Haasenburg-Heime bis 2013: »Keiner kam unbeschadet raus« – Schwarze Pädagogik

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Erschütternd, dass sich die Schwarze Pädagogik bis heute hält und Sozialdemokraten die hand darüber halten:
https://www.jungewelt.de/artikel/424640.jugendhilfe-keiner-kam-unbeschadet-raus.html
Auszüge:

Brandenburg: Aufarbeitung von systematischer Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Haasenburg-Heimen.
Ein Gespräch mit Isabelle Vandre und Renzo-Rafael Martinez

Renzo-Rafael Martinez wurde in der Dominikanischen Republik geboren und wuchs in Remscheid auf. Er erlebte bereits als Kind Gewalt, kam mit acht Jahren erstmals in ein Heim.
In der Haasenburg war er von 2003 bis 2006

HaasenburgDie Haasenburg ist heute eine Art Synonym für das Elend und Scheitern der geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe. Von Gründung des brandenburgischen Trägers 2002 bis zur Schließung im November 2013 wurden Kinder und Jugendliche in dessen drei Einrichtungen systematisch gequält und gedemütigt. Warum gibt es jetzt, mehr als acht Jahre danach, wieder eine Debatte?

Isabelle Vandre: Das hat einen traurigen aktuellen Anlass. Vor einem Jahr nahm sich Jonas L. im Alter von nur 24 Jahren das Leben. Mit zwölf war er für 13 Monate in einem der Haasenburg-Heime gewesen.
In unserer Fraktion kam die Frage auf: Wie steht es um die Nachbetreuung der Kinder und Jugendlichen der Haasenburg?
Aus der Antwort des Bildungsministeriums auf eine Anfrage von uns ergab sich, dass die Ehemaligen allein gelassen werden und das Ministerium keine Ahnung hat, was aus ihnen geworden ist.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Christina Witt, eine ehemalige Jugendliche aus der Haasenburg, startete eine Online­petition*), die Entschädigung fordert und die bisher von mehr als 36.000 Menschen unterschrieben wurde. Eine Interessengemeinschaft wurde gegründet.

Herr Martinez, Sie waren in der Haasenburg und haben diese Interessengemeinschaft initiiert. Warum musste erst soviel Zeit verstreichen?

Renzo-Rafael Martinez: Es hat viele Jahre gebraucht, bis die Betroffenen an die Öffentlichkeit gehen wollten und konnten. Einige, die jetzt in der Interessengemeinschaft sind, haben sich noch 2013 positiv zur Haasenburg geäußert. Das lag nicht nur daran, dass sie meist traumatisiert waren, sondern auch daran, dass die Delegitimierung der eigenen Erfahrungen schon im Heimkonzept steckte.
Man war an jedem Missbrauch selbst schuld – egal, wie schwerwiegend dieser war.

Wir haben uns in Hamburg getroffen und tauschen uns regelmäßig via Zoom über weitere Schritte aus. Die Interessengemeinschaft wächst schnell: Mittlerweile sind wir 80, und ich glaube, dass wir die 100 noch erreichen. Das ist ein beträchtlicher Teil der Leute, die in der Haasenburg waren. Dort sind nach Schätzungen in den elf Jahren des Bestehens etwa 890 Kinder und Jugendliche gewesen.

Sie waren drei Jahre lang in der Haasenburg, von 2003 bis 2006, im Heim in Neuendorf am See. In einem Beitrag dazu in der Fachzeitschrift Forum Jugendhilfe schreiben Sie, das Konzept sei es gewesen, die Kinder und Jugendlichen zu brechen.

R. M.: Ja. Es ging darum, bestimmte Verhaltensweisen abzustellen und dafür den Widerstand der Kinder zu brechen, wirklich komplett. Das fing sofort an, wenn man angekommen war. Man merkte gleich, dass man die Kontrolle über sein eigenes Leben verloren hat.

Als Sie dort eintrafen, mussten Sie gleich zu Beginn zehnmal die Hausordnung mit einem Bleistiftstummel abschreiben.

R. M.: Ja. Und wenn ich nur den kleinsten Fehler machte, musste ich komplett von vorne beginnen. Das war eine von vielen demütigenden Maßnahmen in der Haasenburg.
Es gab ein Modell mit drei Phasen, auch »das Ampelsystem« genannt. Es gab die rote, gelbe und grüne Phase. Je nachdem, in welcher man sich befand, hatte man mehr oder weniger Freiheiten.
Angefangen hat man als Quasisträfling ohne Rechte – also die rote Phase –, gefolgt von der gelben, in der man ein paar Freiheiten mehr hatte, bis hin zur grünen.
In der roten Phase konnte man nichts allein tun. Ich war in der Haasenburg die meiste Zeit in der roten und dann noch in der gelben, nie aber in der grünen Phase.

Schwer zu fassen ist auch, was Sie über die Einheitskleidung schreiben, die den Kindern und Jugendlichen vorgeschrieben wurde.

junge Welt verteilenR. M.: Die Leute in der roten Phase mussten anfangs ein gelbes Shirt, weiße Hose und Clogs, also die Farben der Haasenburg, tragen. Später eine rosa Hose, ein rosa Shirt und hohe Clogs. Nicht nur war es sehr schwer, mit den Schuhen zu laufen, vor allem gibt es kaum etwas Demütigenderes, als als Dreizehnjähriger gezwungen zu sein, Rosa zu tragen.

Solche Bilder wecken Assoziationen von Häftlingen des US-Folterlagers Guantanamo Bay. Halten Sie das für einen zulässigen Vergleich?

R. M.: Absolut. Ich bin wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund von »weißer Folter« in Behandlung.
Mein Psychotherapeut attestierte mir kürzlich: »Die belastenden Extremereignisse in der Biographie von Herrn Martinez sind mit den Erfahrungen von Folter vergleichbar.«

Gab es auch körperliche Gewalt?

