Die 10 schlimmsten Länder der Welt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

logo: Deutscher GewerkschaftsbundDer Internationale Gewerkschaftsbund IGB veröffentlicht jedes Jahr einen Report zur Verletzung von Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechten weltweit. Seit einigen Jahren enthält dieser „Global Rights Index“ auch eine Liste der zehn „schlimmsten Länder für erwerbstätige Menschen“. Er stellt fest:

 In immer mehr Ländern droht Beschäftigten Gewalt

http://www.dgb.de/themen/++co++fd6a406e-6d55-11e8-ad8a-52540088cada
Dort auch eine schöne grafische Übersicht.
Auszüge:

Die Zahl der Länder, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Drohungen und Gewalt ausgesetzt sind, hat sich erneut innerhalb eines Jahres deutlich erhöht. Das geht aus dem „Global Rights Index 2018“ des IGB hervor.
Bereits von 2016 auf 2017 war die Zahl dieser Länder um zehn Prozent gestiegen. Von 2017 auf 2018 stieg sie erneut von 59 Ländern auf 65 Länder an, also innerhalb eines Jahres erneut um mehr als 10 Prozent.

Die 10 schlimmsten Länder

Der IGB hat außerdem wieder eine Liste mit den „Ten worst countries in the world for working people“ (also den „10 schlimmsten Ländern der Welt für arbeitende Menschen“) veröffentlicht:

Algerien

• Staatliche Repression
• Massenverhaftungen und -entlassungen
• Proteste unterdrückt

Guatemala

• Gewalt und Morde
• Diskriminierung
• Kein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren

Kasachstan

• Verhaftung führender Gewerkschaftsvertreter/innen
• Staatliche Repression
• Diskriminierung

Kambodscha

• Einschüchterungen
und Repressalien
• Repressive Gesetze
• Polizeigewalt

Ägypten

• Staatliche Repression
• Diskriminierung
• Massenverhaftungen

Philippinen

• Einschüchterungen und Entlassungen
• Gewalt
• Repressive Gesetze

Saudi-Arabien

• Missbrauch von Wanderarbeitskräften
• Staatliche Repression
• Zwangsarbeit

Bangladesch

• Gewalt
• Massenverhaftungen
• Diskriminierung

Türkei

• Verhaftung führender Gewerkschaftsvertreter/innen
• Diskriminierung und Entlassungen

Kolumbien

• Morde
• Tarifverhandlungen untergraben
• Diskriminierung

In fast zwei Drittel aller Länder können Beschäftigte keine Gewerkschaft gründen

Auch die weiteren Ergebnisse aus den insgesamt 139 untersuchten Ländern sind teilweise erschreckend:

  • In mindestens 9 Ländern wurden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ermordet: Brasilien, China, Kolumbien, Guatemala, Guinea, Mexiko, Niger, Nigeria und Tansania (allein in Kolumbien wurden im Laufe des Jahres 19 Gewerkschaftsmitglieder ermordet).
  • In 65% aller untersuchten Länder können einige oder alle Beschäftigten keine Gewerkschaften gründen oder in Gewerkschaften eintreten.
  • In fast neun von zehn der Länder (87%) wird einigen oder allen Beschäftigten das Streikrecht verweigert.
  • In 81% der Länder werden einigen oder allen Beschäftigten Tarifverhandlungen verweigert.
  • Insgesamt 54 Länder beschränken die Rede- und Versammlungsfreiheit (das sind 4 mehr als im Vorjahr und damit ein Anstieg um 8%).

Der komplette IGB-Report:„Global Rights Index 2018“ auf Deutsch als PDF

 

Jochen

Strukturelle Gewalt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058179.maechtig-gewaltig.html
Auszüge:

Mächtig gewaltig

Hier Ruf nach Distanzierung, da Schuldzuweisung ans kapitalistische System: über den Begriff der Gewalt und Neues aus der Sozialforschung

Johan_Galtung

Johan Galtung

Ein Wort besonders oft zu hören, heißt nicht unbedingt, dass damit auch schon alles gesagt ist. Oder das Wichtigste. Mitunter sind Begriffe auch Vorhänge, hinter denen das, was in ihnen eigentlich steckt, verborgen bleibt. Ein zentraler Begriff der Debatte nach der G20-Randale in Hamburg ist so ein merkwürdiges Gebilde: Gewalt.

