Der unverzichtbare Wiederaufbau der Internationale der Werktätigen und der Völker

Von SAMIR AMIN

Liebe Freunde, Kollegen, Genossen und -Innen, der folgende Beitrag passt auf einige Diskussionen, die sich auch in der Offenen Linken Ries abspielen.
Bitte lest ihn euch sorgfältig durch. Samir Amin ist nicht daran gelegen, Illusionen zu verbreiten. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass die Sicherung des Sozialstaates nur auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene möglich ist.
In DIESER EU ist dafür kein Mauseloch mehr gelassen.
Der Beitrag steht in „Sand im Getriebe“ hier:
http://sandimgetriebe.attac.at/12118.html

Auszüge:

1

Das seit rund dreißig Jahren bestehende System ist durch eine extreme Zentralisierung der Macht in all ihren Dimensionen gekennzeichnet: lokal und international, wirtschaftlich, politisch und militrisch, sozial und kulturell.

Einige tausend riesige Unternehmen und einige hundert Finanzinstitutionen, die zu Kartellen zusammengeschlossen sind, haben die nationalen und globalen Produktionssysteme auf den Status von Subunternehmen reduziert.

Auf diese Weise eignen sich die Finanzoligarchien einen wachsenden Anteil des Produkts von Arbeit und Unternehmen an und verwandeln es in eine Rente zu ihrem alleinigen Vorteil.

Nach der Zähmung der großen traditionellen politischen Parteien der Rechten und der Linken, der Gewerkschaften und der Organisationen der sogenannten Zivilgesellschaft üben diese Oligarchien nunmehr zugleich eine absolute politische Macht aus.
Die mediale Priesterschaft, die ihnen unterworfen ist, fabriziert die notwendige Desinformation zur Entpolitisierung der öffentlichen Meinung.
Die Oligarchien haben die frühere Bedeutung des Mehrparteiensystems auf null reduziert und es gleichsam durch das Regime einer Einheitspartei des Monopolkapitals ersetzt. Die reprsentative Demokratie ist ihres Sinns beraubt und verliert ihre Legitimitt.

Dieses System des gegenwärtigen Spätkapitalismus ist perfekt in sich geschlossen und erfllt die Kriterien von Totalitarismus, wovon man sich in diesem Zusammenhang gleichwohl zu sprechen htet. Es handelt sich um einen Totalitarismus, der im Moment noch weich ist, aber stets bereit, auf extreme Gewalt zurckzugreifen, sofern die Opfer die Mehrheit der Arbeitenden und der Völker dahin kämen, sich tatsächlich zu erheben.

Alle Veränderungen, die Teil dieser sogenannten Modernisierung sind, mssen vor dem Hintergrund dieser Analyse gesehen werden.
Das gilt für die großen ökologischen Herausforderungen (insbesondere die Frage des Klimawandels), auf die der Kapitalismus keinerlei Antwort geben kann (das Pariser Abkommen von Dezember 2016 hat nur Sand in die Augen gutgläubiger Menschen gestreut), sowie für den wissenschaftlichen Fortschritt und technologische Innovationen (u.a. Informatik), die rigoros den Forderungen nach finanzieller Rentabilität, die für die Monopole jederzeit gesichert sein muss, unterworfen werden.

Das Lob der Wettbewerbsfähigkeit und der freien Märkte, die die unterjochten Medien als Garanten für die Ausweitung der Freiheiten und die Wirksamkeit zivilgesellschaftlicher Interventionen darstellen, stellt einen Diskurs fernab der Realität dar, die von gewaltsamen Konflikten zwischen Fraktionen der bestehenden Oligarchien und von den destruktiven Auswirkungen ihrer Herrschaft geprägt ist.