R. M.: Einige wurden geschlagen. Oder es wurde eine Situation provoziert, in der eine »Begrenzung« notwendig wurde. Da wurden auch schon mal Arme gebrochen, wenn Erzieher Kinder gepackt haben.
Ich wurde drei Tage lang fixiert, weil ich mich geweigert hatte, Zwangssport zu machen.

Warum wurde die Haasenburg angesichts solcher Praktiken nicht viel früher geschlossen?

I. V.: Im Rückblick ist es tatsächlich völlig unverständlich, warum diesen vermeintlichen Einzelfällen nicht viel früher nachgegangen wurde.

R. M.: Man muss auch wissen, dass die Haasenburg auf politischer Ebene sehr abgeschirmt wurde. Da hielten Leute sicher ihre schützende Hand darüber. Das war eines der Hauptprobleme.
Der damalige Bürgermeister von Neuendorf am See war Erzieher in der Haasenburg.

Die Betroffenen kämpfen jetzt dafür, entschädigt zu werden. Frau Vandre, Sie haben in einem Papier zwei Optionen herausgearbeitet. Können Sie die kurz skizzieren?

I. V.: Eine Option ist die Erweiterung des Opferentschädigungsgesetz, die andere ein Entschädigungsfonds des Landes Brandenburg.
Das Gesetz läuft in wenigen Jahren aus und soll durch ein Sozialgesetzbuch XIV ersetzt werden.
In der Debatte zum Thema hat der Bundesrat bereits angemerkt, dass es sinnvoll wäre, dort einen Tatbestand der »institutionalisierten Gewalterfahrung« hinzuzufügen. Dann gebe es für Betroffene von Einrichtungen, in denen es aufgrund bestimmter pädagogischer Konzepte regelmäßig zu Verletzungen, Übergriffen oder Gewalt gekommen ist, ein generelles Recht auf Entschädigung.
Der Vorteil: Es müsste nicht in jedem Einzelfall detailliert die Schädigung nachgewiesen werden.

Und wie sähe ein Entschädigungsfonds des Landes aus?

I. V.: Man könnte sich an dem Fonds für die Opfer der Terrorgruppe NSU, den Thüringen eingerichtet hat, orientieren. Entsprechend könnte auch Brandenburg einen Fonds für die ehemaligen Kinder und Jugendlichen der Haasenburg einsetzen, der mit einer bestimmten Summe untersetzt ist. Ein landeseigener Fonds würde noch einmal die besondere Verantwortung Brandenburgs herausstellen.

Sie plädieren dafür, beide Optionen miteinander zu kombinieren.

I. V.: Das neue SGB XIV wäre die weitergehende gesetzliche Verankerung. Weil wir eben wissen, dass die Haasenburg kein Einzelfall gewesen ist, weil es auch danach in Einrichtungen der Jugendhilfe zu Skandalen kam. Und das würde auch die Möglichkeit bieten, noch mal ein deutliches Zeichen zu setzen: Wir verurteilen eine solche Form des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen.

Sie wollen ein Netzwerk von Experten etablieren, die sich gegen die geschlossene Unterbringung in der Jugendhilfe engagieren.

I. V.: Ja. Wir brauchen einen komplett anderen Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Dass sie zu selbstverletzendem Verhalten, zum Weglaufen oder auch zu Aggressionen neigen, kommt ja nicht von heute auf morgen. Es muss darum gehen, Situationen zu vermeiden, die Kinder und Jugendliche überfordern und überhaupt erst zu einem solchen Verhaltensmuster bringen.
Dafür muss der komplette Bereich der Kinder- und Jugendarbeit erheblich ausgeweitet werden. Es darf kein Sonderfall sein, dass Schulsozialarbeiter Schulklassen unterstützen.
Auch im Kindergarten muss viel stärker auf die Bedürfnisse von Kindern eingegangen werden.

Glauben Sie, dass es auch Leute gab, die unbeschädigt aus der Haasenburg herausgegangen sind?

R. M.: Es gab tatsächlich diejenigen, die versuchten, sich anzupassen. Ich denke, dass es in solchen Extremsituationen normal ist, dass einige Wege finden, damit umzugehen, und dass es für andere unmöglich ist – Kampf oder Flucht. Ich bin der Überzeugung, dass keiner wirklich unbeschadet aus der Haasenburg kam.

Hintergrund: Schwarze Pädagogik

Kinder zurichten, ihnen mit Zwangsmitteln ein bestimmtes Verhalten antrainieren, ihren Willen brechen: Das ist das Ziel einer Pädagogik, für die die Publizistin Katharina Rutschky den Begriff »schwarze Pädagogik« prägte. **)
Im deutschen Faschismus wurde diese Konditionierung, die Menschen auf Kosten ihrer Lebendigkeit den Bedürfnissen der Herrschenden anpasst, auf die Spitze getrieben.
Viele in der Nazizeit geprägte Erzieher konnten sich auch nach dem Krieg an Kindern vergreifen, etwa in den Heimen der sogenannten Kinderlandverschickung, in denen bis in die 1980er Jahre acht bis zwölf Millionen Kinder gewesen sind. Hunderttausende wurden dort gedemütigt, geschlagen, eingesperrt oder anderweitig misshandelt. ***)

Trotz des Paradigmenwechsels in der Jugendhilfe in den 1970ern überlebten die Konzepte der »schwarzen Pädagogik«, wie etwa der Skandal um die Haasenburg zeigt.
Der 2002 gegründete Träger »Haasenburg GmbH – Therapeutisches Kinder-, Jugend- und Elternzentrum« mit Sitz im brandenburgischen Neuendorf am See betrieb Einrichtungen für die geschlossene Heimunterbringung, in die auch Kinder und Jugendliche aus anderen Bundesländern kamen.
Die Außendarstellung: Hier würden »besonders problematische und kriminelle« Heranwachsende, mit denen man woanders Probleme habe, wieder auf den rechten Weg gebracht. Die Berliner Zeitung schrieb im Juli 2010: »In Neuendorf am See lernen Jugendliche den Alltag: Keine Drogen, früh aufstehen und höflich sein.«

