Wem Putins angeblicher “Palast” tatsächlich gehört + Kai Ehlers Fragen zu Nawalnys Coup

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Über den angeblichen Putin-Palast habe ich schon vor ca. 1 Jahr einen Beitrag auf arte im Rahmen eines Anti-Putin-Abends einen Dokumentarfilm gesehen, der für das ZDF produziert worden war.
Dieser und die anderen 2 Beiträge, die u.a. Putin bei einer Feier vor Antritt seiner Präsidentschaft in seiner bescheidenen Mietwohnung zeigten, haben mir Putin noch smpathischer gemacht.
Ich frage mich, ob diese ganze Vergiftungsklamotte mit der wie aus dem Nichts zusammenorganisierten Videomannschaft im Schwarzwald von Anfang an, d.h.mit der Verteilung des Giftstoffes in Navalnys Hotel, ihren Anfang genommen hat.
Dieses Gift wurde meines Wissens nach zuletzt im NATO-Staat Großbritannien produziert, just in der Nähe des Agenten Scripal, der seit der Affäre aus der Öffentlichkeit verschwunden ist. Es gibt auch Belege dafür, dass aus diesen Quellen über den Schwarzmarkt das Gift Novitschok angeboten wird.
Aber nun 1. der aktuelle Beitrag eines Russland-Kenners und 2. die Fragen von Kai Ehlers.

1. Wem Putins angeblicher “Palast” tatsächlich gehört

https://www.anti-spiegel.ru/2021/wem-putins-angeblicher-palast-tatsaechlich-gehoert/
Auszüge:
Am Samstag ist der Besitzer des Gebäudes, das Navalny als Putins “Palast” bezeichnet hat, an die Öffentlichkeit gegangen.
Es handelt sich dabei um einen russischen Bauunternehmer, der viele der wichtigsten Bauten in Russland verantwortet hat.

Arkady Rotenberg ist in Russland ein bekannter Mann. Sein Name steht in Russland für viele wichtige Bauten der letzten Jahre, zum Beispiel für die Krimbrücke oder Teile der olympischen Anlagen in Sotschi.
Natürlich hat so ein Mann auch Kontakte zu Putin und natürlich wird Navalny nun behaupten “Seht Ihr, der “Palast” gehört zu Putins Umfeld!”

Im Westen wird gerne behauptet, dass bei Rotenberg Bauprojekten Korruption im Spiel ist. Bewiesen wurde das nie und wenn man sich die Kosten anschaut, dann sind die Bauten von Rotenberg nicht teurer, als vergleichbare Objekte im Westen.
Aber es gibt einen feinen Unterschied: Immerhin werden die Bauprojekte von Rotenberg pünktlich fertig. Manchmal sogar vor den geplanten Frist, ganz im Gegensatz zu Projekten wie dem Berliner Flughafen oder der Elbphilharmonie, um nur einige Beispiele zu nennen.

Rotenberg hat nun bekannt gegeben, dass ihm der “Palast” am Schwarzen Meer gehört, der derzeit weltweit Schlagzeilen macht.
Das Gebäude hat schon vor über zehn Jahren Schlagzeilen gemacht, weil bei dem Bau so ziemlich alles falsch gelaufen ist.
Rotenberg hat nun mitgeteilt, das er das Objekt vor einiger Zeit gekauft hat und zu einem Hotel machen will.

Rotenberg hat dem russischen Fernsehen ein Interview gegeben. Darüber wurde am Sonntag in der Sendung “Nachrichten der Woche” berichtet und ich habe den Bericht übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

Alle fragen sich, wer der wahre Besitzer des mystischen “Palastes” in Gelendschik ist. Wir konnten ihn treffen.
Und wir sagen es gleich: Er stand als einer der Ersten auf den Sanktionslisten der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union.
Er ist es nicht gewohnt, sich zu verstecken. Er ist ein berühmter Mann.
Einer der Industriellen und Bauunternehmer, die Russland lieben und er baut die größten Objekte in den riesigen Weiten des Landes – vom Fernen Osten bis zum hohen Norden und dem Süden Russlands.

Die Krimbrücke ist die größte Brücke in Russland und sie verbindet die Halbinsel mit dem Festland. Die Straßen des olympischen Sotschi und das Kinderzentrum Artek.
Dieser Mann, Arkady Rotenberg, hat eine direkte Verbindung zu den größten Gebäuden und Rekonstruktionen des modernen Russlands.
Ein Milliardär, dessen Projekte bei ausländischen Politikern oft Sanktions-Anfälle und Anfälle von wirtschaftlichem Hass verursachen. Die Großbaustelle bei Gelendschik gehört auch ihm.

