück. Und genau so ist es auch im Diskurs zu beobachten.
Am Ende der ganzen Dekonstruktionsbemühungen steht dann plötzlich der „große Andere“ der Moral, der sagt: Deine Identität muss dekonstruiert werden, meine Identität muss geschützt werden. Das ist aus der Theorie nicht abzuleiten, sondern eine magische Wiederauferstehung der Moral.
Das ist irritierend für mich, denn wenn diese Leute die Mühe, die sie aufgewendet haben, um den Klassenbegriff auseinanderzunehmen, darauf verwenden würden, den Moralbegriff auseinanderzunehmen, dann würden sie womöglich etwas realistischer auf die Welt schauen können.

Postmoderne, Marktlogik und „ideologiefreie“ Welt

Stichwort Postmoderne, ein Begriff, mit dem manche vielleicht nicht viel anfangen können. Sie schreiben dazu: „Genau die Theorie, die dem Kapitalismus in den letzten 30 Jahren seine wichtigsten Impulse gegeben hat, gilt auch dem linken Denken seit fast 50 Jahren als fortschrittlichste Position.“ Sie erwähnen den französischen Philosophen Jean-François Lyotard, der 1979 meinte, es gebe keine große Erzählung mehr und die Realität sei in unendlich viele kleine Probleme zerfallen, die sich nicht mehr miteinander verbinden ließen. Solche Gedanken wurden damals, nach der 68er Zeit, von vielen als Erlösung von ideologischen Verkrampfungen empfunden und prägen die westliche Gesellschaft bis heute.
Sie sagen dazu: „Die ideologiefreie Weltanschauung der Postmoderne wurde zur neuen herrschenden Ideologie unserer Zeit.“ Das klingt paradox.

Bernd Stegemann: Eigentlich gar nicht. Am Anfang ist das postmoderne Denken ein Befreiungsschlag gewesen: Wenn man sagt, nicht mehr die große Erzählung des Sozialismus oder die große Erzählung der Religion bindet alles ein, sondern die Welt besteht aus einem Management von Ausnahmeproblemen.
Die negative Wendung kam dadurch hinein, dass das nicht im luftleeren Raum stattgefunden hat, sondern in kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Das heißt, das Vakuum, das durch die Abschaffung der großen Erzählung entstand, ist gefüllt worden von der kapitalistischen Erzählung, also der Marktlogik.
Die Marktlogik hat dann das Management der Einzelprobleme übernommen und gesagt: Ab jetzt ist jeder Mensch seines Glückes Schmied, jedes Unternehmen kämpft gegen jedes andere.
Die Folge ist, dass seitdem alle im dauernden Wettbewerb miteinander stehen, die Schulen sind im Wettbewerb miteinander wie die Schüler, und so weiter.
Die Postmoderne war ein nachvollziehbarer, aber dann in seiner Wirkung verhängnisvoller Türöffner für die Durchkapitalisierung der Gesellschaft.

Seither, so heißt es in Ihrem Buch, „gilt jede Suche nach einer Bindung oder einem Zusammenhang als Zwang und böse“. Erklärt sich daraus vielleicht auch die pauschale Ablehnung gegenüber dem Begriff „Verschwörungstheorie“ in weiten Teilen der Gesellschaft?
Große Verschwörungen und geheime Absprachen Mächtiger gelten ja manchen als extrem unwahrscheinlich, da die Welt viel zu zersplittert und komplex sei.

Bernd Stegemann: Das Problem beim Verschwörungsbegriff ist, dass davon ausgegangen wird, dass es eine Gruppe von Verschwörern gibt, also ein Subjekt, was das tut. Das ist letztlich ein Holzweg. Es gibt nicht irgendwo ein paar alte Männer, die an irgendwelchen Telefonen hängen und die Welt regieren. Das ist ein falsches Bild. Die Verschwörung liegt auf einer systemischen Ebene.
Luhmann würde sagen, die Systeme selber sind süchtig geworden nach Rendite. Die Systeme selber reproduzieren immer wieder diese Zersplitterung des Menschen, die Entsolidarisierung und so weiter.
Das ist kein menschlicher Akteur, der das macht, sondern es ist in die Logik der Interaktion eingedrungen – wie Menschen miteinander umgehen, wie Menschen über Dinge sprechen, wie Argumente verwendet werden, wann Argumenten geglaubt wird und wann nicht.
Und darum versuche ich mit meinem Buch eine Art von Aufklärung zu betreiben. Ich möchte immer wieder auch im Kleinen zeigen: Schau mal, da steckt doch die Entsolidarisierung in der Formulierung drin!

Der Soziologe Zygmunt Baumann schrieb vor 20 Jahren: „Wenn die Zeit der Revolutionen, deren Objekt das System war, vorbei ist, dann deswegen, weil es heute kein Schaltzentrum mehr gibt, das die Revolutionäre stürmen könnten.“ Würden Sie dem zustimmen?
Bernd Stegemann: Man kann Google natürlich nicht angreifen, indem man eine Bombe auf die Google-Zentrale wirft. Das zerstört Google nicht. Das besagt die Netzwerk-Theorie. Aber es gibt natürlich immer noch Knoten in den Netzwerken. Zum Beispiel verteidigen sich die Kapitalinteressen momentan gegen Kritik, indem sie es hinbekommen haben, sich selber als moralisch höherwertige Instanz hinzustellen.
Das ist für mich so ein Knoten. Wenn man das einmal aufbricht und dadurch eine andere Erzählung möglich wird, dann verändert sich auch wieder etwas, da die Menschen plötzlich eine andere Perspektive auf die Realität bekommen.

