Neokolonianismus – Kontinuitäten der Unterwerfung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aktuell in der jungen Welt ein etwas längerer, aber lesenswerter Vortrag von Sevim Dagdelen:

Koloniale Vergangenheit – neokoloniale Gegenwart?

Internationale Beziehungen im Lichte von Krieg, Sanktionen und Völkerrecht

https://www.jungewelt.de/artikel/439022.neokolonialismus-kontinuit%C3%A4ten-der-unterwerfung.html

Seit vielen Jahren setzt sich die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke) für die Anerkennung deutscher Kolonialverbrechen und die Dekolonisierung der deutschen Außenpolitik ein.

Namibia_FlagIm Zeichen der aktuellen Auseinandersetzungen um das sogenannte Versöhnungsabkommen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung ist die Abgeordnete in dieser Woche in Windhoek zu politischen Gesprächen, darunter mit Premierministerin Saara Kuugongelwa-Amadhila, mit dem Präsidenten der Nationalversammlung, Peter Katjaviv, sowie mit Vertretern der Herero und Nama und der Landlosenbewegung.
Am Mittwoch war Sevim Dagdelen eingeladen zu einem Gastvortrag an der Universität von Namibia (UNAM), der im Folgenden dokumentiert wird.

Es ist mir eine Ehre, heute hier vor Ihnen sprechen zu dürfen. Mit Ihnen in den Austausch zu treten, ist für mich persönlich ein Höhepunkt meiner Reise.
Mein Besuch in Namibia steht im Zeichen der aktuellen Auseinandersetzungen um das »Versöhnungsabkommen« zwischen der deutschen und der namibischen Regierung.
Als Obfrau der Oppositionsfraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags und Sprecherin für internationale Politik setze ich mich seit vielen Jahren dafür ein, dass die deutsche Regierung den Genozid an den Herero und Nama anerkennt und Reparationen für die deutschen Kolonialverbrechen leistet.

Bei den Verhandlungen über das sogenannte Versöhnungsabkommen handelt es sich in meinen Augen um ein paradigmatisches Beispiel für die Kontinuität kolonialer Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in den internationalen Beziehungen. Indem die deutsche Bundesregierung eine echte Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama verweigert und wirkliche Reparationsleistungen von vornherein ausschließt, nutzt sie ihre aus der Kolonialzeit resultierende Machtposition gegenüber Namibia aus.
Hinter der Weigerung, in diesem Sinne erneute Verhandlungen über die »Gemeinsame Erklärung« aufzunehmen, steckt der fehlende politische Wille, sich ernsthaft mit den vielen weiteren deutschen Kolonial- und Kriegsverbrechen zu beschäftigen und vor allem die aus der historischen Verantwortung resultierenden Konsequenzen zu ziehen.

Diese Ungleichheitsverhältnisse zwischen den ehemaligen Kolonien und den Kolonialmächten sowie das neokoloniale, hegemoniale Agieren des Westens sind ein zentrales Strukturprinzip der heutigen Weltordnung.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich entschieden, meinen heutigen Vortrag dem folgenden Thema zu widmen: »Colonial Past – Neocolonial Present? International Relations in the Light of War, Sanctions and International Law«.

Darin möchte ich den folgenden Fragen nachgehen: Wie wirkt der Kolonialismus bis heute in den Beziehungen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden fort? Wie artikuliert sich der westliche Neokolonialismus in Zeiten von Krieg und sich zuspitzender Blockkonfrontation? Was können wir der neokolonialen Hegemonie entgegensetzen – und wie könnte eine gerechtere, an Ausgleich und Kooperation orientierte Weltordnung jenseits der kapitalistischen Ausbeutung aussehen?
Diese Fragen mögen zunächst einmal abstrakt klingen. Dennoch möchte ich den Versuch wagen, Antworten anhand konkreter Beispiele aus der gegenwärtigen internationalen Politik zu skizzieren.

Bevor wir auf die neokolonialen Kontinuitäten in der Gegenwart zu sprechen kommen, ist es notwendig, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.

