Von Kindesbeinen an: Im Teufelskreis der Armut

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, einer sehr seriösen linken Zeitung, vom Februar: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/februar/von-kindesbeinen-an-im-teufelskreis-der-armut
von Annett Mängel
Er nimmt auf den inzwischen in zensierter Form vom Nahles-Ministerium veöffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht bezug.

In wenigen Wochen wird Arbeitsministerin Andrea Nahles den „Fünften Armuts- und Reichtumsbericht“ vorstellen. Die SPD könnte, ja sie sollte dies zum Anlass nehmen, einen Kontrapunkt zur derzeit alles dominierenden Debatte um die innere Sicherheit zu setzen. Dafür müsste sie deutlich machen, dass sie die wachsende soziale Ungleichheit endlich wieder ernst nimmt.

Immerhin gehen die jüngsten Fraktionsbeschlüsse zum Thema „Gerechtigkeit“ in eben diese Richtung: Die SPD fordert Ganztagsbetreuung in der Kita für alle Kinder, die Entlastung von Alleinerziehenden und einen Familientarif im Steuerrecht, unabhängig von der Art des Zusammenlebens der Eltern. Auf diese Weise will sie Ungleichheit abbauen und setzt dabei zu Recht vor allem auf eine stärkere Unterstützung von Familien.
Das Nachsehen haben allerdings all jene, die in der Armutsfalle Hartz IV festhängen – während Gutverdiener und Wohlhabende keine Einschnitte zu befürchten haben. Ohne eine gesellschaftliche Umverteilung aber wird man das wachsende Armutsproblem hierzulande nicht bekämpfen können.

Doch während sich die SPD-Bundestagsfraktion das Thema Gerechtigkeit immerhin auf die Fahnen geschrieben hat, streichen CDU und CSU ihnen missfallende Passagen munter aus dem „Armuts- und Reichtumsbericht“.
So war in der ersten Fassung noch explizit von einer „Krise der Repräsentation“ die Rede:Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Es gebe sogar „eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.“[1]
Dieser dramatische Befund fehlt in der zweiten Fassung – vermutlich auf Veranlassung des Bundeskanzleramts *). Und obwohl ursprünglich besonders der Einfluss von Eliten und Vermögenden auf politische Entscheidungen untersucht werden sollte, verschwand auch hier die entscheidende Passage, nämlich zum Einfluss von Lobbygruppen auf politische Entscheidungen.

Die Analyse der bestehenden Verhältnisse wich so „der Apologie des Regierungshandelns“[2], wie der Paritätische Gesamtverband zu Recht moniert. Erheblich relativiert wurde auch die Aussage, dass sich die Ungleichheit negativ auf das wirtschaftliche Wachstum auswirkt: Dieses hätte „fast sechs Prozentpunkte höher ausfallen können“, hätte die Ungleichheit in den vergangenen Jahren nicht in so hohem Maße zugenommen, wie der „Paritätische“ mit Verweis auf die OECD betont.

Die derart geschönte Analyse ist umso fahrlässiger, weil das Problem noch gravierender geworden ist: Die soziale Mobilität nimmt ab[3] und die Armutsquote der Bundesrepublik liegt inzwischen bei 15,7 Prozent.
Damit hat jeder Siebte weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung: Im Jahr 2015 lag die so ermittelte Armutsschwelle für alleinlebende Personen bei 942 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1978 Euro.[4]
Zugleich sind mehr als eine halbe Million Rentnerinnen und Rentner von Grundsicherung im Alter abhängig, mehr als je zuvor und mit steigender Tendenz. Besonders von Armut betroffen sind Alleinerziehende und deren Kinder.[5] Die Folgen von Armut sind dramatisch: Frauen im untersten Fünftel der Gesellschaft haben eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als Frauen im obersten Fünftel, bei Männern liegt die Differenz sogar bei elf Jahren.[6]

Der Hauptgrund für Armut ist – neben Arbeitslosigkeit – das niedrige Einkommen infolge prekärer Arbeitsverhältnisse. Deshalb müssen auf dem Arbeitsmarkt endlich Standards durchgesetzt werden, die es den Menschen ermöglichen, von ihrer Arbeit auch zu leben.
Bei der jüngsten Erhöhung des Mindestlohns auf 8,84 Euro pro Stunde kann davon nicht die Rede sein. Damit eine Familie zu ernähren, ist völlig ausgeschlossen, von der Hoffnung auf eine auskömmliche Rente ganz zu schweigen. Will der Staat nicht dauerhaft – und noch dazu unzureichend – schlechte Arbeitsbedingungen subventionieren, durch aufstockende Hartz-IV-Leistungen, Wohngeld und Kinderzuschläge, dann muss er sich für „gute Arbeit“ stark machen. Wird der fatale Trend zu immer mehr prekärer Beschäftigung – von der Paketbotin bis zum Altenpfleger – dagegen nicht endlich umgekehrt, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt noch weiter erodieren.