Tatsächlich wurden die Kinder und Jugendlichen in der Haasenburg systematisch gequält und gedemütigt. Obwohl schon bald nach Gründung Berichte über die Zustände vorlagen, dauerte es bis November 2013, bis Bildungsministerin Martina Münch (SPD) die Schließung der Einrichtungen veranlasste.
Das lag auch daran, dass Politiker, vor allem aus der SPD, ihre schützende Hand über den Träger gehalten hatten.
Eine besonders dubiose Rolle spielte dabei der Hamburger Anwalt und Jugendhilfe-Experte Christian Bernzen, Schatzmeister der SPD der Hansestadt. Der Katholik vertrat die Haasenburg GmbH und war zugleich Vorsitzender der Kontrollkommission, die Beschwerden der Bewohner prüfen sollte. Sein Bruder Hinrich Bernzen war Pressesprecher der Haasenburg GmbH.

Viele Kinder und Jugendliche, die in der Haasenburg waren, leiden bis heute unter den Folgen. Im Frühjahr 2021 nahm sich Jonas L. aus Hamburg das Leben. Im Alter von zwölf Jahren war er auf Betreiben des Jugendamtes für 13 Monate in die Haasenburg gekommen.
Seine Mutter Eva L. sagte: »Die Haasenburg hat meinen Sohn psychisch kaputt gemacht.« (kst)

*: Online-Petition zum Unterschreiben:

https://www.change.org/p/britta-ernst-entsch%C3%A4digungen-und-niedrigschwellige-unterst%C3%BCtzungsangebote-f%C3%BCr-die-ehemaligen-kinder-der-haasenburg-heime

**: Vergl. dazu Alice Miller: Am Anfang war Erziehung und siehe
https://josopon.wordpress.com/2020/01/22/die-spielarten-neoliberaler-erziehung/

***: https://josopon.wordpress.com/2020/08/19/verschickungsheime-in-den-1950ern-trauma-durch-erholung/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Online-IPPNW-Appell zum Ukrainekrieg Die Waffen nieder! Deeskalation jetzt! – Bitte unterzeichnen !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die Waffen nieder!
Als Mitglied der IPPNW bitte ich, das folgende online zu unterzeichnen:
https://www.ippnw.de/aktiv-werden/kampagnen/appell-die-waffen-nieder.html

Die Waffen nieder! Deeskalation jetzt!

Der Angriffskrieg von Wladimir Putin und die Invasion russischer Truppen stellen eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar.
Wir begrüßen die Resolution der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022, die den russischen Einmarsch auf das Schärfste verurteilt und Putin zum Ende seiner Aggression aufgefordert hat.

Wir brauchen jetzt einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Es darf keinen Abbruch diplomatischer Beziehungen geben, die Gesprächskanäle müssen offen bleiben.
Wir appellieren an die Bundesregierung, auf alle Maßnahmen zu verzichten, die eskalierend wirken können. Russland muss seine russischen Truppen vollständig aus der Ukraine zurückziehen.
Im Gegenzug könnte Russland ein NATO-Aufnahmemoratorium für die Ukraine zugesagt werden sowie eine Konferenz über die künftige Sicherheitsarchitektur Europas.

Unsere Solidarität und unsere Herzen gelten den Menschen in der Ukraine, die von den humanitären Folgen von Krieg und Flucht betroffen sind.
Entsetzt verfolgen wir die Meldungen, wonach schon viele Zivilist*innen in der Ukraine durch direkte Angriffe getötet oder verletzt wurden.
Wir befürchten zudem eine hohe Zahl von Todesfällen, die indirekt verursacht werden durch die Zerstörung der Infrastruktur: Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Wasser- und Stromversorgung, der Kommunikationsnetze und der Transportsysteme.
Hinzu kommen Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Als Langzeitfolge des Krieges wird es in Europa erneut eine Generation mit posttraumatischen Belastungsstörungen geben, Menschen, die ihr Leben lang an ihren Kriegserlebnissen leiden.
Wir treten dafür ein, dass die EU-Außengrenzen für alle Flüchtenden aus der Ukraine geöffnet werden, unabhängig von Hautfarbe, Staatsangehörigkeit und Identität und ohne rassistische Zurückweisung.
Männer im wehrfähigen Alter, sei es aus Russland, Belarus und Ukraine, die den Kriegsdienst verweigern, müssen einen Aufenthaltsstatus zum vorübergehenden Schutz erhalten.

Der Angriff auf die Ukraine ist unentschuldbar. Und doch müssen wir überlegen, wie wir die Zukunft gestalten. Unsere Zukunft kann nicht in einer neuen Rüstungsspirale liegen.
Wir lehnen das 100 Milliarden-Sofort-Aufrüstungsprogramm für die deutsche Bundeswehr ab und fordern stattdessen mehr Mittel für Krisenprävention, zivile Konfliktbearbeitung und eine sozial-ökologische Transformation.
Eine massive Aufrüstung zieht Kraft, Ressourcen und Intellekt von den globalen Herausforderungen wie der Klimakrise und globaler sozialer Gerechtigkeit ab. Laut dem Weltklimabericht werden die Folgen der Klimakrise schneller eintreten und zerstörerischer sein, als erwartet. Der Ukraine-Krieg wirft alle Klimaschutzbemühungen weit zurück. Jeder Krieg ist auch ein Verbrechen an der Umwelt.