Konzentriertes Eigentum und Arbeitszwang

Zum großen Rahmen und Hintergrund der Konflikte, über die wir hier sprechen, gehört die extreme Konzentration von Eigentum. Sie sagen, es gab ein „Ursprungsereignis des Frühkapitalismus“ im 16. Jahrhundert in England, als die Gemeindeäcker von mächtigen Adligen enteignet wurden und die Vertriebenen in der Folge in ein System des „Arbeitszwangs“ gerieten. Was geschah damals?
Bernd Stegemann: Das ist die berühmte Urgeschichte des Kapitalismus, die Karl Polanyi in „The Great Transformation“ beschrieb.
Also: Es gab eine große Nachfrage nach englischer Wolle aus Oberitalien. Da war viel Geld, die haben viel für die englische Wolle bezahlt. Daraufhin haben die englischen Adligen gesagt: Wir müssen mehr Wolle produzieren und darum müssen wir mehr Schafe halten. Mehr Schafe brauchen aber mehr Land, und um das zu bekommen, wurden die Gemeindeäcker eingezäunt und die Zäune mit Waffengewalt verteidigt. Es hieß: Das gehört jetzt den Schafen und nicht mehr den Menschen.

Es gibt aus dieser Zeit das berühmte Pamphlet „Schafe fressen Menschen“. Dadurch wurden viele Menschen ihres natürlichen, gemeinschaftlichen Lebensraumes beraubt. Sie wurden landlos, obwohl sie vorher keine Eigentümer waren, aber eben Teil einer Gemeinschaft, die Eigentum hatte. Sie zogen dann als Bettler, Vagabunden, Räubertruppen oder als Schauspieler durch das Land und sammelten sich zum Großteil in London. Dadurch entstand ein großes Lumpenproletariat aus rechtlosen, landlosen Menschen.
Als Reaktion darauf wurden dann die Arbeitshäuser gegründet, eine Mischung aus Wohltätigkeit und brutaler Disziplinierung. Das war eine große Bewegung in England: Arbeit als eine sinnlose Form der Bestrafung. Und daran dockte dann die Industrialisierung an. Die nutzte, mit der Erfindung der Maschinen, diese Arbeitskraft für renditeträchtige Unternehmen. Das ist die entscheidende Vorgeschichte für die Industrialisierung.
Mit bestehenden Gemeindeäcker-Strukturen hätte die Industrialisierung gar nicht funktioniert, weil niemand freiwillig in die Fabriken gegangen wäre.

Und da kann man vielleicht den Bogen zur Gegenwart schlagen.
Bernd Stegemann: Da fällt einem natürlich sofort der Niedriglohnsektor durch Hartz IV ein: Den Leuten wird eine Sicherheit weggenommen und dadurch werden sie gezwungen, sich in Arbeitsverhältnisse zu begeben, die sie sonst niemals angenommen hätten.

Am Ende Ihres Buches heißt es: „Die Argumente für den Liberalismus sind schal geworden, wenn mit ihnen gleichzeitig Menschenrechte und Kapitalrechte begründet werden.“ Sie sagen, unsere Zeit brauche „eine neue Aufklärung„. Ist das das eigentliche Projekt von „Aufstehen“?
Bernd Stegemann: (lacht) Ja, natürlich! Diese Refundamentalisierung ist verhängnisvoll. Man muss, glaube ich, niemandem erklären, dass eine Gesellschaft, in der die Spaltungen immer tiefer werden, nur noch Gewalt produziert. Und die Gewalt nimmt ja auch zu in den westlichen Gesellschaften.
Auf der anderen Seite gehen viele Erklärungsmuster in die falsche Richtung. Kapitalrechte werden mit moralischen Argumenten verteidigt, mit denen man eigentlich Menschen verteidigen müsste.
Und dann ist man natürlich auf einer schiefen Ebene: Reichtum und Armut klaffen immer weiter auseinander, von Jahr zu Jahr. Auch in Deutschland werden die Reichen jedes Jahr ein paar Prozent reicher, und das untere Drittel sinkt immer tiefer.

In Frankreich gehen seit einigen Wochen die Menschen auf die Straße, Stichwort Gelbwesten.
In Deutschland ist so etwas nicht abzusehen. Wie erklären Sie sich das?

Bernd Stegemann: (seufzt) Das ist sicherlich auch ein Temperamentsunterschied. Die Franzosen haben ja 1968 einen großen Generalstreik auf die Beine gestellt. Mit ihrer französischen Revolution im Hintergrund sind sie, glaube ich, ein ganz anders entflammbares Volk.

Wo würden Sie dann einen Weg für Deutschland sehen?
Bernd Stegemann: Ich glaube, solange diese schwarz-grüne Erzählung – „eigentlich ist der Kapitalismus eine prima Sache, wenn jeder Einzelne sich moralisch verhält“ – so dominant bleibt, ist es unmöglich, etwas zu verändern.
Solange es noch so viele gibt in den privilegierten Berufen, in den besseren Wohngebieten, Schulen und so weiter, die zugleich auch die Meinungsführerschaft haben in den Zeitungen, im Fernsehen und im Internet, solange dieses Milieu die Erzählung schreibt, also die „Robert-Habeck-Erzählung“, solange wird sich im Sozialpolitischen nichts verändern.
* Zu Paul Schreyer siehe hier:

https://paulschreyer.wordpress.com/2017/01/26/in-eigener-sache-paul-schreyer-ken-jebsen-juergen-elsaesser-compact-und-die-querfront/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Der Westen auf die Couch! Unsere Gesellschaft leidet an sadistischer Persönlichkeitsstörung.