1280px-Deutsch_Suedwest_DevotionaliaDer europäische Kolonialismus kann zweifelsohne als strukturprägendes Phänomen der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends angesehen werden.
Die Phase aktiver deutscher Kolonialpolitik zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg war zwar im Vergleich zu anderen Kolonialreichen kurz und im wesentlichen auf das – um mit dem britischen Historiker Eric Hobsbawm zu sprechen – »imperiale Zeitalter« begrenzt. Dennoch waren am Kolonialismus als gesamteuropäischem Phänomen immer auch Deutsche beteiligt, Stichworte Sklavenhandel oder wissenschaftliche Erschließung der Welt.

Historische Amnesie

Zudem hält sich bis heute teilweise hartnäckig die Behauptung, Deutschland sei im Vergleich zu anderen Kolonialmächten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien oder Portugal eine unbedeutende und harmlose Kolonialmacht gewesen. Doch war der deutsche Kolonialismus ebenso brutal und hatte ähnliche Folgen wie der anderer Staaten.
Diese Brutalität spiegelt sich beispielhaft in der berühmten »Hunnenrede« des deutschen Kaisers Wilhelm II. Bei der Entsendung der Kriegsflotte zur Niederschlagung des Boxeraufstands im Kaiserreich China im Jahr 1900 hielt er die deutschen Soldaten zu einem möglichst brutalen Vorgehen an – mit den Worten: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht.«
Diesen Geist atmete auch die rassistische Maxime des deutschen Gouverneurs Lothar von Trotha, der 1904 im damaligen Deutsch-Südwestafrika den Befehl gab, unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder zu erschießen, sie zu vertreiben und verdursten zu lassen. Dem brutalen Vernichtungskrieg deutscher Kolonialtruppen fielen bis zu 80 Prozent der Herero und mehr als die Hälfte der Nama zum Opfer.

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Treffende Worte für die Grausamkeit der Verbrechen des deutschen Kaiserreichs im damaligen Deutsch-Südwestafrika und anderen Kolonien fand der Sozialist Karl Liebknecht in seiner Schrift »Militarismus und Antimilitarismus«. Darin geißelte er Ende Februar 1907 die Kolonialpolitik, die »unter der Vorspiegelung, Christentum und Zivilisation zu verbreiten oder die nationale Ehre zu wahren, zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen mit frommem Augenaufschlag wuchert und betrügt, Wehrlose mordet und notzüchtigt, den Besitz Wehrloser sengt und brennt, Hab und Gut Wehrloser raubt und plündert, Christentum und Zivilisation höhnt und schändet.«

Die im Rahmen der Kolonialkriege begangenen genozidalen Verbrechen werden noch bis heute immer wieder verharmlost. Einige, wie der Afrika-Beauftragte der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Günther Nooke, sahen in Deutschland sogar eine eher positiv wirkende Kolonialmacht, die Afrika geholfen habe, sich »aus archaischen Strukturen zu lösen«.
Solche Stimmen suggerieren, dass die Kolonialherrschaft doch letztlich dazu beigetragen habe, die unterworfenen Gesellschaften zu »zivilisieren« und »entwickeln«.
Dieses dichotomische Denken, das zwischen vermeintlicher Höher- und Minderwertigkeit, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung unterscheidet, war prägend für den Denkstil des modernen Imperialismus. Nicht nur im Fall des ehemaligen deutschen Afrika-Beauftragten wirken diese Denkmuster fort.
Wie wir im Folgenden sehen werden, fungieren sie heute oftmals als Legitimationsfolie für die von geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen getriebenen Expansionsbestrebungen eines hegemonialen Neokolonialismus.