“Es ist bekannt geworden, dass das Objekt in der Nähe von Gelendschik, das jetzt in aller Munde ist, Ihnen gehört. Stimmt das oder nicht?”

“Jetzt ist es kein Geheimnis mehr und ich kann es bestätigen. Ich bin der Nutznießer dieses Objektes”, sagte Rotenberg.

Wie sich herausstellt, ist der “Palast” kein Palast, sondern ein Luxushotel der Art, von denen es in Russland nur wenige gibt. Aber jetzt werden es mehr.

“Als ich das gekauft habe, hatte ich die Idee, dort ein Apartmenthotel zu machen. Und ich habe diese Idee entwickelt und versuche, sie umzusetzen. Es ist ein großartiger Ort. Da gibt es natürlich viele Schwierigkeiten, die wir geerbt haben. Vieles wurde da von Anfang an falsch gemacht, das müssen wir jetzt alles ändern, aber insgesamt werden wir das Ziel, das ich erreichen wollte, erreichen.
Das wird ein schöner Ort, am dem die Leute eine gute Zeit verbringen werden”, ist Arkady Rotenberg sich sicher.

Wir treffen uns mit Rotenberg im Moskauer Umland auf einer Eishockeybahn. Das Hobby des Eishockey-Trainers ist der Sport.
Wie im Sport geht er Risiken ein und nimmt Projekte an, an die andere sich nicht herantrauen. Für den Bau der Krimbrücke war er einer der ersten, die unter westliche Sanktionen geraten sind.
Vor einigen Jahren erklärte er in einem Interview mit unserer Kollegin Naila Asker-Sade, warum er keine Angst vor diesen Sanktionen habe: “Ach die Sanktionen. Das ist eine Art Kinderspiel. Auf mich haben die keinen so tiefgründigen, bleibenden Eindruck gemacht. Wir haben immer in Russland gearbeitet, unsere Investitionen waren in Russland.”

Das Apartmenthotel in der Nähe von Gelendschik hat jetzt Werbung auf der ganzen Welt bekommen. Es wird Kunden in den russischen Süden locken.
Rotenberg hat sich zum Ziel gesetzt, das Hotel bis 2023 zu eröffnen.

“Wir müssen es in zwei Jahren schaffen. Die Frist haben wir uns gesetzt. Wenn wir es wie üblich vor Ablauf der Frist schaffen, ist es noch besser. Deshalb lade ich Sie ein.
Kommen Sie hin, wenn es fertig ist. Dann wird es diese Gespräche darüber, wer wo war und wessen Zimmer das ist, nicht mehr geben.
In der Zwischenzeit arbeiten wir, wie wir es immer getan haben.”, sagte der Unternehmer.

Rotenberg, der unter Sanktionsdruck steht, hat seine Aktiva nie öffentlich gemacht. Aber er hat sie auch nie versteckt. Es baut ein Netz von modernen Resorts und Hotels auf.
Das Hotelgeschäft, wie auch die Baubranche, ist für ihn aber nicht mehr neu. Er ist im großen Maßstab in die Branche eingestiegen. Unmittelbar nach der Fertigstellung der Arbeiten an der Krimbrücke ist er auf zwei Objekte aufmerksam geworden: In der Nähe von Gelendschik und auf der Krim, auf Ai-Petri.

Das Sanatorium “Ai-Petri” ist einer der beliebtesten Kurkomplexe an der Südküste der Krim. Jedes Jahr erholen sich hier mehr als 15.000 Gäste.
In zwei Jahren wurden zig Millionen in das Sanatorium investiert. Es ist geplant, mehr als eine Milliarde Rubel zu investieren.

Sein Hotelgeschäft umfasst mehr als nur ein Gebäude am Südufer der Krim.

“Es gibt einige Objekte auf der Krim, es gibt was in Sotschi, es gibt einige Objekte im Fernen Osten, es gibt ein Objekt im Altai, das ich prüfe.
Im Altai, das ein unentdecktes touristisches Potenzial von Weltklasse hat, beginnt der Bau eines größeren Komplexes als in der Nähe von Gelendschik. Es ist ein ganzes Skigebiet.
(Anm. d. Übers.: Das Altai-Gebirge ist eine unglaublich schöne Region in Russland mit vollkommen unberührter Natur, die sicher zu den schönsten Flecken der Erde gehört.

Suchen Sie gerne mal im Internet nach Bildern.)

