Griechenland: Verordnete Verarmung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die Profiteure sind deutsche Unternehmen der Touristik- und Transportbranche genaus so wie die europäischen Banken.
Herr Schäuble, der Zuchtmeister der EU, sitzt im Aufsichtsrat von Fraport, dem Unternehmen, dem jetzt die noch profitablen griechischen Flughäfen zufallen.
In der EU-Kommission sitzen viele, die direkt mit der Finanzwirtschaft verbandelt sind.
Und diese Leute quetschen das Land aus, im Interesse ihrer Auftraggeber.
Ausserdem soll im „Testlabor Griechenland“ ausprobiert werden, was sich so eine bevölkerung noch gefallen lässt.
Schock-Strategie_Naomi_KleinZiel ist es, die Strände mit Bettenburgen zu pflastern und genügend billige Hilfskräfte und Prostituierte zu haben. dazu muss erst jede Form von Nationalstolz gebrochen werden.
Genau das ist das Ziel der EU-Kommission – Schock-Strategie wie bei Naomi Klein beschrieben.
Hierzu in den Blättern Egbert Scheunemann:
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/juli/griechenland-verordnete-verarmung
Auszüge:

Während Angela Merkel nach außen – und im Wahlkampf – die Europäische Union zur Schicksalsfrage erklärt, nehmen im Innern der EU die Auseinandersetzungen wieder zu. Im Brennpunkt steht dabei erneut der Umgang mit Griechenland.
Die Koalition um Ministerpräsident Alexis Tsipras stimmte am 19. Mai für ein weiteres Sparpaket, das als Voraussetzung für neue „Hilfen“ von Griechenlands Gläubigern gefordert wurde. Athen ist darauf angewiesen, weil Rückzahlungen fällig werden, die aus eigener Kraft nicht gestemmt werden können. Dagegen gab es massive Proteste vor dem griechischen Parlament – Ausdruck einer zunehmend verzweifelten Gesellschaft.

Doch das ficht die Kanzlerin und Finanzminister Wolfgang Schäuble nicht an, sie halten an der Austeritätspolitik fest. Derweil spricht sich Außenminister Sigmar Gabriel für eine Schuldenerleichterung für Griechenland aus – eine Position, die mittlerweile europaweit zunehmend Zustimmung findet und schon lange von einem der entscheidenden Gläubiger, dem IWF, befürwortet wird.
Tatsächlich zeigen die vergangenen Jahre wie auch die verheerende gegenwärtige Situation, dass die erdrückende Schuldenlast unbedingt vermindert werden muss, damit in Griechenland endlich die lang ersehnte wirtschaftliche Erholung eintritt. Diese scheitert bislang am Beharren der Gläubiger auf einer sinnlosen Kürzungspolitik. Während sie den griechischen Staat sanieren sollte, hat sie stattdessen das Land immer weiter in die Krise gestürzt.

Das ändern auch die Beschlüsse der Eurogruppe vom 15. Juni nicht: Athen erhält zwar weitere Kreditgelder, muss auf eine Schuldenerleichterung aber mindestens bis nach der Bundestagswahl warten.

Um die Absurdität der bisherigen „Rettungsversuche“ zu verstehen, hilft zunächst ein Blick auf die bloßen Summen, die bisher zwischen Gläubigern und Griechenland geflossen sind: Addiert man alle drei bisherigen Hilfspakete, wurde Griechenland ein Kreditrahmen von 368,6 Mrd. Euro gewährt – eine gewaltige Summe, gemessen am griechischen BIP von 176 Mrd. Euro im Jahr 2015.[1]
Allerdings wurde dieser Kreditrahmen bis 2015 nur im Umfang von 215,9 Mrd. Euro ausgeschöpft, und davon sind weniger als fünf Prozent, nämlich 10,8 Mrd. Euro, wirklich in den griechischen Staatshaushalt geflossen – wohlgemerkt als rückzahlbare, verzinsliche Kredite.
Der weit überwiegende Teil floss entweder in Zinszahlungen, in die Schuldentilgung bzw. in die Umschuldung – das heißt in einen Risikotransfer von privaten Banken hin zu öffentlichen Trägern (EU, EZB, IWF, ESM) – oder, jedenfalls teilweise, in die Finanzierung von Anreizen für private Gläubiger, sich am Umschuldungsprogramm zu beteiligen.

Umgekehrt hat Griechenland im Zeitraum von 2010 bis 2015 aber 52,3 Mrd. Euro an Zinsen an seine Gläubiger gezahlt, vor allem an EU, EZB und IWF. #
Bis 2018, wenn das dritte Programm ausläuft, werden es sogar 70,1 Mrd. Euro sein. Der Saldo des Kapitalflusses war und ist für Griechenland also negativ – trotz aller „Hilfen“. Damit wird deutlich, dass es sich letztendlich um die Ausbeutung des griechischen Staates handelt: Diese 70,1 Mrd. Euro Zinsen entsprechen etwa 40 Prozent des gesamten griechischen BIP des Jahres 2015.
Die griechische Bevölkerung hat quasi die ersten fünf Monate des Jahres 2015 nur für die Begleichung der Zinsansprüche der Gläubiger gearbeitet – und der Staat hatte danach keinen Cent weniger Schulden. So ist es letztendlich die Bevölkerung, die für die Krise aufkommen muss.
Das wird vor allem dann deutlich, wenn man die von den Gläubigern gestellten Bedingungen betrachtet, die Ursache für den negativen Saldo sind.

Kollabierende Sozialsysteme

Diese Bedingungen, die vor allem EU, EZB und IWF seit 2010 an die Vergabe von Krediten gegenüber der griechischen Regierung geknüpft haben, sind der zentrale Auslöser für die massiven Proteste gegen die andauernde Austeritätspolitik. An ihnen wird am deutlichsten sichtbar, welche Opfer die griechische Bevölkerung für die versprochene Rettung bringen musste und noch immer bringen muss.

Dabei geht es in erster Linie um massive Haushaltskürzungen vor allem im Sozialbereich, wie dem Gesundheits- und Rentensystem, um einen rigorosen Abbau der Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst sowie um eine teilweise drastische Kürzung der Entgelte der verbliebenen Staatsbediensteten.

Auch das jüngst verabschiedete Sparpaket steht in dieser Kontinuität: Um frisches Geld aus Europa zu erhalten, sollen die Renten nochmals um bis zu 18 Prozent gekürzt werden sowie außerdem der jährliche Steuerfreibetrag von 8636 auf 5700 Euro sinken.
Mit Rentnern und Geringverdienern sind damit auch diesmal, wie so oft in den vergangenen Jahren, die schwächsten Glieder der Gesellschaft am härtesten betroffen. Gefordert wird zudem ein weiterer Sozial- und Stellenabbau wie auch die Privatisierung staatlichen Eigentums, also das Veräußern oder Verpachten von Immobilien und Infrastruktureinrichtungen. Von den Privatisierungen und Haushaltskürzungen erhoffen sich die Gläubiger Service- und Effizienzgewinne, eine Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands sowie steigende Steuereinnahmen, die zur Rekapitalisierung griechischer Banken, zur Tilgung der Staatsschulden, aber auch für Investitionen genutzt werden sollen.

All dies soll eigentlich dazu führen, dass Griechenland „bis 2018 wieder auf eigenen Beinen steht“, wie Ministerpräsident Alexis Tsipras angekündigt hat.
Die vergangenen neun Jahre zeigen jedoch, dass das Gegenteil der Fall ist. Weil die Gewährung der Kreditspielräume an die Durchführung einer rigiden Sparpolitik geknüpft war und ist, kam es in Griechenland (zusätzlich forciert durch die internationale Banken- und Finanzmarktkrise) zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft: So ist das BIP seit Krisenbeginn um gut 25 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit auf bis zu 27 Prozent gestiegen und die Staatsschulden sind um 30 Prozentpunkte auf 176,9 Prozent (2015) des BIP gewachsen.