Neben solchen Fällen von offensiver Geschichtsverklärung und -leugnung besteht in Fragen der Kolonialgeschichte in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit eine weitgehende Amnesie. Das zeigt sich beispielhaft daran, dass der Kolonialismus im allgemeinen und die deutsche Kolonialgeschichte im besonderen in den Lehrplänen für den Geschichtsunterricht an Schulen kaum eine Rolle spielen. Kaum präsent in Schulbüchern wie im öffentlichen Bewusstsein ist insbesondere der historische Zusammenhang zwischen der Ausbeutung Afrikas, der Industrialisierung sowie dem heutigen Wohlstand Europas und Nordamerikas.

Dabei war die wirtschaftliche Ausbeutung von natürlichen und menschlichen Ressourcen maßgeblich dafür, dass Europa seine imperiale Ausbreitung auf Kosten Afrikas festigen konnte.

Karl Marx hat diese Prozesse als »Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära« und »Hauptmomente der kapitalistischen Akkumulation« charakterisiert.
In diesem Sinne stellte auch Frantz Fanon in seinem antikolonialen Manifest »Die Verdammten dieser Erde« fest, der Reichtum Europas sei »auf dem Rücken der Sklaven errichtet worden, er hat sich vom Blut der Sklaven ernährt, er stammt in direkter Linie vom Boden und aus der Erde dieser unter­entwickelten Welt«.

In der deutschen Geschichtsschreibung wird dieser Zusammenhang meist ausgeblendet. Denn auch für das Deutsche Kaiserreich bestand der Kolonialismus historisch eben nicht allein im Völkermord, sondern auch in der wirtschaftlichen Ausbeutung.
Fast vergessen ist, dass es ab 1908 in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu einem regelrechten Diamantenrausch gekommen war, nachdem das Deutsche Reich nach einem entsprechenden Fund ein Diamantensperrgebiet errichtet hatte. Bis 1914 wurden von der vom Deutschen August Stauch gegründeten Kolonialen Bergbaugesellschaft 4,7 Millionen Karat Diamanten im Wert von 150 Millionen Reichsmark gefördert. Für den Raub der Edelsteine wurden bis heute keine Reparationen geleistet.

Grüner Extraktivismus

Die systematische Plünderung zur Zeit des Kolonialismus setzt sich heute vielfach in dem von westlichen Staaten und internationalen Organisationen protegierten Agieren multinationaler Konzerne fort.
Im Angesicht von globaler Rohstoffausbeutung, Landnahme sowie der direkten oder indirekten Ausübung politischer Herrschaft über andere Länder zeigen sich in der heutigen Weltordnung erschreckende Parallelen zum oftmals vergangen geglaubten Kolonialzeitalter.

Die neokolonialen Bestrebungen zielen im wesentlichen darauf ab, die im Zuge der Befreiungsbewegungen erlangte formale Souveränität der Kolonien mit dem Ziel zu unterminieren, sich die dortigen Bodenschätze anzueignen. Dazu zählen in erster Linie Ressourcen, die für die Aufrechterhaltung des fossilen Kapitalismus von zentraler Bedeutung sind, wie Erdöl, Erdgas, Steinkohle, Uran, Edelmetalle und Phosphate.
Die politisch-institutionellen Strukturen für diese Form der »Akkumulation durch Enteignung«, wie sie der marxistische Geograph David Harvey in Anknüpfung an Rosa Luxemburg beschreibt, und die damit verbundene Umverteilung des Reichtums von armen Ländern in die kapitalistischen Zentren schufen internationale Institutionen des Finanzkapitals wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds IWF.
Die von den USA, Großbritannien und den großen Mitgliedstaaten der EU Frankreich und Deutschland beherrschten Institutionen legten mit ihren oktroyierten Maßnahmen zur Liberalisierung und Privatisierung die Grundlagen für die neokoloniale Ausbeutung von Grund und Boden.