Da ich gerade auf einer Fortbildungsveranstaltung für Psychoanalytiker bin…

Nicht nur ALG2- und Sozialhilfe-Empfänger fühlen sich sadistisch behandelt.
In größeren Städten gibt es spezielle Kontrolleure vom Amt, die Hausbesuche machen.
Gleichzeitig wird die Zahle der Steuerprüfer reduziert, Stellen nicht wieder besetzt, gut funktionierende Abteilungen aufgelöst, die dem Land Millionen einbrachten…

Und hier geht es um Kolonialismus, zu dem ich schon Anfang 2016 eine Buchbesprechung zu Gerd Schumann  gebloggt habe: https://josopon.wordpress.com/2016/01/03/renaissance-der-volkerausbeutung-neo-kolonialismus/

Unsere Gesellschaft leidet an sadistischer Persönlichkeitsstörung.

von Andre Vltchek

Die westliche Kultur ist zweifellos besessen von Regeln, Schuld, Unterwürfigkeit und Bestrafung.
Mittlerweile ist offensichtlich, dass der Westen die unfreieste Gesellschaft der Welt ist.
In Nordamerika und Europa wird fast jeder ununterbrochen überwacht: Menschen werden ausspioniert, beobachtet, ihre persönlichen Informationen werden unablässig angezapft und Überwachungskameras willkürlich eingesetzt.
Das Leben wird synchronisiert und verwaltet Überraschungen gibt es kaum noch. Das Imperium ist besessen von perversen Strafmaßnahmen. Andre Vltchek legt den Westen auf die Couch und diagnostiziert eine sadistische Persönlichkeitsstörung.

Der Westen hat eine sadistische Persönlichkeitsstörung

von Andre Vltchek

Man kann schlafen, mit wem man will (vorausgesetzt, die geltende Etikette wird befolgt). Homosexualität und Bisexualität sind erlaubt.
Das ist aber auch alles; weiter erstreckt sich die Freiheit normalerweise auch nicht.

Von Widerstand wird nicht nur dringend abgeraten er wird auch brutal bekämpft. Für das kleinste Vergehen oder den kleinsten Fehler landen Menschen hinter Gittern. In der Folge haben die USA pro Kopf mehr Gefängnisinsassen als jedes andere Land der Welt außer den Seychellen.

Eine weitere Folge ist, dass fast alle Gespräche, vor allem aber der öffentliche Diskurs, von der so genannten political correctness und ihren Varianten bestimmt werden.

Aber zurück zur Kultur der Angst und Bestrafung.

Sehen wir uns die Schlagzeilen westlicher Zeitungen an, zum Beispiel der New York Times vom 12. April 2018: Bestrafung Syriens könnte diesmal härter ausfallen.

Wir sind schon so an diese vom Imperium benutzte perverse Sprache gewöhnt, dass wir gar nicht mehr merken, wie verdreht, bizarr und pathologisch sie ist.

Das erinnert an einen sadomasochistischen Trickfilm oder das Stereotyp eines grausamen Englischlehrers, der ein Lineal über die ausgestreckten Hände eines Kindes hält und schreit: Soll ich?

Carl Gustav Jung beschrieb die westliche Kultur verschiedentlich als eine Pathologie. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg äußerte er sich dementsprechend, sagte aber, dass der Westen in allen Teilen der Welt und über Jahrhunderte hinweg schreckliche Verbrechen begangen habe.
Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Grund dafür, dass die westlichen Mainstream-Psychiater und -Psychologen den egozentrischen und im Großen und Ganzen unpolitischen Sigmund Freud glorifizierten, während sie C. G. Jung *) ignorierten, wenn nicht gar diffamierten.

Die extreme Form des Sadismus ist ein medizinischer Zustand, eine Krankheit. Und der Westen hat über Jahrhunderte hinweg ganz deutlich verstörende und gefährliche Verhaltensmuster gezeigt.

Sehen wir uns die Definition des Sadismus oder laut Fachsprache, der Sadistischen Persönlichkeitsstörung (SPS) an, mit der sowohl die USA als auch Europa ganz leicht diagnostiziert werden könnten.**)

Es folgt der Ausschnitt einer gebräuchlichen Definition der SPS, die auf medigoo.com und vielen anderen Online-Portalen aufgeführt wird:

Die sadistische Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch ein Muster unbegründeter Grausamkeit, Aggression und erniedrigender Verhaltensweisen aus, die auf eine tiefsitzende Verachtung für andere Menschen sowie einen vollkommenen Mangel an Einfühlungsvermögen schließen lassen. Manche Sadisten verfahren nach dem Nützlichkeitsprinzip: sie setzen ihre explosive Gewalt bewusst ein, um die Position unangefochtener Dominanz in einer Beziehung herzustellen.

Das kommt uns doch bekannt vor: das Verhalten des Imperiums gegenüber Indochina, China, Indonesien, Afrika, Lateinamerika, Russland, dem Mittleren Osten und anderen Teilen der Welt. Und die Symptome?

Sadistische Menschen verfügen über eine schlecht ausgebildete Verhaltenskontrolle, die sich in Jähzorn, einer geringen Frustrationstoleranz und einem kontrollierenden Charakter äußert. In ihren zwischenmenschlichen Interaktionen werden sie als hart, feindselig, manipulativ, empathielos, kaltherzig und grob all denen gegenüber wahrgenommen, die sie als ihnen unterlegen ansehen. Ihr kognitives Wesen zeichnet sich durch Starre und soziale Intoleranz aus. Waffen, Kriege, schändliche Verbrechen oder grausame Straftäter üben eine große Faszination auf sie aus. Man nimmt allgemein an, dass Sadisten nach sozialen Positionen streben, in denen sie ihr Bedürfnis, andere zu kontrollieren und hart zu bestrafen oder zu erniedrigen, befriedigen können

Ersetzen wir einfach sadistische Menschen mit sadistische Staaten oder sadistische Kultur.

Ist Heilung möglich? Kann ein Sadist wirksam und erfolgreich behandelt werden?

Eine sadistische Persönlichkeitsstörung zu behandeln, erfordert viel Zeit

Viele Homepages und Veröffentlichungen haben eine salvatorische Klausel:

Die oben angeführten Informationen dienen nur zu Verarbeitungszwecken. Die angebotenen Informationen sollten nicht während eines medizinischen Notfalls angewendet werden

Und die Menschheit befindet sich ganz klar an einem Scheideweg: Auge in Auge mit Vernichtung und nicht nur einem medizinischen Notfall.

Die Welt könnte tatsächlich bald um ihr Überleben kämpfen müssen wegen der SPS des Westens und seines Imperiums.

Was also erwartet uns nun beispielsweise in Syrien?