Die große Kluft zwischen Kindern

Besonders gravierend wirkt sich Armut auf das Leben von Kindern aus. Bei ihnen beginnt ein wahrer Teufelskreis: Kinderarmut erhöht das Risiko von Einkommensarmut und damit auch von Altersarmut. Deshalb ist es besonders dringend geboten, hier wirksam gegenzusteuern.
Inzwischen lebt fast jedes fünfte Kind in einkommensarmen Haushalten, jedes siebte Kind sogar von Hartz IV. Für Letztere stehen nach den jüngsten Erhöhungen zum Januar 2017 lediglich zwischen 237 und 311 Euro pro Monat zur Verfügung: für Essen, Bildung und Freizeit. Eine ausgewogene Ernährung und eine auch nur minimale gesellschaftliche Teilhabe sind davon kaum möglich. Die Posten für Schreibwaren, Zeichenmaterial und Hobbykurse sind bei der Berechnung sogar gestrichen worden – unter Verweis auf das Bundesteilhabegesetz.
Doch weil dessen Angebot nicht ausreichend kommuniziert und vor allem der bürokratische Aufwand zu hoch ist, machen viel zu wenige tatsächlich Gebrauch davon.

Der Paritätische Gesamtverband moniert deshalb zu Recht, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder „wissenschaftlich nicht belastbar und realitätsfern“ sind, und fordert eine Anhebung um 29 Prozent sowie eine nachvollziehbare Neuberechnung.[7]
Darüber hinaus macht er sich gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden, den Grünen und der Linkspartei für eine allgemeine Kindergrundsicherung stark.

Tatsächlich beeinflusst das Aufwachsen in Armut die Lebensrealität und die Zukunftschancen von Kindern ganz massiv.

Sie wohnen oft unter beengten Verhältnissen und damit ohne einen ruhigen Platz, um Hausaufgaben zu erledigen.
Ein Viertel der armen Kinder bekommt teilweise oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig gesundes Essen. Der permanente Mangel verschlechtert das Familienklima. Und auch die sozialen Netzwerke sind kleiner, denn die Kinder nehmen weniger Freizeitangebote – ob Musikschulen oder Fußballvereine – wahr.
Viele arme Kinder entwickeln daher ein geringeres Selbstwertgefühl, nicht zuletzt aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung. So starten sie mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule und werden dort selbst bei gleichen Leistungen schlechter bewertet als Kinder aus wohlhabenden Haushalten.[8]

Jede neue Bildungsstudie attestiert Deutschland eine im Vergleich zu anderen Ländern besondere Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft – und dennoch hat sich daran noch immer nichts geändert. Vielmehr verfestigen sich die Unterschiede zwischen armen und nichtarmen Kindern schon früh.
Vielerorts ist die Möglichkeit, eine Kita zu besuchen, an eine sogenannte Bedarfsprüfung gekoppelt – das will nach der Linkspartei nun auch die SPD endlich ändern. Bislang nämlich können nur jene Kinder den ganzen Tag in die Kita gehen, deren Eltern auch Vollzeit arbeiten. Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen oder deren Eltern eine Teilzeitstelle haben, können dagegen nur einen halben Tag in der Kita verbringen. Diese absurde Regelung ist besonders für jene Kinder von Nachteil, die von Spiel und Sport mit anderen, vom Basteln und Vorlesen besonders profitieren würden, weil ihnen zu Hause zu wenig Angebote gemacht werden.

Auch die grassierende Wohnungsnot in vielen Großstädten und die damit verbundene Verdrängung von Haushalten mit geringem Einkommen aus den Innenstädten spielt hier eine fatale Rolle. Denn die zunehmende Segregation **) in einkommenshomogene Wohnviertel verschärft die Kluft zwischen den Bildungschancen. Vor allem Kinder mit nichtdeutscher Herkunft profitieren von sprachlich durchmischten Kitagruppen, da sie so schon in jungen Jahren die deutsche Sprache erlernen.