In das Visier von Ausbeutung und Aneignung geraten jedoch zusehends auch Sonne, Wasser und Wind, also Rohstoffe und Natureigenschaften, die der Durchsetzung einer grün-technologischen Energiewende in den Ländern des Westens dienen sollen. Die deutsche Bundesregierung plant, mit einer »Nationalen Wasserstoffstrategie« als Technologiestandort für grünen Wasserstoff zum Weltmarktführer zu werden.
Afrikanischen Ländern ist dabei die Aufgabe zugedacht, Flächen und Naturressourcen zu liefern. So beteiligen sich derzeit deutsche Konzerne in Namibia und der Demokratischen Republik Kongo an der Realisierung von Megaprojekten wie Staudämmen, Wind- und Solarparks für die Herstellung von grünem Wasserstoff für den Export. Im Fall der Westsahara ist die deutsche Bundesregierung sogar bereit, die völkerrechtswidrige Besatzung durch Marokko de facto anzuerkennen und die Selbstbestimmungsrechte der Sahrauis zu ignorieren, um das dortige Potential für erneuerbare Energien im eigenen Interesse zu nutzen.

Ähnlich wie bei klassischen Formen der Rohstoffausbeutung wird bei diesem grünen Kolonialismus die im Allgemeinbesitz befindliche Umwelt für das Wachstum und die Profite westlicher Industriekonzerne reserviert.
Eine lokale, demokratische Energiewende vor Ort wird dadurch hingegen erschwert, zumal etwa in Westafrika jeder zweite Haushalt noch gar nicht mit Strom versorgt wird. Zudem ist naheliegend, dass damit eine Ausweitung der Kontrolle und Einflussnahme transnationaler Konzerne, internationaler Organisationen, westlicher Regierungen und nationaler Kapitalfraktionen in den betroffenen Regionen einhergehen wird.

Die Eigentumsfrage soll dabei zugunsten westlicher Konzerne entschieden werden, um die Enteignung und Aneignung der Naturressourcen unumkehrbar zu machen.

In diesem Zusammenhang sei an den uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano und dessen eindrucksvolles Werk »Die offenen Adern Latein­amerikas« aus dem Jahr 1970 erinnert. Darin beschrieb Galeano mit Blick auf die Folgen der jahrhundertelangen Eroberung und Ausplünderung von Mensch und Natur in Lateinamerika als Basis für den Reichtum Europas und nationaler Oligarchien die »Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde«. An diesem Grundprinzip kolonialer Ressourcenausbeutung hat sich bis heute nichts geändert.

Der imperiale Kolonialismus hat also nie ein wirkliches Ende gefunden. Vielmehr wurde er nach Ende der Blockkonfrontation des Kalten Kriegs in Form eines Neokolonialismus fortgesetzt, der sich vor dem Hintergrund einer unipolaren Weltordnung und einer ungleichen Globalisierung entfaltet hat.
Allen voran die USA setzen dabei gerade in Europa wie in den Ländern der Peripherien auf Kompradorenbourgeoisien, die die Globalisierung zugunsten von US-Konzernen stützen. Die antikolonialen Befreiungsbewegungen im globalen Süden mussten sich gegen diese Vereinnahmungsversuche immer neu zur Wehr setzen und die demokratische Souveränität ihrer Länder verteidigen.
Das perfide an dieser Hegemonie ist, dass sich die USA im Unterschied zum älteren Imperialismus die Verbreitung von „Freiheit und Demokratie“ auf die Fahne geschrieben haben.

Krieg und Terror

Unter diesem Banner lebte auch die offen aggressive, kriegerische Seite des Kolonialismus in ihrer alten Gestalt wieder auf. Unter dem Deckmantel ihres »Kriegs gegen den Terror« haben die USA nach der Jahrtausendwende mit Unterstützung ihrer NATO-Verbündeten vermehrt militärische Mittel eingesetzt, um ihre wirtschaftliche und strategische Vorherrschaft über die ölreichen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens auszuweiten.
Die eindrücklichsten Beispiele für diese neokoloniale Hegemonie sind zweifelsohne die Besetzungen Afghanistans und Iraks.