Was wird der sadistische Psychopath einem Land antun, das sich weigerte, niederzuknien, sich zu prostituieren, um Gnade zu winseln und seine Bevlkerung zu opfern?

Wie furchtbar wird die Strafe sein?

Wir haben gerade erlebt, wie 103 Raketen Richtung Damaskus und Homs abgefeuert wurden. Das diente aber nur zur Unterhaltung der Massen.
Das Imperium hat dem Land, das sich dauerhaft weigert, die westlichen Imperialisten und deren neokonservative Dogmen zu glorifizieren, bereits weitaus Schlimmeres und Grausameres angetan.
So haben zum Beispiel die Fachleute des Imperiums die grausamsten Terroristengruppen produziert, trainiert und bewaffnet und dann in Syriens Körper injiziert.

Die Folter wird natürlich weitergehen. Es scheint ganz offensichtlich, dass das Skript sich diesmal an einem späteren Werk des Marquis de Sade orientieren wird, an seinem Roman Juliette und nicht an Justine. Wissen Sie, in Justine wurden die Frauen nur gefesselt, geschlagen und vergewaltigt. In Juliette wurden sie bei lebendigem Leib zerstückelt; sie wurden verbrannt und verstümmelt.
Während man Justine noch lesen kann, könnte es kein normales menschliches Wesen durch die 700 Seiten blutrünstigen Grauens schaffen, das in Juliette beschrieben wird.***)

Unser Planet jedoch hat sich irgendwie an den Horror gewöhnt, den das kranke westliche Imperium ausgebreitet hat. Die Menschen sehen sich Ereignisse an Orten wie Afghanistan, Syrien, Irak oder Libyen an als Nachrichten, und nicht als die Krankenakte eines psychiatrisch schwer erkrankten Patienten.

Der schrecklichste Roman in der Geschichte des Planeten wurde jahrhundertelang zuerst von der abstoßenden Brutalität und dem Sadismus Europas verfasst und dann von dessen jüngerem Ko-Autor, den USA.

Und die Menschen in vielen Teilen unseres Planeten haben sich schon so an das Gemetzel um sie herum gewöhnt, dass ihnen davon nicht mehr übel wird; sie sind nicht mehr entsetzt; sie rebellieren nicht mehr gegen ihr Schicksal.

Sie sehen nur zu, wie ein Land nach dem anderen zusammenbricht, öffentlich geschändet und verwüstet wird.

Die Geisteskrankheit des Täters ist unbestreitbar. Und sie ist ansteckend.

Im Gegenzug hat die extreme Gewalt, die die Welt verschlingt, unter den Opfern verschiedene Neurosen und Geisteskrankheiten verursacht: Masochismus und extreme Formen der Unterwerfung, um nur zwei zu nennen.

Der Großteil der Welt befindet sich in einem Zustand neurotischer Lethargie, weil er ununterbrochener und extremer Gewalt ausgesetzt ist, verschrieben und verabreicht vom Westen.

Ähnlich einer Frau, die in einer repressiven Gesellschaft in einer Ehe mit dem brutalen religiös-fanatischen Ehemann feststeckt, hat die Welt irgendwann aufgehört, sich dem westlichen Diktat und der westlichen Tyrannei zu widersetzen, und sich ihrem Schicksal ergeben.

Viele Teile des Planeten haben ein Stockholm-Syndrom  entwickelt: Nachdem sie entführt, eingesperrt, gefoltert, vergewaltigt und erniedrigt wurden, haben sich die Opfer in ihren Tyrannen verliebt.

Sie haben seine Weltsicht übernommen, während sie ihm aus vollem Herzen und gehorsam gedient haben.

Dieses Arrangement ist weder gesund noch natürlich!

In Afrika, Lateinamerika, dem Mittleren Osten und Asien passiert Seltsames! Bürger dieser Nationen, die jahrhundertelang von europäischen und nordamerikanischen Despoten ausgeraubt und verwüstet wurden, fliegen nun glücklich und stolz nach Paris, Berlin, London, Madrid, New York und in andere westliche Städte, um zu lernen und zu studieren, wie sie ihre eigenen Länder regieren sollen.
Niemand empfindet üblicherweise Scham und auch kein Stigma bei einer solch offensichtlichen intellektuellen Prostitution. Viele Opfer träumen noch immer davon, zu werden wie die, die sie erst zu Opfern gemacht haben oder gar noch schlimmer zu werden als diese.

Viele frühere und heutige Kolonien des Westens lauschen gegen Gebühr und ohne eine Miene zu verziehen, den Predigten der Europäer über verantwortungsbewusste Regierungsführung, Bekämpfung von Korruption und Demokratie.

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Die Medienkanäle nicht-westlicher Länder übernehmen Nachrichtenberichte direkt von westlichen Presseagenturen. Sogar lokale politische Ereignisse lassen sie von diesen weisen und überlegenen Europäern und Nordamerikanern erklären statt von den örtlichen Denkern.
Den Einheimischen traut man kaum; nur weiße Gesichter mit polierten englischen, französischen oder deutschen Akzenten nimmt man ernst.

Pervers? Ist das pervers? Natürlich ist es das! Wenn sie zur Rede gestellt werden, geben viele unterwürfige Intellektuelle von Satelliten-Staaten zu, wie krank die kontinuierliche globale Diktatur ist.
Dann stehen sie vom Tisch auf und machen mit dem weiter, was sie schon jahre- oder jahrzehntelang getan haben kurz: mit dem ältesten Gewerbe.

Eine solche Situation ist wahrhaft irrsinnig. Oder sie ist zumindest extrem paradox, bizarr, absurd.
Sogar eine Nervenklinik scheint vernnftiger zu sein als unser geliebter Planet Erde.

Allerdings sind klinische Psychiater und Psychologen selten daran beteiligt, die Neurosen und psychischen Erkrankungen des brutalisierten und kolonisierten Planeten zu analysieren. Sie analysieren so gut wie nie die Übeltäter, ganz zu schweigen davon, dass sie sie als das entlarven, was sie wirklich sind.