Im Deutschen bezeichnet das Wort nicht nur gegen andere eingesetzte, rücksichtslose physische Kraft, sondern zugleich Macht und Mittel, über jemanden zu bestimmen. In der Gewalt steckt sozusagen ihr Gegenteil drin: die als staatliches Monopol legitimierte Herrschaft, andere Gewalt zu unterbinden, zu verfolgen. Der Ursprung ist sprachlich rund 1000 Jahre alt: »waltan« heißt im Althochdeutschen »stark sein, beherrschen«.

Wenn nach den Krawallen im Schanzenviertel, die – was inzwischen auch schon fast vergessen scheint – nur einen Teil der Auseinandersetzungen zwischen Staatsmacht und Demonstrierenden, Versammlungsrecht und Sicherheitspolitik, zwischen »Straße« und »Gipfel« ausmachten, von den friedlichen Demonstrationen und den Ergebnissen des Gipfels selbst ganz zu schweigen, nun allerorten nach einer Distanzierung von Gewalt gerufen wird, schwingt die Mehrfachbedeutung des Begriffs nach.

Fordert jemand, sich von Polizeigewalt zu distanzieren?

Natürlich meint niemand von denen, die das einfordern, die staatlichen Gewalten, auch nicht die »vierte Gewalt«. Wenn nun sogar der Begriff »Polizeigewalt« nicht mehr benutzt werden soll, wie einige fordern (hat eigentlich schon jemand verlangt, irgendwer solle sich von Polizeigewalt distanzieren?), wenn ein Regierender Bürgermeister gegen alle dies bezeugenden Bilder sagt, es habe eine solche Polizeigewalt gar nicht gegeben, ist das aber nur die eine Seite einer Politik mit (oder hier: ohne) Begriffen.

Denn jene, denen im Fall der Hamburger Randale physische, nicht legitimierte, strafbewehrte Gewalt vorgeworfen wird, ziehen sich auch gern mit einem begrifflichen Zug aus der Affäre – dem Hinweis, es handele sich doch um »Militanz«. Selbst wenn man dem Vorgang eine politische Dimension zumisst, was sinnvoll ist, selbst wenn man hierin keine Form des Insurrektionalismus sehen will, also der praktischen Rebellion zu einem politischen Zwecke, bleibt es doch ein sprachliches Ausweichmanöver: Die Aktion bleibt gewalttätig, sie zum »Riot« zu erklären, ist der Versuch, sie aus dem Dunstkreis eines politisch munitionierten Gewaltbegriffs zu ziehen. Einem Gewaltbegriff, der in der Tat einseitig ist.
Man könnte von einer diskursiven Verteidigungshandlung sprechen, die um den Kern dessen, was da an den brennenden Barrikaden der Schanze geschah, aber selbst auch einen Bogen macht.

Johan Galtung und die »Strukturelle Gewalt«

Es gibt noch ein zweites Reaktionsmuster, und in diesem wird die eine Gewalt mit der anderen Gewalt aufgewogen, durch sie erklärt, mit ihr verteidigt. Schon vor dem ersten Steinwurf von Hamburg war dieser mit dem Abwurf einer Bombe durch die USA, mit der allgemeinen Gewaltförmigkeit der herrschenden Verhältnisse »erklärt« worden – im Sinne von: einen möglichen Grund dafür angeben.