Zudem benötigen die Kitas ausreichend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, von denen es derzeit viel zu wenige gibt. Der „Erziehermarkt“ ist leergefegt – und in den kommenden Jahren stehen viele Renteneintritte an. Um dem gesetzlich zugesicherten Anspruch auf einen Kitaplatz ab einem Jahr wirklich gerecht zu werden, muss daher in den kommenden Jahren massiv investiert werden: Mehr Erzieherinnen und Erzieher müssen ausgebildet, sinnvolle Strategien für die Weiterbildung von Quereinsteigern erarbeitet und diese so in die Kitas eingebunden werden, dass sie auch tatsächlich eine Hilfe und keine Belastung für die dortigen Erzieherinnen und Erzieher sind.[9]

Umverteilung ist nötig

Dafür aber wird eine Menge Geld benötigt. Doch eines steht fest: Eine gute Bildung unserer Kinder ist die beste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Solange dies nicht durch die dringend gebotene stärkere steuerliche Belastung von hohen Einkommen und Vermögen geschieht, sollten – angesichts des enormen Bedarfs an Kitaplätzen und Erziehern – allerdings auch nicht die Kitagebühren gänzlich für alle abgeschafft werden, wie es jüngst die SPD gefordert und für Berlin schon beschlossen hat.[10]
Wer tatsächlich „die Zugangshürden“ für Kinder von Geringverdienern und Hartz-IV-Beziehern abbauen will, sollte sich vielmehr für bundesweit gleiche Regelungen und sinnvoll gestaffelte Gebühren einsetzen, um auf diese Weise die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen zu entlasten. Denn derzeit fallen Kitagebühren bundesweit höchst unterschiedlich aus: So gibt es Gemeinden, in denen ein Kitaplatz einkommensunabhängig mehr als 600 Euro im Monat kostet – die Trennung von armen und reichen Kindern ist hier vorprogrammiert.

Für die einen ist die Kita unerschwinglich. Die anderen hingegen, die in der Lage sind, solche Summen zu begleichen, können einen Großteil davon vom zu versteuernden Einkommen abziehen lassen. Zugleich erfahren sie über den Kinderfreibetrag bereits eine höhere Zuwendung vom Staat als Durchschnitts- und Geringverdiener. Denn bei gutverdienenden Eltern lässt der sogenannte Kinderfreibetrag wegen der progressiv steigenden Steuersätze die Steuerlast in einem höheren Maße sinken, als weniger gut verdienende Eltern Kindergeld erhalten.[11]
Kurzum: Für Kinder, deren Eltern sowieso viel Geld für Bildung ausgeben können, gibt der Staat noch extra was obendrauf.

Dabei müssen einkommensschwache Haushalte ohnehin einen viel größeren Anteil ihres Haushaltseinkommens für Bildungsausgaben aufwenden. Die Konsequenz: Während in den untersten Einkommensgruppen nur knapp 30 Prozent der Familien für sogenannte nonformale Bildung jenseits von Kita und Schule Geld ausgeben – also für Musikschulen oder Sportvereine – sind es in den obersten Einkommensgruppen 80 Prozent.[12]

Um die Kluft zwischen armen und wohlhabenden Kindern zu verkleinern, sind deshalb vor allem drei Dinge erforderlich: Erstens müssen die derzeitigen Haushaltsüberschüsse von Bund und Ländern dringend in gute Kitas, Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen investiert werden – notfalls auch der vergötzten schwarzen Null zum Trotz.

Zweitens müssen Familien zielgenauer unterstützt werden – vor allem jene, die Hartz IV beziehen. Die SPD-Idee, das Kindergeld je nach Einkommen zu staffeln und den Kinderzuschlag für Geringverdiener gleich mit auszuzahlen, entbehrt zudem nicht eines gewissen Charmes. Sichergestellt werden muss dann jedoch, dass es nicht die Durchschnittsverdiener sind, die dabei verlieren.