“Wir prüfen mehrere Möglichkeiten für den Bau eines Resorts mit einer Gesamtkapazität von bis zu 5.700 Personen pro Stunde. Das Konzept sieht den Bau von Liften und 5 bis 12 Skipisten mit einer Gesamtlänge von bis zu 20 Kilometern vor. Die Skipisten in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen werden mit Kunstschnee und Beleuchtungssystemen ausgestattet”, sagte Witali Kaschnikow, ein Vertreter des Investors.

Jedes Haus, das Rotenberg baut, bedeutet Geld, das nicht ins Ausland gebracht worden ist.

“Ich sehe mich nicht nur als Bauunternehmer, sondern als Geschäftsmann. Wir werden hier viel Geld verdienen. Ich denke, dass das Geld in Russland investiert werden sollte, das heißt, dass das Geld hier bleiben sollte. So wie Geld in der Familie bleiben sollte, das ist für mich das gleiche”, sagte Arkady Rotenberg.

Das Gebäude an der Schwarzmeerküste ist nicht das erste und sicherlich nicht das letzte Projekt von Rotenberg, das für Kontroversen sorgt.
Die Krimbrücke war in diesem Sinne eine gute Schule. Skandale sind für Geschäftsmann seit Jahren wie eine sportliche Herausforderung.

Ende der Übersetzung

2. Kai Ehlers Fragen zu Nawalnys Coup

https://kai-ehlers.de/2021/01/fragen-zu-nawalnys-coup/
Auszüge:

Unruhen in Russland nach Alexei Nawalny‘s Rückkehr. Die Kommentare schwanken zwischen Bewunderung für den Coup, mit dem er Putin herausgefordert habe, Mitleid für das Selbstopfer, indem er sich der zu erwartenden Inhaftierung ausgesetzt habe, und Hoffnung auf die Initialzündung für eine „demokratische Revolution“ als Reaktion auf seine „Enthüllungen“.
Eine Welle des Hohns schwappt zudem aus westlichen Zuschauerlogen über den „Zaren“ Putin, dem als Zepter eine vergoldete Klobürste entgegengehalten werde.

Was ist die Basis dieser Inszenierung? Was bleibt? Wem nützt sie? Lassen wir überflüssige Einzelheiten beiseite, versuchen wir das Wichtigste zu sortieren.

Zunächst: Es ist Nawalny gelungen, eine in Teilen der Bevölkerung vorhandene latente Unzufriedenheit zu aktivieren.
Im Ausmaß der Demonstrationen, die seinem Aufruf folgten, bekommen die Ereignisse der letzten Jahre eine neue Dimension: die Proteste gegen Wahlfälschungen, gegen die Rentenkürzungen, gegen die Verfassungsänderungen 2020, gegen die willkürlichen Absetzungen regionaler Gouverneure… zugespitzt dies alles durch die wirtschaftlichen und persönlichen Einschränkungen im Zuge der Corona-Krise.

Außer Empörung über Korruption, angeheizt durch Nawalny’s Video über Putins „Schloß“, die in der Forderung „Putin muss weg“ zusammenliefen gab es jedoch keine weiter tragenden Alternativen. Es bleibt ein inhaftierter Nawalny, um den herum sich eine „Freiheit für Nawalny“-Bewegung bilden kann.
Das erinnert fatal an einen inzwischen fast vergessenen Vorgang in der Bundesrepublik Deutschland der 70er Jahre, als sich um den verhafteten Kern der RAF-Gründer eine Befreiungsbewegung bildete, die in toten Gefangenen ihren Höhepunkt fand. Sie hatten zuvor erklärt, dass sie sich nicht selbst töten würden.
Man fühlt sich daran erinnert, wenn Nawalny jetzt versichert, dass er sich nicht selbst töten werde.

Was also kann sich aus dieser Situation entwickeln? Kann die herausgeforderte Staatsmacht Nawalny aus der Haft entlassen?
Wohl kaum. Das Risiko, dass auf einen in die Freiheit entlassenen Nawalny, erneut ein Anschlag verübt wird, wäre zu groß. Ein solcher Anschlag würde mit Sicherheit wieder Putin angelastet.
Es bleibt der Staatsmacht nur Nawalny in Haft zu halten. Folge davon wäre jedoch mit ebenso großer Sicherheit eine Radikalisierung der Bewegung für die Befreiung Nawalny’s und weitere Kritik, Sanktionsdrohungen und ähnliches aus dem Ausland.
Es bleibt der Staatsmacht eigentlich nur – wie Kommentatoren bereits unken, Nawalny nach einem politischen Prozess des Landes zu verweisen.