Der Begriff, der für diese universelle Gegenargumentation steht, ist viel älter als die meisten, die in Hamburg auf der Straße waren: »strukturelle Gewalt«. Der vor 50 Jahren von Johan Galtung geprägte Begriff wird heute einerseits empört als Verharmlosung von Straftaten zurückgewiesen von denen, die in der Randale nichts Politisches mehr sehen können, was auch heißt: keine sozialen und ökonomischen Ursachen mehr sehen wollen. Die Gewalt der Randale ist im Feuilleton dieser Tage oft zur »natürlichen Sehnsucht« gemacht worden, als »Überforderung mit dem Frieden« beschrieben worden, was auf eine Kritik der Undankbarkeit für die als gut behaupteten Verhältnisse hinausläuft.
So gesehen ist die Randale nichts als Freizeitaktivität am Rande der Legalität. Denen, die so reden, geht es meist darum, das Argument von der Militanz zurückzuweisen, die von Teilen der Linken als Ausdruck und Antrieb gesellschaftlicher Konflikte ins Schaufenster des eigenen Selbstverständnisses gestellt wird.

Der »Aufruhr« als »Grenzposition des Politischen«

Umgekehrt aber banalisiert meist auch die Anrufung der »strukturellen Gewalt« durch Linke die gesellschaftliche Einbettung, die Widersprüchlichkeit dessen, was da in Hamburg passiert ist. Der Begriff gerät oft zur reinen Abwehrparole, zu einer Art der Selbstberuhigung, die ein Unbehagen über das riesige Loch heilen soll, das da klafft, wo man den soziologischen Gedanken der »strukturellen Gewalt« politisch weiterspinnen müsste: Wenn die Randale mit den Zumutungen des Kapitalismus zu tun hat, worin liegt dann ihr Beitrag dazu, diese zu überwinden? Wer wirft dort Steine, und wie ließe sich die behauptete »Freiheit« verlängern, die einem Bonmot zufolge in dem Moment beginnt, wenn die Grauwacke die Hand verlässt, und schon wieder zu Ende ist, wenn diese auf dem Polizeiauto eine Beule hinterlässt?

Der Philosoph und Aktivist Thomas Seibert hat die Randale einen »Aufruhr« genannt, eine »Grenzposition des Politischen«, eine Verweigerung der Kommunikation.
Das Problem dabei ist in modernen Gesellschaften, dass diese im Wesentlichen in der Kommunikation zu sich selbst finden, also auch den Weg zu ihrer Veränderung. Dazu beitragen könnte ein aktualisiertes Verständnis der »strukturellen Gewalt«, und das kommt derzeit tatsächlich wieder in die Debatte, gänzlich ohne Randale.

Neue Perspektiven der Gewaltforschung

In der Gewaltforschung erfährt der Ansatz von Johan Galtung gerade so etwas wie eine Renaissance. Im Oktober wird sich eine Tagung an der Universität Oldenburg über »den blinden Fleck« beugen, der mit der Verabschiedung von diesem Begriff zumindest in den Wissenschaften einherging.
Diese Verabschiedung ist nicht ohne Kritik geblieben, die Debatten darüber aber haben die akademische Gemeinde kaum verlassen.

Hamburg wäre nun ein Anlass, das zu ändern – die Randale in der Schanze könnten dabei auch jenen symbolischen Kontext freilegen, in dem und durch den überhaupt definiert wird, was schlechte und was gute Gewalt ist. Die aktuelle Ausgabe von »Mittelweg 36«, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, befasst sich mit neuen Perspektiven der Gewaltforschung. Mit der Randale von Hamburg hat das zunächst nicht viel zu tun, eher mit wissenschaftlicher Selbstbefragung an einem möglichen Wendepunkt.

