Der Türöffner: Wie Jens Spahn den gläsernen Patienten herbeiregiert

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Schon lange beobachte ich das einträgliche Treiben des Lobbyisten, der dem Treiben von Ulla Schmidt, Gröhe u.a. echt die Krone aufsetzt in seiner völlig skrupellosen Regie.
glaesernerpatient4Dessen Gesetze mit der Abschaffung der ärztlichen Schweigepflicht für gesetzlich Versicherte trieben mich eineinhalb Jahre früher als geplant in den Ruhestand, viele andere Kollegen auch.
Siehe schon 2014; https://josopon.wordpress.com/2014/02/12/die-illegale-gesundheitsuberwachungskarte-ziviler-ungehorsam-angesagt/ sowie
https://josopon.wordpress.com/2018/12/31/informatiker-zerlegt-digitale-patientenakte-der-allianz-tochter-vivy-und-3-anderer-anbieter/
und https://josopon.wordpress.com/2018/12/23/abschaffung-der-arztllichen-schweigepflicht-wer-braucht-die-zentrale-patientendatei/

Heute in den NachDenkSeiten passend dazu: https://www.nachdenkseiten.de/?p=63919
Auszüge:
Vor seiner politischen Karriere war Jens Spahn Pharmalobbyist. Als Bundesminister bleibt er seinen Wurzeln treu und legt sich mit Vehemenz für die Interessen der kommerziellen Gesundheitswirtschaft ins Zeug. Dafür schickt er Gesetze in Serie auf die Reise, die einen großen gemeinsamen Nenner haben – die Verwertung von Patienten- und Versichertendaten zu Profitzwecken.

Beispielhaft dafür ist das Digitale-Versorgung-Gesetz, das der Chef des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) gerade per Verordnung konkretisiert hat. Mit dem Ergebnis: Die informationelle Selbstbestimmung gerät noch heftiger unter Beschuss. Eine Luxusvilla ist das allemal wert.
Von Ralf Wurzbacher.

Jens Spahn ergreift die Flucht. Raus aus dem weltoffen-bunten Schöneberg, rein ins spießig-hermetische Dahlem, wo sich in Berlin die Wohlbegüterten vom gemeinen Volk distinguieren.
Im Kiez waren die Nachbarn zuletzt aber auch wirklich gemein, wie RTL aus seinem Umfeld erfuhr. Von „ständigen Kontaktaufnahmen“ fühlten sich der CDU-Promi und sein Ehemann Daniel Funke „gestört und eingeengt“. Mehrmals sogar habe man sie in den vergangenen Wochen vor der Haustür angesprochen und dabei seien nicht immer positive Worte gefallen.
Was liegt da näher, als auf Abstand zu gehen, gerade in Zeiten von Corona.

Den Schutz seiner Privatsphäre lässt sich der Bundesgesundheitsminister dabei einiges kosten. 4,125 Millionen Euro sollen laut Kaufvertrag für die Nobelvilla aus den 1920er Jahren fällig werden, dazu könnte noch ein stattliches Sümmchen für die Renovierung kommen.
Fernab der Berliner Trubelmeilen, inmitten von viel Grün und bei 300 Quadratmetern Wohnfläche winken demnächst aber allerhand Platz und Ruhe, um für und unter sich zu sein.
Und wenn doch mal Gäste da sind und lästig werden, kann sich das Paar immer noch in den vorhandenen Tresorraum zurückziehen.

Luxus im Corona-Notstand?

Warum der Zynismus? Nein, es geht nicht darum, in eine Neiddebatte einzustimmen. Zumindest solange sich die nicht ums liebe Geld dreht.
Die Frage, wie Spahn bei monatlichen Bezügen von 25.000 Euro und Burda-Cheflobbyist Funke die Immobilie finanzieren, soll nicht weiter interessieren.
Nur so viel: Für ihrer beider Lebensabend wird vorgesorgt sein, solange sie selbst mit ihrem Tun weiter dafür sorgen, dass es bestimmten Interessengruppen gut und immer besser gehen wird.

Eine Randnotiz soll auch bleiben, dass der Vorgang just in eine Zeit fällt, in denen zahllose von Spahns „lieben Mitbürgern“ pandemiebedingt Not leiden und er als Wegbereiter eines monatelangen Lockdowns dafür eine Mitverantwortung trägt.
In dieser Situation würde es dem Minister gut zu Gesicht stehen, die ein oder andere Wutbekundung aus der Nachbarschaft auszuhalten, statt gleich das Weite zu suchen und sich in einer Trutzburg zu verschanzen. Auch deshalb geschieht ihm ein bisschen schlechte Presse durchaus recht.

Vollends verdient hätte er die aus einem anderen Grund: Während Spahn seinen Anspruch auf Privatheit gegen die Zudringlichkeiten von außen unter Einsatz von Geld und Einfluss demonstrativ behauptet, lässt er mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte seiner Wähler und Nichtwähler alle Rücksichten sausen.
Seit er dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) vorsteht, hat der 40-Jährige eine regelrechte Kanonade an Gesetzesinitiativen gezündet, die allesamt darauf zielen, die Daten von Millionen Patienten und Versicherten interessierten Dritten, insbesondere aus der kommerziellen Gesundheitswirtschaft, zuzuführen.

Der Dammbrecher

Um nur ein paar Etappen seines Feldzuges zu nennen: Das „Implantateregister-Errichtungsgesetz“ (EIRD), das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) mit seinen Regelungen zur sogenannten elektronischen Patientenakte (ePA), nicht zuletzt das zweite Pandemieschutzgesetz, mit dem allein 18 weitere Gesetze eine Neufassung erhielten.
Ausnahmslos werden mit all diesen Neubestimmungen unter dem Label „Innovation“, „Sicherheit“ und „Qualität“ Zugriffe auf massenhaft sensible Daten argloser Menschen legalisiert.

Allein im Falle des im November 2019 vom Bundestag verabschiedeten und zum 1. Januar 2020 in Kraft getretenen DVG betrifft dies:
Alter, Geschlecht, Wohnort, sozioökonomische Faktoren zur Analyse (…) von Nutzerpräferenzen bestimmter Versicherungsgruppen, Informationen und Abrechnungsdaten zu ambulanten und klinischen Behandlungen, durch Hebammen oder andere Leistungserbringer, Anzahl der Versichertentage, die Krankengeldtage, Angaben zu Diagnosen und ärztlichen Zweitmeinungen und noch manches mehr.

Wie das Onlinemagazin Telepolis im Vorfeld der Beschlussfassung berichtete, ist das Gesetz in vielerlei Hinsicht bahn- beziehungsweise dammbrechend, weshalb es hier schwerpunktmäßig behandelt wird.
Das ganze Paket umfasst mehrere neue Bestimmungen, etwa zu Gesundheitsapps auf Rezept, zu Videosprechstunden oder zum Ausbau der Telematikinfrastruktur.
Die gravierenden Punkte sind aber andere: Zum Beispiel sieht es vor, dass die gesetzlichen Krankenkassen mit gewinnorientierten Unternehmen kooperieren und sich durch Erwerb von Anteilen an Investmentfonds direkt an der Entwicklung und Erprobung von digitalen Medizinprodukten beteiligen können.
Außerdem sollen Digitalprodukte ohne Nachweis eines medizinischen Nutzens und ohne ärztliche Indikationsstellung von den Krankenkassen selbst verordnet und in einer Erprobungsphase an Versicherten getestet werden dürfen – das immerhin nur mit deren Einwilligung.

Keine Widerrede beim Datenklau

Wo privat und öffentlich so verschwimmen, ist es um die (informationelle) Selbstbestimmung des Einzelnen schlecht bestellt. Deshalb ist dann auch Schluss mit Freiwilligkeit, wo es um die Daten der Versicherten geht.
Die Kassen können diese ohne Rücksprache sowohl für eine versichertenbezogene zielgerichtete Bedarfsanalyse auswerten als auch an ein neues staatliches Forschungszentrum weitergeben, das für die endgültige Zulassung der fraglichen „Innovationen“ zuständig ist.
Hier können die Daten wiederum ohne Widerspruchsrecht zu vielfältigen Zwecken verarbeitet und auf Antrag einer ganzen Reihe von Interessengruppen, sogenannten Nutzungsberechtigten, zugänglich gemacht werden. Dazu zählen Hochschulen, außeruniversitäre Forschungsinstitute, die Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärztekammern, die Krankenkassen selbst, Organisationen für Gesundheitsberichterstattung und sämtliche anderen öffentlichen Einrichtungen, die im Gesundheitssektor tätig sind. Die Zahl der zugriffsfähigen Stellen summiert sich so auf mehrere Dutzend.