Fragt sich also, wem diese ganze Inszenierung letztendlich nützt. Das ist die komplizierteste Frage.
Die inzwischen schon routinemäßige Antwort darauf, lautet natürlich, sie nütze dem Westen, der schon lange eine Farbrevolution in Russland nach dem Muster der Ukraine befeuern möchte.
Diese Annahme ist mit Sicherheit Teil der Wahrheit, allein schon dadurch, dass der Anti-Korruptions-Fonds Nawalny’s vom Ausland finanziert wird, dass und wie Nawalny nach seiner Vergiftung in Deutschland versorgt wurde, bis dahin, dass er noch während seiner Zeit als Rekonvaleszent hierzulande in einem Schwarzwaldstudio seinen Film über das angebliche Schloß Putins mit großem technischen Aufwand herstellen konnte.

Aber aus all dem folgt selbstverständlich keineswegs zwingend, dass „der“ Westen der unmittelbare Anstifter der jetzigen Unruhen ist. Näher liegt die Beobachtung, dass ihm die in den Westen exilierten russischen Oligarchen sofort mit öffentlichem Beifall zur Seite sprangen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Kräfte aus dem Lande selbst daran interessiert sein könnten, Putin zu schwächen.
Der Verdacht liegt nahe, dass schon der Mordanschlag wie auch alle darauf folgenden Etappen dieser Geschichte einer Regie aus dem Lande selber folgen, wenn man bedenkt, dass Putin selbst – bei seiner öffentlich bekannten Gegnerschaft zu Nawalny – keinerlei Interesse haben konnte, sich dem Verdacht auszusetzen, ein staatlicher Mörder zu sein und wenn man bedenkt, wie viele Personen und Gruppen Grund hätten, Nawalny zum Schweigen zu bringen – ohne dass man jetzt an dieser Stelle über einzelne Namen spekulieren müsste.

Wichtig aber ist beim Stand der Dinge sich zu erinnern, dass schon seit geraumer Zeit die Frage vor der russischen Gesellschaft steht, was nach Putin kommen werde; dass Putin es für notwendig hielt, sich bis 2036 das Amt des Präsidenten offen zu halten, sofern er darin bestätigt würde, dass er sich im letzten Jahr eine Immunität nach Verlassen des Amtes zusichern ließ.
Dies alles, wie auch die unübersehbare Dezentralisierung von Befugnissen im Zuge der Corona-Krise verweist deutlich auf Befürchtungen Putins, der Konsens, auf dem er die Stabilität des Landes schaffen konnte, könnte gefährdet sein.

Der Inhalt dieses Konsenses ist ein doppelter: Zum einen ein Stillhalteabkommen zwischen den Teilmächten des Landes – den Oligarchengruppen, den Macht-Organisationen des Landes wie Geheimdiensten und Militär und den regionalen Machthabern. Wenn eine dieser Gruppen ausschert, ist die Einheit des Landes nicht mehr zu halten.
Zum Zweiten der soziale Kompromiss zwischen Führung und Bevölkerung, der darin besteht, dass die Bevölkerung sich nicht um Politik kümmert, solange die Politik eine wirtschaftliche Stabilität, zumindest die Aussicht auf Stabilisierung halten kann.
Dieser doppelte Konsens ist in den letzten Jahren, insonderheit durch das letzte Jahr unter Corona-Bedingungen, unter Druck geraten.

Was folgt daraus für den Charakter der gegenwärtigen Proteste?
Markieren sie einen Aufbruch zu einer Demokratisierung der Gesellschaft, die sich unter dem Druck der nachwachsenden Generation von einer vorübergehend notwendigen autoritären Phase der Modernisierung emanzipieren will, wie die russische Linke es hofft?
Oder führen sie zu einer Rückkehr in ein oligarchisches System, vergleichbar den ukrainischen oder Belorussischen Verhältnissen, durch Wechsel in den Etagen der Macht?
Fragen dieser Art rücken mit Nawalny’s Coup aus dem Untergrund auf die offene politische Bühne.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Interview mit Sahra Wagenknecht – der beliebtesten Politikerin: „Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

wagenknecht2013

Eine sehr erfreuliche Nachricht – ihre Unbestechlichkeit, ihr Weitblick und ihr ökonomischer Sachverstand kommen mittlerweile bei der Bevölkerung an.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=56623
Dort auch zum Anhören das Interview mit Albrecht Müller:

https://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/191125_Sahra_Wagenknecht_die_beliebteste_Politikerin_Was_ist_das_wert_NDS.mp3
In der SPD wird z.Zt. diskutiert, keinen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Das ließe Platz für Sahra.
Und hier die Abschrift:

Albrecht Müller (A.M.): Meine Regionalzeitung schreibt am 22. November auf der ersten Seite: „Wagenknecht löst Merkel ab“. Das wäre ja ganz toll, wenn es um die Kanzlerschaft ginge.
Es geht aber um eine Umfrage, wie die NachDenkSeiten am 21.11. schon berichtet haben. Dass Sie auf der Beliebtheitsskala dieser Umfrage Angela Merkel überholt haben, ist bemerkenswert und erfreulich.
Aber: Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?

