Politisch gewollte Armut !

Werner_Seppmann

Werner Seppmann

Dieser Beitrag ist offensichtlich inzwischen umgezogen. Ich übernehme ihn daher aus „Tacheles Wuppertal“, das verweist auf https://www.heise.de/tp/features/Bettler-und-Obdachlose-wurden-wieder-zu-einem-gewohnten-Bild-in-den-staedtischen-Zentren-3362396.html

Auszüge:

„Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren“

Die Armut hat in Deutschland seit 2005 bedrohliche Formen angenommen: Laut offiziellen Angaben lebten 2013 in Deutschland 12 Millionen Menschen in Armut oder galten als armutsgefährdet. 2,5 Millionen Kinder befanden sich in Einkommensarmut. 8 Millionen verdienten sich ihren Lebensunterhalt im Billiglohnbereich. 25 Prozent der Beschäftigten lebten von sogenannten prekären Jobs. Dafür verfügten die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über 53 Prozent des gesamten Nettovermögens.
In den Medien wird zwar darüber gestritten, ob diese Zahlen der Realität entsprechen oder schöngefärbt sind – aber es wird selten thematisiert, mit welchen politischen Schritten diese Entwicklung zusammenhängt: Mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen des Arbeitsmarkts.
Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Werner Seppmann, der das Buch Ausgrenzung und Herrschaft verfasst hat.