Atombombenexplosion

Es steht viel auf dem Spiel: Wir sorgen uns um eine weitere atomare Eskalation. Putin hat mit einem Einsatz von Atomwaffen gedroht und bringt die Menschheit in die Nähe eines Atomkrieges.
Sollte es zu einem Einsatz von Atomwaffen kommen, dann droht eine globale Katastrophe. Deshalb ist atomare Abschreckung kein Mittel der Kriegsverhütung. In einem Atomkrieg gibt es keine Gewinner.
Bereits ein einziger Sprengkopf in einer Großstadt würde zu über 100.000 Toten, über einer Million Verletzten und weiträumiger Verstrahlung führen.
Die gesundheitlichen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes sind katastrophal und medizinisch nicht beherrschbar – unter anderem durch die radioaktive Strahlung, die Zerstörung medizinischer Infrastruktur und dem Tod von Gesundheitspersonal. Die USA und Russland verfügen derzeit gemeinsam über mehr als 3.500 einsatzbereite Atomwaffen.
In einem Atomkrieg zwischen Russland und der NATO mit dem Einsatz von vielen Atomwaffen wäre die ganze Welt betroffen; das Klima würde sich so stark verändern, dass eine Hungersnot für Milliarden von Menschen drohen würde.

Die NATO muss jetzt auf Reaktionen, die weiter eskalierend wirken, sowie Gegenmaßnahmen im nuklearen Bereich wie eine erhöhte Bereitschaft der Atomwaffen verzichten.
Der Abgrund, an dem wir heute stehen, zeigt noch einmal sehr deutlich, wie dringend notwendig es ist, dass Deutschland den Atomwaffenverbotsvertrag endlich unterzeichnet und sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. Diese Atomwaffen bieten keinen Schutz, sondern sind potentielle Ziele.

Wir sehen auch eine weitere Gefahr: Von den vier ukrainischen Atomkraftwerken mit insgesamt 15 Reaktorblöcken geht eine große Bedrohung für das Leben und die Gesundheit aus. Bei einem Unfall wären die Menschen in ganz Europa betroffen.
Gefährdet sind Atomkraftwerke schon dann, wenn wegen Kampfhandlungen nur das Stromnetz lahmgelegt wird oder durch Sabotage beschädigt wird. Wenn dann auch das Notstromaggregat nicht funktioniert, kann der Reaktor nicht mehr gekühlt werden — mit gravierenden Folgen.
Selbst wenn der Reaktor nur beschädigt sein sollte und abgeschaltet würde, könnte er sich durch den Verlust von Kühlwasser so stark erhitzen, dass es zu Explosionen käme wie in Fukushima.
Eine zusätzliche Bedrohung geht von den Abklingbecken aus, die mit abgebrannten Brennelementen gefüllt sind.

Die Möglichkeit für Frieden in Freiheit ist nicht verloren. Solidarisieren wir uns mit dem Widerstand in Russland selbst. Tausende russische Ärzt*innen und Gesundheitsfachkräfte haben einen Appell gegen den Krieg unterzeichnet und lehnen Putins Militärangriffe in der Ukraine entschieden ab.
Jeder Krieg verletzt das Menschenrecht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit in dramatischer Weise. Es ist unsere Aufgabe als Ärzt*innen und Gesundheitspersonal, Leben zu retten und vor Schaden zu bewahren*.
Seit 2014 hat der Krieg in der Ostukraine schon 13.000 Menschen das Leben gekostet. Drei Millionen Menschen mussten flüchten.

Zu viele Rüstungskontrollverträge wurden in den vergangenen 20 Jahren aufgekündigt, allen voran durch die USA.
Diplomatische Lösungsvorschläge von Menschen aus der Friedensforschung, der Friedensbewegung sowie von ehemaligen Diplomat*innen für ein Moratorium für jegliche NATO-Bündniserweiterung verhallten ungehört. Dennoch bleiben diplomatische und völkerrechtliche Vereinbarungen, an die wir auch in dieser schwierigen Situation anknüpfen können. Eine neue europäische Friedensordnung muss die Sicherheitsinteressen Aller anerkennen.
Es muss eine politische Lösung gefunden werden auf der Basis eines Konzeptes, das nicht auf Abschreckung beruht, sondern auf dem Entwurf einer gemeinsamen Sicherheit. Nur damit können große Probleme wie die Klimakatastrophe gelöst werden.

Mehr denn je brauchen wir eine starke Bürger*innen und Friedensbewegung auf den Straßen. Dringend notwendig sind alle Formen des kulturellen Austausches zwischen Menschen in der Ukraine, Russland und Deutschland. In ihrer großen Mehrheit lehnen sie jeden Krieg in Europa ab und wollen friedlich miteinander leben. Wir verweigern uns dem Hass, der zunehmend die Debatten um den Ukraine-Krieg bestimmt.
Es ist bestürzend zu sehen, wie die vielen zivilgesellschaftlichen Verbindungen mit Russland, die nach den schmerzlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges mühsam aufgebaut wurden, jetzt abreißen.
In diesem Sinne kritisiert die IPPNW die Empfehlung des Bundesforschungsministeriums, jegliche wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auszusetzen.

Wir müssen den Frieden selbst in die Hand nehmen. Am Ende wird nur Diplomatie, kontrollierte Abrüstung und gemeinsame Sicherheit der richtige Weg sein.

Die IPPNW fordert von der Bundesregierung:
– sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine einzusetzen
– alle Mittel auszuschöpfen, um eine Eskalation in einen Atomkrieg zu verhindern
– weiterhin für Gespräche offen zu bleiben und sich für den Einsatz von Mediator*innen stark zu machen
– die diplomatischen Möglichkeiten im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu nutzen
– sich in der NATO für ein Aufnahmemoratorium für die Ukraine im Gegenzug zum vollständigen Rückzug der russischen Truppen einzusetzen
– sich für eine Konferenz über die künftige Sicherheitsarchitektur Europas starkzumachen
– auf eskalierende Reaktionen und eine demütigende Rhetorik zu verzichten
– sich für die Aufrechterhaltung des zivilgesellschaftlichen und kulturellen Austausches mit Russland einzusetzen
– Kriegsdienstverweiger*innen aus Russland, der Ukraine und Belarus einen Aufenthaltsstatus zu gewähren
– das 100 Mrd. Euro-Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr zurückzunehmen und das Geld stattdessen für eine beschleunigte Energiewende und eine sozial-ökologische Transformation zu verwenden.