Sahra Wagenknecht (S.W.): Ich habe mich natürlich sehr über das Umfrageergebnis gefreut, aber man sollte es auch nicht überinterpretieren. In der Umfrage sollen die Befragten mit Punkten bewerten, ob ein Politiker „ihre Interessen vertritt“. Dabei schwanken die Ergebnisse von Woche zu Woche um einige Punkte, was einen schnell um mehrere Plätze nach oben oder unten bringen kann.
Insofern ist der genaue Platz nur eine Momentaufnahme. Was mich wirklich freut, ist, dass ich bei dieser und ähnlichen Umfragen in der Regel gute Ergebnisse erziele. Das zeigt, dass die Politik, für die ich stehe, von vielen Menschen unterstützt wird. Diese Zustimmung ist für mich ein wichtiger Ansporn, mich weiter politisch für andere Mehrheiten und eine Gesellschaft mit mehr sozialem Zusammenhalt und weniger Ungleichheit zu engagieren.

A. M.: Wie könnte Ihre Beliebtheit genutzt werden, um Merkel oder ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger im Kanzleramt abzulösen?

S. W.: Ich werbe in der Linken seit Jahren für einen anderen Kurs, als ihn die derzeitige Parteiführung vertritt. Wir dürfen keine grünliberale Lifestyle-Partei werden, die mit ihren Themen und ihrer Sprache allenfalls noch im Milieu der akademisch gebildeten urbanen Mittelschicht ankommt.
Aufgabe einer linken Partei ist es, die zu vertreten, die um ihren Wohlstand immer härter kämpfen müssen, also die Leidtragenden der neoliberalen Globalisierung, nicht die Gewinner.

Ich will nicht behaupten, dass eine Linke, die sich als konsequenter und populärer Anwalt der unteren Mitte und der Ärmeren profiliert, morgen schon den Kanzler stellen könnte, aber sie wäre in jedem Fall deutlich stärker als die heutige Linkspartei, die leider mit Ausnahme von Thüringen und Bremen ein katastrophales Wahljahr hinter sich hat.

A. M.: Sie sind so etwas wie die Stimme der Vernunft in einem ansonsten abgrundtief unvernünftigen Umfeld.
Mal unterstellt, Ihre Stimme wird weiter gehört, was wären denn die wichtigsten programmatischen Vorhaben?

S. W.: Ich finde es wichtig, sich über die Veränderung klarzuwerden, die in der Ausrichtung linker Politik, ihrer sozialen Basis und ihrer öffentlichen Wahrnehmung in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. In fast allen EU-Ländern.
Nach klassischem Verständnis war die soziale Frage, der Kampf für gute Löhne und soziale Sicherheit Kern linker Politik. Entsprechend hatten die linken Parteien ihre Basis bei denen, die auf einen ordentlich regulierten Arbeitsmarkt, eine gute öffentliche Infrastruktur und einen starken Sozialstaat angewiesen sind.
Alle diese Errungenschaften wurden im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten erkämpft und durch die Globalisierung der Wirtschaft, die Öffnung der Märkte und die EU-Verträge, die den Rückzug des Staates und die Beschränkung seiner Regulierungskompetenz festschreiben, mehr und mehr untergraben.
Diese Entwicklung ist eine existentielle Bedrohung für den Lebensstandard der früheren Wähler linker Parteien.
Für viele ist der soziale Abstieg auch keine bloße Zukunftsangst mehr, sondern bereits bittere Realität. Etwa für diejenigen, die in die neuen Niedriglohnjobs im Servicebereich abgedrängt wurden oder für viele ältere Menschen mit Armutsrenten.