Alte Debatte zwischen »Innovatoren« und »Mainstreamern«

Seit den 1990er Jahren läuft in der Gewaltforschung eine Debatte zwischen den »Innovatoren« und den »Mainstreamern«, wobei Letztere einen Schwerpunkt auf das »Wie« der Gewalt legen. Es hat dafür gute Gründe gegeben, doch was als eine Weiterentwicklung begann, wurde zu einer Engerführung des Gegenstands.
Damit trat das »Warum« in den Hintergrund. Einflussreiche Arbeiten, etwa die des Historikers Jörg Baberowski über »Gewalträume«, werden inzwischen mit skeptischen Fragen über die Reichweite der dabei in Stellung gebrachten Begriffe, der Genauigkeit der Kategorien neu diskutiert. Dass es in diesem Forschungszweig oft und vor allem um die Menschheitsverbrechen der Nazis und die Blutspur des Stalinismus geht, ist richtig. Genauso aber hat sich die Gewaltforschung mit Eruptionen in Vorstädten, mit dem Zusammenhang von Ausgrenzungserfahrung und Gewaltbereitschaft befasst.

Dass solche Randale oft eine »autotelische Gewalt« ist, wie es von Jan Philipp Reemtsma schon vor knapp zehn Jahren formuliert wurde, eine, die keinem außerhalb der Gewalthandlung liegenden Zweck dient, die also um ihrer selbst Willen geschieht, ist so richtig, wie damit die Frage nicht überflüssig geworden ist, warum sie angewandt wird.

Warum wird auf Warum-Fragen verzichtet?

Wolfgang Knöbel, als Direktor des Hamburger Instituts, Nachfolger von Reemtsma, sieht mit Blick darauf »den wissenschaftstheoretisch zentralen Kulminationspunkt« der Debatte in der Frage: »Warum sind mittlerweile etliche Sozialwissenschaftler bereit, auf Warum-Fragen zu verzichten?« Womit wieder Johan Galtung ins Spiel kommt und mit ihm sein Begriff der »strukturellen Gewalt«.

Der ist sozusagen das Gegenstück zur »physischen Gewalt« und stellt auf die gewaltförmige Verfasstheit der Weltgesellschaft ab, auf einen Begriff also, der »keinen Täter, jedoch einen Dauerzustand von Gewalt« kennt, wobei diese »auf irgendeine Weise in die soziale Struktur eingebaut sein« müsse, wie es der norwegische Konfliktforscher seinerzeit formulierte. Ein Begriff von »Frieden«, der sich auf die Abwesenheit von Gewalt beschränke, erschien ihm nicht ausreichend.

Mehr noch, und das spielt auch in der Debatte um die Randale von Hamburg eine Rolle, wird Gewalt bei Galtung, darauf macht in »Mittelweg 36« der Soziologe Peter Imbusch aufmerksam, »zur Ursache für den Unterschied zwischen dem normativ wünschenswerten Potenziellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein können«. Es ist eine Gewalt, die andere gesellschaftliche Möglichkeiten verhindert. Der Begriff macht die Ursache für diese Differenz – ungleiche Verteilung von Macht, Ressourcen – zum Teil der Debatte auch über physische Gewalt, die von sich behauptet, sie wolle diese Differenz überwinden. Dass es gerade daran der »linken Militanz« fehlt, an der überzeugenden Option für »das Andere«, ist freilich auch wahr.

Die Rolle der Wissenschaft in der politischen Debatte

Schon in der Vergangenheit haben Galtungs Konzept und alle, die es für sich gebrauchten, immer wieder harsche Kritik hervorgerufen – der Begriff der »strukturellen Gewalt« gerate zum »politisch-demagogischen Etikett zur umfassenden Denunziation der herrschenden Verhältnisse« (Egbert Jahn), sei also nicht viel mehr als der Versuch, »die Revolte der Empörten und Entrechteten zu legitimieren« (Jörg Baberowski).

Aber ist das ein in jeder Hinsicht wissenschaftlicher Einwand? Oder nicht längst ein politischer? Der Marburger Soziologe Markus Schroer hat schon früher darauf hingewiesen, dass der Begriff der »strukturellen Gewalt«, dessen Leerstellen und Probleme nicht bezweifelt werden, auch deshalb als nicht mehr anschlussfähig in der Wissenschaft angesehen wurde, »weil viele der in ihn eingelassenen politisch-moralischen Konnotationen nicht mehr in die Landschaft einer Soziologie passen, die tief verunsichert ist – verunsichert über ihre normativen Maßstäbe, über den Stellenwert soziologischer Gesellschaftskritik, über die Möglichkeit von Utopien«.