2

In seiner planetarischen Dimension folgt der gegenwärtige Kapitalismus immer derselben imperialistischen Logik, die alle Phasen seiner globalen Ausbreitung kennzeichnete (die Kolonialisierung des 19. Jahrhunderts war eindeutig eine Form der Globalisierung). Die gegenwrtige Globalisierung bildet da keine Ausnahme: Sie ist eine neue Form der imperialistischen Globalisierung und nichts anderes.

Dieser Allerweltsbegriff Globalisierung verschleiert ohne diese nähere Bestimmung eine wesentliche Tatsache: die Verwirklichung systematischer Strategien, die von den historischen imperialistischen Mächten (der Triade Vereinigte Staaten, West- und Mitteleuropa, Japan) entwickelt wurden. Sie verfolgen das Ziel, die natürlichen Ressourcen des Südens zu plündern und seine Arbeitskräfte im Zuge der Standortverlagerung und der Ausnutzung von Subunternehmen extrem auszubeuten.
Diese Mächte versuchen, ihr historisches Privileg zu bewahren und alle anderen Nationen daran zu hindern, ihren Status einer unterworfenen Peripherie zu verlassen.

Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts war, genau genommen, eine der Revolte von Völkern der Peripherie des Weltsystems.
Sie engagierten sich entweder für eine mit sozialistischer Zielsetzung verbundene Abkopplung von ihm oder für eine abgeschwächte Form der nationalen Befreiung.

Das ist vorläufig vorbei, doch die laufende Rekolonialisierung, die keinerlei Legitimitt hat, ist sehr wohl fragil.

Aus diesem Grund haben die historischen imperialistischen Mächte der Triade ein System kollektiver militärischer Kontrolle des Planeten unter Fhrung der Vereinigten Staaten errichtet. Die Zugehörigkeit zur NATO, untrennbar mit dem europäischen Konstrukt verbunden, ist ebenso wie die Militarisierung Japans Bestandteil des neuen kollektiven Imperialismus, der an die Stelle der nationalen Imperialismen (der USA, Großbritanniens, Japans, Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer) getreten ist. Diese befanden sich früher zumeist in einem permanenten und gewaltsamen Konflikt.

Unter diesen Bedingungen sollte der Aufbau einer internationalistischen Front der Werktätigen und der Völker der ganzen Welt das Hauptziel im Kampf gegen die Entfaltung des heutigen imperialistischen Kapitalismus darstellen.

3

Angesichts dieser gewaltigen Herausforderung ist die Unzulänglichkeit der Kämpfe, die von den Opfern des Systems geführt werden, nur allzu offensichtlich.
Ihre Schwächen sind von unterschiedlichen Arten, die ich in die folgenden Rubriken einordnen wrde:

i) die auf lokaler wie weltweiter Ebene extreme Zersplitterung der Kämpfe, die immer spezifisch sind und an bestimmten Orten und zu bestimmten Themen geführt werden (Ökologie, Frauenrechte, soziale Dienste, Forderungen einer Gemeinschaft usw.). Die seltenen Kampagnen auf nationaler oder sogar weltweiter Ebene hatten keinen nennenswerten Erfolg, da sie keine Änderungen der Politik der Regierungen erzwungen haben. Viele dieser Kämpfe wurden vom System vereinnahmt und und nähren die Illusion über die Möglichkeit seiner Reform.

Dabei hat sich der Prozess der allgemeinen Proletarisierung enorm beschleunigt. Fast alle Angehörigen der Bevölkerungen in den zentralen kapitalistischen Ländern sind heute dem Status von Lohnarbeitern unterworfen, die ihre Arbeitskraft verkaufen. Die Industrialisierung der Regionen des Globalen Südens hat zur Bildung eines Arbeiterproletariats geführt und lohnabhängige Mittelschichten geschaffen, während ihre Bauernschaft nun vollständig in das Marktsystem integriert ist. Aber die politischen Strategien der Regierungen haben es geschafft, dieses gigantische Proletariat in verschiedene Fraktionen zu zersplittern, die untereinander oft im Konflikt stehen. Dieser Widerspruch muss überwunden werden.