Das Kollabieren der Sozialsysteme führte zu massiver medizinischer Unterversorgung, Armut und Obdachlosigkeit. So mutet es fast zynisch an, wenn die EU-Kommission vor dem Hintergrund dieser verheerenden Folgen ihrer Politik betont, sie wolle Griechenland helfen, nachhaltiges Wachstum, finanzielle Stabilität, neue Wettbewerbsfähigkeit und niedrige Arbeitslosigkeit zu erlangen – mit der Intention, den Schwächsten der Gesellschaft mit Fairness zu begegnen.[2]

Die Apologeten der Austeritätspolitik verweisen in aller Regel auf die „griechischen Krankheiten“ – wie mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft, die staatsbürokratische Ineffizienz oder den Schlendrian bei der Steuereintreibung – als Ursachen der Krise. All dies trifft sicherlich bis zu einem gewissen Grade zu und kann erklären, warum sich die griechische Volkswirtschaft über lange Jahre weit weniger gut entwickelt hat als etwa die deutsche.
Es erklärt aber nicht den schockartigen Wirtschaftszusammenbruch, schließlich haben sich diese „Krankheiten“ nicht schlagartig verstärkt.

Vielmehr sind die rigiden Sparprogramme schuld am Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft, was inzwischen selbst vom IWF eingestanden wird. Denn nicht nur die nackten Zahlen in puncto Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit sind alarmierend, sondern auch die dahinterliegenden Strukturen und Entwicklungen.
Immer mehr junge Griechen verlassen das Land auf der Suche nach Arbeit. Dabei bräuchte es gerade sie, um das ruinierte Land wiederaufzubauen.
Diejenigen, die bleiben, flüchten sich dagegen zum Teil in den oft aussichtslosen Versuch, mit Hilfe von Subsistenzwirtschaft zu überleben. Dabei werden sie außerdem von den massiv gestiegenen Einkommensteuern für landwirtschaftliche Betriebe ausgebremst.

Gescheiterte Privatisierungen

Vollkommen gescheitert ist auch der Versuch, der Staatsverschuldung mittels Privatisierungserlösen beizukommen. Bis Ende 2015 wurden nur etwa 3 Mrd. Euro eingenommen und bis 2018 sollen es nur 6 Mrd. Euro sein – winzige Summen, gemessen an den griechischen Staatsschulden von 314 Mrd. Euro im Jahr 2015 und an den immensen Zinsen, die Griechenland an seine Gläubiger zahlt.

Groteskerweise wurden bislang vor allem profitable, teilweise sogar hoch profitable Staatsunternehmen privatisiert, so dass dem griechischen Staat sprudelnde Einnahmequellen abhandenkamen. Die – in oft dubiosen Privatisierungsverfahren – gezahlten Summen können nur als Schleuderpreise bezeichnet werden.
Die Gewinne für die neuen Eigner, oft Staatsbetriebe anderer Länder, sind immens, genauso wie die Verluste für den griechischen Staat. So ging der Betrieb von 14 der insgesamt 37 griechischen Regionalflughäfen an die deutsche Fraport AG. Zwar erhielt der frühere staatliche Eigner dafür neben zukünftiger Pacht und Gewinnbeteiligung auch einmalig 1,23 Mrd. Euro. Allerdings entgehen Griechenland dadurch in den nächsten 40 Jahren auch beträchtliche Gewinne.
Zudem sollen betriebliche Risiken für das Unternehmen durch den Staat umfangreich entschädigt werden, etwa im Falle von Streiks oder bei notwendigen Reparaturmaßnahmen.

Für einen Schnäppchenpreis von lediglich rund 368,5 Mio. Euro wurde zudem im letzten Jahr der sehr profitable Hafen von Piräus, der größte des Landes, an die staatseigene chinesische Cosco-Group veräußert.

Wie bereits die bisherigen betreffen auch die anvisierten zukünftigen Privatisierungen in hohem Maße natürliche Monopole, etwa die Netze der Energie-, Wasser- oder Gasversorgung. Das birgt besondere Risiken für die griechische Bevölkerung, denn diese muss bei Monopolen in privater Hand mit erheblichen Preissteigerungen und Serviceverschlechterungen rechnen. Außerdem kann die arbeitende Bevölkerung zum Opfer von Sanierungs- und Kostensenkungsprogrammen werden, etwa in Form von Entlassungen oder Lohnkürzungen.

Eines liegt angesichts der anhaltenden griechischen Misere auf der Hand: Eine derartige Sparpolitik, die zu solch katastrophalen Ergebnissen geführt hat, muss fundamental falsch sein.

Es ist wirtschaftswissenschaftlich (und übrigens auch rein logisch) völlig unbegreiflich, wie schockartig verabreichte rigide Sparprogramme eine Volkswirtschaft, die sowieso schon in einer schweren Krise steckt, auf Wachstumskurs bringen sollen. So kann in der Wirtschaftsgeschichte kein einziger Fall angeführt werden, bei dem eine solche Politik nicht immer tiefer in die Krise geführt hätte statt aus ihr heraus.
Deutschland, das sich seit Jahren als Zuchtmeister geriert, hat nach dem Wirtschaftseinbruch von 2009 eine genau gegenteilige Politik expansiver Nachfragestärkung betrieben und damit großen Erfolg gehabt – was die Haltung des deutschen Finanzministeriums umso grotesker oder, böse gesagt, perfider erscheinen lässt.
Bei alledem wird klar, dass Griechenland niemals ohne eine fundamentale Schuldenerleichterung auf die Beine kommen wird. Die Forderung des IWF, die griechischen Staatsschulden mehrere Jahrzehnte lang zins- und tilgungsfrei zu stellen, ist als erster Schritt völlig richtig – denn schon das käme einem massiven Schuldenschnitt gleich.

Worauf die Gläubiger dabei „verzichten“ würden, wäre nicht etwas, was sie je gegeben hätten, sondern allein die weitere Ausbeutung der griechischen Bevölkerung durch die Eintreibung von Zins und Zinseszins – denn zu nichts anderem sind die griechischen Staatsschulden über die Jahre der Umschuldungen geworden: zu akkumulierten, exponentiell wachsenden Zinseszinsen. Oder anders ausgedrückt: Die Griechen zahlen schon seit Jahren „zurück“, was sie nie bekommen haben. Was der griechischen Wirtschaft und damit der griechischen Bevölkerung wirklich helfen würde, wäre dagegen das „frische Geld“, von dem immer gesprochen wird, das aber letztendlich nie tatsächlich in den griechischen Haushalt geflossen ist.

Allein die über 50 Mrd. Euro an Zinsen, die Griechenland seit 2010 an seine Gläubiger zahlen musste, wären ein gigantisches Konjunkturförderungsprogramm geworden und hätten die Staatseinnahmen massiv verbessert. Damit könnten beispielsweise Programme umgesetzt werden, die die Effizienz von defizitären Staatsunternehmen und der staatlichen Verwaltung steigern und diese grundlegend modernisieren – mit der Folge verlässlicher Mehreinnahmen durch den Staat und damit verbunden tatsächlicher neuer Unabhängigkeit von privaten Investoren und den großen Gläubigern.
Nicht – um nur ein Beispiel zu nennen – die Privatisierung der griechischen Staatsbahn ist die Lösung, sondern ihre Modernisierung, zum Beispiel nach dem Muster der staatseigenen Deutschen Bahn.