Natürlich beteuern die Verantwortlichen, dass es bei all dem sicher zugeht und sich keiner sorgen müsse, anhand der Daten „enttarnt“ zu werden. Bei der Verarbeitung und Weiterleitung setzen die Macher allerdings auch auf die von Kritikern beargwöhnte Methode der Pseudonymisierung.
Wie etwa Netzpolitik.org schrieb, genügten schon wenige Merkmale, um die Informationen einer Einzelperson zuzuordnen und den Betroffenen so zu re-identifizieren.
Das gelte insbesondere bei niedrigen Fallzahlen wie etwa seltenen Krankheiten.
Zudem verwies das Portal auf Beispiele, bei denen das Verfahren bereits überlistet werden konnte, sei es bei Kreditkarten oder der Browserhistorie beim Surfen im Internet.

In einer Anhörung zur Gesetzesvorlage empfahl seinerzeit der Kryptografieexperte Dominique Schröder von der Universität Erlangen-Nürnberg, einzig mit verschlüsselten Daten nach dem Verfahren der Anonymisierung zu arbeiten. Daraus wurde nichts.
Inzwischen hat Spahn die Regelungen des DVG durch Erlass der sogenannten Datentransparenzverordnung (DaTraV) vom 19. Juni konkretisiert. Nach deren Wortlaut kann das Forschungsdatenzentrum Dritten durchaus „pseudonymisierte Einzeldaten“ zugänglich machen, wenn dies für einen „zulässigen Nutzungszweck“ erforderlich sei.
Formuliert ist dies als einer von drei Regelfällen, und nicht mehr als Ausnahmefall, wie die ursprüngliche Sprachregelung lautete.
Vor allem straft sich Spahn damit selbst Lügen. Am Tag der Beschlussfassung des Gesetzes im Parlament am 7. November bekräftigte er in seiner Rede, die Daten würden „gegenüber denen, die damit forschen, immer anonymisiert zur Verfügung“ gestellt.

Gegen alle Kritik

Außerdem ordnete der Minister an, dass der Umfang der zu verarbeitenden und weiterzureichenden Daten noch einmal massiv erweitert wurde, in einem Maße, dass ein Re-Identifizierungsrisiko nicht mal mehr in Abrede gestellt wird. Die Gefahr solle lediglich „minimiert“ werden und dies auch nur „unter angemessener Wahrung des angestrebten wissenschaftlichen Nutzens“, liest man in der Verordnung.
Dabei hatte im Vorfeld eine Vielzahl an Verbänden vor einem Daten-Overflow gewarnt, darunter die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen und -Initiativen (bagp) oder der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).

Selbst der Bundesrat äußerte im Gesetzgebungsprozess zum DVG schwerste Bedenken angesichts „erheblicher Risiken für die Persönlichkeitsrechte der Versicherten“ und von Gefahren der „Diskriminierung“ durch „individuelle Gesundheitsprofile“.
Das half nichts, weil die Länderkammer nicht zustimmungspflichtig war. Zuletzt hatte im Juni auch die Gesellschaft für Informatik (GI), als die DaTraV noch als Entwurf vorlag, eindringlich gemahnt:

„Der Zugriff auf die Datenbestände der Versicherten ohne jegliche Beschränkung und Kontrolle stellt eine enorme Bedrohung für alle persönlichen und personenbezogenen Gesundheitsdaten dar.“ Auch konstatierte man, „dass das BMG an einem Dialog mit der Fachöffentlichkeit nicht ernsthaft interessiert ist“.

Wie Telepolis in der Vorwoche im siebten Teil seiner lesenswerten Serie „Mit Vollgas gegen den Datenschutz“ enthüllte, hat sich die Gefahrenlage für die bundesweit 73 Millionen gesetzlich Versicherten inzwischen noch einmal drastisch verschärft. Wie oben beschrieben, soll das zu schaffende zentrale Datenforschungszentrum die Daten etlichen öffentliche Stellen zur Verfügung stellen können. Diese Nutzungsberechtigten selbst sollen die Daten nur nach Genehmigung eines gesonderten Antrags weitergeben dürfen.
Gleichwohl bestimmt das DVG vom Grundsatz, „die Nutzungsberechtigten dürfen die (…) zugänglich gemachten Daten nicht an Dritte weitergeben.“

Schlupflöcher und Einfallstore

Dieser Passus findet sich in Spahns Verordnung nicht mehr. Vielmehr heißt es dort jetzt, eine Datenverarbeitung durch Dritte „für andere Zwecke als die der Beratung (ist) ausgeschlossen“.
Damit könnte aus einem kleinen Schlupfloch ein Einfallstor für Fremdinteressen werden, abhängig von den Maßstäben, nach denen das Forschungszentrum eine Genehmigung ausspricht oder nicht.
Allein der Begriff „Beratung“ verspricht große Auslegungsspielräume. Wie man beispielsweise aus dem Verteidigungs- und dem Verkehrsministerium weiß, haben dort „Berater“ schon allerlei Gesetze geschrieben.
Und wenn sich neuerdings Krankenkassen mit Startups zusammentun dürfen: Was könnte da nicht alles unter „Beratung“ subsumiert werden?

Auch der DGB „sieht in diesem Erfordernis keinen ausreichenden Schutz vor einer Verwendung der Daten zu anderen als den angegebenen Zwecken“, wie er in einem Positionspapier vom Mai festhielt.
In diesem Zusammenhang monierte der Gewerkschaftsdachverband ferner, dass eine „bloße Selbstverpflichtung“ des Antragsstellers nicht genüge, die Richtigkeit und Angemessenheit der Datenverwendung sicherzustellen. So nämlich steht es in Spahns Verordnung.
Getoppt wird das noch durch den Sanktionsmechanismus im Falle von Zuwiderhandlungen. Dann nämlich droht ein Klaps mit dem Wattebausch, in Form eines „bis zu“ zweijährigen Datenentzugs.
Danach darf der Missetäter wieder ran an den Futtertrog.

„Dritte“ können mitunter alle sein, die auf dem Gesundheitsmarkt forschen und Geschäfte machen, die Pharmabranche, die Medizintechnikindustrie, Startups mit ihren Digitalverheißungen, Onlineapotheken, Privatversicherer et cetera.
Dem DGB schwant deshalb Schlimmes, weshalb er in seiner Stellungnahme forderte, „den Kreis der zur Datenverwendung in Frage kommenden Dritten im Voraus auf öffentliche, den Sozialversicherungsträgern angehörende oder nicht gewinnorientierte Akteure und Institutionen zu begrenzen“.
Freilich folgte Spahn dem guten Rat nicht, um statt dessen exakt die Richtung einzuschlagen, den die CDU-CSU-Fraktion im Dezember 2019 in einem Konzeptpapier aufgezeigt hatte.

Angriff auf Selbstbestimmung

Darin wird eine Debattenkultur bejammert, „die hierzulande selten chancengetrieben, gern und oft aber risikobeschwert geführt wird“. Gegen die vermeintliche Misere verschreiben die Autoren: Daten, Daten, Daten.
Und versprechen kaum weniger als die Befreiung der Menschheit von Krankheit, Kummer und Leid. Zitat: „Daten können Leben retten.“ Als Antreiber soll selbstredend die kommerzielle Wirtschaft vorangehen:

„Zum einen, um Erkenntnisse, die aus dem Datenschatz gewonnen werden, zügig zum Patienten und in die Anwendung zu befördern; zum anderen wegen des Standortpotenzials für die Gesundheits- und Gesamtwirtschaft.“

Das Credo der Unions-Fraktion: Qualitativ hochwertige Daten „made in Germany“ müssten „zu einem Alleinstellungsmerkmal unseres Gesundheitswirtschafts- und Forschungsstandortes werden“.
Ein Lob findet sich in dem Text auch: „Gesetzgeberisch wurden Digitalisierung, Versorgung und Forschung zuletzt in immer höherer Taktung zusammengedacht.“
So soll es weitergehen, was in der Ansage mündet: „Für das Digitale-Versorgung-Gesetz II fordern wir, in Deutschland ansässige forschende Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in den Kreis der Antragsberechtigten für das Forschungsdatenzentrum nach § 303e SGB V aufzunehmen.“

Ganz so klar steht es zwar nicht in Gesetz und Verordnung. Gleichwohl erhalten die in der Gesundheitswirtschaft tätigen Unternehmen und Konzerne damit wenigstens schon einmal mittelbaren Zugriff auf die Daten von Millionen ahnungslosen Bürgern, um daraus Profit zu schlagen.
Und was noch nicht ist, kann ja noch werden auf dem Weg zu einer umfassenden – totalitären – Digitalisierung des Gesundheitswesens – alles zum Wohle der Menschheit, versteht sich.
Ein Garant dafür ist Spahn selbst, seit dessen Inthronisierung der Frontalangriff gegen die Selbstbestimmung von Patienten und Versicherten mit einer überfallartigen Intensität als gewaltiges PR-Manöver und zuletzt noch befeuert durch die Triebkräfte der Corona-Pandemie geführt wird.