* Diesen Appell können ausdrücklich auch Nicht-Mediziner*innen unterstützen.

Online unterzeichnen

Unterzeichnen Sie hier online den Appell „Die Waffen nieder – Deeskalation jetzt“.

https://www.ippnw.de/aktiv-werden/kampagnen/appell-die-waffen-nieder/appell-online-unterzeichnen.html

Persönlich möchte ich diesen Appell noch um das Folgende erweitern:

Ich fordere die Staatsführung der Ukraine auf, den von Russland angebotenen Friedensvertrag zu unterzeichnen, zum Schutz der Zivilbevölkerung die Kampfhandlungen einzustellen und sich nicht durch massive Waffenimporte seitens der NATO in einen Stellvertreterkrieg hineinziehen zu lassen.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Erblicher Mikro-RNA-Mangel im Gehirn kann zu Schizophrenie führen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hier geht es um Entdeckungen an Mäusegehirnen:
http://www.spektrum.de/news/mikro-rna-mangel-laesst-schizophrene-stimmen-hoeren/1430944
lachmaus

Der Titel ist wohl etwas reißerisch. Dass Mäuse schizophren werden können, war mir allerdings bisher unbekannt.
Welche akustischen Halluzinationen haben wohl solche Mäuse? Das Miauen nicht vorhandener Katzen ?
Auszüge:

Schizophrene Wahnvorstellungen entstehen durch ein allzu bereitwilliges Anspringen des Hirns auf das Neurosignal Dopamin, dachten Nervenärzte. Aber woher rührt diese Überreaktion?

von Jan Osterkamp

Menschen mit einer schizophrenen Psychose verlieren in akuten Phasen den Bezug zur Realität, entwickeln Wahnvorstellungen und erleben Halluzinationen; sie hören also zum Beispiel Geräusche oder Stimmen. Dabei entstehen die Halluzinationen keineswegs zufällig und regellos aus dem Nichts, wie Mediziner seit einigen Jahren wissen.
Vielmehr liegen Störungen im neuronalen Stoffwechsel ganz bestimmter Hirnregionen zu Grunde: So resultieren akustische Halluzinationen etwa aus einer Übererregung von Dopaminrezeptoren im auditorischen Kortex, jenem Areal des Gehirns, das mit der Verarbeitung und Weiterleitung von akustischen Reizen beschäftigt ist.
Medikamente gegen Schizophrenie setzen hier schon an, haben aber starke Nebenwirkungen – und sie zielen vielleicht auch nicht genau genug auf die eigentlichen Ursachen, meinen Forscher nun nach neuen Untersuchungen.
Denn tatsächlich sind nicht die Dopaminrezeptoren selbst schuld an den Wahnwahrnehmungen, sondern ein bisher übersehener mikro-RNA-Regulator.

Die verdächtige mikroRNA „miR-338-3p“ hatten Stanislav Zakharenko vom St. Jude Hospital im US-amerikanischen Memphis als eine von rund 2000 kurzen regulatorischen RNA-Schnipseln von Hirnzellen ins Visier genommen: Die mikroRNA ist in den auditorischen Hirnarealen von mutierten Mäusen mit einer Schizophrenie auffällig gering konzentriert. Der RNA-Schnipsel bremst die Produktion von D2-Dopamin-Rezeptoren (Drd2) in den Neuronen.
Diese Rezeptoren kommen bei Patienten mit schizophrener Psychose in den neuronalen Bündeln häufiger vor, die aus dem Thalamus in den auditorischen Kortex ausstrahlen.
Werden sie durch Neuroleptika wie Phenothiazine blockiert, so lindert das die Halluzinationen.
Denselben Effekt erzielten die Forscher in einem Mausmodell der Schizophrenie nun – ohne die Nebenwirkungen der Medikamente –, indem sie im auditorischen Kortex der Versuchstieren künstlich mehr miR-338-3p zuführten. Die mikro-RNA kann die Symptome der psychischen Erkrankung also bekämpfen.

Tatsächlich könnte dies auch erklären, warum Menschen mit einer bestimmten, durch einen Gendefekt verursachten Form der Schizophrenie meist erst im Erwachsenenalter deutliche Symptome zeigen. Denn in den Mäusen sank die Menge der miR-338-3p-mikroRNA im Laufe des Lebens allmählich – und erst wenn die Mikro-RNA-Menge einen bestimmten Schwellenwert unterschreitet, werden zu viele D2-Rezeptoren produziert, was zu einer krankhaft erhöhten Erregbarkeit des Hirnareals führt.
Schizophrenie wird wohl durch eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen ausgelöst, die gelegentlich womöglich nicht einmal mit dem Dopaminstoffwechsel im Gehirn zu tun haben. Zumindest solchen Patienten, bei denen durch genetische Defekte die mikro-RNA-Regulation der Neuronen aus dem Takt geraten ist, könnte aber vielleicht in Zukunft besser geholfen werden, hoffen die Forscher.