Drittens muss deshalb endlich eine Steuerreform angepackt werden. Den Anfang machen sollte dabei die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf den Stand zu Helmut Kohls Zeiten, also von jetzt 42 auf 53 Prozent – damit hohe Einkommen und Vermögen endlich wieder einen höheren Beitrag für mehr Chancengleichheit unserer Kinder leisten können.
Nur so kann der wachsenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wirksam begegnet werden.

[1] Erste Fassung des Fünften Armuts- und Reichtumsbericht, S. 172.

[2] Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, 4.1.2017.

[3] Dorothee Spannagel, Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016, WSI-Report 31, 10/2016.

[4] Das sogenannte Medianeinkommen steht genau in der Mitte aller nach Größe sortierten Einkommen: Bei drei betrachteten Einkommen von 500, 2000 und 10000 Euro läge das Medianeinkommen bei 2000 Euro, das Durchschnittseinkommen hingegen bei 4166 Euro.

[5] Anne Lenze und Antje Funke (Bertelsmann-Stiftung), Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf, Gütersloh 2016.

[6] Fred-Jürgen Beier, Armut kann tödlich sein, in: „der Freitag“, 10.10.2016.

[7] Vgl. Der Paritätische Gesamtverband, Expertise: Regelsätze 2017. Kritische Anmerkungen zur Neuberechnung der Hartz IV-Regelsätze durch das Bundesministerium Arbeit und Soziales und Alternativberechnungen der Paritätischen Forschungsstelle, Berlin 2016, S. 19.

[8] Vgl. Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig (Bertelsmann-Stiftung), Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016, insbesondere S. 13 und S. 56.

[9] Anfang Januar gaben die Berliner und die Bremer Bildungssenatorinnen, Sandra Scheeres und Claudia Bogedan, bekannt, den Erzieherberuf zum Mangelberuf erklären zu lassen. Dann wären Fördermaßnahmen besser finanzierbar und die Einstellung ausländischer Fachkräfte würde erleichtert. Die GEW unterstützt den Vorstoß.

[10] Vgl. SPD-Bundestagsfraktion, Gute Zeiten für Familien, 13.1.2017, www.spdfraktion.de.

[11] Weil das „Existenzminimum“ steuerfrei sein muss, werden pro Kind 7356 Euro jährlich vom zu versteuernden Einkommen abgezogen. Das Finanzamt prüft automatisch, ob für die Steuerzahler der Freibetrag oder das Kindergeld günstiger ist. Bis zu einem Haushaltseinkommen in Höhe von 46 000 Euro ist die Kindergeldsumme bei einem Kind höher, als es die Steuerersparnis wäre. Bei einem Haushaltseinkommen in Höhe von 100 000 Euro liegt die Steuerersparnis schon knapp 1000 Euro darüber, bei zwei Kindern beträgt sie sogar 1879 Euro mehr, als wenn es Kindergeld gäbe. (Eigene Berechnung nach aktueller Splittingtabelle.)

[12] Vgl. Carsten Schröder, C. Katharina Spieß und Johanna Storck, Private Bildungsausgaben für Kinder. Einkommensschwache Familien sind relativ stärker belastet, „DIW-Wochenbericht“, 8/2015, S. 166.

(aus: »Blätter« 2/2017, Seite 9-12)

* Anmerkung: Das Bundeskanzleramt leitet zufällig derselbe Altmaier, der jetzt auch das Wahlprogramm für die CDU schreiben soll. Der Mann hat noch nie Armut am eigenen Leib gespürt.
** Segregation := Einsortierung – die Reichen kriegens aus dem Töpfchen, die Armen aus dem Kröpfchen

Jochen

Günter Wallraff Interview: „Ich kämpfe gegen den Schweinezyklus“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

http://www.fr-online.de/arbeit–unsere-religion-/guenter-wallraff-interview–ich-kaempfe-gegen-den-schweinezyklus-,30242698,30404692.html
Auszüge:

Im FR-Interview spricht Enthüllungsjournalist Günter Wallraff über moderne Ausbeutung, Hinterlist beim Mindestlohn und den schlimmsten Job, den er je hatte.