Vom Lobbyisten zum Erfüller

Das alles folgt einem großen Plan und einer perfiden Kommunikationsstrategie.
Telepolis diagnostizierte eine „gezielte Überforderung der Medien durch einen täglichen Tsunami an neuen einzelnen Informationsschnipseln aus dem Gesundheitsministerium mit dem Ergebnis, dass selbst für kritische Journalisten die dahinter liegenden Zusammenhänge kaum noch erkennbar sind“.
Dazu komme ein Frame-Setting, das „Fortschritt“ und „Zukunft“ in den schillerndsten Farben zeichnet und das „Unsichtbarmachen von Datenschutzabbau“ mit Gesetzesnamen, die deren Stoßrichtung verschleiern.

Obwohl: „Datentransparenzverordnung“ ist fast schon einen Beitrag zur Wahrheit. Sofern man anstelle von „Daten“ den „Menschen“ setzt, ist es zum „gläsernen Patienten“ nur noch ein kleiner Denkschritt.
Spahns Werdegang vom Pharmalobbyisten bis an die Spitze des BMG haben die NachDenkSeiten schon kurz vor seiner Ernennung skizziert. So gesehen waren und sind auch er und seine Politik leicht durchschaubar. Nur leider machen die „Qualitätsmedien“ lieber ein Geheimnis darum und arbeiten sich dafür an Boulevardeskem wie einer „Luxusvilla“ ab.
eCard-neindankeSpahn wird die Schlagzeilen überstehen. Der Mann wird noch für Höheres gebraucht.

Dazu auch in der jungen Welt: https://www.jungewelt.de/artikel/384505.rechtlose-versicherte-herr-spahn-baut-vor.html
Der Bundestagsabgeordnete Achim Kessler (Die Linke) wies am Montag gegenüber jW auf ein weiteres Problem hin. Dabei gehe es um das Anfang Juli vom Bundestag beschlossene »Patientendaten-Schutz-Gesetz«, das den Krankenkassen zugesteht, ihren Versicherten »gezielte Informationen« und »Angebote« zu unterbreiten, »also Werbung und Beeinflussung durch die Hintertür«. Mit einem Änderungsantrag der Koalition sei »aus einer dafür ausdrücklich erforderlichen Einwilligung die bloße Pflicht geworden, die Versicherten über die Möglichkeit eines Widerspruchs zu informieren«, so Kessler. Das alles sei »still und heimlich« geschehen. Corona macht’s möglich.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Lakaien des Kapitals – Journalisten und Politiker: Weltanschaulich eng miteinander verbunden

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Krasse Übersicht auf Telepolis von Marcus Klöckner
https://www.heise.de/tp/features/Journalisten-und-Politiker-Weltanschaulich-eng-miteinander-verbunden-4564192.html
Auszüge:

Die Wächter der Demokratie erblinden zunehmend und werden immer unfähiger, zentrale politische Weichenstellungen zu kritisieren

henry nannen preis2019

Dieses Foto muss man auf sich wirken lassen: Da steht der SPD-Politiker Olaf Scholz (Teilnehmer an der Bilderberg-Konferenz) im edlen Zwirn auf einem roten Teppich, rechts neben ihm direkt an der Seite Caren Miosga, Journalistin und Moderatorin der Tagesthemen, und links neben ihm Julia Jäkel, die mächtige Verlagsfrau von Gruner + Jahr (Teilnehmerin an der Bilderberg-Konferenz). Die drei präsentieren sich vor versammelten Fotografen.

Es ist der 28. April 2017. Jener Tag, an dem in Hamburg der Henry-Nannen-Preis an herausragende Journalisten verliehen wird. Miosga hat an diesem Abend die Moderation übernommen. Zu sehen sind Bilder von Spitzen aus Medien, Kultur, Wirtschaft und Politik. Bilder wie diese, auf denen sich Journalisten bei unterschiedlichen Anlässen ablichten lassen, ganz so, als seien sie Teil der Celebrities, als seien sie Stars, Hollywoodschauspielern gleich, finden sich viele im Netz. Da spielt die Frage, ob sich ein Journalist gemeinsam lächelnd mit einem Politiker auf einem „Laufsteg“ präsentieren und fotografieren lassen sollte, längst keine Rolle mehr. Die zu sehenden Journalisten haben die Frage offensichtlich für sich beantwortet.

Teile der journalistischen Elite in Deutschland scheinen kein Problem damit zu haben, gemeinsam am Abend mit Politikern zu feiern – ganz so, als ob hier jene roten Warnlampen, die die Grenzen zwischen Journalisten und Politikern markieren, nicht existierten. So lässt sich auch erklären, dass der Spiegel seine „Hauptstadtparty“ gemeinsam mit Politikern feierte. Unter dem Link finden sich Bilder, die der Spiegel selbst publiziert hat.
Sie zeigen etwa, wie Spiegel-Redakteur Ralf Neukirch mit Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer um die Wette strahlt, sich der Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros, René Pfister, unter anderem mit Bundesjustizministerin Katarina Barley oder der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey charmant lächelnd unterhält, oder der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner die Hände von führenden Spiegelredakteuren schüttelt.

Die Unbekümmertheit im Umgang der Medienelite mit hochrangigen Politikern lässt auch verstehen, wie etwa beim 70-jährigen Jubiläum der Welt am Sonntag die beiden Gruppen gemeinsam miteinander feiern konnten. Nicht nur, dass das Medienunternehmen den Teppich ausgerollt und die Fotowand zum Ablichten der Gäste aufgestellt hat, nein, die Eröffnungsrede durfte gar ein Politiker halten.

Das Blatt selbst hatte auch nicht zu verschweigen, dass es gemeinsam mit Politikern feierte – im Luxushotel The Fontenay, direkt an der Alster (Zimmerpreise zwischen mehreren hundert und mehreren tausend Euro die Nacht). Im Gegenteil. Die Zeitung berichtete transparenter, wie es kaum sein konnte.
Im Vorspann eines Artikels über die Feier heißt es: „Gut 200 Gäste kamen, darunter viele prominente Vertreter aus Politik, Kultur und Medien: Die Axel Springer SE ließ die vor 70 Jahren in Hamburg gegründete WELT AM SONNTAG im ‚The Fontenay‘ hochleben.“

Nochmal in Zeitlupe: Journalisten, Politiker und andere Eliten lassen in einem Luxushotel gemeinsam eine Zeitung „hochleben“. An dieser Stelle könnte man annehmen, dass der Grad an Absurdität nicht weiter gesteigert werden kann. Doch es ist tatsächlich noch Luft nach oben.
In seiner Rede zu Ehrung des Blattes sagte der Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) unter anderem:

Wenn die Meinungsbildung im Netz am etablierten öffentlichen Diskurs vorbeiläuft, dann können Sie Ihrer Aufgabe als Journalistinnen und Journalisten kaum mehr nachkommen, nämlich Dinge einzuordnen, zu analysieren, Fakten zusammenzutragen, zu diskutieren, zu bewerten. Dabei scheint das gerade angesichts der nahezu unüberschaubaren Vielfalt an Informationen und Meinungen unserer heutigen Medienwelt wichtiger denn je. Wie wollen, wie können wir darauf reagieren? Journalismus und Politik tragen ohne Zweifel eine große Verantwortung dafür, dass die demokratische Meinungsbildung lebendig bleibt.

Olaf Scholz

Diese Zeilen, aber auch die gesamte Rede, lassen sehr schön erkennen, wie die Verbundenheit zwischen Eliten aus Politik und Journalismus aussieht. Sie gewähren einen Einblick in die Sphären der sozialen Kohäsion zwischen Journalisten und Eliten, die in der öffentlichen Diskussion in der Regel kaum Beachtung findet.
Neben der oberflächlichen räumlichen Nähe zwischen Politikern und Journalisten kann auch eine ideologische Nähe zwischen den beiden Gruppen beobachtet werden.