Die meisten Psychologen und Psychiater sind damit beschäftigt, nach Gold zu graben: Sie bestärken Menschen in ihrem Egoismus oder dienen gar großen Konzernen, indem sie ihnen helfen, ihre Angestellten besser zu verstehen um sie dann noch effektiver kontrollieren und ausbeuten zu können.
Andere Ärzte gehen so weit, dem Imperium auf direkte Art zu dienen, indem sie helfen, die Milliarden Menschen, die in den Kolonien und neuen Kolonien des Westens leben, zu befrieden.

2015 wurde ich als Sprecher zum 14. Internationalen Symposium des Beitrags der Psychologie für den Frieden eingeladen, das in Johannesburg und Pretoria in Südafrika stattfand. Gastgeber war die legendäre UNISA, die University of South Africa.

Während dieses faszinierenden Aufeinandertreffens führender internationaler Psychologen sprach ich über die Wirkung von Kriegen und Imperialismus auf die menschliche Psyche, hörte aber auch anderen Sprechern aufmerksam zu. Und lernte viel Schockierendes.
So sprach beispielsweise Professor Michael Wessells von der Columbia University, New York, in seiner schaurigen Präsentation Menschenrechte und die Schuld der US-amerikanischen Psychologen: Die Untergrabung des Berufsethos in einer Ära der „verbesserten Verhörmethoden“ über US-amerikanische Psychologen und ihre Teilnahme an der Folter politischer Gefangener.****)

Anstatt die SPS-Diagnosekriterien oder anderer gewalttätiger und gefährlicher Erkrankungen auf das Imperium anzuwenden, helfen viele Psychologen sogar dabei, diejenigen zu foltern, die sich dem inakzeptablen Zustand dieser Welt widersetzen.

Diejenigen, die sich weigern, vom Westen zu lernen, sich in ihn zu verlieben oder ihm zumindest treu zu dienen, werden brutal bestraft. Peitschen treffen auf nacktes Fleisch.
Ganze Nationen werden zerstört, Völkermorde auf allen Kontinenten verübt. Ost-Timor, Afghanistan, Irak: Es hört nie auf.

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Ich folge den Diskursen der US-amerikanischen und besonders der britischen Delegationen, die über Syrien und sogar Russland diskutieren.
Das erinnert mich an den Pandschab in Indien, an diese alten, historischen Fotos von indischen Männern, die von den Briten mit herabgelassenen Hosen aufgehängt und öffentlich ausgepeitscht wurden.
Solche Sachen haben sie über Jahrhunderte getan. Sie mögen das. Es erregt sie ganz offensichtlich.
Das ist ihre Demokratie, ihr Respekt vor den Menschenrechten und vor anderen Kulturen! Wenn sich jemand weigert, seine oder ihre Hosen herunterzulassen, fangen sie die Person ein, vergewaltigen sie und peitschen sie halt danach aus.

Ich erinnere mich auch daran, was mein Freund aus Uganda mir erzählte:

Als die Briten nach Afrika kamen, dahin, was heute Uganda ist, war es immer so, dass ihre Armee unsere Dörfer betrat und zuallererst den größten und stärksten Mann aussuchte. Dann fesselten sie ihn bäuchlings an einen Baum, woraufhin ihn der britische Kommandeur anal vergewaltigte, vor aller Augen. So zeigten sie den Einheimischen, wer nun das Sagen hatte.

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Welch symbolische Kraft!

Wie gesund doch die Kultur ist, die unsere Welt seit Jahrhunderten im Griff hat!

Einer der erschreckendsten Aspekte einer Geisteskrankheit ist, dass der Patient oder die Patientin üblicherweise davon nichts merkt.*****)

Es ist an der Zeit, dass der Rest der Welt den Westen als Geisteskranken behandelt und nicht als Führung der freien und demokratischen Welt!

Wir müssen nachdenken, uns versammeln, eine Strategie dafür entwickeln, wie wir mit dieser unglücklichen nein, schrecklichen! Situation umgehen!

Wenn wir uns weigern, zu verstehen und zu handeln, könnten wir alle als selbstgefällige Diener der perversen Launen eines frustrierten, extrem aggressiven und wahrlich gefährlichen SPS-Patienten enden.

Andre Vltchek ist Philosoph, Romancier, Filmemacher und investigativer Journalist.
Er lebt in Ostasien sowie im Mittleren Osten und verfasste Berichte über Kriege und Konflikte in Dutzenden Ländern.
Drei seiner jüngsten Buchveröffentlichungen sind The Great October Socialist Revolution, ein Tribut an die Oktoberrevolution, Aurora, ein revolutionärer Roman, und Exposing Lies Of The Empire.
Hinzu kommen seine Dokumentation über Ruanda und die Demokratische Republik Kongo mit dem Titel Rwanda Gambit sowie sein Film On Western Terrorism mit Noam Chomsky. Weitere Informationen unter http://andrevltchek.weebly.com/.

Dazu einige wichtige Anmerkungen:

*) C.G.Jung war zwar sehr phantasievoll, aber unterlag leider der Faszination des Nationalsozialismus und ließ sich von ihm völlig vereinnahmen. Er kämpfte gegen die Sexualforschung und missbrauchte statt dessen seine Patientinnen. Da lobe ich mir den zwanghaft-korrekten, die Abstinenz predigenden Sigmund Freud.

***) Die Sadistische Persönlichkeitsstörung ist in ihrer Definition NICHT allgemein anerkannt, so auch nicht in der Internationalen Klassifikation ICD-10. Jähzorn gehrt seltener dazu als Rachsucht. Sie überschneidet sich in der Definition mit der emotional-instabilen und der soziopathischen Persönlichkeitsstörung.

***) Das Buch „Juliette“ von de Sade ist durchaus lesenswert für einen seelisch stabilen Menschen, und beschreibt tatsächlich Menschen, die Freude am Leiden anderer haben, also echte Sadisten. Wer sich heute im Internet auf entsprechenden kriminellen Pornoseiten umschaut – wovon ich selbstverständlich abrate – findet da durchaus Entsprechendes. Und die Beschreibungen de Sades fußen auf Praktiken, die zu seiner Zeit und seitdem weiterhin in herrschenden Kreisen durchaus üblich waren. 