Interview: Elena Müller

Herr Wallraff, was bedeutet Arbeit für Sie?
Zuerst einmal: Arbeit sollte kein Selbstzweck sein und nicht das Alleinbestimmende im Leben. Doch regelmäßig erlebe ich nach neuen Veröffentlichungen, dass Betroffene direkte Hilfe erwarten oder sich mir Insider mit weiterführenden Erkenntnissen anvertrauen.
Dem entziehe ich mich nicht, und es wird zu einer Inanspruchnahme, die über die eigentliche journalistische Arbeit weit hinausgeht. Da bin ich gefordert, manchmal auch überfordert. Aber in dieser „Arbeit“ verwirkliche ich mich auch. In meinen Rollenreportagen ist das Spielerische eine kreative Antriebskraft, und ich spiele für mein Leben gern.

Auch Tischtennis habe ich gehört.
Ja, zum Beispiel spiele ich auch ab und zu in der JVA zusammen mit anderen gegen Gefangene. Daraus sind einzelne Freundschaften entstanden.
Da ich zum Meditieren zu unruhig bin, schaffe ich es beim Marathontraining – oft spätabends noch – Anspannung und Probleme auszuschwitzen.
Als jetzt mal wieder das Büro aufgeräumt werden musste und ich merkte, dass das alles wieder nur in Arbeit ausartet, habe ich zwecks Auflockerung einen Tischkicker reingestellt. Nur leider spielt mein Mitarbeiter in einer anderen Liga, er ist 33 und altersbedingt meist reaktionsschneller.

Und wenn Sie dann doch wieder arbeiten?
Meine Art der Arbeit hat sich für mich so ergeben, ich fühle mich gefordert, denn ich bin inzwischen ja auch privilegiert.
Ich war zwar Ende der 60er und in den 70ern für eine gewisse Zeit für „Pardon“ und „Konkret“ (zwei Magazine, Anm. d. Red.) tätig und habe dort immer das gemacht, was ich für richtig und wichtig hielt.

Was ist Ihnen gerade besonders wichtig?
Nach meinen jüngsten Recherchen für RTL mit dem „Team Wallraff“ zu den Arbeitsagenturen und Jobcentern fühle ich mich den Menschen gegenüber, deren Schicksale und Demütigungen wir veröffentlicht haben, jetzt erst recht verantwortlich, dran zu bleiben.
In Einzelfällen gelingt es unter Einbeziehung aller Beteiligten, Verbesserungen durchzusetzen. Diese „Nacharbeit“ und Nachhaltigkeit sehe ich als Verpflichtung an.
Aus diesem Grund habe ich auch zusammen mit meinem Kollegen Albrecht Kieser das Büro „work-watch“ gegründet, das Betroffenen kostenlose Beratung anbietet. Hier engagiere ich mich auch persönlich, und es macht Sinn, sich dafür die Zeit zu nehmen.

Sie denken also auch nicht in Kategorien wie Feierabend oder Urlaub?
Das würde ich gerne. Ich nehme mir oft zu viel vor, kann schlecht nein sagen und lehne es ab, sogenanntes Wichtiges von angeblich Unwichtigem zu trennen. Ich genieße es allerdings, wenn das Telefon nicht klingelt, und Sonntage liebe ich über alles.
Deshalb bin ich in diesem Punkt voll auf Seite der katholischen Kirche, dass diese Tage und bestimmte Feiertage der Zeit mit der Familie und den Freunden vorbehalten sein sollten. Wenn das alles auch noch der reinen Wirtschaftlichkeit und den Profitinteressen preisgegeben wird, wird die Vereinzelung und Entsolidarisierung der Menschen noch weiter zunehmen.
Ich genieße Tage, an denen die Zeit stillsteht, wie jetzt an Ostern oder an Weihnachten zum Beispiel, da lebe ich auf.

Wann glauben Sie, wird Arbeit zur Ausbeutung? Und wann wird Arbeit für Sie Ausbeutung?
Ich bin so privilegiert, dass ich nie sagen kann: „Ich beute mich selber aus“. Ich würde eher sagen, dass ich noch produktiver wäre, wenn mein Leben organisierter abliefe.
Aber wenn ich andere erlebe, die sich aufopfern und sich alles gefallen lassen, um das Existenzminimum zu erreichen, dann fühle ich mit diesen Menschen, das nimmt mich mit. Diese Wehrlosigkeit bis hin zur Selbstausbeutung ist von den Arbeitgeber-Strategen vorbereitet worden.
In meinem Buch „Aus der schönen neuen Welt“ zitiere ich den damaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, der schon 2004 meinte: „Die Arbeitskraft hat ihren Preis, wie ihn auch Schweine haben. Im Schweinezyklus ist der Preis hoch, wenn es wenige Schweine gibt. Werden viele Schweine angeboten, dann sinkt halt der Preis.“
Ähnlich deutlich forderte der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walther, 2008: „Manche von uns (!) werden sich darauf einstellen müssen, künftig einen Lohn zu bekommen, der in Deutschland zum Überleben nicht mehr reicht.“ Das ist die Ideologie der schamlosen Ausbeutung.