So groß die Differenzen zwischen Journalisten und Politikern – die sich hauptsächlich im Bereich von Nebensächlichkeiten finden lassen – bisweilen auch sind: So sehr funktionieren viele Berichterstatter und Parlamentarier in nahezu identischer Taktung, wenn es um die Grundsätzlichkeit der Politikausrichtung geht.
Wenn Spitzenjournalisten und Spitzenpolitiker miteinander diskutieren, dann ist man sich, beispielsweise, zu oft einig darüber, dass

  • die Agenda 2010 im Prinzip richtig war;
  • Hartz IV sicher nicht viel Geld bedeutet, man aber damit durchaus leben kann (Gürtel enger schnallen);
  • es „uns“ im Grunde genommen doch gut geht;
  • Merkel gar keine so schlechte Arbeit geleistet hat;
  • die Bürger nicht immer meckern sollten;
  • Verschwörungstheorien etwas ganz Schlimmes sind;
  • wir in einer Zeit von Filterblasen, Echokammern und Fake News leben;
  • der Feind im Osten sitzt;
  • „wir“ mehr „Verantwortung“ *) in der Welt übernehmen müssen und einiges mehr.

Anders gesagt: Die politische und weltanschauliche Verbundenheit von zumindest einem Teil der Politiker und Journalisten führt dazu, dass beide Gruppen kaum noch jene grundsätzlich gesunde kritische (mentale) Distanz haben sollten, die im Sinne der Demokratie notwendig ist.
Stattdessen erblinden die Wächter der Demokratie zunehmend und werden immer unfähiger, zentrale politische Weichenstellungen mit dem notwendigen Druck und auch mit der notwendigen Schärfe zu kritisieren.
Wie sollen Journalisten auch grundsätzliche politische Fehlentscheidungen kritisieren können, wenn sie diese publizistisch durch ihre Arbeit aus voller Überzeugung flankieren?

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf ist man nicht im Geringsten verwundert, wenn Scholz in seiner Rede sagt: „Dabei scheint das gerade angesichts der nahezu unüberschaubaren Vielfalt an Informationen und Meinungen unserer heutigen Medienwelt wichtiger denn je. Wie wollen, wie können wir darauf reagieren?“

Der SPD-Politiker gebraucht in seiner rhetorischen Frage tatsächlich das Wörtchen „Wir“. Der Politiker dürfte an dieser Stelle gewusst haben, dass er nicht auf den geringsten Widerstand stoßen wird, wenn er Journalisten an dieser Stelle durch das „Wir“ vereinnahmen würde.
Es besteht nun einmal Einigkeit zwischen vielen führenden Politikern und Journalisten darin, dass „die Meinungsbildung im Netz“, die am „etablierten öffentlichen Diskurs vorbeiläuft“, ein Problem darstellt.

Lassen Sie uns an dieser Stelle diesen Abschnitt der Rede genauer betrachten, denn hier wird sehr schön deutlich, wie die ideologische Verbundenheit zwischen Politikern und Journalisten aussieht:

Zunächst fällt auf, dass die Wenn-dann-Satzverbindung inhaltlich unpräzise ist. Frage: „Wenn die Meinungsbildung im Netz am etablierten öffentlichen Diskurs vorbeiläuft“, warum sollten dann Journalisten ihren Aufgaben, wie „Dinge einzuordnen, zu analysieren, Fakten zusammenzutragen, zu diskutieren“, nicht mehr nachkommen können?
Die Meinungsbildung im Netz hält sie schließlich nicht von ihrer Aufgabe ab.
Was Scholz vermutlich sagen wollte: Wenn sich Bürger ihre Meinung auch mit Hilfe des Internets bilden und dabei Ansichten entwickeln, die am „etablierten öffentlichen Diskurs“, wie ihn unter anderem Politik und Mainstreammedien erzeugen, entgegenstehen, dann bildet sich ein Gegengewicht zum Diskurs der Mainstreammedien.
Für Journalisten, die mit ihren Medien diesen „Mainstreamdiskurs“ am Leben halten wollen, ist die Meinungsbildung im Netz insofern natürlich ein Problem, weil Teile der Bürger ihren Analysen und Ansichten nicht (mehr) akzeptieren.

Mit einer gehörigen Portion Naivität könnte man an dieser Stelle fragen, warum Scholz als Politiker sich um den „etablierten öffentlichen Diskurs“ und die Arbeit der diskurserzeugenden Journalisten Sorgen macht. Offensichtlich scheint er – als Politiker – mit dem „etablierten öffentlichen Diskurs“ keine sonderlich großen Probleme zu haben und eher die Meinungsbildung im Netz als Gefahr zu betrachten.
Für Journalisten sollten Scholz‘ Aussagen Anlass geben, die eigene Arbeit radikal zu überdenken, schließlich kommt hier in aller Deutlichkeit zum Vorschein, dass ein Politiker im Großen und Ganzen mit dem Diskurs, wie ihn die großen Medien erzeugen, einverstanden zu sein scheint – was kein Wunder ist, schließlich zeichnet sich dieser Diskurs eben nicht durch einen hohen Grad an Herrschaftskritik aus, wie es eigentlich der Fall sein sollte (seine Teilnahme an der Bilderberg-Konferenz war und ist für die großen Medien weitestgehend kein Thema).

Aber das Problem geht tiefer. Worüber redet Scholz wirklich? Ist Scholz tatsächlich über die Arbeit der Journalisten besorgt, die mit den alternativen Diskursen im Internet konkurrieren müssen?
Möglich ist das. Mit einer gehörigen Portion Naivität gedacht ließe sich sagen, dass Scholz als demokratischer Politiker natürlich ein großes Interesse daran hat, dass die sogenannten Qualitätsmedien, die vorgeben, mit ihrer Arbeit für einen Journalismus zu stehen, den höchsten Standards gerecht wird, nicht angezählt werden.
Nur: An dieser Stelle ist Naivität fehl am Platz. Mit einem herrschaftskritischen Blick lässt sich sagen:
Politiker, denen es nun mal oft um Macht geht, haben ein sehr eigenes Interesse daran, dass Bürger jene Grenzen des Diskurses nicht überschreiten, die genau festlegen, wie weit die Kritik an der Macht, die im politischen Feld verwurzelt ist, gehen darf – und im etablierten öffentlichen Diskurs werden diese Grenzen nahezu perfekt eingehalten.

Für Politiker – wir haben es bereits weiter vorne angesprochen – ist es sehr wichtig, dass sie in der Lage sind, bestimmte Wahrnehmungskategorien innerhalb der Bevölkerung, durchzusetzen.
Politiker müssen darauf achten, dass ihre Politikausrichtung (Agenda 2010, Umgang mit Russland und so weiter) von Medien unterstützend widergegeben wird. Würden sich Medien dauerhaft gegen bestimmte politischen Weichenstellungen erheben, hätten Politiker gewaltige Probleme damit, das Denken der Bürger in eine Richtung zu lenken, das zur Durchsetzung ihrer Politik notwendig ist.
Bilder wie etwas das vom „faulen Arbeitslosen“, vom „Aggressor Russland“ und so weiter können als Wahrnehmungskategorien identifiziert werden, die dazu dienen, dass die jeweilige Politikausrichtung Akzeptanz durch die Bürger erfährt.

Gelingt es Politikern andererseits nicht, solche zentralen Wahrnehmungs- und Denkkategorien zu etablieren, droht nicht nur ihre jeweilige Politik zu scheitern, sondern auch ein Machtverlust, spätestens bei den nächsten Wahlen. Wer sich mit den Diskursen, wie sie in den Mainstreammedien, auf der Straße und im Internet zu finden sind, auseinandersetzt, sieht schnell, dass es gewaltige Unterschiede gibt.

Der politische Diskurs im medialen Mainstream ist geprägt von einer Berichterstattung, die im Grundsatz oft zentrale politische Weichenstellungen unterstützt (Stichwort: Indexing), aber vor allem auch die getarnten Mechanismen von Macht und Herrschaft (machtelitäre Strukturen, Stichwort: Elitezirkel, Thinktanks et cetera) kaum beleuchtet.
Im Internet hingegen finden sich Diskurse, die zentrale politische Weichenstellungen im Grundsatz massiv kritisieren und kein Problem damit haben, Macht und Herrschaft als Macht und Herrschaft zu bezeichnen.
So betrachtet erscheinen die Worte von Scholz in einem ganz anderen Licht.
So betrachtet liegt es sehr nah, dass Politiker, die einem „etablierten öffentlichen Diskurs“ und Mainstreammedien Zuspruch leisten, eigene Interessen an der Vorherrschaft dieses Diskurses haben.

Die Worte von Scholz offenbaren den Kitt, der politisches und journalistisches Feld zusammenhält. Während der (für Politiker gefällige) „etablierte öffentliche Diskurs“ Politikern zum Forcieren ihrer Politik und zum Machterhalt dienlich ist, haben die diskurserzeugenden Medien sowohl ein eigenes Machtinteresse (schließlich können anziehende Außenseiter-Diskurse der alternativen Medien die Deutungshoheit der Mainstreammedien untergraben – siehe etwa die Berichterstattung über Russland -, was dann zu einem Glaubwürdigkeitsverlust, damit zu einem Verlust an Lesern und schließlich zu einem ökonomischen Verlust durch geringe Einnahmen führen kann), als auch ein ideologisches Interesse an der Aufrechterhaltung des etablierten Diskurses.
Das heißt: Viele Medien, das lässt sich immer wieder beobachten, „tragen Politik mit“ – was sie nicht tun, weil sie bestochen wurden, sondern weil sie von der Politik (mehr oder weniger) auch überzeugt sind.