Zusätzliche Einnahmen könnte das Land allerdings darüber erhalten, dass es die profitablen Trassen- wie Stromnetze für private Bahnanbieter bzw. beispielsweise Ökostromproduzenten öffnet, ohne sie zu veräußern. Damit könnten die Staatsfinanzen saniert oder Sozialeinkommen gestärkt werden, anstatt sie wie bisher immer nur rigide zu kürzen. Das wären Reformen, die ihren Namen tatsächlich verdienten und hoffnungsvolle Perspektiven für die Binnennachfrage böten – im Gegensatz zu den bisherigen Kürzungsorgien. Auf diese Weise könnte sich die Regierung von Alexis Tsipras aus der Abhängigkeit von den Gläubigern befreien und in der Tat wieder auf eigenen Beinen stehen.

Dass die harte, im Ergebnis kontraproduktive Linie gegenüber Griechenland vor allem von Deutschland gefahren wird, kann wohl nur mit dem Versuch eines Wählerfangs an deutschen Stammtischen erklärt werden, an denen die Mär vom „faulen Griechen“ immer noch Hochkonjunktur hat.
Wem dagegen in Zeiten einer strauchelnden EU wirklich an einem starken und solidarischen Zusammenhalt Europas gelegen ist, der muss sich für ein Ende des bisherigen Spardiktats aussprechen. Hic Rhodus, hic salta: In der Frage des Schuldenschnitts für Griechenland kommt es zum Schwur darauf, wer ein wirklicher Europäer ist.

Siehe dazu auch: https://josopon.wordpress.com/2015/09/22/klassenkampf-der-troika-in-griechenland-gegen-senkung-der-rustungsausgaben-und-gegen-einfuhrung-ein-er-reichensteuer/

Immer mehr Minderjährige werden staatlicherseits in die Obdachlosigkeit geschickt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ja, DEUTSCHLAND geht es gut.
Die Herren brauchen Sklaven und Prostituierte. Deshalb wird gespart, bis es kracht.
Die Junge Welt berichtet: https://www.jungewelt.de/2017/01-21/022.php
Auszüge:

Kinder auf die Straße gesetzt

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Der Verein KARUNA kümmert sich um wohnungslose Jugendliche

Für Ämter gilt: Wer nicht spurt, wird sanktioniert.

 

Von Susan Bonath
Sie gehen nicht zur Schule, halten sich mit Bettelei, Kleinkriminalität oder gar Prostitution über Wasser: Auf deutschen Straßen leben Zehntausende obdachlose Jugendliche.

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) schätzte 2015 die Zahl der Minderjährigen unter ihnen auf 21.000 – Tendenz steigend.
Der Staat habe sie abgeschrieben, beklagen Vereine und Streetworker seit langem. »Starre Hilfesysteme« setzten auf absolutes Wohlverhalten und würden damit individuellen Problemen nicht gerecht, kritisierte damals Jörg Richert vom Verein KARUNA im Gespräch mit jW. Er geht sogar von einer weit höheren Dunkelziffer aus.
Die Stiftung »Off Road Kids« warnte kürzlich zum wiederholten Mal vor dem Anstieg des Elends.

Das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) lebt in einer anderen Realität. Auf seiner Internetseite geht es auf obdachlose Jugendliche nicht ein.
Statt dessen lobt es Jugendschutz und Kinderrechte. Das Problem sei nicht erfassbar, meint Behördensprecher Frank Kempe. »Ob die Zahl entkoppelter oder abgehängter Jugendlicher in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen hat, lässt sich nicht feststellen«, resümierte er am Mittwoch auf jW-Anfrage.

Die Verantwortung für die Umsetzung von Nothilfen zur Grundversorgung, wie Obdach, medizinische Hilfe, Essen, Duschmöglichkeiten und Schlafplätzen wies Kempe an die Bundesländer und Kommunen. Dort könnten laut Gesetz auch junge Volljährige bis zu 26 Jahren Jugendhilfemaßnahmen beantragen, erklärte er.
Doch nur in »begründeten Fällen« müssten diese gewährt werden. Sofern sich Jugendliche überhaupt in die bürokratischen Mühlen begeben, entschieden hier die kommunalen Ämter häufig negativ, weiß Markus Seidel von »Off Road Kids«.
Schuld sei ein »fataler Sparzwang der Landkreise und Städte«, sagte er Anfang Januar gegenüber jW. Dies führe dazu, dass 18jährige aus Heimen in Wohnungen gesteckt und sich selbst überlassen würden.
»KARUNA«-Sprecher Jörg Richert erlebt es noch drastischer: »Allein in Berlin werden jährlich etwa 400 Minderjährige von Hilfseinrichtungen mit ihrer Habe in einer Mülltüte auf die Straße gesetzt, weil sie verlangte Normen nicht erfüllt haben.«

 

Norm und Wohlverhalten, keine Hilfe ohne Gegenleistung: Nach diesem Konzept verfahren auch die Jobcenter, für die schon 15jährige als »erwerbsfähige Hilfebedürftige« gelten. Unter ihre Obhut fällt ein neues »Pilotprogramm RESPEKT«, das Ministeriumssprecher Frank Kempe lobt. Mit 18 Einzelprojekten zwischen 2015 und Ende dieses Jahres ist es das Werk der Bundesregierung.
Kempe spricht von neuen Ansätzen für die Arbeit mit Straßenjugendlichen. Dabei gehe es um »zusätzliche Hilfen auf dem Weg in Bildungsprozesse, Maßnahmen, Ausbildung und Arbeitsförderung«.
Das Problem bleibt manifest: Wer nicht spurt, wird sanktioniert. Gerade daran scheitere es häufig, ist man sich sowohl bei KARUNA also auch bei »Off Road Kids« einig.
»Fast alle Betroffenen haben zuvor versucht, Hilfe zu bekommen«, sagte Seidel.

Konkret heißt das: Wer zum Jobcenter muss und einen Termin vergisst, zu wenige Bewerbungen schreibt oder eine Maßnahme abbricht, dem wird das Existenzminimum für drei Monate gekürzt oder gestrichen. Das gilt schon für 15jährige.
Hier agieren die Ämter weiter wie bisher. Das zeigt eine aktuelle Übersicht der Bundesagentur für Arbeit (BA), die jW vorliegt. Demnach waren von Januar bis August 2016 jeden Monat bis zu 2.440 Minderjährige und mehr als 10.000 junge Volljährige unter 21 Jahren von Jobcentern sanktioniert worden, über 1.500 von ihnen vollständig.
Bei den etwas älteren bis zu 24 Jahren mussten monatlich sogar rund 18.000 von gekürzten Bezügen leben, etwa 2.000 von ihnen erhielten trotz Bedürftigkeit nichts mehr.

Zwar übermittelte der Ministeriumssprecher die Sanktionsstatistik selbst, ging aber auf diese Praxis gar nicht ein. Betroffenen stünden neben Leistungen zum Lebensunterhalt auch Angebote der psychosozialen Betreuung zu, beteuerte er, verschwieg aber die Bedingungen.
Dass damit weiterhin junge Menschen mit vielfältigen Problemen durchs Raster fallen, ist programmiert.

Mein Kommentar: Die werden wohl fast alle in die Altersarmut gehen.
Ein Blick nach USA, Großbritannien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien zeigt, wohin es gehen soll. Die erste Amtshandlung des neuen US-Präsidenten war, den Armen die Keankenversicherung zu entziehen. Überflüssige Menschen, nicht mehr auszubeuten. Früher wurden solche Menschen „Abschaum“ genannt. Wenn deren Lebenserwartung reduziert wird, reduziert das langfristig auch die sozialen Probleme, so ist die Berechnung.
Qualitätsgesicherte Chancenvernichtung. Klassenkampf von Staats wegen.