Der Punkt ist deshalb wichtig, weil er auf das Selbstverständnis von Wissenschaft eingeht, die gern im politischen Diskurs zur Autorität erklärt wird, ohne auf ihre eigenen Begründungen überhaupt einzugehen. Dass in der Debatte nach Hamburg eine banalisierte Spielart der wissenschaftlich erledigten Totalitarismustheorie zur Hauptreferenz der meisten Sprecher auf der politisch-medialen Bühne werden konnte, zeigt die Dimension des Problems.

Ein Steinwurf ist noch keine andere Gesellschaft

Wenn nun also über eine Renaissance des Begriffs der »strukturellen Gewalt« gesprochen wird, dann ist das auch und zugleich ein Auftrag, von links nicht ebenso in Banalisierungen und Vereinfachungen zu verfallen. Der bloße Rekurs auf den Begriff »strukturelle Gewalt« allein bleibt leer, wenig überzeugend.
Was oft fehlt, ist die Analyse und eine aus ihr hervorgehende Überlegung, wie zu ändern ist, was zu ändern drängt.

»Ob man das nun strukturelle Gewalt nennt oder nicht«, so hat es Jürgen Habermas in der Debatte um Galtungs Ansatz schon zu Beginn der 1990er Jahre formuliert, »nur aus den Reproduktionsbedingungen unseres Gesellschaftssystems im Ganzen« lassen sich die »entstellten Lebenszusammenhänge, die immer neue Gewalt gebären, erklären«.

Eben um dieses Erklären des »offenkundigen Zusammenhangs zwischen Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt« müsste es einer kritischen Wissenschaft und Politik gehen. Das ist mit Empörung über Polizeigewalt oder dem bloßen Hinweis auf die Gewaltförmigkeit kapitalistischer Verhältnisse nicht getan. Die in ihr liegenden Potenziale der Veränderung und Zivilisierung gehören mit auf den Tisch.
Und die Debatte muss neu zeigen, wie über sie hinausgegangen werden könnte. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist kein neutraler Ordnungsentwurf, schreibt Imbusch völlig zu Recht im »Mittelweg 36«. Aber ein Steinwurf ist noch keine andere Gesellschaft.

Antun und erleiden. Über Gewalt. Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 3/2017. Mehr Informationen gibt es online hier.

Jochen

»Nuit Debout« macht weiter – Hier die Möglichkeit, Solidarität mit den französischen Arbeitern zu bekunden !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

http://arbeitsunrecht.de/mitmachen/solidaritaet-mit-protesten-in-frankreich/

Setzen Sie ein Zeichen: Unterstützen Sie diese Resolution mit einer Unterschrift!

Wir, Menschen aus Wissenschaft, Publizistik und Gewerkschaften aus Deutschland, erklären unsere Solidarität mit den Menschen in Frankreich, die gegen die Arbeitsrechts-„Reform“ weiter protestieren und streiken. Diese Streiks und Proteste sind berechtigt, notwendig und ein Vorbild für die gesamte Europäische Union.

So kann Demokratie nicht funktionieren

Wir protestieren gegen das Gesetz, das per Notverordnung am Parlament vorbei diktiert wird. Es stimmt weitgehend mit den Forderungen des Arbeitgeberverbandes MEDEF überein und richtet sich gegen die Meinung und Interessen der Mehrheitsbevölkerung. Diese Demokratur verschärft die Rechtsentwicklung in der Europäischen Union.

Wir protestieren ebenfalls gegen die massive Polizeigewalt und Verurteilungen, mit denen die Versammlungs- und Meinungsfreiheit der Streikenden und Protestierenden eingeschränkt wird.

Niedriglohngesetze nicht erfolgreich

Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls haben auf angebliche Erfolge gleichartiger Gesetze in anderen EU-Staaten verwiesen.
Doch diese Erfolge gibt es nicht, im Gegenteil.