Mit diesen Gedanken rücken jene Vorwürfe frei sichtbar in den Vordergrund, die Medienkritiker Journalisten immer wieder machen, nämlich: dass sie Sprachrohre der Mächtigen seien und sich Politikern mehr verpflichtet fühlten als dem durchschnittlichen Bürger und der Aufklärung von Missständen. (Marcus Klöckner)

Hier die teils lesenswerten Kommentare:
https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Journalisten-und-Politiker-Weltanschaulich-eng-miteinander-verbunden/forum-436370/comment/

*: „Verantwortung“ -> Joschka Fischers „Schutzverantwortung“ -> Bruch des VölkerrechtsKrieg

Dazu das fälschlich George Orwell zugeschriebene Zitat:
Journalismus ist zu drucken, was andere nicht gedruckt sehen wollen. Alles andere ist Public Relations.“
https://quoteinvestigator.com/2013/01/20/news-suppress/amp/

Dazu auch das interview mit Udo Ulfkotte   über gekaufte Journalisten: https://josopon.wordpress.com/2014/11/10/interview-mit-udo-ulfkotte-ex-faz-uber-gekaufte-journalisten-in-grosen-zeitungen/

und zur aktuellen Kriegstreiberei:

https://josopon.wordpress.com/2016/09/27/salven-aus-den-verlagshausern-der-anteil-der-medien-an-den-kriegen-des-westens/

sowie über CIA-Mietmäuler und Sprachrohre der Kriegstreiber in deutschen Redaktionen hier:

https://josopon.wordpress.com/2015/09/02/mietmauler-und-sprachrohre-der-kriegstreiber-gehoren-in-keine-deutsche-redaktion/

und aktuell 2020:

https://josopon.wordpress.com/2020/01/08/mit-allen-mitteln-und-unterstutzung-aus-der-linkspartei-fur-das-grose-inferno-in-nahost/

Ein Lehrstück dazu auf den NachDenkSeiten: https://www.nachdenkseiten.de/?p=57576

Jochen

Für einen linken Populismus

Jens_WernickeEin Gastbeitrag von Joachim Keiser auf der facebook-Seite von Jens Wernicke

https://www.facebook.com/JournalistJensWernicke/posts/883900435048458:0

Angesichts der jüngsten Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien in Gestalt der AfD und der FPÖ und angesichts der inzwischen nur als fatal zu bezeichnenden politischen Verhältnisse, ist eine strate­gische Diskussion, wie die politische Linke dieser Entwicklung etwas entgegensetzen kann, dringend geboten. Die katastrophale politische und gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte beruht auf der politischen Hegemonie des Neoliberalismus. Alle im Bundestag und in den Landesparlamenten vertretenen Parteien, inklusive der AfD, mit Ausnahme von Teilen der Partei „DIE LINKE“, vertreten diese neoliberale Ideologie und somit die Interessen der herr­schenden Eliten . Jeder Versuch des Widerstandes gegen die neoliberale Ideologie wird sofort durch die deutschen „Qualitätsmedien“ und den politischen Apparat der öffentlichen Diffamierung überantwortet. Eine Kostprobe davon ist die aktuelle Kampagne gegen Sahra Wagenknecht, die durch die opportunistische Karrierefraktion ihrer eigenen Partei, unter kräftiger Mithilfe der „Qualitätsmedien“, initiiert wurde. Besonders elend ist dabei die Tatsache, dass sich die parteiinternen „Kritiker“ bereitwillig zu Stichwortgebern der „Qualitätsmedien“ machen, obwohl diese die Linke bisher entweder totgeschwiegen oder diffamiert haben.

Wer, wie Sahra Wagenknecht, Fragen nach den Gründen oder Folgen der, von der Regierung Merkel betriebenen Einwanderungspolitik stellt, womöglich gar vermutet, dass dahinter ein klares innenpolitisches Kalkül steckt, dass Flüchtlinge und Migranten gegen Erwerbslose, Hartz-IV Bezieher und prekär Beschäftigte ausgespielt und so von den Folgen der neoliberalen Politik ablenken soll, wird umgehend in die „rechte Ecke“ gestellt. Hier ersetzt moralische Verurteilung eine angemessene politische Analyse. Dass sich das sonst so kritisch gebende linke und linksliberale Milieu diese Sichtweise aktuell zu eigen gemacht hat, kann nur als politisches Versagen desselben bezeichnet werden, das von zunehmender politischer Orientierungslosigkeit und der Unterwerfung unter die politische Hegemonie des Neoliberalismus zeugt.

Die Frage, die diesbezüglich zu stellen ist, ist vor allem jene, welches politische Konzept es ermöglicht, die politische Hegemonie des Neoliberalismus zu brechen und die Menschen für den Widerstand gegen diese menschenverachtende Ideologie und ihre Auswüchse zu mobilisieren. Ein mögliches politisches Konzept soll im Folgenden zur Diskussion gestellt werden und einen Denkanstoß liefern.

Verfolgt man die politische Entwicklung der letzten Monate, lässt sich etwas Bemerkenswertes feststellen: Während sich in Europa und selbst in den USA linker Widerstand gegen den Neoliberalismus formiert, artikuliert sich sozialer Protest in Deutschland vor allem über die rechtsnationalistische AfD, wie deren Wahlerfolge in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen. Die LINKE musste dagegen eine fatale Wahlniederlage hinnehmen und sich in Sachsen-Anhalt sogar hinter der AfD geschlagen geben. Dabei ist sicher zu berücksichtigen, dass die politische Linke in Deutschland und explizit die Partei DIE LINKE mit schwierigen Gegebenheiten konfrontiert ist. So steht ihr die gesamte „Qualitätspresse“ inklusive der Hetzblätter des Springer-Konzerns komplett ablehnend gegenüber. Eine objektive Berichterstattung ist hier nicht zu erwarten. Der durch Nazi-Diktatur und Kalten Krieg, tief im deutschen Unterbewusstsein verwurzelte Anti-Kommunismus spielt hier eine weitere nicht zu unterschätzende Rolle.

Doch zeigt die gestiegene Wahlbeteiligung gerade in Sachsen-Anhalt, die offenbar primär der AfD zugutekam, dass eine politische Mobilisierung der Menschen gegen die bestehenden Verhältnisse durchaus möglich erscheint. Dennoch gelingt es der politischen Linken in Deutschland nicht, die wachsende Wut der Menschen über die Folgen der neoliberalen Politik aufzugreifen und auf den richtigen Gegner zu lenken. Nun richtet sich diese Wut mit der wachsenden sozialen Polarisierung und dem Anwachsen materieller Not vor allem gegen jene, die aus dem Blickwinkel der Menschen in der gesellschaftlichen Hierarchie noch weiter unter ihnen stehen. Gerade deswegen ist die Frage zu stellen, was getan werden muss, um den Unmut gegen die neoliberale Agenda auf eine breite Basis zu stellen und in die richtige Richtung zu lenken? Nicht gegen Flüchtlinge, Migranten, Erwerbslose und Hartz IV-Bezieher, sondern gegen das oberste eine Prozent! Die Aufmerksamkeit sollte sich dabei auf eine politische Strategie richten, die etwa die Podemos in Spanien und die Syriza in Griechenland zum politischen Erfolg geführt hat.

Bei den spanischen Parlamentswahlen Ende Dezember des vergangenen Jahres erzielte mit der Podemos eine linke Basisbewegung einen überwältigenden Wahlerfolg. Die Podemos wurde aus dem Stand zur drittstärksten Partei im spanischen Parlament und liegt nun bei den aktuellen Umfragen sogar auf Platz Zwei. Schon in den vorausgegangenen Regional- und Kommunalwahlen konnten linke Bündnisse und Basisgruppen in Spanien große Erfolge erzielen und unter anderem mit der Aktivistin Ada Colau die Bürgermeisterin der zweitgrößten spanischen Stadt, Barcelona stellen. Ada Colau war dabei die Kandidatin, der aus dem Kampf gegen Zwangsenteignungen entstandenen basisdemokratischen Bewegung Barcelona en Comú. Der Podemos und ihrem politischen Umfeld ist dabei eine Repolitisierung vor allem der jüngeren Generation gelungen.