****) Zur Psychologie der Folter und der Verwicklungen von Ärzten und Psychologen darin gibt es ein gleichnamiges Buch von Amnesty International. Ausführlich hat Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ die Forschungen der US-Geheimdienste zur Psycho-Folter erforscht, die unter dem Namen „Kubark-Projekt“ ca. 1950-1970 in den USA und deren Vasallenstaaten stattfanden. Siehe auch hier: https://josopon.wordpress.com/2015/08/10/der-terrorismus-der-westlichen-welt-teil-2-staatsterrorismus-tyrannei-und-folter/

*****) Die meisten Geisteskranken leiden sehr wohl unter ihrer Fremdheit, haben schwere Ängste und Verzweiflung, viele bringen sich um.
Im Gegensatz dazu ist es gerade das Kennzeichen der soziopathischen oder sadistischen Persönlichkeitsstörung, dass diese Kranken andere leiden lassen, um nicht selbst zu leiden. Für diese Menschen gibt es in Deutschland den sog. Maßregelvollzug.
Regierungsverbrecher
kommen da nur hinein, wenn sie einen Krieg oder eine Herrschaft verloren haben. Eine Wahl zu verlieren langt in Deutschland und andern europäischen Ländern dafür nicht.

Jochen

Zeit der Verleumder – Antisemitismusvorwurf als Waffe gegen Linke

Wichtige Einschätzung im Neuen Deutschland. Sogar ich musste mich diesem Vorwurf aussetzen, weil ich mir erlaubt habe, den israelischen Staat als Apardheitsstaat zu kritisieren, der die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz eben NICHT in seiner Verfassung garantiert;
Israelflaggeund weil ich Leute zu Wort kommen lasse (Albrecht Müller), die andere Leute zu Wort kommen lassen (Ken Jebsen), aus deren teils wirren Formulierungen sich Äußerungen herausreißen lassen, die man böswilliger Weise als „judenfeindlich“ interpretieren kann.
PalaestinaflaggeAlso hier: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1078911.antisemitismus-und-linke-zeit-der-verleumder.html
Auszüge:

Der Antisemitismusvorwurf wird auch als Waffe gegen Linke genutzt, meint Uwe Kalbe

Ein zunehmendes Unbehagen bemächtigt sich vieler Linker. Sie sehen sich in eine politische Ecke gestellt, der sie sich nicht zugehörig fühlen, eines Vergehens beschuldigt, das sie nicht begangen haben: des Antisemitismus. Oder doch wenigstens seiner sträflichen Unterschätzung.
In besonderer Weise werden Menschen mit dem Vorwurf konfrontiert, deren Antrieb ausgerechnet die Menschenrechte sind, politisch Aktive, die sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit verschrieben haben, nämlich dem Kampf um die Rechte der Palästinenser. Und geradezu perfide, auch Juden selbst werden dessen bezichtigt, sobald sie grundsätzliche Kritik an Israel äußern.
Die Anschuldigung macht nicht einmal vor Überlebenden des Holocaust halt.

Die Tatsache, dass Antisemitismus real ist und dass er zunimmt, das macht die Debatten unübersichtlich, vor allem aber erschwert der undifferenzierte Vorwurf die Identifizierung der wirklichen Gefahren. Und die bestehen klar und eindeutig im Vormarsch der Rechten, der im Antisemitismus seinen Ausdruck ebenso findet wie im Versuch einer Delegitimierung von Teilen der Linken durch den inflationären Vorwurf des Antisemitismus.
Diesem Problem widmet sich am Wochenende eine Konferenz in Berlin. Vor allem linke jüdische Intellektuelle werden auftreten, die Teil eines »Projekts Kritische Aufklärung« sind oder seiner Einladung folgen. Auftritte unter anderem des Wissenschaftlers Moshe Zuckermann, des Schauspielers Rolf Becker, der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano, von Publizisten, Aktivisten und Künstlern wie Moshé Machover und Jackie Walker werden erwartet.

Linke würden mittlerweile als Nazis und jüdische Antifaschisten als Verräter diffamiert, heißt es in der Ankündigung der Konferenz. Ihr Titel »Zur Zeit der Verleumder« nimmt Bezug auf den österreichischen Dichter Erich Fried, der schon zu Beginn der 80er Jahre die Stigmatisierung jüdischer Linker als »rote Antisemiten« beklagte und die Verbrechen an den Palästinensern anprangerte.
»Was damals mit wütenden Polemiken begann, ist heute zu einem Komplex aus Rufmordkampagnen und Sanktionen ausgewachsen, die aus den etablierten Parteien und AfD, von neokonservativen ‘Antideutschen’, ‚Antinationalen’ und christlichen Fundamentalisten initiiert und von den hegemonialen Medien propagiert werden«, schreiben die Veranstalter in der Ankündigung ihrer Konferenz.

Mit dem inflationären Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs werden bewusst Grenzen verwischt. Dies ist durchaus im Sinne der Rechten. Deshalb ist es kein Widerspruch, dass die AfD vor drei Wochen im Bundestag einer Resolution gegen Antisemitismus zustimmte.
Zwar argumentieren die Gralshüter einer angeblichen Political Correctness, natürlich sei es legitim, die Regierungspolitik Israels zu kritisieren, nicht aber den Staat Israel als solches.
In seiner Resolution verurteilt der Bundestag als Antisemitismus jedoch auch »vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel«, die aber »tatsächlich Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen« sei. Das öffnet der Willkür Tür und Tor. Die Linksfraktion enthielt sich bei der Abstimmung.