 

Jochen

Wie die EU-Sparpolitik ein Gesundheitssystem ruiniert: Griechenland als Exempel

Griechenland als Testlabor: Hier wird ausprobiert, was sich die Leute alles gefallen lassen – in einigen jahren soll es dann hier in Deutschland genauso zugehen.
Die dazu erforderlichen Gesetze zum Abbau der Parität von Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Beiträgen und der Einführung von einseitigen Zusatzbeiträgen zur Krankenversicherung wird von der schwarzroten Regierung gerade durchgewunken.
Auch hier droht dann eine ständige Abwärtsspirale aus Budgetkürzungen, Praxisschließungen und noch mehr „verdeckten“ Kosten.
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2014/mai/griechenland-als-exempel
Auszüge:

von David Stuckler und Sanjay Basu

Im April 2012 wurde in Griechenland ein Gesetz verabschiedet, das es dem Gesundheitsministerium ermöglicht, Bürger auf Geschlechtskrankheiten zu testen – auch ohne deren Einwilligung.
Das neue Gesetz war eine Reaktion auf Berichte von Krankenhäusern und Arztpraxen in ganz Griechenland, wonach die Zahl der HIV-Neuinfektionen allein zwischen Januar und Mai 2011 um 52 Prozent emporgeschnellt war. Einen derart drastischen Anstieg hatte es seit mehr als zehn Jahren in keinem westeuropäischen Land gegeben.[1]
Die Nachricht von der HIV-Epidemie in Griechenland machte international Schlagzeilen. Da die hart umkämpften griechischen Parlamentswahlen unmittelbar bevorstanden, sah sich der griechische Gesundheitsminister Andreas Loverdos gezwungen zu reagieren.
Das Ergebnis war eine Strategie, die historisch betrachtet in fast allen Ländern funktioniert hat, die mit der Epidemie einer sexuell übertragbaren Krankheit konfrontiert waren: Man schiebt die Schuld den Schwächsten in die Schuhe.[2]

Loverdos bezeichnete Prostituierte als „Bedrohung für die Gesellschaft“ und „Virenschleudern“ und erklärte feierlich, sie hinter Gitter zu bringen. Das Gesundheitsministerium spielte den griechischen Medien Fotos von HIV-positiven Prostituierten zu und brandmarkte die Frauen als „Todesfalle für Hunderte von Menschen“.[3]

Während in den heruntergekommeneren Vierteln Athens die Prostituiertenhatz bereits in vollem Gang war, umstellte die Polizei das vornehme Fünfsternehotel „Grande Bretagne“ am Syntagma-Platz, unweit des Parlamentsgebäudes. Die Polizisten schirmten die Hotelgäste nicht nur vor der Razzia ab, sondern auch vor der wachsenden Zahl der Wohnungslosen – Bettler, Junkies und Straßenkinder, die sich rings um den Platz in den Nischen vor aufgegebenen Geschäften oder auf U-Bahn-Gittern häuslich niedergelassen hatten.
Weil die Menschen aufgrund des rasanten Anstiegs der Zwangsräumungen und der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme nicht mehr wussten, wohin, war die Zahl der Wohnungslosen zwischen 2009 und 2011 um 25 Prozent nach oben geklettert.
Gleichzeitig hatte sich die Mordrate in Griechenland zwischen 2010 und 2011 verdoppelt; besonders rasant fiel der Anstieg im Zentrum von Athen aus – rund um das Hotel „Grande Bretagne“.
Zugleich nahmen die Polizisten die Hotelgäste vor den wütenden Demonstranten in Schutz, die vor dem Hotel ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Denn: Das „Grande Bretagne“ war eine inoffizielle Residenz der „Troika“ aus Europäischer Zentralbank, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds. Während sich die Verhandlungen über ein potentielles Rettungspaket hinzogen, kam es auf dem Syntagma-Platz zu Zusammenstößen mit der Athener Polizei. Deren Antwort auf die Forderungen nach mehr Demokratie bestand aus Tränengas, Polizeihunden und Wasserwerfern.

Die ausgesetzte Demokratie

Die Handlung dieser griechischen Tragödie ist ziemlich genau die Umkehrung der Ereignisse in Island. Dort hatten sich im März 2010 bei einer landesweiten Volksabstimmung – der ersten, seitdem sich das Land 1944 für die Unabhängigkeit von Dänemark ausgesprochen hatte – 93 Prozent der Isländer geweigert, für die Spielschulden der Banker geradezustehen.

Anders in Griechenland: Hier wurde auf Geheiß der Troika die Demokratie ausgesetzt. Die Ärmsten und Wehrlosesten mussten nun für die Fehler der Regierung und des Bankensektors haften.
Ihr Leben wurde durch eine schonungslose Dosis von Sparmaßnahmen bedroht, die alles in den Schatten stellte, was Europa seit den Lebensmittelrationierungen im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte.
So diente Griechenland unwissentlich als Versuchslabor für die Frage, wie Sparprogramme sich auf die Gesundheit auswirken.

Die Ursachen dieser Katastrophe liegen in einem regelrechten Tsunami aus finanziellen Fehlentscheidungen, Korruption und Steuerflucht sowie letztlich in einem Mangel an Demokratie.
Um zu verstehen, wie Griechenland in diesen Schlamassel hineingeraten ist, muss man mindestens vier Jahrzehnte zurückschauen. Als die Militärregierung, die 1967 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war, 1974 gestürzt wurde, war Griechenland eines der ärmsten Länder Europas. Nach der Rückkehr zur Demokratie wurden Tourismus, Schifffahrt und Landwirtschaft zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen. Die Touristen strömten in Scharen an die weißen Sandstrände griechischer Partyinseln wie Mykonos oder Santorin, und griechische Bauern lieferten Baumwolle, Obst, Gemüse und Olivenöl nach Europa. Insgesamt verzeichnete Griechenland in den 80er und 90er Jahren ein langsames, aber kontinuierliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich etwas weniger als 1,5 Prozent im Jahr.

2001: Wie der EU-Beitritt in Griechenland einen Wirtschaftsboom auslöste

Mit der Aufnahme Griechenlands in die Europäische Union im Januar 2001 setzte ein massiver Wirtschaftsboom ein.
Das aus der EU ins Land strömende Kapital löste einen Bauboom aus
; innerhalb von fünf Jahren stellten europäische Fonds für Infrastrukturprojekte 18 Mrd. Euro zur Verfügung.

Die EU-Gelder stockte die griechische Regierung durch Kreditaufnahme noch ordentlich auf, um Großprojekte wie neue Häfen oder die Wettkampfstätten für die Sommerolympiade 2004 in Athen zu finanzieren. Man baute sogar ein großes Museum, um die griechische Forderung nach einer Rückführung der Parthenonskulpturen zu untermauern – mit 150 Mio. Euro eines der teuersten Kulturprojekte in ganz Europa.[4]

Dank einer Kombination aus EU-Geldern, Investitionen aus dem Ausland und niedrigen Steuer- und Zinssätzen lief die griechische Wirtschaft Mitte des letzten Jahrzehnts auf Hochtouren. Im Februar 2006 sagte der griechische Finanzminister George Alogoskoufis: „Wir haben die Chance, ein Wirtschaftswunder zu erwirken.“
Im Juni jenes Jahres erreichte das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts den Höchstwert von 7,6 Prozent. Zum Vergleich: Portugal und Spanien, die der EU unter vergleichbaren Ausgangsbedingungen beigetreten waren, verharrten bei einem Wirtschaftswachstum von weniger als zwei Prozent pro Jahr.[5]

Unter der Oberfläche jedoch lauerten große Probleme. Um die vielen Infrastrukturprojekte zu finanzieren, machte Griechenland jedes Jahr fünf Prozent Defizit – ohne die hohen Wachstumsraten wäre das ohnehin nicht möglich gewesen.
Dass die Staatsschulden immer weiter anwuchsen, lag aber nur zum Teil an den zu hohen Ausgaben: Um Unternehmen nach Griechenland zu locken, hatte die Regierung die Körperschaftsteuer von 40 Prozent im Jahr 2000 auf 25 Prozent 2007 gesenkt.
Auf einen Nenner gebracht war das, was in Griechenland stattfand, das genaue Gegenteil einer soliden Wirtschaftspolitik: Die Regierung gab in guten Zeiten zu viel aus, anstatt etwas für magere Jahre zurückzulegen.