Mit dem Erringen der parlamentarischen Mehrheit durch linke Parteien erlebte mit Portugal im vergangenem Jahr ein weiteres europäisches Land die Abkehr vom neoliberalen Austeritätsdiktat. Bereits im Januar 2015 konnte mit der Syriza in Griechenland eine weitere linke Bewegungen die Regierung stellen, die während des Wahlkampfes explizit gegen neoliberale Austeritätspolitik Position bezog (wobei deren letztendliche Kapitulation vor dem Diktat der Troika an anderer Stelle diskutiert werden muss). Mit der Wahl Jeremy Corbyns zum neuen Labour-Vorsitzenden konnte im September 2015 ein weiterer dezidierter Gegner des Neoliberalismus politisch reüssieren. Gerade der Erfolg des linken Labour-Abgeordneten Corbyn bei der Wahl zum Labour-Vorsitzenden basiert insbesondere darauf, dass es ihm gelang, viele, auch gerade junge Menschen jenseits der Parteiorganisation zu mobilisieren. Und selbst in den USA zeigt der bis vor kurzem nicht für möglich gehaltene Erfolg des linken Bernie Sanders in den Vorwahlen, dass die neoliberale Politik, der immer weiteren sozialen Polarisierung an ihre Grenzen stößt und die Menschen beginnen Widerstand zu leisten.

Die Podemos, die Syriza und besonders linke politische Bewegungen in Südamerika, verdanken ihre Erfolge einem politischen Konzept, dass sich nicht darauf beschränkt, einen politischen Wechsel allein über Parteipolitik in den Parlamenten zu erreichen. Dies entspringt der Erkenntnis, dass immer mehr Menschen wahrnehmen, dass ihre Interessen, die Interessen der Mehrheit, von den Herrschenden einfach ignoriert werden. Der britische Soziologe Colin Crouch bezeichnet die parlamentarische Demokratie nur noch als eine Scheindemokratie und Showveranstaltung zur Beruhigung der Massen, die noch nach formalen demokratischen Regeln zu funktionieren scheint, eine soziale und politische Partizipation der Bevölkerung findet aber nur noch marginal oder gar nicht mehr statt. In seinem im Jahre 2005 erschienen Buch „Postdemokratie“, schreibt Crouch:

„Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.“

Besonders deutlich wird dies, wenn man die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa betrachtet, denn dann wird klar, dass diese längst zu Agenten des Neoliberalismus degeneriert sind: Die Parteiapparate erweisen sich als geschlossene Systeme mit verbrauchten Figuren, die angesichts wachsender sozialer Spaltungen den Kontakt mit der gesellschaftlichen Basis längst verloren haben. Gerade die SPD befindet sich in der Endphase ihres Niedergangs, wie die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt drastisch verdeutlichen. Das brutale von Merkel und Schäuble am Verhandlungstisch durchgesetzte Austeritätsdiktat gegen Griechenland wurde von der SPD bedingungslos unterstützt und von der europäischen Sozialdemokratie weitgehend akzeptiert. Und auch der letzte Parteitag der SPD im Dezember vergangenen Jahres hat mit der Zustimmung zum transatlantische Freihandelsabkommen TTIP wieder deutlich gezeigt: Wer sich auf die SPD verlässt, ist verlassen; ein Impuls für eine gesellschaftliche und politische Veränderung ist von dieser Partei nicht mehr zu erwarten.

Die Hoffnung auf die Brechung der neoliberalen Hegemonie allein über den Pfad des Parlamentarismus ist damit illusorisch. Mit dem Wahlerfolg der AfD sowieso, da sich mit dieser Partei das Paradox ergibt, dass sie ihren erdrutschartigen Sieg etwa in Sachsen-Anhalt zwar der Wut und Enttäuschung über die Zumutungen des Neoliberalismus verdankt, selbst aber eine dezidiert neoliberale bis libertäre Position vertritt. Für wirksamen Widerstand gegen den Neoliberalismus und seiner menschenverachtenden Ideologie bedarf es daher einer neuen linken Bewegung, die vor allem eine außerparlamentarische Bewegung sein muss, um die neoliberale Einheitsfront in den Parlamenten aufbrechen zu können. Das hierzu notwendige politische Konzept eines linke Populismus hätte vor allem den Unmut der Menschen aufzugreifen und gegen jene zu lenken, welche die ökonomische und politische Verantwortung für die permanente Verschlechterung der Lebensumstände der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger tragen. Jakob Augstein hat dies in einer seiner Kolumnen treffend formuliert: „Demonstriert lieber gegen die Banken!“

Die Erfolge der Podemos beruhen denn auch auf einer solch expliziten Kenntlichmachung des gesellschaftlichen Antagonismus zwischen dem Volk auf der einen sowie den ökonomischen und politischen Eliten auf der anderen Seite: Die Podemos betonte in ihren politischen Stellungnahmen stets, wie verrottet das ganze politische System Spaniens ist, und dass man es hinwegfegen müsse; ein System, in dem die großen Parteien – Sozialisten und Volkspartei, die politischen Pendants von SPD und CDU – gleichermaßen der Oligarchie dienen.

Der Frontmann der Podemos, der Politikwissenschaftler Pablo Iglesias lehnt sich in seiner politischen Analyse und Praxis dabei an das politische Konzept eines linken Populismus des argentinischen Philosophen Ernesto Laclau und dessen Frau Chantal Mouffe an. Letztere formuliert die Notwendigkeit eines linken Populismus so:

„In einem Kontext, in dem der herrschende Diskurs verkündet, es gebe keine Alternativen zur heutigen neoliberalen Form der Globalisierung, weshalb ihre Diktate akzeptieren sollten, überrascht es nicht, wenn eine wachsende Zahl von Menschen jenen Gehör schenkt, die eben doch Alternativen ankündigen und den Menschen vorgaukeln ihnen Entscheidungsmacht zurückzuerstatten.“

Damit spricht Mouffe einen entscheidenden Aspekt an: Nach mehr als dreißigjährigem Wüten des Neoliberalismus sind die westlichen Marktgesellschaften tiefer gespalten als jemals zuvor nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Politisch verantwortlich dafür ist das neoliberale Parteienkartell der sogenannten Mitte.

Das Aufgreifen des Konzeptes eines linken Populismus ist aktuell um so dringender, als es Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik gelungen ist, die politische Linke zu vereinnahmen und zu paralysieren. Die entscheidende Frage nach dem alles bestimmenden gesellschaftlichen Antagonismus, dem Unterschied zwischen Arm und Reich, zwischen den herrschenden Eliten und der großen Mehrheit der Bürger, wird von vielen Linken kaum mehr gestellt. Die politische Dichotomie bewegt sich heute stattdessen fast ausschließlich an der Scheidelinie, welche Position man zur Aufnahme der Flüchtlinge einnimmt. Die Bewertung ist dabei eine rein moralische: Entweder ist man für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen oder man ist dagegen. So wird jeder sofort in die rechte Ecke gestellt, der nach den Bedingungen für eine gelingende Integration und insbesondere nach den sozialen und ökonomischen Gründen sowie Auswirkungen der forcierten Massenmigration vor dem Hintergrund der neoliberalen Austeritätspolitik fragt.

Eine alte Wahrheit, die der Arbeiterbewegung stets dienlich war, droht hierüber nun vollends in Vergessenheit zu geraten. Es ist dies das alte Marx-Wort, das da lautet: „Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, nicht zwischen den Völkern“.

Abschließend sei der Dramaturg Bernd Stegemann zitiert, der in einem Gastbeitrag in der Zeit, die zustellenden Forderungen gerade eines linken Populismus in absoluter Klarheit formuliert:

„Wer eine Willkommenskultur fordert, ohne über die Eigentumsverhältnisse zu sprechen, verschweigt die Hälfte der Wahrheit. (…) Die richtige Antwort auf die Wähler der AfD ist keine Anbiederung, indem zum Beispiel die Asylgesetze verschärft werden, und es ist auch nicht ihre moralische Verdammung als Rassisten. Die einzig richtige Antwort wäre die Herstellung einer sozialen Gleichheit aller Lebensbedingungen.“

Damit wäre die politische Zielrichtung eines linken Populismus bestimmt. Die Wichtigkeit der Findung und Etablierung einer solch neuen und kämpferischen linken politischen Strategie jenseits eines vom Neoliberalismus dirigierten „Parlamentarismus“ ist dringender denn je. Gelingt dies nicht, wird der Neoliberalismus das Ende der Demokratie sein.