Antisemitismus sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, heißt es in der Resolution, auch wenn er besonders häufig rechts erscheine. Seit Jahren wird die Öffentlichkeit Zeuge allerdings von Vorwürfen auch gegen Linke.
Menschen sehen sich regelmäßig dem Antisemitismusvorwurf ausgesetzt, wenn sie sich aktiv in die politische Debatte einmischen und dabei Israel kritisieren.
Oder wenn sie in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen zu Ergebnissen kommen, die nicht als Rechtfertigung Israels oder der Politik des Westens taugen.
Das zeigt sich in Kampagnen gegen Lehrer, in erzwungenen Rücktritten einer Hochschuldekanin in Niedersachsen, der Entlassung von Lehrkräften, der Aberkennung von Lehraufträgen, in verhinderten Preisverleihungen und Ausstellungen. Veranstaltungen, die sich dem Thema Palästina widmen, werden zuerst auf ihren antisemitischen Inhalt abgeklopft, Teilnehmerlisten nach den Namen verdächtiger Personen durchsucht.
Organisatoren erhalten Absagen bereits gemieteter Räumlichkeiten.

Für Indigene, Vertriebene, Hungernde, in Flüchtlingslagern in jedem anderen Teil der Welt vegetierende Menschen sind Fürsprache und Engagement en vogue, auch radikale Forderungen sind Ausweis einer lauteren Gesinnung.
Für die Rechte der Palästinenser einzutreten, wird jedoch automatisch mit dem Verdacht belegt, nur einen Schritt vor der Relativierung des Holocaust zu stehen, es eigentlich auf das Existenzrecht der Juden abgesehen zu haben. Menschenrechtsvergehen Israels werden nur unter gleichzeitigem Hinweis auf die demokratiefeindlichen politischen Organisationen der Palästinenser zugestanden und damit relativiert.
Doch weil die Kräfte im Nahen Osten nicht ausgeglichen sind, Machtmittel und Rechtsverletzungen sich nicht die Waage halten, sondern das Volk der Palästinenser als Ganzes seit Jahrzehnten himmelschreiendem Unrecht ausgesetzt ist, ist die Forderung nach Äquidistanz eine klare politische Parteinahme – für Israel.

Dass kritische Juden mit dem Vorwurf des Antisemitismus schwerlich zu treffen sind, bringt die Ankläger in die Bredouille. Sie machen gleichwohl nicht halt davor und diffamieren linke jüdische Intellektuelle als »selbsthassende« oder »Alibi-Juden«. Dass dies einen tatsächlich antisemitischen Unterton hat, stört sie nicht.
Immerhin erleichtert es etwas die Orientierung: Dass offenbar nur jüdische Linke »Nestbeschmutzer« sein können, nicht Rechte, zeigt, dass auch der Angriff hier von rechts kommt, selbst wenn er von Leuten geäußert wird, die sich als Linke bezeichnen.
Die menschenrechtsfeindliche Politik Israels zu kritisieren, die eine Politik der Expansion, des Rassismus, der Menschenrechtsverachtung wie übrigens auch der Flüchtlingsabwehr ist, so wie in anderen Teilen der westlichen Welt – das ist die eigentliche »Verfehlung«, die den Kritisierten angelastet wird. Diese Kritik ist als »antisemitisch« so leicht zu diskreditieren wie in keinem Fall sonst.

 

Jochen

Den Kommunismus neu erfinden – Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der weiß, was die wahren Gründe für Flucht und Terror sind und was zu tun ist,

hat ein neues Buch geschrieben

und lässt sich vom neuen Deutschland interviewen:

http://www.neues-deutschland.de/artikel/997777.den-kommunismus-neu-erfinden.html
Auszüge:
Herr Žižek, in Ihrem gerade erschienenen Buch »Der neue Klassenkampf« analysieren Sie die »wahren Gründe für Flucht und Terror« und geben ein paar praktische Handreichungen, wie damit aktuell umzugehen ist. Das liest sich wie von zwei ganz unterschiedlichen Autoren, hängt nicht beides zusammen?
Wir müssen unterscheiden zwischen dem Chaos, das Flüchtlingsströme in dem um seine Identität ringenden Europa auslösen und dem Chaos, das der globale Kapitalismus in der Welt anrichtet.
Aktuell: Es geht nicht, dass Hunderttausende von Flüchtlingen unorganisiert die Durchgangs- und Aufnahmestaaten Europa überfluten. Das wird weder den Fliehenden noch den Einheimischen gerecht, richtet sich gegen die Menschen. Natürlich müssen wir helfen.

Das steht für Sie à priori fest?
Ja sicher! Aber wir müssen das organisiert tun. Sonst entsteht nicht die notwendige Akzeptanz bei der aufnehmenden Bevölkerung in Europa.
Die größte Gefahr für unseren Kontinent besteht doch nicht in radikalisierten Muslimen, die unter den Flüchtlingen sein mögen, sondern in den radikalisierten Einheimischen, die die Flüchtlinge abwehren wollen – siehe Frankreich oder Deutschland.
Wenn das – verständlicher Weise – die zivilen Stellen nicht bewältigen können, sollte Europa im Rahmen der Organisation der Flüchtlingsströme auch das Militär einsetzen. Nicht als Macht gegen einen Feind, sondern so, wie es auch bei Naturkatastrophen hilft, wenn die zivilen Stellen des Chaos nicht Herr werden.

Und vor den Grenzen Europas?

Außerdem sollten in den Anrainerstaaten, vor allem in der Türkei, aber auch in Libyen Auffangzentren eingerichtet werden, in denen in geordneten Verfahren entschieden werden kann, welchen Weg die Menschen nehmen können, die nach Europa kommen wollen.

Und was tun wir dann mit den Flüchtlingen, wenn sie »geordnet« bei uns ankommen?