Herr Seppmann, Sie schreiben, dass mittlerweile fast 20 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik in Armut lebt und weitere 20 Prozent mit der Gefahr konfrontiert sind, in die Armut abzurutschen. Wird dies zum Dauerzustand in Deutschland?
Werner Seppmann: Es ist zu befürchten. Soziale Rückbildungsprozesse (zum Beispiel einschneidende Veränderungen des Arbeits- und Sozialrechts) und in deren Folge die Ausdehnung von Unsicherheits- und Armutszonen können, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, in allen entwickelten Industrieländern beobachtet werden. Überall hat sich eine soziale Abwärtsspirale in Gang gesetzt, weiten sich die Zonen der Bedürftigkeit aus und verfestigen sich. Wer einmal in ihnen gelandet ist, findet immer seltener einen Weg aus ihnen hinaus. In der EU gibt es gegenwärtig 20 Millionen Arbeitslose und es leben 60 Millionen Menschen in Armut – so viele wie noch nie zuvor.
Aber noch immer ist Europa im Vergleich eine Wohlstandsregion
Werner Seppmann: Der Kreis der Menschen die an der Reichtumsproduktion partizipieren, wird trotzdem immer kleiner. Ein sozialer Sog nach unten drückt sich mittlerweile sogar in Widerspruchsformen aus, die teilweise an die Zustände in einer sogenannten 3. Welt erinnern.
Es ist gleichermaßen erstaunlich wie auch irritierend, mit welcher Geschwindigkeit ein elementarer sozialer Antagonismus zurückgekehrt ist und selbst unmittelbare Bedürftigkeit sich ausbreitet. Auch kritische Betrachter der Gesellschaftsentwicklung hätten sich vor zwei Jahrzehnten die Geschwindigkeit und die Intensität dieses Abwärtstrends kaum vorstellen können.
Die gesellschaftlichen Gegensätze verschärfen sich und haben zu einer soziokulturellen Spaltung in einer lange nicht mehr gekannten Intensität geführt. Krisenopfer und Krisengewinnler leben in höchst unterschiedlichen Welten mit differenten Orientierungsmustern und Entscheidungspräferenzen: Es präsentieren sich wieder klassengesellschaftliche Verhältnisse in einer offensichtlichen Form.
Licht am Ende des Tunnels ist nicht in Sicht, Indizien für eine Trendumkehr sind kaum zu erkennen. Immer deutlicher kristallisiert sich heraus, dass die Wohlstands- und Wirtschaftswunder-Phase der Nachkriegsjahrzehnte nur Ausdruck einer historischen Sonderentwicklung war, die für den Kapitalismus nicht als typisch angesehen werden kann. Schon seit 30 Jahren – erst schleichend, dann immer nachdrücklicher – machten sich verstärkt Widerspruchsformen bemerkbar, die schon als überwunden galten: Ausgrenzung, Armut und Bedürftigkeit breiteten sich mit großem Tempo aus. Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren.
Aber Armut und Bedürftigkeit auf der einen Seite und Wohlstand auf der anderen, das hat es doch immer schon gegeben …
Werner Seppmann: Sehr richtig! Jedoch haben die aktuellen Entwicklungen im Kontrast zur Vergangenheit einen besonderen Charakter. Ja, es gab in der Geschichte nicht nur des Kapitalismus fast immer Arme und gesellschaftliche Außenseiter. Es waren die Landlosen in den Dörfern und es waren entwurzelte Menschen, die in den Städten nicht Fuß fassen konnten. Sie waren besonders Benachteiligte in Gesellschaften, in denen jedoch nur ganz wenige im Wohlstand oder auch nur in gesicherten Verhältnissen lebten. Das ist heute allerdings anders. Noch immer sind die Metropolengesellschaften reiche Gesellschaften, wächst beständig das Sozialprodukt – aber der Kreis derer, die davon profitieren, wird zunehmend kleiner.
Und was kennzeichnet die Armut von heute?
Werner Seppmann: Zum besonderen Charakter der gegenwärtigen Situation gehört, dass unter den prekär Beschäftigten und den Hartz-IV-Empfängern viele Menschen sind, denen es vor gar nicht langer Zeit einmal besser ging und die zu einem nicht geringen Teil auch berufliche Qualifikationen vorweisen können. Die meisten von ihnen hätten es sich noch vor wenigen Jahren nicht träumen lassen, einmal in die sozialen Außenseiterzonen abzusinken und gezwungen zu sein, ungesicherte und extrem schlecht bezahlte Beschäftigungen annehmen zu müssen.
Vor dem Hintergrund einer neoliberalistischen Umverteilungspolitik und stagnierender Masseneinkommen geht die Schere zwischen Reichtum und Bedürftigkeit immer weiter auseinander. Gleichzeitig sind die Lebensverhältnisse in ihrer Gesamtheit von zunehmender Unsicherheit geprägt: Die Angst aus dem Gefüge der sozialen Sicherheit heraus zu fallen, ist zur Epochensignatur geworden.
Inwiefern haben sich die ökonomischen Parameter verschoben?
Werner Seppmann: Zu den Hintergrunderscheinungen dieser Entwicklungen gehört die Tatsache, dass in großen Teilen der Arbeitswelt sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit auf eine überwunden geglaubte Konfrontationsstufe zurückentwickelt hat: Umstrukturierungen finden in Permanenz und immer öfter in aggressiven Formen statt. Wer ausgesondert wird, findet nur selten noch eine gleichwertige Beschäftigung; sein sozialer Abstieg ist, vor allem wenn er schon älter ist, oft vorprogrammiert.
Wie in früheren Zeiten des Kapitalismus, reicht für eine große Gruppe auch ganztätige Erwerbsarbeit nicht mehr zum Lebensunterhalt. Das kapitalistische Regime der Kapitalverwertung und Profitmaximierung, das in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich nach Außen aggressiv agierte, artikuliert sich nun auch nach Innen konfliktbereit.
Die Umwälzungsopfer erleben ein Schicksal, das mittlerweile prinzipiell jeden treffen kann, der nur vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt. Das Leben von Vielen ist von Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet. Nichts kann mehr als sicher gelten – und höchst unbestimmt ist, was die Zukunft bringen wird.
Wie wirkt sich diese Unsicherheit konkret aus?
Werner Seppmann: Das lässt sich beispielsweise am Schicksal eines Langzeitarbeitslosen ablesen, der nach zwei Jahren der Erwerbslosigkeit dazu gepresst wird, als Leiharbeiter in seinem alten Betrieb und an die gleiche Maschine zurückzukehren, an der er viele Jahre lang gearbeitet hat. Nur jetzt nicht mehr zu einem Stundenlohn von 18,90 Euro (die seine noch in dem Betrieb beschäftigten ehemaligen Kollegen erhalten) sondern für 11,50 Euro die Stunde. Soziale Rückstufung und Demütigung gehen in einem solchen Fall Hand in Hand.