Ergänzung aus meiner Berufserfahrung: Nahezu alle meiner PatientInnen waren als Kleinkind schwersten Traumatisierungen durch Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch in der Familie ausgesetzt. DEr Übergang von einer posttraumatischen Belastungsstörung zur Psychose ist flie0end. Siehe dazu Alice Miller: „Am Anfang war Erziehung“ zur schwarzen Pädagogik.
Die in der neoliberalen „westlichen Wertegemeinschft“ übliche psychiatrische Therapie verzichtet völlig darauf, eine solche Vorgeschichte zu erheben und zu bearbeiten, vor allem, weil das extrem zeitaufwändig, personalintensiv und leider oft mit Therapieabbrüchen belastet ist. Um dem Patienten eine Selbstakzeptanz und das Eingehen gefühlsintensiver Beziehungen zu ermöglichen, sollte das aber auf jeden Fall versucht werden. Das ist aber leider nicht im Sinn des Krankenkassensystems, weil die Arbeitsfähigkeit nicht unbedingt wieder hergestellt werden kann,
Die dergestalt von der Gesundheits“reform“ betroffenen psychatrischen Patienten haben meist nicht die Fähigkeit, Konflikte durchzustehen nd etwas einzufordern und geraten so schnell auf das Abstellgleis der Pharmaindustrie.

© Spektrum.de

Jochen

Psychotraumatologe zu Syrien:“Ich bezweifle, dass es dort je wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft geben kann“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Guter Artikel im Spektrum der Wissenschaft:
http://www.spektrum.de/news/ich-bezweifle-dass-es-dort-je-wieder-eine-funktionierende-zivilgesellschaft-geben-kann/1367283
Auszüge:
Krieg, Gräueltaten, Vertreibung und Flucht – im Norden des Irak und Syriens, in Afghanistan und Palästina erleiden Menschen für uns unvorstellbare Gewalt, oft seit Generationen.

© mit frdl. Gen. von Günter H. Seidler

Der Psychotraumatologe Günter H. Seidler erklärt, welche Folgen extreme Gewalterfahrungen für den Einzelnen und die Gesellschaft haben und inwieweit sie überwunden werden können.
von Bernhard Fleischer

Herr Seidler, die Medien konfrontieren uns in letzter Zeit verstärkt mit den schrecklichen Auswirkungen des Kriegsgeschehens in Syrien und dem Irak. Viele Betroffene sind durch ihre Erlebnisse traumatisiert. Was genau ist darunter zu verstehen?

Günter H. Seidler: Eine Traumatisierung ist eine psychische Verletzung infolge einer Situation von Todesangst, in der die Verarbeitungsmöglichkeiten des Organismus überfordert sind. Erst 1980 wurde die Diagnose erstmals offiziell vorgestellt, als Folge des Vietnamkriegs. Bis dahin galt die Meinung, der Mensch sei unbegrenzt belastbar. Wer nach schlimmen Ereignissen seelisch angeschlagen war, galt bis dahin als schon vorher krank gewesen. Aber die US-Soldaten waren damals, bevor sie in den Vietnamkrieg geschickt wurden, alle psychiatrisch gründlich untersucht und die Befunde dokumentiert worden. Viele, die vorher gesund waren, kamen seelisch schwer angeschlagen zurück. „Sie standen neben sich“, das heißt, sie spalteten ihre Emotionen ab oder durchlebten die schrecklichen Ereignisse immer wieder in so genannten Flashbacks. Viele fanden nie mehr in ihr gewohntes Leben zurück, fielen völlig aus dem sozialen Umfeld heraus, verwahrlosten oder nahmen sich das Leben. Das führte zu der Erkenntnis: Zu viel Gewalt ist ungesund und verursacht psychische Störungen.

Wie ist die Entstehung von Traumafolgestörungen physiologisch zu erklären?

Physiologisch gesehen stellen Psychotraumata „Auslöschungserfahrungen“ dar. Unter starkem Stress stellt sich der Körper durch schwallartig und später wellenförmig ausgeschüttete Stresshormone – Adrenalin und Cortisol – auf Kampf oder Flucht ein. Diese beeinträchtigen auch die Funktion zentralnervöser Strukturen, die für die Gedächtnisbildung zuständig sind, insbesondere des Hippocampus. Er ist für die Speicherung unserer Wahrnehmungen zuständig und versieht sie – ähnlich wie eine Digitalkamera mit GPS-Funktion – jeweils mit einem Ort- und Zeitstempel. Diese Kontextualisierung wird offenbar durch Cortisol gestört. Als Folge werden die Wahrnehmungen in der lebensgefährlichen Situation so abgespeichert, dass sie später nicht mehr einzuordnen sind.

Welche Folgen hat ein psychisches Trauma für die Betroffenen?

Das kann schwer wiegende Konsequenzen für das weitere Leben haben. Tritt erneut starker Stress auf oder ein bestimmter Triggerreiz, durchleben die Betroffenen die lebensgefährlichen Situation erneut, ohne dass sie das Geschehen als bereits Vergangenes einordnen können. Es ist ihnen plötzlich wieder präsent.
Ein weiterer wichtiger Einfluss des Stresshormons Cortisol ist die Blockade der sprachlichen Erinnerung. Üblicherweise werden bei der Erinnerungsbildung verschiedene Sinneskanäle zusammengeführt, und das Ganze wird an Sprache gebunden. Nur so können wir später – mehr oder weniger zutreffend – einen Bericht darüber abgeben, was wir erlebt haben. Diese Kopplung an Sprache ist in der traumatischen Situation blockiert. Wenn jemand von den traumatischen Ereignissen berichten will, hört er meist sehr schnell wieder auf zu reden. Stattdessen reagiert er körperlich, wird rot oder kreidebleich, kommt ins Schwitzen oder kollabiert sogar.
Dies muss man unbedingt berücksichtigen, wenn Opfer von schweren Straftaten vor Gericht aussagen oder Flüchtlinge von ihrem Schicksal berichten sollen. Die befinden sich dann quasi erneut in der lebensgefährlichen Situation, ohne dass es eine Erinnerung ist. Sie erleben diese lebensgefährliche Situation von damals als präsentisch. Das ist es, was man unter einer Traumasituation gegenwärtig versteht.

Ähnlich wie die Kinder in Syrien und im Irak haben auch viele Deutsche in ihrer Jugend extreme Gewalterfahrungen gemacht – das Ende des Zweiten Weltkriegs ist jetzt fast genau 70 Jahre her. Wie haben sich diese Erlebnisse auf die Betroffenen im Lauf ihres Lebens ausgewirkt?