2008: Der dreifache Schock – wie die Lehman-Pleite die griechische Finanzindustrie erfasste

Als 2008 die Banken in den USA ins Taumeln gerieten, erschütterten die Schockwellen auch die griechische Finanzindustrie. Im Gegensatz zu den Isländern mussten die Griechen jedoch nicht ein, sondern gleich drei finanzielle Erdbeben verkraften.

Zuerst kam der „Nachfrageschock“, ein Sinken der Nachfrage nach griechischen Gütern und Dienstleistungen, und das Erlahmen der Bautätigkeit.
Dann folgte der „Realitätsschock“, als aufgedeckt wurde, dass die griechischen Wirtschaftsdaten gefälscht worden waren.
Und schließlich wurde das Land von einer „Sparkrise“ erfasst – durch den Schock, den die auferlegten Sparmaßnahmen auslösten. Tatsächlich stellte sich bald nach Beginn der Krise heraus, dass die griechische Wirtschaft sehr viel weniger leistungsfähig war, als die Regierung behauptet hatte.
Schon in den Jahren vor der Krise hatte die EU-Statistikbehörde Eurostat wiederholt Zweifel an Berichten zur griechischen Wirtschaftslage angemeldet.
Die Investoren hatten die Alarmzeichen jedoch ignoriert
– bis die Lage Griechenlands im Zuge der Finanzkrise weltweit ins Zentrum des Blickfelds rückte.

Anfang 2010 wurde bekannt, dass die griechischen Staatsfinanzen in einem noch desolateren Zustand waren, als die Revisoren der EU befürchtet hatten. Wie Journalisten aufdeckten, hatten griechische Politiker der Investmentbank Goldman Sachs mehrere Millionen Dollar für das Einfädeln von Transaktionen bezahlt, die es Griechenland in den letzten zehn Jahren überhaupt erst ermöglicht hatten, die EU über den realen Schuldenstand des Landes zu täuschen.
Die Daten zur griechischen Schuldenlast waren manipuliert worden, um den Anschein zu erwecken, Griechenland erfülle die Kriterien für eine Aufnahme in die Währungsunion.
Goldman Sachs hatte die Spuren so gut verwischt, dass der Betrug selbst bei einer detaillierten Prüfung durch Revisoren der Europäischen Union nicht aufflog.

April 2010: Auf Ramschniveau herabgestuft, eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds

Tatsächlich war der griechische Schuldenstand zwischen 2007 und 2010 von 105 Prozent auf 143 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen.[6]
Als Anfang 2010 die Nachricht von der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage in Griechenland die Runde machte, brach Panik aus. Die Ratingagenturen stuften griechische Staatsanleihen im April 2010 auf „Ramschniveau“ herab. Potentielle Investoren, die in Griechenland Geschäftschancen hätten sehen und zur Erholung der griechischen Wirtschaft beitragen können, wurden dadurch abgeschreckt.

Aufgrund der Unsicherheiten begannen die Zinsen auf griechische Staatsanleihen rasant anzusteigen, von zwei Prozent im Jahr 2009 auf zehn Prozent 2010. Dadurch wurde es für Griechenland noch schwieriger, seine Schulden zurückzuzahlen – und die Europäische Gemeinschaft lehnte jede gemeinsame Haftung, die die Zinsen gesenkt hätte, ab.[7]

Dieser Realitätsschock traf Griechenland noch härter als der Nachfrageschock. Das Bruttoinlandsprodukt fiel 2010 um weitere 3,4 Prozent. Die Superreichen hatten ihre Schäfchen derweil längst ins Trockene gebracht, auf Bankkonten in Steuerparadiesen.
Die Leidtragenden waren die einfachen Leute: Die Arbeitslosenquote stieg von 7 Prozent im Mai 2008 auf 17 Prozent im Mai 2011. Bei jungen Leuten, die nach dem Schul- oder Studienabschluss auf der Suche nach ihrem ersten Job waren, wuchs sie sogar von 19 Prozent auf 40 Prozent. Für eine halbe Generation gut ausgebildeter junger Menschen endete der Aufbruch ins Erwachsenenleben in der Arbeitslosigkeit.[8]

Die griechische Gesellschaft stand jetzt am Rande des Abgrunds. Da das Land angesichts der ungewissen Lage die Rückzahlung seiner Schulden nicht garantieren konnte und es über seine Währung auf Gedeih und Verderb an die Eurozone gekettet war, blieben der griechischen Regierung wenig Möglichkeiten, um grundlegende staatliche Aufgaben wie Müllabfuhr oder Feuerwehr weiter zu finanzieren. Griechenland musste den Internationalen Währungsfonds um Hilfe bitten.

Im Mai 2010 bot der IWF Kredite an, die an die typischen Auflagen geknüpft waren: Privatisierung von Infrastruktur und staatlichen Unternehmen sowie Kürzungen bei den Sozialprogrammen. Willigte Griechenland ein, so sollte es im Rahmen eines auf drei Jahre angelegten Rettungsplans zur Reduzierung seiner Schulden vom IWF und der Europäischen Zentralbank Kredite in Höhe von 110 Mrd. Euro erhalten.
Die Gläubiger – unter anderem jene französischen und deutschen Banken, die an der Finanzierung der Immobilienblase mitgewirkt hatten – erklärten sich zu einem sogenannten „Haircut“ bereit, einem Verzicht auf die Hälfte ihrer Forderungen und einer Senkung der griechischen Kreditzinsen.[9]

Insgesamt sah der Plan des IWF innerhalb von drei Jahren Kürzungen in Höhe von 23 Mrd. Euro vor, etwa 10 Prozent der gesamten griechischen Wirtschaftsleistung, sowie den Verkauf staatlicher Unternehmen im Wert von 60 Mrd. Euro. Auf diese Weise sollte das griechische Defizit bis 2014 von 14 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts reduziert werden.
Die Hauptleidtragenden der Kreditvereinbarung mit der Troika würden die Staatsbediensteten sein: Sie mussten sich auf Massenentlassungen und Gehalts- und Pensionskürzungen einstellen.
Ein Sektor indes blieb von Einschnitten verschont: die Polizei. Zweitausend zusätzliche Polizisten wurden eingestellt und gezielt in der Kontrolle von Aufständen geschult. Polizei und Militär wurden mit Tränengas, Schutzausrüstung und Wasserwerfern ausgestattet.[10]

Die griechischen Demonstranten forderten, dass über die Vereinbarung in einem Volksentscheid abgestimmt wird, so wie es in Island geschehen war. Doch das erste Rettungspaket des IWF wurde noch im Mai 2010 verabschiedet, ohne dass das Volk befragt wurde.