A. M.: Gibt es nur Verlierer?

S. W.: Es gibt auch Gewinner der neoliberalen Globalisierung: dazu gehört hauptsächlich die traditionelle Oberschicht, die über Betriebsvermögen und anderes anlagefähiges Kapital verfügt und ihre Erträge und Vermögen in den letzten Jahren massiv steigern konnte.
Aber es ist wichtig zu verstehen, dass auch die neue urbane Mittelschicht, also diejenigen, die in den neu entstandenen hochqualifizierten und hochbezahlten Dienstleistungsberufen von Finanzen und Beratung bis zu Software, Werbung und Medien arbeiten, in einem gewissen Rahmen zu den Gewinnern gehören. Die meisten dieser Jobs sind im Umfeld großer, international aufgestellter Unternehmen entstanden und oft direkt in transnationale Arbeitszusammenhänge eingebunden. Sie erfordern Fremdsprachenkenntnisse und einen souveränen Umgang mit anderen Kulturen.
Diese neue Mittelschicht, die erst in den letzten Jahrzehnten als eigenständiges soziales Milieu entstanden ist und die hochpreisigen Trendviertel der großen Städte bewohnt, lebt in einer anderen Welt und hat in vieler Hinsicht andere Interessen als der Postzusteller, der ihre Online-Bestellungen die Treppe hochschleppt, die Reinigungskraft, die ihre Haushalte putzt, oder auch der Industriearbeiter in der Kleinstadt, den die Angst umtreibt, dass irgendwann auch sein Betrieb in ein Land mit billigeren Löhnen oder niedrigeren Umweltstandards abwandert und so der vielleicht letzte gutzahlende Arbeitgeber seiner Region verschwindet.

A. M.: Sind das die Wählerschichten, die den linken Parteien abhanden gekommen sind?

S. W.: Die urbanen Besserverdiener sind heute die wichtigste Wählergruppe der Grünen, aber in zunehmendem Maße auch von SPD und Linken. Es ist die Denkweise und Lebenswelt dieses sozialen Milieus, ihre Sicht auf die Globalisierung, die Zuwanderung, die EU und den Nationalstaat, die heute als „links“ gelten, während Ansichten, die früher sozialdemokratischer Mainstream waren, plötzlich unter Nationalismus- oder gar Rassismusverdacht stehen.
Im Ergebnis hält die Mehrheit der Arbeiterschaft und der Ärmeren „links“ heute für eine Ideologie der Herrschenden, der Profiteure der neoliberalen Globalisierung, und hat damit nicht ganz unrecht.
Das ist eine gravierende Fehlentwicklung. Eine Linke, die sich von den benachteiligten Schichten und deren Interessen entfernt, trägt damit auch Mitverantwortung für den Aufstieg der Rechten.
Gleichzeitig zeigt beispielsweise der letzte Wahlkampf der dänischen Sozialdemokratie, dass die Linke mit einer populären und an den Wünschen der Mehrheit orientierten Strategie die Rechtsparteien erstaunlich schnell wieder kleinmachen kann. Das wäre auch in Deutschland möglich.

A. M.: Wie könnte man die Stimme der Vernunft organisatorisch oder medial wirksam bündeln?

S. W.: Es geht darum, sich zunächst einmal bewusst zu machen, was falsch läuft und warum. Einzusehen, dass ehemalige Linkswähler nicht deshalb zur AfD abwandern, weil sie plötzlich zu Rassisten geworden sind, sondern weil sie sich in wesentlichen Teilen des aktuellen linken Politikangebots nicht wiederfinden können.
Man kann beispielsweise nicht gleichzeitig den Nationalstaat für überholt erklären und einen starken Sozialstaat fordern, da es transnational gar keine institutionellen Voraussetzungen – und aktuell auch keine Akzeptanz! – für eine Umverteilung größeren Umfangs und statussichernde soziale Netze gibt.
Aber genau das, die Absicherung des Lebensstandards und nicht eine nackte Existenzsicherung, war mal der Anspruch des deutschen Sozialstaates.
Wer für eine soziale Rückbesinnung linker Politik anstelle identitätspolitischer Modethemen wirbt, hat bei den Medien – zumal den vermeintlich linken – nicht viele Freunde.
Umso wichtiger sind Blogs wie die Nachdenkseiten, Makroskop und andere, um solchen Positionen Öffentlichkeit zu geben.
Ich persönlich habe gerade einen eigenen YouTube-Kanal angemeldet, von dem ich hoffe, dass er viele Abonnenten findet. Ich werde dort in Kürze damit beginnen, ein Mal pro Woche das Zeitgeschehen zu kommentieren und auf Fragen und Anmerkungen zu antworten.