Günter Wallraff arbeitet in den 1980er Jahren als türkischer Gastarbeiter in Deutschland. Foto: dpa

Sie haben schon viel gesehen, was schlechte Arbeit angeht. Frustriert es Sie, dass sich alles immer wiederholt?
Damals wurden die Leute ausgebeutet bei Thyssen, heute bei Amazon.

Ich bewahre mir eine gewisse Naivität und tue so, als könnte alles ganz anders sein. Das heißt, ich finde mich mit dem Vorgegebenen nicht ab.
Ich bin zwar einerseits Berufsskeptiker, aber andererseits auch Zweckoptimist.
Ich sage mir: Alles, was mal die Visionen früherer Generationen waren, ist heute Realität: zum Beispiel Arbeitsrechte, Frauenrechte, Minderheitenrechte oder auch der Umweltschutz.
Was heute noch gang und gäbe ist, wird in einer zukünftigen Gesellschaft – die ich nicht mehr erleben werde – schon anders sein.

Das klingt ziemlich optimistisch!
Ja, aber wenn ich andererseits sehe, wie Rechte, die durch eine Arbeiterbewegung erkämpft wurden, rückgängig gemacht werden, dann ist es auch zum Verzweifeln. Dann frage ich mich, ob nicht alles umsonst ist.
Doch Sisyphos ist meine Leid- und Leitfigur: Egal, wie wenig erfolgversprechend und anstrengend es im Moment erscheinen mag, wir müssen es trotzdem machen und so tun, als ob alles möglich wäre. Denn es ist oft viel mehr möglich, als man vorher angenommen hat.

Wie haben sich die Menschen als Arbeitnehmer verändert im Laufe Ihrer jahrelangen Recherchen?
Ich habe den Eindruck, wir stehen am Anfang einer neuen sozialen Bewegung.
Zu Beginn meiner Arbeit Mitte der 60er Jahre in den Betrieben war es zum Beispiel viel mühseliger, einen Zeugen zu finden, der bereit war, notfalls vor Gericht auszusagen. Heute reden die Menschen offener über unzumutbare Arbeitsbedingungen, sie haben ein Bedürfnis danach.
Es sind viele, die sogar Unbill und Nachteile im Beruf riskieren, weil sie wollen, dass Missstände öffentlich werden.

Das heißt doch auch, dass man über eine breitere Front Probleme angehen könnte. Warum tun sich die Menschen nicht stärker zusammen?
Erst nachdem jemand seine Stimme erhebt, trauen sich die Menschen, von ihren Problemen zu erzählen.

Es wird ein starker Druck ausgeübt! Es gibt Regionen, gerade im Osten Deutschlands, das sind gewerkschaftsfreie Zonen.
Die meisten haben Angst vor den Konsequenzen, wissen gar nichts über die Arbeit einer Gewerkschaft und ihre Arbeitnehmerrechte.
Das ist ein Riesenproblem. In vielen Betrieben wird eine gewerkschaftliche Betätigung nicht nur erschwert, sondern sogar verhindert.

Es scheint so viele Menschen zu geben, die in der gleichen Situation sind. Doch keiner redet darüber. Viele scheinen das Gefühl zu haben, ihres sei ein Einzelschicksal.
Viele schämen sich sogar. Sie verspüren eine Ohnmacht gegenüber dem Arbeitgeber und empfinden sich als wehrlos und geben ihre Rechte auf.
Und so etwas wie Solidarität ist oft abhanden gekommen.
„Proletarier“ war mal ein Ehrentitel, heute ist er zum Begriff „Prolet“ verkommen und geht schon in Richtung „Assi“. Es ist eine Verrohung und Entsolidarisierung entstanden. Oder wie in der Jugendsprache das Wort „Opfer“ zum ausgrenzenden Schmäh- und Schimpfwort pervertiert wurde.
Wo früher dem Opfer noch Mitgefühl und Hilfsbereitschaft entgegengebracht wurde, bleibt heute nur Spott und es darf nachgetreten werden.