Ärzte „im Untergrund“

Die Folgen waren dramatisch: Die ohnehin unzureichenden und durch die drastischen Sparmaßnahmen zusätzlich geschwächten griechischen Sozialsysteme waren auf die plötzliche Zunahme der Anzahl bedürftiger Menschen nicht vorbereitet. Doch wenn ein Gesundheitssystem zusammenbricht, springen bisweilen barmherzige Samariter in die Bresche.
Die „New York Times“ berichtete von einem griechischen Untergrundnetzwerk von Ärzten, die mit Hilfe von gespendeten Medikamenten und Verbandszeug Patienten behandelten, die aus der gesetzlichen Krankenversicherung herausgefallen waren.

Kostas Syrigos, Leiter der Onkologie im Sotiria-Krankenhaus im Zentrum Athens, beschrieb eine Patientin mit dem schlimmsten Brustkrebs, den er je gesehen habe. Aufgrund der von der Troika geforderten Gesundheitsreform hatte sie ein Jahr lang vergeblich auf ihre Behandlung gewartet. Als sie in die Untergrundambulanz kam, war der Tumor bereits durch die Haut gewuchert und nässte ihre Kleidung ein. Sie hatte entsetzliche Schmerzen und tupfte die eiternde Wunde mit Papierservietten ab.
„Ihr Anblick machte uns sprachlos“, erzählte Dr. Syrigos der Journalistin. „Alle hatten Tränen in den Augen. Ich kannte so etwas aus Lehrbüchern, hatte es aber noch nie gesehen, denn bis jetzt wurde in diesem Land jedem geholfen, der erkrankt war.“[11]

Das erklärte Ziel des Sparprogramms der Troika war, „das Gesundheitssystem zu modernisieren“.

Das klang, als sollten derartige Tragödien vermieden werden. Wer hätte etwas gegen die Modernisierung des Gesundheitssystems einzuwenden?
Dass das griechische System reformbedürftig war, war unter Gesundheitsexperten kein Geheimnis. Das Problem lag darin, dass der Plan der Troika nicht von Gesundheitsexperten, sondern von Ökonomen entworfen worden war, die weitestgehend darauf verzichtet hatten, fachmännischen Rat einzuholen.

Der „Sanierungsplan“ des IWF basierte auf völlig willkürlichen mathematischen Grundlagen. Das Ziel war, „die staatlichen Gesundheitsausgaben auf maximal sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen und dabei gleichzeitig die Versorgung aller Bürger sicherzustellen sowie die Qualität der Pflegeleistung zu verbessern“.
Wo die Idee zu diesem Sechs-Prozent-Ziel herkam, wurde nirgends erwähnt und blieb rätselhaft, denn alle anderen westlichen Länder geben sehr viel mehr aus, um grundlegende Gesundheitsdienste zu gewährleisten. In Deutschland zum Beispiel, das zu den ersten Befürwortern des Sparprogramms in Griechenland gehörte, liegen die Gesundheitsausgaben bei über zehn Prozent.

Der IWF drang auf die Umsetzung einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die auf den ersten Blick gut geeignet schienen, das Haushaltsdefizit zu begrenzen, in der Praxis aber dazu führten, dass viele Menschen den Zugang zu Gesundheitsleistungen verloren. So formulierte die Vereinbarung zwischen dem IWF und der griechischen Regierung das konkrete „Ziel, die staatlichen Ausgaben für ambulant verordnete Medikamente von 1,9 auf 1,33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken“.

Der IWF hatte den Kostenanstieg bei Medikamenten zwar richtig diagnostiziert. Nach dem EU-Beitritt Griechenlands 2001 waren die Ausgaben für Arzneimittel in schwindelerregende Höhen gestiegen.
Ein Grund dafür war die Korruption: So gab es zahlreiche Berichte, wonach Ärzten von Pharmafirmen große Summen überwiesen wurden, damit sie mehr Medikamente verschreiben.
Mit seinem Therapievorschlag machte der IWF jedoch alles nur noch schlimmer. Anstatt die Vermarktung und den Verkauf von Arzneimitteln strenger zu reglementieren, kürzte man die Budgets der Krankenhäuser. Schon bald gingen den ersten daher die Antibiotika aus. Die Warteschlangen wurden zuerst doppelt, dann dreimal so lang.
Viele Patienten fanden selbst in großen städtischen Krankenhäusern keinen Arzt. Und der Rückzug des Pharmaunternehmens Novo Nordisk, das für seine Produkte nach den von der Troika verfügten Preissenkungen keine angemessene Bezahlung mehr erzielen konnte, kostete nicht nur Arbeitsplätze, sondern 50 000 griechischen Diabetikern fehlte plötzlich das lebenswichtige Insulin.[12]

Umfragen kamen derweil zum Ergebnis, dass die Griechen sich immer kränker fühlten. 2009 lag die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihren Gesundheitszustand als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ beschrieben, 15 Prozent höher als zwei Jahre zuvor. Solche Selbsteinschätzungen korrelieren in aller Regel mit der Sterberate, weshalb sie häufig als Indikator für den Gesundheitszustand einer Gesellschaft herangezogen werden, wenn andere Daten nicht verfügbar sind.

Eine ständige Abwärtsspirale aus Budgetkürzungen, Praxisschließungen und noch mehr „verdeckten“ Kosten

Die Kombination aus Rezession und Sparmaßnahmen sorgte letztlich für eine ständige Abwärtsspirale aus Budgetkürzungen, Praxisschließungen und noch mehr „verdeckten“ Kosten.
Alten Menschen fiel es besonders schwer, sich an die Veränderungen eines Systems anzupassen, auf das sie sich ein Leben lang verlassen hatten. Insgesamt haben in der Zeit der Rezession und des Sparens nach unseren Schätzungen mindestens 60 000 Griechen über 65 Jahre auf notwendige medizinische Maßnahmen verzichtet.

Da zahlreiche Präventionsprogramme aufgrund der Sparmaßnahmen eingestellt wurden, breiteten sich Infektionskrankheiten rasant aus.
40 Jahre lang war in Griechenland die Ausbreitung von Krankheiten, die durch Mücken übertragen werden, durch das Sprühen von Insektiziden verhindert worden. Nachdem im Süden Griechenlands die Mittel für die Prävention gekürzt worden waren, kam es im August 2010 zu einer Ausbreitung des West-Nil-Virus, dem 62 Menschen zum Opfer fielen. Wenig später wurde zum ersten Mal seit 1970 ein Malariaausbruch registriert.
Das Europäische Zentrum für die Prävention und Eindämmung von Krankheiten empfahl allen, die in den Süden Griechenlands reisten, sich mit Malariamitteln, Mückenspray und einem Moskitonetz einzudecken. Bislang war diese besondere Warnung Reisenden in den Süden Afrikas oder in die asiatischen Tropen vorbehalten.

Doch nicht nur die körperliche, auch die seelische Gesundheit wurde massiv in Mitleidenschaft gezogen. Die Zahl der Selbstmorde stieg zwischen 2007 und 2009 um 20 Prozent. Die Anzahl der Menschen mit psychischen Problemen, die bei karitativen Organisationen Hilfe suchten, verdoppelte sich.
Und dabei dürfte es sich nur um die Spitze des Eisbergs handeln. Viele dürften ihre Probleme für sich behalten, weil psychisch Kranke in Griechenland nach wie vor stigmatisiert werden. So verweigert etwa die griechisch-orthodoxe Kirche Menschen, die sich selbst getötet haben, ein kirchliches Begräbnis.
Insofern überrascht es wenig, dass Griechenland im fraglichen Zeitraum auch einen Anstieg von „Verletzungen unbekannter Ursache“ verzeichnete, mit denen nach Ansicht vieler Ärzte Selbstmorde vertuscht werden sollten, um die Ehre der betroffenen Familien zu retten.[13]