A. M.: Wie geht es mit Aufstehen weiter?

S. W.: Aufstehen hat heute über 150 000 Mitglieder mit wieder leicht steigender Tendenz. Es sind überwiegend Parteilose aus genau den ehemals sozialdemokratischen Milieus, die sich heute von den linken Parteien kaum noch vertreten fühlen. Viele engagieren sich in Ortsgruppen und organisieren Veranstaltungen und Aktionen.
Einigen davon, etwa einer Diskussion zwischen Kevin Kühnert und mir im September, gelingt es, überregional öffentlich wahrgenommen zu werden.
Die entscheidende Aufgabe, eine Bewegung mit sozialen Forderungen auch auf die Straße zu bringen, ist bisher noch nicht eingelöst, bleibt aber hochaktuell.
Gerade mit Blick auf die jüngsten Sozialabrissphantasien der amtierenden CDU-Vorsitzenden kann es bald zu einer dringenden Notwendigkeit werden, sich bundesweit gegen die nächsten Rentenkürzungen oder andere soziale Einschnitte zur Wehr zu setzen.

A. M.: Sehen Sie eine Chance zur Vereinigung aller fortschrittlichen Gruppierungen in unserem Land?

S. W.: Es gibt einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der in der Politik heute keine Stimme mehr hat und von keiner Partei mehr vertreten wird.
Auch die AfD, die teilweise von diesen Menschen gewählt wird, vertritt ja in keinem Fall ihre Interessen und das wissen die meisten auch.
Wenn auf der politischen Linken eine überzeugende Kraft auf den Plan treten würde – ob aus der SPD, aus der Linkspartei oder aus beiden Parteien – die glaubwürdig für eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft streitet, die den Wohlstand der abstiegsbedrohten Mitte absichert, den Niedriglohnsektor austrocknet und die Menschen vor Ausbeutung, Unsicherheit und globalen Renditejägern schützt, wäre das ganz sicher ein Erfolgskonzept.
Im Übrigen brauchen wir auch aus Umweltgründen dringend eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft, einen starken Investitions- und Innovationsstaat und ein Ende der ressourcenverschleißenden Wegwerfproduktion.
Wir müssen über neue Formen des wirtschaftlichen Eigentums reden, die eine solche Neuorientierung ermöglichen. Die Aktiengesellschaft mit ihrer bedingungslosen Orientierung am kurzfristigen Profit ist dafür keine Grundlage.

A. M.: Danke vielmals.

aufstehen oliri

Die Aufstehen!-Gruppe Donau-Ries trifft sich wieder am Dienstag 28.1.2020 um 20:00 in Nördlingen, genauer Ort wird noch bekannt gegeben.

Jochen

Flassbeck: Griechenland hat gewählt, aber hat die neue Regierung eine Wahl?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der aktuelle Kommentar, sehr treffend:
http://www.flassbeck-economics.de/griechenland-hat-gewaehlt-aber-hat-die-neue-regierung-eine-wahl/
Bevor ich die Auszüge anfüge, möchte ich die Griechenland-Sympathisanten nochmals auf den Online-Aufruf hinweisen, den ich vor einigen Tagen hier veröffentlicht habe. Es haben noch kaum Leser unterschrieben. Dabei ist das Thema aktueller denn je, die Schlammpressen arbeiten auf Hochtouren:

Für eine faire Berichterstattung über demokratische Entscheidungen in Griechenland – Appell unterzeichnen !

http://appell-hellas.de/

Und nun zu Flassbecks Kommentar:

In der ältesten Demokratie der Welt hat das Volk gesprochen. Es hat entschieden, den Kurs des Landes radikal zu ändern.
Mit der großen Mehrheit für SYRIZA sind die Weichen gestellt für eine Politik, die Abschied nimmt von extrem restriktiver staatlicher Ausgabenpolitik, von Lohn- und Rentenkürzungen, von überstürzter Privatisierung und vielem anderen mehr.

Doch wie lässt sich diese Politik umsetzen? All die Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren umgesetzt worden sind und die wegen ihrer Erfolglosigkeit jetzt zum Wechsel geführt haben, hatte die alte Regierung zwar formal beschlossen, sie war dieser Regierung aber in Wahrheit Stück für Stück von den internationalen Geldgebern aufoktroyiert worden.

Warum sollte sich daran etwas ändern, Wahlen und Demokratie hin oder her? In Europa verstehen es viele immer noch nicht, aber die Erfahrung aus vierzig Jahren Gläubigerherrschaft durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) rund um die Welt zeigt, dass sich in Washington und in den Ländern, die den IWF tragen, niemand um Demokratie schert, wenn es darum geht, einem Land, das unter Kuratel steht, zu sagen, was es zu tun und zu lassen hat.