Vor allem müssen wir uns von dem linksliberalen »Verstehenwollen« für alles, was da an Neuem und Fremdem kommt, verabschieden. Die political correctness, verbunden mit heuchlerischen Selbstbezichtigungen hilft nicht weiter. Wir sollten so etwas wie ein konstruktives Desinteresse füreinander entwickeln, das Andere der zu uns kommenden Lebensgewohnheiten respektieren, Assimilation und Integration nicht als Ziel ausgeben. In dieser Nachbarschaft mit den neuen Bewohnern sollte Europa selbstbewusst seine eigenen Errungenschaften vertreten: individuelle Freiheitsrechte, soziale Sicherung der elementaren Lebensumstände, Gewaltmonopol des Staates und vor allem die Rechte der Frauen. Daran müssen sich Flüchtlinge halten, weil wir das, was hier oft unter Schmerzen erkämpft worden ist, nicht preisgeben sollten.

Was bedeutet das konkret?
Wenn eine Muslima die Burka tragen will, sollten wir das akzeptieren, es ist ihre Entscheidung. Wenn sie es aber gegen den Willen ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft nicht will, wenn sie sich für eine andere Lebensführung entscheidet, sollten wir sie mit allen unseren Mitteln schützen und ihr das ermöglichen! Da darf es gar keinen Kompromiss geben!

Auf lange Sicht ist das nachbarliche Desinteresse keine Lösung des Problems. Wo sehen Sie die Ursachen für die Flüchtlingsströme?

Das Desinteresse hilft beim nachbarschaftlichen Zusammenleben, wir ertragen dann einander besser. Aber es gibt darüber hinaus lebenswichtige gemeinsame Interessen, zu deren Durchsetzung sich die Armen in den reichen Ländern und die armen Völker zusammenschließen sollten.

Erst Desinteresse und dann der Kampf für gemeinsame Interessen? Sie decken in Ihrem Buch viele Paradoxien in den Verhältnissen und dem Verhalten der Akteure auf…
… vielleicht zu viele …

… sorgen diese Paradoxien nicht für die unerwünschte Instabilität?
Das Paradox hat etwas mit der Dialektik zu tun, wie sie von Hegel entwickelt wurde. Die sorgt nicht für Instabilität, sondern wohnt allen gesellschaftlichen Verhältnissen inne. Wie Sie wissen, arbeite ich hauptsächlich über Hegel und seine von manchen für überholt gehaltene Philosophie. Das Paradox und die Dialektik sind Motoren für neue Lösungen. Deshalb zeige ich sie auf. Sie müssen diskutiert und überwunden werden. Dann werden neue Paradoxien entstehen und so weiter.
Es geht um einen Prozess in der Öffentlichkeit, die im Augenblick ohne Worte für die drängenden Probleme zu sein scheint.

Sie haben einmal gesagt, dass die Zweiparteiensysteme in Europa den notwendigen dialektischen Prozess nicht vorantreiben. Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie Deutschland: Die politischen Kernaussagen von CDU/CSU und SPD kann man kaum unterscheiden. Alternativen sind es jedenfalls nicht. Die neue Polarisierung verläuft in anderen Bahnen: Die »Parteien der Mitte« bilden einen Block – die extreme Rechte mit einem gehörigen Anteil sozialer Forderungen den Gegenblock.
So war es in Frankreich, als im zweiten Gang zu den Regionalwahlen die Sozialisten ihre aussichtslosen Kandidaten zu Gunsten von Sarkozy zurückgezogen haben. Das war taktisch richtig und zeigt zugleich die neue Polarisierung: Die Parteien der republikanischen Werte gegen die Antirepublikaner. Es wird eine Aufgabe sein, den armen Leuten, die dem Front National ihre Stimme gegeben haben, klarzumachen, dass sie die gleichen Interessen haben wie die armen Völker. Dazu müssen beide erkennen, wer ihr Gegner in diesem Klassenkampf ist.

Wie soll das funktionieren?

Der einzige Weg, um den Teufelskreis des globalen Kapitalismus wirksam zu durchbrechen, besteht in der Entmachtung einer sich selbst regulierenden Wirtschaft.

Die Sackgassen des globalen Kapitalismus treten immer offenkundiger zutage. Die Flüchtlinge sind jetzt der Preis der globalen Wirtschaft. Also ist die dringendste Aufgabe ein radikaler ökonomischer Wandel, der die Verhältnisse abschaffen sollte, die zu Flüchtlingsströmen führen.
In meinem Buch habe ich das wie folgt formuliert: »Die Hauptursache für Flucht liegt im globalen Kapitalismus und seinen geopolitischen Spielen selbst. Wenn wir ihn nicht radikal ändern, werden sich zu den afrikanischen Flüchtlingen bald welche aus Griechenland und anderen europäischen Ländern gesellen
In meiner Jugend nannte man solch einen organisierten Versuch, das Gemeingut zu regulieren, Kommunismus. Vielleicht sollten wir ihn neu erfinden.

Muss man nicht nach Antagonismen suchen, die diese neue »kommunistische Idee« zu einer praktischen Dringlichkeit machen?
Vier liegen auf der Hand. Es sind dies die ökologische Katastrophe, die Unangemessenheit des Privateigentums für das sogenannte geistige Eigentum, die neueste technologisch-wissenschaftliche Entwicklung, vor allem im Bereich der Biotechnologie und die neuen Formen der Apartheid durch neue Mauern und Slums. Aber das sollten Ihre Leser in meiner Broschüre selbst nachlesen!

Slavoj Žižek und der neue Klassenkampf

Slavoj Žižek ist der berühmteste Gegenwartsphilosoph des Balkans. 1949 in Jugoslawien geboren, studierte er Philosophie an der Universität Ljubljana sowie anschließend in Paris. Der schon zu realsozialistischen Zeiten dissidentische Philosophieprofessor ist ein Querdenker geblieben.
So fordert der an Marx orientierte Wissenschaftler angesichts der Krise des Kapitalismus eine radikaldemokratisch-revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und »radikale Repolitisierung der Ökonomie«.
Seine dieser Tage auch auf den deutschen Buchmarkt gelangte aktuelle Polemik titelte er »Der Neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror« (Ullstein, 96 S., geb., 8 €). In Lubljana gewährte Žižek dem nd-Autor Harald Loch ein Exklusiv-Interview.

Jochen