„Die Ausdehnung von Bedürftigkeit hat strukturelle Gründe“

An welchen politischen Stellschrauben wurde gedreht, um dieser Entwicklung Vorschub zu leisten?
Werner Seppmann: In Deutschland sind solch biographischen Regressionen durch das Hartz-IV-Reglement und die Durchlöcherung des Arbeitsrechts möglich geworden. Wer erwerbslos wird, hat in der Regel noch eine einjährige Schonfrist und wird dann auf die schiefe Ebene des sozialen Abstiegs gesetzt, weil er nur noch eine Unterstützung an der Grenze zum Existenzminimum erhält und nun Arbeit zu jedem Preis annehmen muss.
Der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel hat davon gesprochen, dass solche Rückschrittstendenzen elementar mit der Dynamik des gegenwärtigen Kapitalismus verbunden sind: Die Abwärtstendenz ist fest in seine soziale Mechanik eingebaut. Die Ausdehnung von Bedürftigkeit und Prekarität hat also strukturelle Gründe. Es existiert ein allgemeiner Sog nach unten, der nichts mit den konjunkturellen Aufwärts- und Abwärtsbewegungen zu tun hat, sondern mit einer kapitalistischen Ökonomie, die mit ihrer Reichtumsproduktion gleichzeitig Armut schafft.
Hinter dieser scheinbar paradoxen Formulierung verbirgt sich die Tatsache, dass unter gegenwärtigen Bedingungen mit den steigenden Gewinnen (die bekanntlich in den letzten Jahren beträchtlich angewachsen sind) kaum – wie die neoliberalistischen Propagandisten es versprochen haben – neue Beschäftigung geschaffen wird, sondern bisher auskömmliche Arbeitsplätze abgebaut werden. Denn angesichts stagnierender Masseneinkommen und in deren Folge weitgehend stagnierender Märkte werden kaum Erweiterungsinvestitionen vorgenommen. Es wird vielmehr auf Kosten von Arbeitsplätzen rationalisiert und umstrukturiert.
Welche Dimensionen hat die Armut in Deutschland mittlerweile angenommen?
Werner Seppmann: Ich schätze es gibt mit den offiziell Armen in der Bundesrepublik 50 Prozent, die von der Hand in den Mund leben, die jederzeit mit dem sozialen Abstieg rechnen müssen. Für die Betroffenen ist es ein permanenter Kampf, wenn sie den Fall in die vollständige Bedürftigkeit vermeiden wollen. Auch wer statistisch jenseits der Armutsgrenze lebt, hat es nicht etwa geschafft, sondern bleibt ein Risikokandidat: Kleinere Anlässe genügen oft schon, um aus dem Tritt zu kommen, ein weiteres Kind etwa, eine längere Krankheit oder die Arbeitslosigkeit des Partners.
Wie nah große Gruppen an der Grenze zur manifesten Bedürftigkeit leben, wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass durch eine Erhöhung des Regelsatzes um nur 50 Euro monatlich, die Gruppe der Hartz-IV-Berechtigten um fast eine halbe Millionen Menschen anwachsen würde.
Alle Formen von Armut weisen zudem eine hohe Dunkelziffer auf. Es gibt deutlich mehr Arme und Bedürftige, als die Statistiken ausweisen. Das hat seinen Grund darin, dass sie ihre Ansprüche nicht anmelden, weil es ihnen peinlich ist, ihren Notsituation zu offenbaren, auf die Ämter zu gehen und Anträge zu stellen.

Schikanen der Job-Center

Warum?
Werner Seppmann: Die Opfer werden nicht selten wie Bittsteller behandelt. Immer wieder berichten die Betroffenen davon, wie sie von der Sozialverwaltung schikaniert werden. Jährlich werden mittlerweile in mehr als einer Millionen Fällen aus geringstem Anlass die Unterstützungszahlungen gekürzt. Die Demütigung hat System und kulminiert in dem Zwang, sich auf der Suche nach Beschäftigung begeben zu müssen, die es in nicht wenigen Segmenten der Arbeitswelt überhaupt nicht mehr gibt.
Die Arbeitsagenturen, die zwar bei der Vermittlung von auskömmlicher Beschäftigung meist wenig zu bieten haben, laufen zur Hochform auf, wenn es darum geht, Arbeitslosengeldempfänger in ruinös bezahlte Arbeitskontrakte zu pressen: Die Sozialbürokratie wird zur Organisationsinstanz des Wechselspiels von Integration und Ausgrenzung, Selektion und Repression.
Die erzwungene Bereitschaft Zugeständnisse hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung zu machen, lässt die Betroffenen in eine Abwärtsspirale geraten, die darin besteht, dass sie von Stufe zu Stufe schlechter bezahlt werden, zunehmend ungünstigere Arbeitsbedingungen und immer kürzere Beschäftigungsphasen in Kauf nehmen müssen. Denn selten sind die Beschäftigungsverhältnisse in den prekären Bereichen von Dauer. Folglich werden die Arbeitslosen immer wieder auf die Bahn geschickt – mit dem Ergebnis, dass sie von Runde zu Runde weiter zurückfallen und ihre Situation immer aussichtsloser wird.