Am überraschendsten jedoch dürfte die HIV-Epidemie im Herzen Athens gewesen sein – die erste in Europa seit Jahrzehnten. Der Großteil der neuen HIV-Fälle geht eindeutig auf das Konto infizierter Nadeln: Unter Drogenabhängigen hatte sich die Zahl der Neuinfektionen zwischen Januar und Oktober 2011 verzehnfacht.
„Ich habe auf den Straßen von Athen noch nie so viele Drogenabhängige gesehen“, erzählte uns eine Kollegin. Zahlen der Athener Polizei bestätigen ihren Eindruck: Der Heroinkonsum hatte zwischen 2010 und 2011 um 20 Prozent zugenommen, da immer mehr verzweifelte Menschen – vor allem junge – auf der Straße lebten und drogenabhängig wurden.[14]

Die Weltgesundheitsorganisation weiß durchaus, wie der Ausbreitung von HIV über infizierte Nadeln beizukommen ist. Ihrer Empfehlung nach sollten jedem Drogenabhängigen jährlich etwa 200 sterile Nadeln zur Verfügung gestellt werden.
Doch ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als griechische Epidemiologen vor einer HIV-Epidemie unter Drogenabhängigen warnten, wurde das Budget des Nadelaustauschprogramms in Griechenland zusammengestrichen. Mit der Konsequenz, dass für jeden Drogenabhängigen, Schätzungen des Hellenischen Zentrums zufolge, nur drei Nadeln vorgesehen waren.[15]

Vorbild Island: Die demokratische Alternative

Gewiss, die Optionen des griechischen Gesundheitsministeriums waren in dieser Lage begrenzt, war das Gesundheitsbudget doch um 40 Prozent gekürzt worden.
Es gab aber eine politische Alternative: nämlich die demokratische Option. Wie man die Bürger vor ausländischen Investoren schützen kann, die lautstark ihr Geld zurückverlangen, hatte Island vorgemacht.

Also beschloss Premierminister Papandreou im November 2011 – just zu dem Zeitpunkt, als die HIV-Epidemie bekannt wurde –, dem isländischen Beispiel zu folgen.
Er kündigte eine Volksabstimmung über das zweite Sparpaket des IWF und der Europäischen Zentralbank an. Für die Griechen war inzwischen unübersehbar, dass das Sparprogramm nicht die erhoffte Wirkung entfaltete. Trotz aller Haushaltskürzungen waren die Staatsschulden bis 2011 weiter angewachsen – auf nunmehr 165 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Doch unter dem Druck der Troika und europäischer Spitzenpolitiker, die rasche Rückzahlungen an die Investoren aus Deutschland und anderen Ländern forderten, sah Papandreou sich gezwungen, das Referendum abzusagen.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Europa am Südufer des Mittelmeers voll des Lobes für das Erwachen der arabischen Demokratie war und gleichzeitig am Nordufer des Mittelmeers, in Griechenland, der Wiege der Demokratie, eine demokratische Abstimmung hintertrieb.[16]

Die Konsequenzen für Griechenland waren gewaltig: Allein im Jahr 2009 sank das Gesundheitsbudget von 24 Mrd. auf 16 Mrd. Euro, und mit dem zweiten Sparpaket 2012 sollte es noch schlimmer kommen. Das erklärt auch, weshalb das griechische Gesundheitsministerium keine Reserven hatte, um den sich abzeichnenden HIV- und Malaria-Epidemien zu begegnen.

Speziell für Immigranten waren bereits in den Jahren 2009 und 2010 ein Drittel der Gesundheitsleistungen weggekürzt worden. Durch das zweite Sparpaket wurden die entsprechenden Programme völlig ausgehöhlt und konnten mit der Nachfrage in keiner Weise mehr Schritt halten.
Diese Nachfrage kam aber inzwischen nicht primär von den Einwanderern, für die die Programme ursprünglich gedacht waren, sondern von Seiten der Griechen.
Laut einer Schätzung der Hilfsorganisation Médecins du Monde (die eigentlich vorrangig in Entwicklungsländern aktiv ist) ist der Anteil der Griechen, die sich in den von ihr betriebenen „Straßenkliniken“ behandeln ließen, von 3 Prozent vor der Krise auf nunmehr 30 Prozent angestiegen.
Eine weitere internationale Organisation, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen), die normalerweise in Flüchtlingslagern in kriegsgeplagten Regionen tätig ist, startete in Griechenland ein Nothilfeprogramm.

Aus gutem Grund: Im Juli 2012 beschrieb Dr. Samuel R. Friedman, Leiter der Abteilung HIV/Aids des National Development and Research Institute in New York, die Lage in Griechenland als alarmierend: Die griechische Regierung schaffe ein „Epizentrum für die Ausbreitung des [HIV-]Virus in Griechenland und darüber hinaus.“
Und auch der Bericht von Dr. Marc Sprenger, Direktor des Europäischen Zentrums für die Eindämmung und Prävention von Krankheiten, nach einer zweitägigen Rundreise zu griechischen Krankenhäusern und Ambulanzen sorgte international für Schlagzeilen. „Ich habe Einrichtungen gesehen, wo die finanzielle Ausstattung nicht einmal für grundlegende Dinge wie Handschuhe, Kittel und alkoholgetränkte Tupfer ausreicht.“
Sprengers Urteil war vernichtend: „Dass die Lage im Hinblick auf antibiotikaresistente Infektionen in Griechenland sehr ernst ist, war uns bereits bekannt. Nach meinem Besuch in Krankenhäusern vor Ort bin ich nunmehr überzeugt, dass es in diesem Kampf fünf vor zwölf ist.“[17]

Das belegen auch die Zahlen: Demnach hatte zwischen 2008 und 2010 beziehungsweise 2011 (dem jeweils letzten Jahr, für das Zahlen vorlagen) die Kindersterblichkeit um 40 Prozent und die Zahl der unbehandelt gebliebenen Erkrankungen um 47 Prozent zugenommen.
Doch da das Gesundheitsministerium seinerseits vermied, verschiedene Standard-Gesundheitsdaten zu erheben und öffentlich zugänglich zu machen, sprangen zusehends investigative Journalisten in die Bresche.
Sie berichteten von Drogenabhängigen, die sich bewusst mit HIV infizieren, um staatliche Hilfen in Höhe von 700 Euro pro Monat zu erhalten, von Eltern, die ihre Kinder aussetzen, weil sie nicht genug Geld haben, für sie zu sorgen, und über die Tatsache, dass es zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Fälle von Müttern gebe, die ihre Kinder mit HIV infiziert hätten, weil die routinemäßige Untersuchung von Schwangeren auf HIV ausgesetzt worden sei.[18]

Und Journalisten deckten noch einen weiteren Angriff auf die Gesundheit griechischer Bürger auf: Die Regierung ließ die Kriterien für den Bezug von Sozialhilfe und Erwerbsunfähigkeitsrenten so umschreiben, dass immer weniger Griechen bezugsberechtigt waren – laut Gesundheitsminister eine Maßnahme gegen „Sozialbetrug“.

Sparen zu Lasten der griechischen Bürger

Faktisch belasteten die Sparbemühungen in Griechenland eindeutig jene, die den eigentlichen Reichtum des Landes ausmachen: die griechischen Bürger.
Der radikale Umbau des Gesundheitssystems, so George Patoulis, Vorsitzender der Medizinischen Vereinigung Athens, habe zu einem einzigen Chaos geführt.
Keiner habe mehr den Durchblick, welche Patienten Anspruch auf welche Leistungen hätten. Aufgrund der Zahlungsrückstände der Sozialkassen traten 2012 sogar die Apotheker in einen zweitägigen Streik und drohten, viele von ihnen müssten wegen der Einschnitte schließen.
Die griechische Regierung jedoch ignorierte das zunehmende Elend einfach und setzte ihre Attacken auf die Gesundheit der griechischen Bevölkerung mit unverminderter Härte fort. Während die Erhebung und Analyse von Gesundheitsdaten offensichtlich keinerlei Priorität hatte, forderte die Troika immer neue Sparmaßnahmen.
Ende November 2012 stimmten der IWF und seine europäischen Partner schließlich dem dritten griechischen Sparpaket zu – das im Gesundheitsbereich die Kürzung von weiteren zwei Mrd. Euro vorsah.