Die Bundesrepublik Deutschland, die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der Agenda 2010 am frühesten mit solchen „Reformen“ begann, wurde dadurch zum größten Niedriglohnstaat in Europa. Das schädigt nicht nur die Beschäftigten, die Arbeitslosen und vor allem die Jüngeren in Deutschland selbst, sondern auch die Volkswirtschaften der anderen EU-Mitgliedsstaaten, nicht zuletzt Frankreichs. Diese Reformen sind eine Ursache für die wachsende Arbeitslosigkeit in der ganzen EU.

Gewerkschaftsvermeidung und gesteigerte Arbeitshetze

Durch die Agenda 2010 und weitere Maßnahmen der Folgeregierungen wurden in Deutschland kollektive, transparent entwickelte Tarifverträge zurückgedrängt. Die Gewerkschaften werden geschwächt. Einzelbetriebliche Vereinbarungen führen unter dem internen Druck der Arbeitgeber – sie drohen mit der Schließung oder Verlagerung des Betriebs oder mit Entlassungen – zur noch weiteren Entgrenzung der Arbeitszeiten, zu Lohnsenkungen, zu unbezahlten Überstunden, zu noch mehr Teilzeit- und Minijobs, zu noch mehr befristeten oder sogar unbezahlten Arbeitsplätzen (Praktika).

Altersarmut und Burn-out

Selbst die deutsche Regierung muss mittlerweile zugeben: wegen der Niedriglöhne und begleitende Rentenkürzungen bildet sich bereits jetzt eine gewaltige Altersarmut. Pensionäre sind in wachsender Zahl zu Nebenarbeit gezwungen. Hunderttausende Niedriglöhne müssen staatlich subventioniert werden. Mithilfe von etwa tausend Tafeln muss der Hunger der Verarmten notdürftig gestillt werden. Die wachsende Unsicherheit und der unkontrollierte Leistungsdruck haben zu mehr Stress und einem Anstieg der psychischen Krankzeiten und Depressionen geführt.

Das Rattenrennen stoppen

Die nach deutschem Vorbild durchgezogenen Arbeitsrechts-„Reformen“ sind Teil eines zerstörerischen Standort-Wettbewerbs und haben zu Ungleichheiten geführt, die auch den demokratischen und sozialen Zusammenhalt in der EU schon jetzt schwer schädigen.

Wir stimmen mit den Streikenden und Protestierenden in Frankreich überein: Die abhängige Arbeit muss aufgewertet, deren finanzielle und moralische Herabwürdigung muss beendet werden! Auch Flüchtlinge dürfen nicht für Lohn-Dumping missbraucht werden!

Kämpfen wofür?

Wir schließen uns der Forderung von Attac Frankreich an:

  • Lohnerhöhungen insbesondere für die unteren Einkommensgruppen!
  • Investitionen müssen in Arbeitsplatz-schaffende Produkte fließen, etwa in den ökologischen Umbau der Systeme für Transport und Energie!
  • Investitionen in Bildung und Ausbildung für alle!
  • Arbeitszeitverkürzung für alle!
  • Beendigung des zerstörerischen Lohndumping-Wettbewerbs zwischen den EU-Mitgliedsstaaten!

Hier unterschreiben !

Erstunterzeichner_innen

Initiativen: Makroskop Mediengesellschaft (Prof. Dr. Heiner Flassbeck, Dr. Paul Steinhardt) | Labour Net Germany (Mag Wompel) | aktion./.arbeitsunrecht (Jessica Reisner) | Lunapark21 (Dr. Winfried Wolf) | Welt der Arbeit (Franz Kersjes) | Naturfreunde Deutschlands (Uwe Hiksch) | Sand im Getriebe (Marie-Dominique Vernhes) | Klartext (Prof. Rainer Roth ) |

Dazu auch der Soziologe und Aktivist Clouet über die Ziele der Protestbewegung »Nuit Debout« im Interview