ii) Die Völker der Triade haben die internationale antiimperialistische Solidarität aufgegeben, die bestenfalls durch humanitäre Kampagnen und vom Monopolkapital kontrollierte Hilfsprogramme ersetzt wurde. Die europäischen politischen Kräfte, Erben linker Traditionen, haben sich nun faktisch die imperialistische Vision der bestehenden Globalisierung zu eigen gemacht.

iii) Eine neue rechte Ideologie hat in der Bevölkerung Unterstützung gefunden.
Im Norden wurde das zentrale Thema des antikapitalistischen Klassenkampfes aufgegeben oder auf einen sehr unvollständigen Ausdruck reduziert zugunsten einer sogenannten Neudefinition der linken Sozialkultur oder des Kommunitarismus, die die Verteidigung bestimmter Rechte vom allgemeinen Kampf gegen den Kapitalismus trennen.

In einigen Ländern des Südens ist die Tradition der Kämpfe, die den antiimperialistischen Kampf mit dem sozialen Fortschritt verbanden, reaktionären, rückwärtsgewandten, parareligiösen oder pseudoethnischen Illusionen gewichen.

In anderen Ländern des Südens nährt die erfolgreiche Beschleunigung des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahrzehnten die Illusion über die Möglichkeit, einen entwickelten nationalen Kapitalismus aufzubauen, der in der Lage wäre, seine aktive Beteiligung an der Gestaltung der Globalisierung durchzusetzen.

4

Die Macht der Oligarchien des gegenwärtigen Imperialismus scheint in den Ländern der Triade und sogar auf Weltebene unzerstörbar zu sein (das Ende der Geschichte!). Die öffentliche Meinung schließt sich ihrer Verkleidung als Marktdemokratie an und zieht sie ihrem früheren Gegner dem Sozialismus vor, der stets mit so abscheulichen Begriffen wie kriminelle, nationalistische oder totalitäre Autokratien beschimpft wird.

Dieses System ist jedoch aus vielen Gründen nicht lebensfähig:

i) Das heutige kapitalistische System wird als offen für Kritik und Reform, erfinderisch und flexibel dargestellt.
Einige Stimmen behaupten, die Exzesse seiner unkontrollierten Finanzunternehmen und die damit einhergehende permanente Austeritätspolitik beenden zu wollen und damit den Kapitalismus zu retten. Aber solche Ansinnen werden vergeblich bleiben, da die gegenwärtigen Praktiken den Interessen der Oligarchen der Triade dienen, die einzigen, die zählen , denen sie trotz der wirtschaftlichen Stagnation, die die Triade heimsucht, eine kontinuierliche Steigerung des Reichtums garantieren.

ii) Das europäische Teilsystem ist integraler Bestandteil der imperialistischen Globalisierung. Es wurde in einem reaktionären, antisozialistischen, proimperialistischen Geist unter der militärischen Führung der Vereinigten Staaten konzipiert.
Deutschland übt darin seine Hegemonie aus, insbesondere im Rahmen der Eurozone und über Osteuropa, das es unter seine Kontrolle gebracht hat ebenso wie es die USA mit Lateinamerika getan haben. Das deutsche Europa dient den nationalistischen Interessen der deutschen Oligarchie, die mit Arroganz zum Ausdruck kommen, wie wir in der griechischen Krise gesehen haben. Dieses Europa ist nicht lebensfähig und seine Implosion hat bereits begonnen.

iii) Der Stagnation des Wachstums in den Ländern der Triade steht die Beschleunigung des Wachstums der Regionen im Süden gegenüber, die von der Globalisierung profitieren konnten. Man ist zu schnell zu dem Schluss gekommen, dass der Kapitalismus quicklebendig ist, auch wenn sich sein Schwerpunkt von den alten Ländern des atlantischen Westens in den Süden, insbesondere nach Asien, verlagert.
Tatsächlich drüften die Hindernisse für die Fortsetzung dieser historischen Korrekturbewegung zunehmend von Gewalttätigkeit geprägt sein, einschließlich militärischer Aggressionen. Die imperialistischen Mächte wollen es keinem Land der Peripherie ob groß oder klein erlauben, sich von ihrer Vorherrschaft zu befreien.