Sie haben schon viel aufgedeckt und die Leute wachgerüttelt. Doch immer noch gibt es neue Missstände an den Arbeitsplätzen vieler Menschen.
Was muss noch passieren, damit sich etwas ändert?

Wir dürfen nicht nachlassen! Es braucht Beharrlichkeit. Zu lange war der Begriff „Hartz-IV-Empfänger“ durch eine bestimmte Presse stigmatisiert.
Das ändert sich gerade, und ich hoffe, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann. Das Klischee des Hartz-IV-Empfängers war der „Schnorrer“, der „Abzocker“, der „Betrüger“, der es sich „in der sozialen Hängematte bequem macht“ – das hat sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben.
Jetzt findet endlich eine Wahrnehmungsänderung statt, wie Hartz-IV-Empfängern oft übel mitgespielt wird und sie wochen- oder monatelang auf die ihnen zustehende Unterstützung warten müssen.

Vehement für den Mindestlohn eingesetzt

Man sieht an den Fällen, die Sie vorstellen, dass es sich bei den Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen nicht um Abzocker handelt; es wird klar: ein Hartz-IV-Empfänger ist jemand wie du und ich.
Ja, es kann jeden treffen. Da kann jemand einen noch so guten Studienabschluss haben, aber wenn er in einem Sektor arbeiten will, in dem es ein Überangebot gibt, dann kann er schnell zu den Hartz-IV-Empfängern gehören.
Und wenn er mit über 50 arbeitslos wird, ist es fast schicksalhaft, dass er zu Mehrheit derer gehört, die nicht mehr zu vermitteln sind und von einer sinnlosen Maßnahme in die nächste geschickt wird, auf dass die Statistik beschönigt wird.

Was bedeutet das für unsere Arbeitsgesellschaft?
Es findet ein immer dramatischeres Abrutschen in ungesicherte, prekäre Arbeitsverhältnisse statt. Dann wundert man sich nicht mehr, dass Deutschland neben Japan das Land mit der geringsten Geburtenrate ist.
Ich habe in Berufen gejobbt und recherchiert, wo ein Kind für die Eltern einfach finanziell eine Katastrophe gewesen wäre, weil sie nicht wussten, wie sie es finanzieren können oder durch Arbeitsüberlastung ohnehin nicht an Kinder zu denken war.

Die Kinderlosigkeit wird ja immer den Gutgebildeten und Gutverdienern angelastet, weil die lieber Karriere machen wollen.
Dabei hat man nicht im Blick, dass es Menschen gibt, die sich ein Kind nicht leisten können.

Das habe ich zum Beispiel bei den Paketfahrern erlebt. Da scheitern Beziehungen aufgrund der Arbeitsüberlastung oder kommen deswegen erst gar nicht zustande. Einer der Fahrer, mit dem ich zusammen für GLS unterwegs war, hatte eine regelrechte Sehnsucht nach einer festen Beziehung mit Kind. Seine Freundin hatte ihn verlassen, weil er 13 bis 15 Stunden täglich unterwegs war und keine Freizeit mehr hatte.
Mir ist es dann gelungen, ihm eine Festanstellung in einem anderen Beruf zu verschaffen.

Immerhin einer mit einer Chance …
Jetzt, wo der Mindestlohn eingeführt wurde, wird es interessant. Ich habe mich für den Mindestlohn immer vehement eingesetzt.
Doch jetzt fangen bestimmte Sparten schon damit an, den Mindestlohn zu unterlaufen. Das recherchiere ich gerade.
Ein Unternehmen zum Beispiel baut gerade ein Drittel seiner Belegschaft ab und die verbliebenen Mitarbeiter sollen deren Arbeit miterledigen.
In der Paketbranche versuchen Konzerne soeben, die Verantwortung noch extremer auf die Subunternehmer zu verlagern, ihnen Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit nahezulegen.
Es kommt jetzt darauf an, dass solche Unternehmen regelmäßig kontrolliert und bei Verstößen strafrechtlich belangt werden.