Die unter schwersten Menschenrechtsverletzungen geführten Kriege, die als Blaupausen für spätere Interventionen in Libyen und Syrien dienten, kosteten jeweils mehrere Hunderttausende Menschen das Leben und haben den Grundstein für das Erstarken des islamistischen Terrorismus gelegt. Die vorgeblichen Ziele der Demokratisierung und Emanzipation wurden dabei gänzlich verfehlt.
Angesichts der dramatischen Folgen der völkerrechtswidrigen Kriege der USA im Nahen und Mittleren Osten hat der US-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky die USA als »den führenden terroristischen Staat« der Welt bezeichnet.

Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ist auch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich in der Sahelregion militärisch präsent. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der militärischen Absicherung der Uranexporte des französischen Energiekonzerns Areva aus dem bitterarmen Niger, das als Hauptlieferant für die französischen Atomkraftwerke dient.
Die Bevölkerung des Niger, das zu den ärmsten und unsichersten Ländern der Welt zählt, profitiert hiervon nicht, im Gegenteil.

Auch die deutsche Bundeswehr ist in der Sahelzone präsent. Trotz des offensichtlichen Scheiterns des Militäreinsatzes in Mali, dessen Sicherheitslage sich seit Beginn der Militäroperation Minusma maßgeblich verschlechtert hat, und wachsender Differenzen mit der malischen Übergangsregierung hält die Bundesregierung an einer weiteren Stationierung der deutschen Soldaten fest.
Ein zentrales Argument in der deutschen Debatte lautet, man dürfe die Region nicht dem wachsenden Einfluss Russlands überlassen.
Aus diesem Denken in Einflusssphären spricht ein kolonialer Geist, der paradigmatisch ist für die Missachtung der Souveränität afrikanischer Staaten.
Diese demokratische Souveränität der Länder des Südens ist dem Westen auch beim Umgang mit dem Ukraine-Krieg ein Dorn im Auge.

Das offenbaren die neokolonialen Versuche von USA und EU, diese Länder gegen ihre eigenen Interessen am Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland zu beteiligen.
Groß ist das Unverständnis, warum sich 17 afrikanische Staaten im März in der UN-Vollversammlung bei der Resolution gegen den Einmarsch in der Ukraine enthielten.

Dabei ist es naheliegend, dass sich die Länder des Südens bei dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine nicht auf die Seite des Westens ziehen lassen wollen. Anders als in der westlichen Öffentlichkeit herrscht in weiten Teilen der Welt ein nüchterner Blick vor, was die Vorgeschichte und die geopolitischen Dimensionen des Kriegs angeht.
Zu Recht verweisen Vertreter des globalen Südens bei aller Kritik an dem Völkerrechtsbruch Russlands auf die Verantwortung der NATO mit ihrer Expansion nach Osten als zentraler Ursache für die Eskalation des Konflikts.
Nachvollziehbarerweise wird auf die westliche Doppelmoral und die unzähligen völkerrechtswidrigen Angriffskriege der USA und deren Verbündeten hingewiesen, bei denen solche Reaktionen ausgeblieben sind.

Im Westen hingegen ist man blind und taub gegenüber dem Interesse der afrikanischen Staaten und den Ländern des Südens an einer schnellen Beendigung des Krieges durch eine diplomatische Verhandlungslösung.
Deren Wunsch nach Frieden ist naheliegend: Schließlich sind darunter viele Länder, die unter den Folgen des Kriegs in Form explodierender Energie- und Lebensmittelpreise am meisten leiden.
Daran hat – so begrüßenswert es auch ist – auch das unter Vermittlung der Tür­kei ausgehandelte UN-Getreideabkommen nichts grundlegend ändern können.
Dass in dem UN-Getreideabkommen auch vorgesehen ist, die hindernden Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf die russischen Lebens- und Düngemittelexporte zu begrenzen – ein Versprechen, dessen Umsetzung bis jetzt stockt – wird im Westen gerne verschwiegen. Ein ungehinderter Zugang von russischen Nahrungs- und Düngemitteln zu den weltweiten Märkten wäre jedoch von herausragender Bedeutung. Schließlich handelt es sich bei Russland um den weltweit größten Weizen- und Düngerlieferanten.