(iv) Die mit der kapitalistischen Expansion verbundene ökologische Verwüstung verstärkt die Gründe, warum dieses System nicht lebensfähig ist.

Wir befinden uns jetzt in der Phase des Herbstes des Kapitalismus, ohne dass diese durch das Aufkommen des Frühlings der Völker und einer sozialistischen Perspektive gestärkt wird.

Die Möglichkeit substantieller fortschrittlicher Reformen des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Phase ist nur eine Illusion.

Es gibt keine andere Alternative als die, die durch eine Erneuerung der internationalen radikalen Linken ermöglicht wird, die dann in der Lage ist, sozialistische Fortschritte zu erzielen und sich nicht nur vorzustellen.

Es ist notwendig, den krisengeschüttelten Kapitalismus zu beenden, anstatt zu versuchen, die Krise des Kapitalismus zu beenden.

In einer ersten Hypothese wurde nichts Entscheidendes die Bindung der Völker der Triade an ihre imperialistische Option, insbesondere in Europa, beeinträchtigen.
Die Opfer des Systems würden sich nicht vorstellen können, den ausgetretenen Weg des europäischen Projekts zu verlassen, das dekonstruiert werden muss, bevor es dann mit einer anderen Vision rekonstruiert werden kann.

Die Erfahrungen von Syriza, Podemos und La France insoumise, das Zögern der Partei Die Linke und anderer zeugen von dem Ausmaß und der Komplexität der Herausforderung. Der einfache Vorwurf des Nationalismus gegen die Europakritiker ist nicht stichhaltig. Das europäische Projekt wird immer deutlicher auf das des bürgerlichen Nationalismus in Deutschland reduziert.

Es gibt in Europa wie anderswo keine Alternative zu nationalen, viele Menschen einbeziehenden und demokratischen Projekten (nicht bürgerlichen, ja antibürgerlichen), die die Abkopplung von der imperialistischen Globalisierung beginnen.
Wir müssen die mit dem System verbundene extreme Zentralisierung des Reichtums und der Macht dekonstruieren.

Nach dieser Hypothese wäre das Wahrscheinlichste ein Remake des 20. Jahrhunderts: Fortschritte, die ausschließlich in einigen wenigen Peripherien des Systems erzielt werden. Aber dann müssen wir wissen, dass diese Fortschritte zerbrechlich bleiben werden wie in der Vergangenheit, und zwar aus dem gleichen Grund, nämlich wegen des permanenten Kriegs, den die imperialistischen Zentren gegen sie geführt haben, wobei die Erfolge Ersterer weitgehend den Grenzen und Verwerfungen Letzterer geschuldet sind.

Demgegenüber würde die Hypothese der Entwicklung einer Perspektive des Internationalismus der Werktätigen und der Völker Wege für andere notwendige und mögliche Entwicklungen öffnen.

Ein Verfall der Zivilisation ist nicht ausgeschlossen. In diesem Fall werden Entwicklungen nicht von Menschen bestimmt, sondern allein von Sachzwängen.
In unserer Zeit ist angesichts der zerstörerischen Kraft, die den Regierungen zur Verfügung steht (ökologische und militärische Zerstörung), die von Marx in seiner Zeit angeprangerte Gefahr real, dass die Kämpfe alle gegnerischen Lager zerstören würden.

Ein anderer Weg erfordert ein klares und organisiertes Eingreifen der internationalen Front der Werktätigen und der Völker.