Für die Sparanstrengungen erhielt Griechenland im Gegenzug 28 Mrd. an Notkrediten – trotzdem stiegen die Staatsschulden weiter an und erreichten 2012 ein Rekordniveau von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Warum die vielen Milliarden weder die erhoffte Konjunkturbelebung brachten noch den Schuldenstand eindämmten, schien unbegreiflich.
Doch wie Nachforschungen der „New York Times“ ergaben, schleusten der IWF und die Europäische Zentralbank das Geld auf dem Umweg über Griechenland direkt nach Großbritannien, Frankreich, die USA und Deutschland – auf die Konten jener Gläubiger, die die griechische Investitionsblase mitverursacht hatten. Die mobilisierten staatlichen Mittel dienten also nicht dazu, Griechenland zu helfen, sondern das unklug investierte Geld der globalen Bankenelite zu retten.

Wie schon nach den Krisen in Ostasien und Island gab der IWF 2012 im Nachhinein zu, die negativen Auswirkungen der Sparprogramme unterschätzt zu haben.
Eines der wichtigsten Argumente für den Sparkurs war der vom IWF angenommene Staatsausgabenmultiplikator gewesen – ein statistisch ermittelter Wert, der angibt, wie viel Wirtschaftswachstum mit einem Euro Staatsausgaben generiert werden kann. Der IWF hatte diesen Multiplikator auf 0,5 geschätzt. Das hätte bedeutet, dass sich die Konjunktur umso besser erholt, je größer die Einschnitte in den Staatshaushalt ausfallen.
Tatsächlich erwiesen sich die wirtschaftlichen Folgen der Sparmaßnahmen jedoch als sehr viel negativer als vom IWF vermutet. Am Ende musste der IWF eingestehen, dass er mit seinen Schätzungen falsch gelegen hatte. Im Februar 2012 beauftragte er seine Volkswirte, die Multiplikatoren neu zu schätzen. Diese kamen zu dem gleichen Ergebnis wie wir: Der Staatsausgabenmultiplikator war größer als 1.
Die angeblichen „Hilfen“ lösten daher eine Abwärtsspirale aus Arbeitsplatzverlusten, weniger Geld für den Konsum und einem Vertrauensverlust bei den Investoren in ganz Europa aus – und schufen letztlich die Grundlage für ein Gesundheitsdesaster.[19]

Sparen an der falschen Stelle: Der Gesundheitssektor als Wachstumssektor

Der Fehler lag jedoch nicht nur im Sparkurs an sich, sondern vor allem darin, dass an der denkbar falschen Stelle gespart wurde. Staatliche Mittel, die in das Gesundheitssystem investiert werden, tragen sehr viel schneller Früchte als in anderen Bereichen.
Tatsächlich gehört der Gesundheitssektor zu den wenigen Branchen, die in Europa und Nordamerika trotz der Krise gewachsen sind. Investitionen im Gesundheitsbereich schaffen neue Arbeitsplätze (für Krankenpfleger, Ärzte und Laboranten), bringen die technologische Entwicklung voran (durch Laborforschung und Innovationen) und kurbeln die Wirtschaft somit sehr viel stärker an als staatliche Investitionen in fast allen anderen Bereichen.

Griechenland gerade auf diesem Gebiet harte Opfer abzuverlangen, war jedoch letztlich weniger eine wirtschaftliche als eine politische Strategie.
Es war eine Warnung an die anderen europäischen Länder, ja an die ganze Welt: Spielt nach den Regeln der Banker, sonst ergeht es euch schlecht.
Die deutsche Bundeskanzlerin bezeichnete das griechische Rettungspaket als Lektion für das übrige Europa: „Diese Länder sehen jetzt, dass der Weg, den Griechenland mit dem IWF eingeschlagen hat, kein leichter ist. Sie werden daher alles unternehmen, damit es ihnen nicht genauso ergeht.“[20]

Wie die griechische Tragödie gezeigt hat, können Sparprogramme eine strauchelnde Volkswirtschaft nicht vor dem Absturz bewahren.
Im Gegenteil: Sie sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Es gibt jedoch andere Wege als Sparprogramme. Ungeachtet ihrer Forderungen, dass Griechenland seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber deutschen Investoren umgehend nachkommen muss, erkannten selbst einige deutsche Politiker, wie töricht Kürzungen der Sozialausgaben aus wirtschaftlicher Sicht sind.
Deutschland selbst legte 2009 ein 50 Mrd. Euro schweres Konjunkturprogramm auf. Auf dem Weltgesundheitsgipfel 2012 in Berlin lobte der damalige deutsche Gesundheitsminister Daniel Bahr die Ergebnisse und argumentierte, Investitionen in die sozialen Sicherungssysteme seien unerlässlich, um das Wirtschaftswachstum in Gang zu bringen.[21]

Doch während Europa Banken rettete, die die Finanzmärkte in die größte Krise seit der Großen Depression gesteuert hatten, bestrafte es die griechischen Bürger, als seien sie für die Bilanzfälschungen und die wirtschaftliche Strategie ihrer Regierung verantwortlich.
Der Ökonom James Galbraith bezeichnete den Umgang mit dem griechischen Volk sogar als eine Form der „Kollektivstrafe“. Eine solche Bestrafung ist in Europa ohne Beispiel. Selbst Deutschland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz der Verursachung unermesslichen Leides, im Rahmen des Marshallplans von umfangreichen Investitionen profitiert, die das Wirtschaftswunder überhaupt erst ermöglichten.[22]

Da überrascht es nicht, dass die Griechen heute verzweifelt und wütend sind. Zu besonders heftigen Ausschreitungen kam es anlässlich des Griechenlandbesuchs von Angela Merkel im Oktober 2012. Die 6000 zu ihrem Schutz mobilisierten Polizisten gingen mit Pfefferspray und Blendgranaten gegen Demonstranten vor, die Steine warfen, Nazifahnen verbrannten, „Kein viertes Reich!“ skandierten und Transparente mit Aufschriften trugen wie „Merkel raus, Griechenland ist keine Kolonie“, „Das ist nicht die EU, sondern Sklaverei“ oder „Sie machen uns das Leben zur Hölle“.
Der Widerspruch, dass ausgerechnet Deutschland in Griechenland auf dem rigiden Sparkurs beharrt, obwohl es nach 1945 von den USA und dem übrigen Europa selbst „gerettet“ wurde, ist den Griechen nicht entgangen.[23]

Keine Frage: Die Griechen sind nicht nur die Opfer von Fehlern, die andere gemacht haben. Viele Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt, Steuern hinterzogen und ihre Bilanzen gefälscht.
Doch erst das Krisenmanagement der griechischen Regierung hat dafür gesorgt, dass aus einer schlechten wirtschaftlichen Lage ein Gesundheitsdesaster wurde.
Während es den Isländern heute gesundheitlich ähnlich gut geht wie den Amerikanern zu Zeiten des „New Deal“, gleicht der Gesundheitszustand der Griechen heute zunehmend dem der Russen – nach der neoliberalen Schocktherapie und Massenprivatisierung in den 90er Jahren.

* Der Beitrag basiert auf dem jüngst im Verlag Wagenbach erschienenen Buch der Autoren: „Sparprogramme töten. Die Ökonomisierung der Gesundheit“.