„Es sind zivilisatorische Verfallsprozesse billigend in Kauf genommen worden“

Was sind die Folgen für die Menschen?
Werner Seppmann: Wer in den Armutszonen lebt, braucht in Deutschland (noch) nicht Hunger leiden. Jedenfalls nicht in den ersten beiden Dritteln des Monat, also so lange, wie die Hilfe zum Lebensunterhalt einigermaßen reicht. Man lebt wie es in einem geflügelten Wort der englischen Arbeiterklasse aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heißt, „halbsatt von Kartoffeln schlechtester Sorte für dreißig Wochen im Jahr“.
Aber gravierender als die materielle Enge ist, dass die Bedürftigkeit einen demütigenden Charakter und psychisch destabilisierende Folgen hat. Die Mensch fühlen sich sozial ausgeschlossen und gesellschaftlich nutzlos. Zufall ist es nicht, dass, wie aktuelle Untersuchungen zeigen, ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger unter psychischen Krankheiten leiden.
Bei den ausbeutungszentrierten Umgestaltungen, die mit neoliberalistischen Elan voran getrieben wurden sind auch zivilisatorische Rückbildungs- und Verfallsprozesse billigend in Kauf genommen worden. Denn Armut und Bedürftigkeit – um nur einen Aspekt zu nennen – sind nicht selten mit Formen geistiger und emotionaler Verarmung verbunden.
Vor allem für die wachsende Zahl von Kindern, die – wie man es nennt – in „sozial schwachen Familien“ aufwachsen, hinterlässt die alltäglich erfahrene Resignation tiefe Spuren.

„Absterbende Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes

Wie wirkt sich denn Armut und Bedürftigkeit auf junge Menschen konkret aus?
Werner Seppmann: Man kann es mit einem Wort sagen: Desaströs. Sie bleiben in ihrer geistigen, emotionalen und körperlichen Entwicklung zurück. Fein- und Grobmotorik, Sprachfähigkeit und alltägliches Orientierungswissen weisen beträchtliche Defizite auf.
Durch die Lethargie ihres sozialen Umfelds negativ beeinflusst, ist der Wahrnehmungsraum der in bescheidenen Verhältnissen aufwachsenden Kinder und Jugendlicher auf die wenigen Straßen und Häuser der unmittelbaren Nachbarschaft beschränkt: Der Rückzug arbeitsloser Erwachsene auf ihre Wohnung als letzten Schutzraum findet bei den in Armut aufwachsenden jungen Menschen seine Entsprechung in geografischer Immobilität und einer absterbenden Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes.
Wer in seiner Kindheit Phasen der Armut erlebt hat, ist auch in seinen späteren Lebensjahren öfter und intensiver krank als Menschen, die in gesicherten Verhältnissen aufgewachsen sind. Ebenso fallen von familiärer Armut geprägte Kinder in der Schule durch Konzentrationsschwierigkeiten und Lernschwächen auf.
Die Konsequenzen der Kinderarmut sind nicht die einzigen Beispiele dafür, dass mit den sozialpolitischen Umgestaltungen auch zivilisatorische Verfallsprozesse billigend in kauf genommen werden. Prinzipiell haben die neoliberalistischen Aktivitäten den Charakter eines Kulturkampfes angenommen: Die Stadtteilbibliotheken und wohngebietsnahen Schwimmbäder werden geschlossen, die Schulen für die breite Masse verfallen und für Migrantenkinder stehen keine qualifizierten Sprachlehrer zur Verfügung.
Selbst durch die Hilfssätze für die Kinder in den sozialen Notstandszonen wird dokumentiert, das für sie eine höhere Bildung und kulturelle Partizipation nicht vorgesehen ist: Ihnen wird deutlich zu verstehen gegeben, dass sie zu denen gehören, die auch später keine Chance haben werden. Die Daten über die sozialen Selektionswirkungen des bundesdeutschen Bildungssystem belegen das in einer unmissverständlichen Weise.
In Teil 2 des Interviews äußert sich Werner Seppmann zu den Auswirkungen von Hartz IV auf den Arbeitsmarkt, die ökonomischen Folgen die EU und die Steuererleichterungen für Unternehmen, Reiche und Banken