5

Die Schaffung einer neuen Internationale der Werktätigen und der Völker sollte das Hauptziel aller aufrechten Kämpfer/-innen sein, die vom verabscheuungswürdigen und zukunftslosen Charakter des bestehenden imperialistischen Weltkapitalismus überzeugt sind.
Die Verantwortung ist groß und die Aufgabe erfordert mehrere Jahre, bevor sie zu greifbaren Ergebnissen führt. Ich für meinen Teil unterbreite die folgenden Vorschläge:

(i) Ziel ist es, eine Organisation (die neue Internationale) zu schaffen und nicht nur eine Bewegung. Das bedeutet, über die Gestaltung eines Diskussionsforums hinauszugehen. Es bedeutet auch, dass wir uns der Unzulänglichkeiten bewusst werden, die mit der immer noch vorherrschenden Idee verbunden sind, dass die sogenannten horizontalen Bewegungen den sogenannten vertikalen Organisationen feindlich gesinnt sind, unter dem Vorwand, dass diese von Natur aus antidemokratisch sind.
Die Organisation entsteht aus der Aktion, die von sich aus leitende Personen hervorbringt. Letztere können versuchen, Bewegungen zu dominieren oder gar zu manipulieren, aber man kann sich auch durch entsprechende Vorkehrungen vor dieser Gefahr schützen. Stoff für Diskussionen.

(ii) Die Erfahrungen mit der Geschichte der Arbeiterinternationalen mssen ernsthaft studiert werden, auch wenn man glaubt, dass sie der Vergangenheit angehören.
Nicht um unter ihnen ein Modell zu wählen, sondern um die fr die heutigen Verhältnisse am besten geeignete Form zu finden.

(iii) Die Einladung muss an eine Vielzahl von kämpferischen Parteien und Organisationen gerichtet sein.
Ein erster Ausschuss, der für den Aufbau des Projekts zuständig ist, sollte rasch eingerichtet werden.

(iv) Ich wollte diesen Text nicht belasten, verweise jedoch auf ergänzende Texte (auf Französisch und Englisch):

a) einen grundlegenden Text über Einheit und Vielfalt in der modernen Geschichte der sozialistischen Bewegungen,

b) einen Text über die Implosion des europäischen Projekts,

c) einige Texte über die im Hinblick auf die Erneuerung der radikalen Linken erforderliche Kühnheit, die neue Agrarfrage, die Lektion vom Oktober 1917 und die des Maoismus, die notwendige Erneuerung der populären nationalen Projekte sowie die Lektüre von Marx.

> http://samiramin1931.blogspot.com/2017/08/samir-amin-pour-une-internationale-des.html

Links zu den erwähnten Artikeln

Der Süden entdeckt seine Fesseln, er ist aber nicht rückschrittlich > http://samiramin1931.blogspot.com/2016/09/

Was kann man vom Norden erwarten? > http://samiramin1931.blogspot.com/2016/09/samir-amin-que-peut-on-attendre-du-nord.html

Herbst des Kapitalismus > http://samiramin1931.blogspot.com/2016/08/samir-amin-automne-du-capitalisme.html

Brexit und die Implosion de EU > http://samiramin1931.blogspot.com/2016/06/

Bedeutung von Marx heute

> http://samiramin1931.blogspot.com/2016/11/samir-amin-relevance-of-marx-today.html

Artikel von Samir Amin in Sand im Getriebe Nr. 33, 36, 45, 46, 48, 52, 55, 58, 71, 73, 77, 84, 85, 87, 88, 89(2), 91, 97(2), 100(2), 108 ,114