Letztlich sind wir als Verbraucher auch ein wenig an der Situation der Paketlieferanten schuld.
Ja, wenn wir nur bedenkenlos schnellst-schnellst und billigst-billigst online ordern, sind wir mitverantwortlich!
Als ich von den Zuständen bei Amazon und Zalando – beschrieben im Buch „Die Lastenträger“ – erfuhr, wie die Menschen dort unter fast sektenähnlichen Bedingungen arbeiten müssen, habe ich meinen Verlag angewiesen, meine Bücher nicht mehr über Amazon zu verkaufen. Das war gar nicht so einfach. Ich habe es dennoch durchgesetzt.
Aber Amazon unterläuft meinen Boykott, indem es bei Zwischenhändlern bestellt. Aber auf diesem Weg kann es immerhin nicht so einen hohen Rabatt – 55 Prozent – wie sonst herausschinden. Erreichen konnte ich immerhin, dass Amazon meine Bücher nicht mehr über sein Ebook Kindle vertreiben darf.

Sie haben die Paketdienste angesprochen, aber das Problem gibt es auch in anderen Branchen: Wenn man bestimmte Standards hierzulande anhebt, wird es sehr wahrscheinlich woanders schlechter. Kann man den Prozess der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen überhaupt noch aufhalten?
Man muss hierzulande anfangen, die Sozialstandards zu verbessern. Das strahlt auch auf andere Länder aus.
Selbst die Wanderarbeiter in China fangen an, sich zu organisieren. Es dringt durch, zwar nicht unmittelbar, aber – das sind die positiven Seiten der Globalisierung – durchs Internet wird das Unrecht vom und im entferntesten Winkel der Welt bekannt und rückt ins öffentliche Bewusstsein.
Daher sage ich: Nicht nachlassen und die eigenen Rechte einfordern!

Haben Sie den Eindruck, die Menschen schauen mittlerweile besser hin?
Ja, das ist erstaunlich und auch ermutigend. Das Verbraucherbewusstsein ist zwar zunächst einmal ganz eigennützig, weil man sich zum Beispiel gesund ernähren möchte. Aber darin schwingt gleichzeitig auch eine Sensibilisierung für die Tierhaltung mit.
Denn für jedes Billigfleisch litt ein gequältes Tier.

Sie haben schon in vielen Branchen gearbeitet. Was war die schlimmste Arbeit, die Sie jemals gemacht haben?
Das war meine Zeit bei der „Bild“-Zeitung, als ich mich als Hans Esser da eingeschlichen habe, um deren Fälschungen und Rufmordgeschichten auf die Schliche zu kommen.
Wie man bei der aktuellen Berichterstattung über Griechenland sieht, hat sie Rückfälle in ihre schlimmsten Zeiten. Da wird aufgewiegelt und zum „Volkszorn“ angestachelt. Aber immerhin hat sie, was die direkten Verletzungen der Persönlichkeitsrechte angeht, etwas dazugelernt. In Einzelfällen versucht sie unter Beweis zu stellen, dass sie auch eine andere Seite hat.

Meinen Sie, Sie haben irgendwann mal genug vom Wühlen und der Drecksarbeit? Gibt es für Sie den Ruhestand?
Wenn die Kräfte schwinden, werde ich an meiner Autobiografie arbeiten. Ich habe so viel erlebt, was ich bislang nicht in meinen Reportagen unterbringen konnte. Für mich heißt Leben: nicht unbedingt alt zu werden. Ich konnte mir früher nie vorstellen, mein jetziges Alter zu erreichen.
Seit ich 70 bin, plane ich nur noch in Ein- bis Dreijahresabschnitten. Ich mache weiter, solange wie möglich. Die ewige Ruhe ist uns noch lange genug beschieden.

Zur Person

Günter Wallraff, 72, ist Deutschlands bekanntester Investigativjournalist. Er begann 1965, sogenannte Industrie-Reportagen zu schreiben.
Dafür schleuste er sich undercover in verschiedene Betriebe ein und veröffentlichte seine Erfahrungen mit den dortigen Arbeitsbedingungen in mehreren Büchern; das wohl bekannteste ist „Ganz unten“ (1985).

Sein aktuelles Projekt ist das Büro „workwatch“, das Menschen in prekären Arbeitsbedingungen hilft.
Im Zuge dieser Arbeit erschien Günter Wallraffs jüngstes Buch „Die Lastenträger“ im Verlag
Kiepenheuer und Witsch, 2014,
304 Seiten, 14,99 Euro. FR

Jochen