Zu den Themen linker Populismus, Flüchtlingspolitik und AfD:

Chantal Mouffe im Interview – „Konsens gefährdet die Demokratie“ http://www.wienerzeitung.at/…/758416_Konsens-gefaehrdet-die…

Chantal Mouffe – Über das Politische – Wider die kosmopolitische Illusion
http://www.suhrkamp.de/…/ueber_das_politische-chantal_mouff…

Die andere Hälfte der Wahrheit
http://www.zeit.de/…/fluechtlingspolitik-deutschland-angela…

Die große Aggressionsverschiebung – Über Pegida, diffuse Ängste und die Reaktion der Politik
http://www.hintergrund.de/…/die-grosse-aggressionsverschieb…

Prekariat auf Abwegen
http://www.heise.de/tp/artikel/47/47975/1.html

Rechtsruck
http://www.nachdenkseiten.de/?p=33137

„Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Fluchtursachen schweigen“
http://www.nachdenkseiten.de/?p=30582

Können Marktradikale und Nationalchauvinisten eine „Alternative für Deutschland“ sein?
http://www.nachdenkseiten.de/?p=16524

„Alternative für Deutschland“: Das AfD-Programm ist ein Plan für Reiche
http://www.fr-online.de/…/-alternative-fuer-deutschland—d…

Faschismus in der AfD?
http://www.heise.de/tp/artikel/45/45182/1.html

Für deutsche Gewerkschaften gilt: Französisch lernen!

Dazu unten auch ein beitrag aus den NachDenkSeiten. Was die Rieser Nachrichten bzw. die Augsburger Allgemeine dazu schrieben, folgt dem Tenor: die sollen sich mal nicht so anstellen. Aber hier zunächst auszugsweise das Neue Deutschland:

Über die 
Solidarität mit den kämpfenden Nachbarn

Demo_Marseille2016

Marseille, März2016: Nationaler Demonstrationstag gegen das Arbeitsgesetz; Foto:dpa/Guillaume Horcajuelo

Dass im westlichen Nachbarland Frankreich seit Monaten ein Abwehrkampf gegen einen Generalangriff auf die Arbeiterbewegung läuft, scheint für deutschen Gewerkschaften kein großes Thema zu sein.

Von offiziellen Solidaritätserklärungen an die französischen Brudergewerkschaften und anderen Formen der Unterstützung ist an den Gewerkschaftsspitzen kaum die Rede. Dabei kann eigentlich jeder Betriebsrat und jeder Gewerkschafter hierzulande ein Lied davon singen, was mit der Agenda 2010 angerichtet wurde. Zudem geht es nicht nur um ein Nachholen der Hartz-Gesetze, sondern um schwerwiegende Angriffe auf die Rechte von Kernbelegschaften, die sich europaweit auswirken würden; und um den Versuch, mit Notstandsvollmachten die Gewerkschaften zu zähmen und die Demokratie außer Kraft zu setzen.

 An mangelnden Sprachkenntnissen dürfte es kaum liegen, dass sich viele Gewerkschafter schwer tun, direkte Kontakte zu protestierenden und streikenden Kollegen westlich von Rhein und Saar zu knüpfen. Dabei sind viele Streikzentren etwa bei der Staatsbahn SNCF von Stuttgart, Saarbrücken, Frankfurt oder Köln nur wenige Autostunden entfernt. Ein Besuch stärkt nicht nur den Streikenden den Rücken, die in diesen Tagen ganz ohne gewerkschaftliche Streikgelder große Opfer bringen. Er zeigt auch, wie sonst gegeneinander konkurrierende Richtungsgewerkschaften an einem Strang ziehen können. Und er wirft erneut die Frage auf, warum die deutschen Gewerkschaftsvorstände seinerzeit so sang- und klanglos hinnahmen, was mit den Namen Riester und Hartz bezeichnet wird, den Namen zweier namhafter IG Metall- und SPD-Mitglieder, die durch das deutsche Mitbestimmungsmodell Karriere machten.

Den Versuch einer ideologischen Rechtfertigung anhaltender Passivität lieferte im Herbst 2010 der damalige IG Metall-Chef Berthold Huber: Er distanzierte sich von »französischen Verhältnissen«, gab die Parole »nachhaltig statt französisch« aus und verkündete einen »langen Atem und das Bohren dicker Bretter«. Nachhaltig sind seither die zunehmende Prekarisierung, Hungerlöhne und Altersarmut in einem der reichsten Länder der Erde.

Doch während viele auf ein Aushungern der französischen Streikbewegung und die beginnende Fußball-EM als Ablenkung setzen, haben etliche gewerkschaftliche Untergliederungen Kontakte geknüpft, Infoveranstaltungen anberaumt, praktische Hilfe in die Wege geleitet. Die GEW Nordhessen ruft zur Spendensammlung für die Streikenden in Frankreich auf. In Hamburg wird am 20. Juni ein französischer Eisenbahner der Gewerkschaft SUD Rail bei ver.di über die aktuelle Lage berichten. In Dortmund trat am 1. Mai ein Vertreter der CGT als Hauptredner auf und berichtete über die Hintergründe der Protestbewegung.

Solche Ansätze sind wichtig und richtig und verdienen massenhafte Nachahmung.

Dazu heute die NachDenkSeiten auch zu einem der abgefeimtesten Beiträge, der im Kulturmagazin ttt der ARD gesendet wurde:

Die stille Nacht deutscher Qualitätsmedien und nuit debout in Frankreich – kurz vor Eröffnung der Fußball-EM.

Sicherlich wissen fast alle, dass nun die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich beginnt und heute Abend das Eröffnungsspiel in Paris stattfinden wird. Das wissen Sie, weil Sie Fußball mögen oder gar nicht an der fast täglichen Berichterstattung in öffentlich-rechtlichen und privaten Anstalten herumkommen. Wissen Sie auch, dass seit Ende März Zehntausende in Frankreich in über 200 Städten öffentliche Plätze besetzt hatten und besetzt halten, um gegen den anhaltenden Ausnahmezustand (état d’urgence) und die „Arbeitsmarktreform“ der französischen Regierung, die sich als sozialistisch ausgibt, zu demonstrieren?

Wissen Sie, dass diese Bewegungen mit massiven Protesten der Gewerkschaften einhergehen, mit Streiks und Blockaden der Lkw-Fahrer, der Angestellten beim staatlichen Bahnkonzern SNCF, mit einem Streik der Piloten der Fluggesellschaft Air France? Von Wolf Wetzel [*]

Und haben Sie die deutschen Qualitätsmedien darüber informiert, dass kurz nach dem Eröffnungsspiel, am 14. Juni eine internationale Demonstration in Paris stattfinden wird, zu der Gewerkschaften und die Bewegung ‚nuit debout’ (wache Nacht) aufrufen, unter dem gemeinsamen Motto: Rücknahme des Ausnahmezustandes und der Arbeitsmarktreform?
Eine Demonstration, die sehr wahrscheinlich mindestens so viele Menschen auf die Straße bringen wird, wie nach dem Anschlag in Paris 2015.

Als die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien 2014 stattfand, gab es zumindest in einigen Medien kritische Berichte über das Land, über die Regierung, über Korruption in Politik und Wirtschaft, über die ‚Säuberungen’ von ganzen Stadtteilen, über die Millionen von Menschen im Land, die sich das WM-Spektakel nicht leisten können. Wo bleibt diese kritische Vorberichterstattung zu Frankreich?

Auf der Suche nach einer solchen stieß ich am 6.6.2016 auf einen verheißungsvollen Bericht in 3sat: „Frankreich – Wild und schön“. Doch dieser führte nicht auf die besetzten Plätze in ganz Frankreich, zu den fast täglichen Demonstrationen, sondern in die Natur, in die Berge. „Ein Landschaftsbild“, so die Ankündigung des Senders. Man kann sich orwellscher Gedanken nicht erwehren.

Nuit debout – Das (Wieder-)Erwachen einer Bewegung

Am 12. Mai dieses Jahres hat die französische Regierung unter Hollande die Arbeitsmarktreform verabschiedet, deren Affinität zur deutschen Wirtschaftspolitik nicht zu übersehen ist. Denn was französische Regierungen zum wiederholten Mal durchzusetzen versuchen (zuletzt mit einer ‚Rentenreform’ unter Nicolas Sarkozy), ist hier sang- und klanglos über die Bühne gegangen: Die Agenda 2010 unter der damaligen rot-grünen Regierung: Ein großes Festival des Kapitals – eine einzige Niederlage der Gewerkschaften und der (außerparlamentarischen) Linken.

Doch nicht alles ist ein verspäteter, nacheilender Kniefall vor den Interessen des Kapitals. In Deutschland fand die ‚Agenda 2010’ eine ausreichende, satte parlamentarische Mehrheit. In Frankreich reicht es nicht einmal dazu. Selbst Mitglieder der Regierungspartei drohten mit einem ‚Nein’. Daraufhin entschied sich die Regierung dazu, das Parlament einfach zu entmachten, indem sie das Gesetz per Dekret in Kraft setzte.