Abschied von einem Brückenbauer zwischen Afrika und Europa

VSA-Verlag über Samir Amin

Am 12. August verstarb unser Autor Samir Amin mit 86 Jahren in Paris. 1931 in Kairo geboren als Sohn eines Ägypters und einer Französin, arbeitete er als Forscher und Berater in Ägypten, Mali und im Senegal. Zugleich unterrichtete er als Professor an Universitäten in Poitiers, Dakar und Paris.
Seit 1980 leitete er als Spezialist für Weltwirtschaftsfragen das Afrika-Arabien-Büro des Forums der Dritten Welt in Dakar.
Samir Amin war einer der wenigen marxistischen Ökonomen, der Brücken zwischen Afrika und Europa bauen half und der seine Theorie des Altermondialismus mit Leben füllte. Bereits in Die Zukunft des Weltsystems sah er die EU im Sturm, wobei er deren Bilanz als Gemeinschaftsprojekt als unbestreitbar positiv würdigte.
Doch er warnte: Das Europa-Projekt wird die Herausforderungen, vor denen es steht (), nur dann bewältigen, wenn es ein ernstzunehmendes Gesellschaftsprojekt hervorbringt, das den Problemen unserer Zeit gerecht wird.
Eines seiner Hauptanliegen bestand darin, verstärkt wahrhaft demokratische Organisationsformen des internationalen Systems durchzusetzen, um die Wirtschaftsbeziehungen auf immer weniger ungleicher Basis umzugestalten.

Im Oktober 2018 erscheint ein SiG-Sonderheft mit Texten von Samir Amin

Jochen

Interview mit Ökonom Samir Amin: »Wir brauchen eine fünfte Internationale«

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ökonom Samir Amin sieht den Kapitalismus an sein historisches Ende gekommen

Jemand, der lange und weit in die Zukunft blickt und uns lehren kann, den Mut nicht zu verlieren. Venceremos!
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1063362.wir-brauchen-eine-fuenfte-internationale.html
SamirAminSamir Amin ist einer der bedeutendsten Theoretiker und bekanntesten linken Intellektuellen. Der gebürtige Ägypter lebt in Dakar im Senegal und leitet dort das Third World Forum.
Der Ökonom wendet sich gegen die Sichtweise, dass die kapitalistische Moderne ihre Wurzeln allein in Europa hat, und kritisiert die imperialistische Ausbeutung des globalen Südens.
Der Ökonom und Marxist gilt neben anderen als Begründer der Dependenz- und Weltsystemtheorie.
Über das lange Ende des Kapitalismus sprach Simon Poelchau mit Amin.

Auszüge:

Können Sie sich mit Ihren mittlerweile 86 Jahren noch an neue Technologien gewöhnen?

Ich schreibe E-Mails, aber die Benutzung von Smartphones ist mir zu kompliziert.

Was denken Sie dann über diese technologischen Erneuerungen – verändern sie die Welt?
Solche Erfindungen sind wichtig, aber es wurden immer schon Sachen erfunden. Das sollte man in der gegenwärtigen Diskussion im Kopf behalten. Deswegen glaube ich auch nicht, dass die Digitalisierung das wichtigste Charakteristikum der heutigen Zeit ist.

Sie würden also nicht dem Journalisten Paul Mason zustimmen, der meint, dass die Digitalisierung das Ende des Kapitalismus einleitet?
Nein. Das ist eine Vereinfachung. Mit neuen Technologien fängt nichts an und hört nichts auf.
Stattdessen ist der Kapitalismus an sich in eine neue Phase eingetreten. Und vielleicht ist es sogar, wie Lenin es einst formulierte, seine letzte Phase.

Seit wann leben wir in dieser letzten Phase des Kapitalismus – seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007?
Es fing schon viel früher an. Und zwar in den 1970er Jahren mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems und der Entkopplung des Dollars vom Gold. Bis 1990 kam es daraufhin zu wesentlichen Veränderungen der Organisierung des Kapitalismus.
Die Koexistenz der drei Systeme – der westlichen Sozialdemokratie, des Kommunismus und der blockfreien Staaten – kam da an ihr Ende.

Was bedeutet dies für die Gesellschaften, in der wir leben?
Alles ist dem Monopolkapital untergeordnet. Und zwar nicht nur in den alten Industriestaaten, sondern auch im globalen Süden.
Dies bedeutet eine Proletarisierung und Fragmentarisierung der Arbeit – international und auf allen Ebenen. Mit einer immer kleiner werdenden, einigermaßen abgesicherten Kernarbeiterschaft und mit einer immer größer werdenden Mehrheit von Prekarisierten.