Nach der aktuellen Forschungslage wird davon ausgegangen, dass das menschliche Gehirn vor dem zehnten Lebensjahr noch nicht reif genug ist, eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auszubilden. Stattdessen reagieren die betroffenen Kinder in der Situation selbst und in ihrem späteren Leben unter psychischen Belastungen mit einer schweren Depression. Die Erkenntnis, dass viele Depressionen (bei einfachen Ereignissen) eigentlich auf Traumatisierungen in der Kindheit zurückzuführen sind, setzt sich aber erst langsam durch.

Darüber hinaus kann es Situationen geben, in denen Kinder über längere Zeit fortgesetzter Gewalt ausgesetzt sind. Dann besteht die Gefahr, dass sich die Erfahrungen in die noch entstehende Persönlichkeit eingraben, insbesondere wenn zum Täter eine enge Beziehung besteht. In solchen Fällen spricht man dann nicht von einfacher, sondern von komplexer PTBS. Nach der herrschenden Lehrmeinung gibt es solche Traumafolgestörungen auf Grund von Traumatisierungen in der Kindheit noch gar nicht. Eine entsprechende diagnostische Kategorie ist noch nicht vergeben. Dort wird Gewalt von Seiten der Psychotherapie sozusagen noch geleugnet, nicht wahrgenommen.

Welche Folgen hat es für die Generation der Kinder, deren Eltern psychisch traumatisiert wurden? Gibt es Untersuchungen dazu, ob die Traumatisierungen weitergegeben werden können?

Dieses Phänomen nennt man „transgenerationale Traumatisierung“. Man weiß, dass in der Kindergeneration bestimmte Hormonparameter verändert sind, wenn die Eltern im Krieg traumatisiert wurden. Ähnliches wurde auch in Tierversuchen nachgewiesen. Wenn die Eltern vom Krieg betroffen waren, dann haben ihre Kinder ein signifikant höheres Risiko, eine Traumafolgestörung zu entwickeln. Angstsignale oder Angstschwellen werden offenbar von den Eltern an die Kinder weitergegeben – durch Vererbung, aber natürlich auch interaktionell. Hierzu ist noch Forschung nötig. Die Psychotraumatologie ist eine noch sehr junge Disziplin.
Ich persönlich beschäftige mich vor allem mit der Frage, wie ein Trauma durch Verhalten weitergegeben wird. Dabei spielt „Hyperarousal“, also die ständige Übererregtheit, eine große Rolle. Wenn man sich vorstellt, dass ein Elternteil wegen eines unverarbeiteten Traumas latent in Alarmbereitschaft ist und bei der kleinsten Anspannung durchdreht, wird dies natürlich unbewusst an die Kinder weitergegeben. Dazu reicht zum Beispiel ein Bericht im Fernsehen oder sogar ein Geräusch oder ein Geruch, der an die damalige Situation erinnert. Plötzlich reagiert der betroffene Elternteil scheinbar grundlos und für die Kinder völlig unerklärlich mit einem Wutanfall oder erstarrt und ist für das Kind nicht mehr erreichbar.
Unter diesem Einfluss entstehen in den Heranwachsenden unmerklich Verknüpfungen, die sich auf ihr Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoire dysfunktional auswirken.

Es gibt viele Berichte, dass vom Zweiten Weltkrieg Betroffene ihr Leben lang nicht von den Auswirkungen ihrer Kriegserlebnisse beeinträchtigt waren, sich aber im hohen Alter zunehmend damit beschäftigen und darunter leiden.

Das ist ein Befund, der ganz oft erhoben worden ist. Angeblich sind die Betroffenen in der Zwischenzeit, 40 bis 50 Jahre lang, symptomfrei gewesen.
Ich persönlich glaube das nicht. Vielleicht hatten sie nur schwache Symptome, vielleicht sind die Betroffenen immer leicht abgeschaltet gewesen, waren nie ganz da, aber das ist meine Meinung. Ich bezweifle, dass diese Menschen jemals gesund gewesen sind.
Die herrschende Meinung der Hirnforschung wäre die, dass dafür hirnorganische Abbauprozesse verantwortlich seien, die dazu führten, dass dann im Alter die Symptomatik durchschlagen würde. Man hat das im Altenheim oft beobachtet: Jemand berichtet erst auf dem Sterbebett immer wieder albtraumartig von Kriegserlebnissen, Verschüttungen oder Vergewaltigungen.

Aktuell werden wir wieder mit schrecklichem Kriegsgeschehen, Flucht und Verfolgung, insbesondere in Syrien, aber auch im Norden des Iraks und in Afghanistan konfrontiert. Welche Auswirkungen hat das für die Betroffenen?

Schon vor IS war meine Albtraumfantasie immer Afghanistan oder Palästina, also solche Regionen, in denen bereits über Generationen hinweg Krieg und Gewalt herrscht. Ich bezweifle, dass es im Irak, in Syrien oder Palästina jemals wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft geben kann. Das fängt ja schon mit dem Ernährungszustand an: Die Gehirne sind durch Mangelernährung bereits vorgeburtlich geschädigt. Die Erwachsenen sind traumatisiert. Die Kinder wachsen in Angst und Schrecken auf. Generationen von Menschen wachsen heran, die über lange Zeit geschädigt sein werden. Gegenwärtig macht sich darüber kaum jemand Gedanken.

Gibt es Wege, die schlimmsten Folgen für die seelische Gesundheit der Menschen dort zu vermeiden?