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1015170.protestieren-bis-zum-ruecktritt.html

Herr Clouet, die Europameisterschaft hat begonnen, die Streiks gehen weiter. Will die Protestbewegung die gesamte EM sabotieren?
Wenn ich zwischen der EM und meiner Zukunft wählen muss, dann wähle ich meine Zukunft. Ich habe gar kein Problem damit, die EM zu sabotieren. Wenn die Regierung uns dazu drängt, bleibt uns keine andere Wahl. Sie setzt sich einfach über das Parlament hinweg und drückt ein Gesetz durch, obwohl es die Mehrheit der Franzosen ablehnt.

Wie lange ist das noch durchzuhalten?
Die sozialen Bewegungen werden immer größer und stärker. Sie entwickeln immer neue Aktionsformen. Zum Beispiel gibt es seit Wochen in Paris vergünstigte Stromtarife, weil die Gewerkschaft CGT den Stromanbieter EDF besetzt hat. Die meisten Arbeitnehmer unterstützen die Streiks auch weiterhin.

Auch wenn sie dafür lange Arbeitswege und stundenlanges Warten vor Tankstellen in Kauf nehmen müssen?
Viele Leute sagen natürlich, dass es nicht immer ganz einfach ist. Aber deshalb fordern sie nicht von den Gewerkschaften, die Streiks zu beenden. Die meisten sind sich einig, dass die Regierung hier die Schuld trägt.

Es gab in den vergangenen Wochen aber auch viele Verletzte, ein Demonstrant liegt sogar im Koma.
Die Strategie der Polizei war von Anfang an sehr gewalttätig. Außerdem gibt es einige Autonome, die die Demonstrationen künstlich anheizen, kleine Läden und öffentliche Einrichtungen beschädigen. Wir wissen leider nicht, wie viele Autonome für die Polizei arbeiten. Aber wir glauben, dass die Steinewerfer Teil der Polizeitaktik sind. Mittlerweile werden auch Gewerkschaftler der CGT von den Autonomen angegriffen. Die Polizei nutzt sogenannte Ordnungstechniken, die eskalierend wirken.

Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Zum Beispiel werden die Demos in zwei oder drei Teile aufgespalten. Dann wird ständig Tränengas auf die Leute geschossen, die friedlich demonstrieren. Daraufhin kommt es zu gewaltsamen Reaktionen einiger Demonstranten und damit rechtfertigt die Polizei dann ihren Angriff.

Glauben Sie wirklich daran, dass die Regierung das umstrittene »El-Khomri-Gesetz« noch zurückziehen wird?
Das Gesetz wurde bereits geändert – allerdings nicht zum Besseren. Nachdem die Regierung den ersten Entwurf in den Senat gegeben hat, wurde es von den konservativen Senatoren noch einmal komplett umgeschrieben. Nun ist es neoliberaler als vorher. Jetzt kommt es zurück ins Parlament – auch dort kann sich noch viel ändern.
Wahrscheinlicher ist aber, dass die Regierung wieder den Artikel 49.3 der Verfassung benutzt und ihre eigenen Leute im Parlament in eine Mehrheit zwingt. Nach dem Artikel kann die Regierung die Abgeordneten vor die Wahl stellen: Entweder für die Regierung und das Gesetz mit Ja oder gegen die Regierung und das Gesetz mit Nein zu stimmen. Wenn sich Ende Juni genug Sozialisten für ein Nein entscheiden, kann die Regierung gestürzt werden. Darauf warten wir.

Keine Änderung des Gesetzes, sondern gleich Neuwahlen?
Ich glaube, das ist die einzig vernünftige Lösung. Denn es gibt viele Sozialisten, die nicht zwischen dem Gesetz und der Regierung wählen wollen.