Inwiefern?
Nehmen wir die Agrarindustrie: Die Kleinbauern sind jetzt überall auf der Erde von den großen Konzernen abhängig, die ihnen Dünger und Samen verkaufen und sie so an sich binden. Sie sind quasi zu Subunternehmern des Monopolkapitals geworden.

Ist dies im Grunde nicht auch eine Gefahr für die bürgerliche Demokratie?
Ja. Die bürgerliche Demokratie bewegt sich immer mehr hin zu einem Ein-Parteien-System. Egal ob Konservative, Liberale oder Sozialdemokratie – alle traditionellen Parteien unterscheiden sich letztlich nicht mehr wirklich voneinander.
Wo ist zum Beispiel der Unterschied zwischen den Demokraten und den Republikanern in den USA? Alle diese Parteien akzeptieren die gleichen Regeln, nämlich die des Finanzkapitals. Aber auch international gibt es keine Konkurrenz mehr.

Ist der Imperialismus abgeschafft?
Wir leben heute in einer Phase, die Karl Kautsky vor 100 Jahren als Hyperimperialismus beschrieben hatte. Dafür wurde er damals von Lenin angegriffen, doch heute stimmt seine Theorie.

Es gibt keine Konkurrenz mehr zwischen den Staaten?
Es gibt zwar bis zu einem gewissen Grad einige Ausnahmen wie Kuba, Russland, China und Vietnam, doch im Grunde akzeptieren heutzutage alle die Aufteilung der Welt, so wie sie ist.
Bis zum Zweiten Weltkrieg war es anders. Da gab es nicht den einen Imperialismus, sondern zum Beispiel den deutschen, englischen, US-amerikanischen oder französischen Imperialismus. Doch nun sind sich die herrschenden Klassen rund um den Globus im Grunde einig, wie das System laufen soll.

Zum Leidwesen der Mehrheit.
Das kapitalistische System fußt auf einem wahnsinnigen Wachstum der Ungleichheit. Sowohl auf globalem Level als auch innerhalb der einzelnen Staaten.
Dies betrifft auch den reichen Westen und bedeutet wachsende Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Armut. Und das System wird immer zerstörerischer, weil es sich nicht mehr ausdehnen kann. Hinsichtlich der Zerstörung der Natur sind wir da schon an einem sehr gefährlichen Punkt angekommen.

Denken Sie, dass sich das System dann von allein zerstört, weil etwa die Profitraten fallen?
Die Maßnahmen und Strategien, die gegen den tendenziellen Fall der Profitrate eingesetzt werden, waren aus Sicht des Kapitals recht erfolgreich: Sie sichern dem Kapital mit Hilfe von Proletarisierung, Unterordnung sowie Überausbeutung von Mensch, Natur und ganzen Staaten hohe Gewinne. Trotzdem ist der Kapitalismus historisch gesehen an sein Ende gekommen. Und es gibt niemanden, der weiß, wie man damit umgehen soll.

Wie lange geben Sie dem Kapitalismus dann noch?
Es ist wie mit dem Ende des Römischen Reiches – nach nur einer kurzen Phase der Blüte kam es da zu einer zehn Jahrhunderte langen Phase der Dekadenz.
Doch heute ist die Lage noch dramatischer. Es gibt genügend Atombomben, um die Menschheit zigmal auslöschen zu können.
Insofern hatte Putin recht, als er einmal auf die Frage, ob Russland einen Atomkrieg gewinnen würde, antwortete: »Niemand wird ihn gewinnen.
Wir werden alle verschwinden.«

So pessimistisch?
Alle Strategien, die derzeit angewendet werden, haben nichts Vorwärtsweisendes. Sie sind rein defensive und hilflose Reaktionen auf den Zerfall.
Am Ende werden wir vor der Alternative »Sozialismus oder Barbarei« stehen, wie es Rosa Luxemburg einst formulierte.