Solange die Gewalt dort unvermindert weitergeht, ist eine psychotherapeutische Behandlung der Betroffenen vor Ort kaum möglich. Individuelle Psychotherapie wäre in solchen Situationen ohnehin kaum umsetzbar. Es ist nicht sinnvoll, Menschen aus anderen Kulturkreisen mit westlichen Therapiemethoden zu behandeln. Der arabische Raum ist von einem ganz anderen Menschenbild geprägt, das sollte man unbedingt berücksichtigen. Mir würde vorschweben, spezielle Gruppentherapieverfahren zu entwickeln. Ähnliches haben wir nach der Tsunamikatastrophe in Sri Lanka verwirklicht.

Wie liefe so eine Gruppentherapie ab?

Wir haben damals mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen Theaterstücke – insbesondere für Puppentheater – entwickelt. Unser Ziel war es, auf diese Weise die traumatischen Erfahrungen nachzuempfinden und damit stellvertretend abzubauen. Wenn die Betroffenen die Erfahrung machen, dass zum Beispiel das Kasperle dem Krokodil nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern es mit einem Knüppel vertreiben und besiegen kann, hilft ihnen das, ihre Ängste zu thematisieren und abzubauen. An Stelle des Krokodils setzt man dann behutsam eine Figur ein, die der realen traumatischen Situation entspricht.
Bei den Tsunamiopfern war das ein Wassergeist, man könnte aber auch eine Puppe nehmen, die Soldaten oder IS-Kämpfern ähnelt. Dann kann stellvertretend in der Identifikation mit dem Kasperle erlebt und durchgespielt werden, dass man nicht nur hilflos, sondern auch stark sein kann.

Sie bezweifeln, dass es in Syrien jemals wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft geben wird. Wie konnte es diese denn in Deutschland geben, nach dem Zweiten Weltkrieg?

Die Frage ist berechtigt. Zweifellos hat der letzte Weltkrieg viele Menschen schwer traumatisiert. Damals gab es für einen Großteil der Bevölkerung noch eine Kontinuität. Die Sozialstrukturen konnten weitestgehend erhalten bleiben. Der Staat hat bis zum Kriegsende eine gewisse Ordnung aufrechterhalten, die Kinder gingen zur Schule. Durch den Bombenkrieg sind die Deutschen, anders als von den Alliierten erhofft, noch enger zusammengerückt. Die Front zwischen Freund und Feind war klar und einigermaßen berechenbar. Im syrischen Bürgerkrieg ist der Nachbar zum Feind geworden. Hier bekriegen sich keine Staaten, sondern rivalisierende Klans. Die Lage ist unübersichtlich, der Staat ist größtenteils zusammengebrochen. Das führt dazu, dass das Vertrauen der Menschen noch tiefer erschüttert wird.

Immer mehr Menschen aus diesen Ländern flüchten nach Europa – auch nach Deutschland – und bringen ihre traumatischen Erfahrungen mit. Wie können wir diesen Menschen hier zu Lande helfen?

Wichtige Voraussetzungen, ein Trauma zu überstehen, sind vor allem stabile Sozialstrukturen, die das Gefühl von Sicherheit vermitteln: Treffpunkte, Sport oder kulturelle Aktivitäten. Das ist in Flüchtlingsunterkünften nur schwer zu verwirklichen. Die Menschen werden durch den Krieg aus ihrem sozialen und kulturellen Umfeld herausgerissen und leben in einem fremden Land in Massenunterkünften, werden nicht selten angefeindet und erleben sogar erneut Gewalt. Am besten wäre es, die Flüchtlinge schnell im Land zu verteilen, sie in die sozialen Aktivitäten vor Ort einzubinden, sie zum Beispiel mitzunehmen, zum Fußballverein oder in den Angelklub.

Kann man als Laie erkennen, ob ein Mensch traumatisiert ist? Wie sollte man sich verhalten, wenn man mit Flüchtlingen in Kontakt kommt?

Ja, in vielen Fällen kann man das. Ihr Angstpegel ist dauerhaft hoch. Im Fernsehen sieht man oft Flüchtlinge mit vor Schreck geweiteten Augen, ähnlich einem Tunnelblick. Sie blicken ihr Gegenüber nicht an, schauen durch ihn durch, ins Weite. Traumatisierte verhalten sich oft auffällig. Entweder wirken sie sehr aufgekratzt und übermäßig aktiv oder sind gleichsam eingefroren und starr.

Welchen Rat geben Sie als Psychotraumatologe den Verantwortlichen angesichts der aktuellen Flüchtlingswelle?

Die Herausforderung, die jetzt auf uns zukommt, war absehbar. Spätestens seit 2011 zeichnete sich ab, dass den Hilfsorganisationen, die an Syriens Grenzen die Flüchtlinge versorgten, das Geld ausgehen wird. Darauf hätte unsere Regierung die Öffentlichkeit früher vorbereiten müssen.
Sie sollte die Bevölkerung offen darüber informieren, was noch auf sie zukommen wird. Dazu gehören auch die Schwierigkeiten, die im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen zu erwarten sind.

Welche Schwierigkeiten wären das zum Beispiel?

Wer viel Gewalt erfahren hat, ist oft leicht reizbar und neigt häufig zu plötzlichen Wutausbrüchen, die sich auch in Gewalt entladen können.
Scheinbar in Sicherheit können schon harmlose Frustrationen oder andere Schwierigkeiten die Menschen wieder in die traumatische Situation rutschen lassen, sie an die erlebte Ohnmacht erinnern. Viele reagieren dann aggressiv. Darauf sollten insbesondere die Polizisten und Sozialarbeiter vorbereitet werden, die direkt mit den Flüchtlingen zu tun haben.
Es wäre auch notwendig, irgendwo Informationen und Erfahrungen mit solchen Ereignissen zu sammeln und auszuwerten. Deswegen plädiere ich seit Jahren für die Einrichtung eines Traumainstituts ähnlich eines Bundesamts. Bisher gibt es so etwas nicht. Wir beschränken uns bislang immer wieder auf Ad-hoc-Maßnahmen. Wir brauchen eine zentrale Einrichtung, das will aber kaum jemand wahrhaben.

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Jochen