Viele Linke in Deutschland blicken gespannt nach Frankreich, denn Proteste in Deutschland, beispielsweise gegen die Hartz-Gesetze im Jahr 2004, werden nicht annähernd so stark ausgetragen. Da kommt das Klischee von den revolutionären Franzosen und den braven Deutschen auf.
Ich glaube nicht, dass es hier um kulturelle Unterschiede geht. Die Hartz-IV-Gesetze sind viel klüger durchgesetzt worden als unser »El-Khomri-Gesetz«. Wir hatten keine Hartz-Kommission mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich in den Gesetzgebungsprozess einbringen konnten. Das »El-Khomri-Gesetz« wurde allein von der Regierung geschrieben – ohne Sozialpartner. Danach waren alle Gewerkschaften dagegen und selbst der Arbeitgeberverband – allerdings weil es ihm nicht liberal genug war. Außerdem trafen die Hartz-Gesetze nur eine Minderheit, nämlich die schwächsten Glieder der Gesellschaft. In Frankreich wären durch die Veränderung des Arbeitsrechts fast alle Arbeitnehmer betroffen. Das erklärt, warum so viele Franzosen die Streiks in Kauf nehmen und selbst auf die Straße gehen: Sie sind einfach fast alle betroffen.

Was sagt das über die sozialdemokratischen Regierungen beider Länder aus?
Die deutsche Sozialdemokratie geht viel klüger vor, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen von Leuten zu verschlechtern. Für konservative Parteien ist es generell schwerer, soziale Kälte zu organisieren, da sie von vornherein die Gewerkschaften und viele Arbeitnehmer gegen sich haben. Sozialdemokraten glauben am Anfang noch, die Sozialpartner auf ihrer Seite und die tun sich auch schwer damit, gegen ihre politischen Partner zu agieren. Außerdem nähern sich die beiden sozialdemokratischen Parteien immer mehr der neoliberalen Einheitspolitik in Europa an.

Zur Person – privat

Hadrien Clouet ist Doktorand der Soziologie am Pariser Institut für politische Studien Sciences Po. Der Arbeitsmarktexperte engagiert sich in der Protestbewegung »Nuit Debout«, die seit Ende März auf dem Platz der Republik in Frankreichs Hauptstadt gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts demonstriert. Über 70 Prozent der Franzosen lehnen das nach der Ministerin Myriam El Khomri benannte Gesetz ab.

Dazu auch eine Kritik des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty am Arbeitsmarktgesetz der Regierung:

Auszüge:
Während die sozialen Spannungen Frankreich zu blockieren drohen und die Regierung weiterhin den Dialog und Kompromiss verweigert, erweist sich das Gesetz zur Reform des Arbeitsmarkts immer deutlicher als das, was es ist: ein heilloses Durcheinander, ein weiteres in einer fünfjährigen verpatzten Regierungszeit, und vielleicht das schlimmste.
Die Regierung will uns glauben machen, dass sie den Preis dafür zahlt, Reformen voranzubringen, und dass sie allein gegen alle Formen von Konservatismus kämpft. Die Wahrheit sieht auch bei diesem Thema anders aus: Die Regierungsmacht vervielfältigt die Improvisationen, Lügen und den handwerklichen Pfusch.
Das zeigte sich bereits beim Thema Wettbewerbsfähigkeit. Die Regierung stieg damit ein, dass sie – zu Unrecht – die Kürzungen der Arbeitgeberbeiträge zurücknahm, die die vorherige Regierung veranlasst hatte, bevor sie ein unwahrscheinliches Monsterverfahren startete, und zwar in Form eines Steuerkredits, der darauf zielte, den Unternehmen einen Teil der ein Jahr zuvor geleisteten Beiträge zu erstatten, wobei sie einen enormen Reibungsverlust wegen des Mangels an Verständlichkeit und Nachhaltigkeit ihrer Maßnahmen bewirkte. Stattdessen hätte sie eine ehrgeizige Reform der Finanzierung der Sozialversicherung angehen sollen.

Blogbeitrag von T. Piketty vom 2.6.2016: http://piketty.blog.lemonde.fr/2016/06/02/loi-travail-un-effroyable-gachis/.
Aus dem Französischen von Marion Fisch.

Jochen