Sie ist nach Karl Kautsky die zweite Marxistin, die sie erwähnen und die vor rund 100 Jahren wirkte.
Rosa Luxemburg war ihrer Zeit weit voraus. Vor 100 Jahren hat man an ihren Worten vielleicht noch zweifeln und sagen können: »Der Weltkrieg war schlimm, jetzt ist er aber zu Ende und die Geschichte geht weiter.« Doch dies geht heutzutage nicht mehr.
Das Zerstörerische am Kapitalismus ist unübersehbar geworden und deswegen brauchen wir eine positive Alternative zum Bestehenden!

Und das ist der Sozialismus?
Als bloße theoretische Alternative reicht er nicht aus. Wir müssen wissen, wie wir dorthin kommen.
Wir werden nicht innerhalb von 24 Stunden das Paradies auf Erden schaffen können. Wir brauchen eine Strategie, wie wir über viele verschiedene Etappen dorthin kommen. Und diese Etappen werden in Deutschland und Zentralafrika sehr unterschiedlich sein.
Letztlich bedeutet das, dass wir eine neue, eine fünfte Internationale brauchen.

Warum?
Weil es ein Revival des politischen Marxismus, des Internationalismus braucht. Und die Geschichte der Internationalen ist trotz ihrer Widersprüchlichkeiten Teil einer gemeinsamen Geschichte.
Dabei geht es nicht darum, alte Strukturen wieder aufzubauen, sondern sich wieder an alten Zielen zu orientieren. Wir müssen gleichzeitig erfinderisch sein, um den Problemen begegnen zu können, denen die arbeitenden Menschen überall auf der Welt ausgesetzt sind.
Und damit meine ich nicht allein die Arbeiterschaft in Europa oder den USA, sondern auch die Arbeiterschaft in Venezuela, Ägypten oder anderswo.

Hört sich nach einem langwierigen, globalen Projekt an.
Die kapitalistische Moderne ist auch nicht allein mit der Industrialisierung in Europa entstanden.
Die Entwicklung fing viel früher und zwar in China an. Sie kam zunächst über die italienischen Stadtstaaten nach Westeuropa.
Erst danach kam es zur industriellen Revolution in England und zur politischen in Frankreich, die die moderne bürgerliche Demokratie erschuf.

Gibt es letztlich nicht auch ein Licht am Ende des Tunnels?
Ja. Aber nur, wenn wir es schaffen, über bloßen Protest und Widerstand hinaus zu kommen.
Wir müssen unsere Kämpfe organisieren, eine positive Alternative schaffen und vor allem einige wichtige Lehren aus der Geschichte im Kopf behalten. Etwa, dass man der Rolle von Anführern gegenüber immer skeptisch sein sollte. So ist die Russische Revolution nicht von Lenin geschaffen worden, sondern die Russische Revolution hat Lenin hervorgebracht.

Lehnen Sie also die Idee ab, dass es eine politische Avantgarde braucht?
Natürlich entstehen durch Kämpfe in gewisser Weise immer auch hierarchische Strukturen mit Anführern an der Spitze. Doch häufig ist dies sehr zweischneidig. Diese Personen sind oft revolutionäre Anführer und Opportunisten zugleich.
Martin Luther, der sich letztlich mit den Fürsten arrangierte, ist da ein anderes gutes Beispiel. Deswegen geht es jetzt darum, Debatten, Strategien, Aktionen und Organisationen zu entwickeln, um es besser zu machen.

Könnten die neuen Technologien da nicht auch helfen?
Natürlich. Aber diese Technologien sind vor allem erfunden wurden, um nützlich fürs System zu sein.
Mit dem Smartphone zum Beispiel kann der Chef einen selbst im Urlaub erreichen. Man kann es aber auch dazu benutzen, um eine Demonstration zu organisieren.

Jochen