Das wird diesmal nicht anders sein. Die Vertreter der Gläubiger, vorneweg der deutsche Finanzminister, haben sich ja schon vor den Wahlen entsprechend geäußert.
Das Land müsse große Anstrengungen unternehmen, um wettbewerbsfähig zu werden, sagte Schäuble laut Medienmeldungen am vergangenen Freitag auf dem Weltwirtschaftsforum Davos.
Das kann nur heißen, dass – nach all den Anstrengungen der letzten Jahre – von Seiten der Gläubiger neue Anstrengungen der Griechen erwartet werden.

Und in der Tat, betrachtet man das Ergebnis der griechischen Anstrengungen, muss man sagen, dass es nicht gereicht hat (vgl. Abbildung 1). Wir haben ja schon vergangene Woche gezeigt, dass trotz massiver Lohnkürzungen die Lohnstückkosten zwar gefallen sind, aber immer noch nicht ein Niveau erreicht haben, wo Griechenland mit Deutschland wirklich konkurrieren kann oder wo es verlorenes Terrain gegenüber den anderen Europäern zurückgewinnen könnte.

Abbildung 1

 

Warum also versuchen die Menschen die (nach deutscher Lesart alternativlose) Politik abzuwählen, wo doch erst die Hälfte des notwendigen Weges durchschritten ist? Um das zu beantworten, muss man fragen, was diese Politik bis jetzt schon gekostet hat.
Um es kurz zu sagen: Sie hat nicht weniger als eine Große Depression gekostet. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) Griechenlands (vgl. Abbildung 2) ist seit dem Beginn der Krise 2009 um genauso viel gefallen wie das amerikanische BIP während der Großen Depression zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.
Nur zur Erinnerung: Das war das Ereignis, angesichts dessen viele Ökonomen auf der ganzen Welt bis heute rätseln, wie es zu einem so eklatanten Versagen der Wirtschaftspolitik kommen konnte.

Abbildung 2

 

Auch die Arbeitslosigkeit in Griechenland hat Depressionsniveau erreicht und sinkt nur deswegen ganz leicht, weil viele Menschen die Suche aufgeben, nicht aber, weil sich die Wachstumsperspektive gebessert hätte.

Solche Anpassungsprozesse seien nun einmal schmerzhaft, meinte der Bundesfinanzminister in Davos.
Soll Griechenland das folglich noch einmal wiederholen, um endlich wettbewerbsfähig zu sein? Kann man auch zwei große Depressionen durchstehen? Man weiß angesichts solcher Äußerungen nicht, was bei der deutschen Politik schlimmer ist, die Dummheit oder die Kaltschnäuzigkeit.

Nein, es gibt für die neue griechische Regierung keine Alternative dazu, der vermeintlichen Alternativlosigkeit der bisherigen Politik und damit vor allem Deutschland den Kampf anzusagen.
Im Jahr 2010 haben auf beiden Seiten, auf Seiten der Gläubiger und auf Seiten der Schuldner, die meisten nicht einmal im Ansatz verstanden, welche ungeheuerlichen Folgen die „alternativlose Politik“ der Gläubiger und der Troika haben wird.
Das ist jetzt anders. Vollkommen anders ist auch, dass einige der Länder, die sich 2010 noch auf der Seite der Sieger sahen, inzwischen mitbekommen haben, dass sie auf der anderen Seite sind. Dazu gehören Italien und Frankreich.
In Spanien fürchtet man inzwischen selbst eine stark aufkommende linke Partei. Selbst auf Seiten der Troika haben zumindest der IWF und die Europäische Zentralbank inzwischen ebenfalls verstanden, dass die „alternativlose“ Politik direkt in die Deflation führt.
Und in der EU-Kommission versucht man sich inzwischen am „gesunden Menschenverstand“, und der kann einen solchen Irrsinn nicht noch einmal erlauben (wir haben das hier kommentiert).

Deutschland täuscht sich gewaltig, wenn es glaubt, es könne im Verein mit einigen nordischen Ländern einer neuen griechischen Regierung so leicht wie 2010 die Politik für die nächsten Jahre vorschreiben.
Das einzige, was dabei herauskommen kann, ist noch viel mehr zerbrochenes Porzellan in ganz Europa und neuer offener Hass auf Deutschland.

Halbwegs kluge deutsche Politiker würden sich jetzt erst einmal eine Zeit lang zurückhalten, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Doch es ist wohl eine Illusion, wenigstens darauf zu hoffen.
Die heutigen Reaktionen werden es zeigen.

Jochen