Mit diesem Schritt macht sich die Regierung nicht nur zum Diener französischer Unternehmer. Sie liefert der neofaschistischen Partei Front National genau das, was diese für ihren Wahlkampf braucht: einen Beweis mehr, dass der Parlamentarismus eine teure und überflüssige Schaubühne darstellt.

All das zusammen hat das Fass zum Überlaufen gebracht und die Bewegung ‚nuit debout’ hervorgebracht – das Gegenteil von Stiller Nacht(duce nuit). Innerhalb weniger Tage und Wochen verbreitete sie sich wie Flugsand über die ganze Grande Nation. Man verbringt die Nacht nicht im Bett oder vor dem Fernseher, sondern auf der Straße. Man „kommuniziert“ nicht über Facebook, sondern direkt, hautnah. Man findet sich nicht ab, sondern unterbricht den Lauf der Dinge. Man wirft das diversifizierte und vereinzelte Private in den öffentlichen Raum, schafft also Raum für ein kollektives Miteinander. Dieses Wagnis findet seit Wochen statt, in großen und kleinen Städten Frankreichs, mit dem Ziel, auf unterschiedlichen Wegen die politischen und sozialen „gated communities“ zu verlassen: Ob SchülerInnen oder StudentInnen, ob Junge oder Alte, GewerkschaftlerInnen oder RentnerInnnen, AnarchistInnen oder KommunistInnen.

Die Stille Nacht der deutschen Qualitätsmedien

Als im Januar 2015 ein Trauermarsch mit fast einer Million TeilnehmerInnen auf die Terroranschläge vom 7. Januar 2015 reagierte, berichteten die deutschen Medien stündlich und stundenlang, direkt vor Ort, mit zig Reportern und Kameraeinstellungen. Man berichtete selbst über Ereignisse, die gar nicht stattfanden, die aber genau so stattfinden sollten, um sich auf diese Weise ins Gedächtnis einzubrennen. Als am 11. Januar 2015 in Paris Hunderttausende, unter dem Motto: On n’a pas peur! (Wir haben keine Angst!) auf die Straße gingen, konnte man in allen deutschen Medien live miterleben, wie sich der Zug in Bewegung setzte. An der Spitze, untergehakt und vereint, das versammelte politische Establishment: von Premier David Cameron bis zur Kanzlerin Angela Merkel, vom ukrainischen Oligarchen und Regierungschef Petro Poroschenko bis zum türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu. Ganz vorne, in der Mitte: François Hollande.

Ein bewegendes Bild … eine Fälschung erster Klasse. Noch in derselben Nacht hatten Anwohner einer Seitenstraße Bilder ins Netz gestellt, die zeigen, wie sich die „Staatsoberhäupter“ samt Sicherheitspersonal in einer abgeriegelten Nebenstraße versammelt hatten, um dort eine Demonstration zu simulieren, ungefähr eine halbe Stunde vor Beginn der eigentlichen Großdemonstration. Zu diesem „Dreh“ waren ausgewählte Journalisten und Fernsehanstalten eingeladen. Sie drehten die Szene ab, schossen ihre Fotos und achteten vor allem auf die Perspektive, um zu verhindern, dass man sehen konnte, was eigentlich nicht zu übersehen war: Diese ca. 50 ‚Staatsoberhäupter’ waren ganz alleine – niemand folgte ihnen. In fast allen Berichten wurde dieser Dreh mit den Staatsoberhäuptern der wenig später beginnenden Demonstration vorangestellt. Es sollte, es musste der Eindruck entstehen, unsere Staatenlenker stünden in der ersten Reihe, wenn es darum geht, keine Angst zu haben, die Demokratie zu verteidigen.
Als diese Fälschung öffentlich wurde und nicht mehr zu unterdrücken war, erlaubte sich die Süddeutsche Zeitung, die in diese Inszenierung eingebettet war, eine äußerst interessante Begründung:

„Stimmen die Bilder? Standen die Politiker wirklich an der Spitze des Protestzuges in Paris? Über das Bild von den untergehakten Politikern ist jedenfalls eine heftige Zankerei im Internet entbrannt, so wie über vieles im Netz gern gezankt wird.(…) Also alles gefälscht und inszeniert? Nein. Schon die Vorstellung, dass ein einziger Staatschef wenige Tage nach dem schlimmsten Terroranschlag der vergangenen Jahre in Europa durch Paris schlendert, würde jedem Personenwächter schlaflose Nächste bereiten. Die Gefahr ist hoch. (…) So stehen die Politiker vor einem unauflösbaren Dilemma: Sie stehen an der Spitze – aber eben nicht an der Spitze einer Massendemonstration. Wer das als Inszenierung abtut, der hat das Problem nicht verstanden.« (SZ vom 14.1.2015)

All das handelte dem embedded Journalismus den Vorwurf der Manipulation ein, worauf die meisten daran Beteiligten mit Schweigen antworteten, während die Süddeutsche Zeitung ihren Beitrag zur Manipulation der Öffentlichkeit dem Staatswohl andiente.
Derselbe Journalismus empört sich seit Wochen darüber, dass man ihn als „Systempresse“ oder „Lügenpresse“ bezeichnet.

Zumindest den Vorwurf der Lüge oder Manipulation kann man den deutschen Medien mit Blick auf die angesprochenen Ereignisse in Frankreich nicht machen. Denn Lügen sind sicherlich die ungeschickteste Form der Desinformation. Sie hinterlassen Spuren. Das Schweigen hingegen nicht! Also konzentriert man sich in den Medien vor allem aufs Schweigen.

Dennoch möchten gerade die sich als kritisch verstehenden Medien nicht ganz verstummen. Ohne die Protagonisten vor Ort zu Wort kommen zu lassen, wissen diese Medienmacher, was man über die Ereignisse in Frankreich wissen und sagen muss. Das, was man immer weiß. So kamen im Kulturmagazin ttt am 29.5.2016 um 23.22 Uhr zwei „Experten“ zu Wort. Der eine heißt Franz-Olivier Giesbert, ist französischer Publizist und lässt uns wissen:

„Auch wenn es anders aussieht: Wir haben es hier nicht wie 1968 mit einer allgemeinen Bewegung zu tun. Wir haben es mit etwas marginalen, aber sehr gewalttätigen, sehr extremistischen zu tun – denn es handelt sich um Extremisten, die beschlossen haben, eine Machtprobe mit der sozialdemokratischen Regierung abzuhalten.“)

Wer die Bilder sieht, die man im deutschen Fernsehen nicht sieht, wird hoffentlich stolz auf diese gewalttätigen Extremisten sein und sich fragen dürfen, wer in diesem Konflikt „marginal“ ist!

Der andere „Experte“ ist der Schriftsteller Guillaume Paoli. Er ist in seiner Einschätzung vorsichtiger:

„Das ist eine allgemeine Situation, die sich für Europa stellt, wo man das Gefühl hat, dass ein ancien Regime untergeht, aber was die neuen Kräfte sind, ist schwer zu bestimmen. Aber 1788 war es auch schwer zu bestimmen.“

Doch dann beruhigt uns der Sprecher dieses sechsminütigen Beitrags sogleich mit diesem Schlusswort:

„Das ist Frankreich. Die Revolution steht hier immer gleich vor der Tür. Manchmal auch nur die Revolutionsromantik. Bei den Nuit Debouts, den Aufrechten der Nacht.“

Wer dennoch aus der Ruhe gebracht werden will, dem seien diese beiden Videoberichte über die Ereignisse in Frankreich ans Herz gelegt:

Loi Travail. Manifestation et violences / Paris – France 19 mai 2016:

Loi Travail. Très violente manifestation / Paris – France 26 mai 2016:

Das mediale Schweigen ist so laut, dass selbst Lügen verstummen.

Die Fairness gebietet es, doch noch einen Bericht über Frankreich, jenseits der wilden und schönen Landschaften, zu erwähnen. Er erschien zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel, in der Süddeutschen Zeitung. Kein eigener Bericht, eine einspaltige Wiedergabe der Reuters-Agentur:

„In Frankreich schwindet wenige Tage vor Beginn der Fußballeuropameisterschaft die Zustimmung der Bevölkerung zu den landesweiten Streiks. 54 Prozent der Franzosen lehnen die Proteste gegen die Arbeitsmarktreformen der Regierung inzwischen ab (…) Die neue Umfrage bedeutet den Forschern zufolge aber nicht, dass die Reformpläne nun auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stießen. Nur 29 Prozent der Befragten stünden auf Seite der Regierung.“ (SZ vom 7.6.2016)

Es wird also in den nächsten Tagen und Wochen spannend werden – nicht nur auf dem Rasen.