Stimmen wie die des Vorsitzenden der Afrikanischen Union, Macky Sall, der südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor oder des neu gewählten brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, die auf eine diplomatische Lösung und Frieden für die Ukraine drängen, werden im Westen nicht gehört. Statt dessen verfolgt der Westen das von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin ausgegebene Ziel, Russland langfristig zu schwächen.
Den aussichtsreichen Verhandlungen in Istanbul im März zwischen Russland und der Ukraine über einen Waffenstillstand wurde seitens der USA und Großbritanniens eine Absage erteilt.
Mit beispiellosen Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen soll Russland in die Knie gezwungen werden, das Ziel eines Regime-Change oder gar einer Zerschlagung des Landes anhand einer ethnischen Parzellierung wird anvisiert.

Diese Strategie ist aus zwei Gründen töricht und unverantwortlich:
Erstens wird die Atommacht Russland wohl kaum bereit sein, in einem Konflikt, den sie für aus ihrer Sicht existentielle Interessen führt, bedingungslos aufzugeben. Mit jedem Tag und jeder weiteren Waffenlieferung steigt daher die Gefahr der Ausweitung des Konflikts bis hin zum Dritten Weltkrieg und der atomaren Zerstörung Europas.
Zweitens ist es zynisch, die Ukraine in einen langwierigen Stellvertreterkrieg zu schicken und die Menschen dort für eigene geopolitische Interessen auf dem Schlachtfeld opfern zu wollen. Davor haben kluge Beobachter wie der US-Ökonom Jeffrey Sachs bereits Anfang April 2022 nachdrücklich gewarnt.

Neue Hoffnung

Die deutsche Bundesregierung unterwirft sich diesem Konfrontationskurs und beteiligt sich mit drastischen Sanktionen an dem beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Während die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hofft, damit »Russland ruinieren« zu können, wirken die Sanktionen wie ein Bumerang. Selbst die Bundesregierung musste vor wenigen Tagen auf eine parlamentarische Anfrage von mir hin eingestehen, dass sie keinerlei Kenntnisse hat, ob die Sanktionen ihr Ziel, die russische Kriegswirtschaft zu hemmen, erreichen.

Statt dessen vermeldet der staatlich kontrollierte russische Energiekonzern Gasprom für die ersten sechs Monate dieses Jahres einen Rekordgewinn von umgerechnet 41,63 Milliarden Euro dank der durch die Sanktionen gestiegenen Preise.

Für Deutschland sind die Folgen des Wirtschaftskriegs gegen den bis dahin wichtigsten Energielieferanten hingegen dramatisch.
Die Inflation liegt bei Rekordwerten von mehr als zehn Prozent, jedes vierte Unternehmen muss infolge der explodierenden Energiepreise Stellen abbauen, ganze Branchen stehen vor dem Ruin oder wollen ihre Produktion ins Ausland verlagern – kurz: Deutschland droht eine Deindustrialisierung, die Millionen Arbeitsplätze sowie das gesamte deutsche Wohlstandsmodell aufs Spiel setzt und den sozialen Frieden gefährdet.

Vor diesem Hintergrund wäre es selbstmörderisch, wenn sich Deutschland auch noch an dem von den USA betriebenen Wirtschaftskrieg gegen China beteiligen würde, wie sich das Teile der deutschen Regierung wünschen.
Die im Westen zu diesem Zweck geführte Debatte über eine vermeintliche »systemische Rivalität« zwischen »liberalen Demokratien« und »autoritären Staaten« ist schon allein aufgrund der neokolonialen Beherrschung der Welt durch erstere verlogen. Eine Entkoppelung von Deutschlands wichtigstem Handelspartner hätte zudem für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dramatische Folgen, wobei der Wirtschaftskrieg gegen Russland vermutlich nur ein Vorgeschmack wäre.

Gods_Own_CountryDie neokolonialen Versuche des von den USA angeführten Westens, in der Frage des Ukraine-Kriegs Einfluss auf die Länder des Südens zu nehmen, zeigen ebenso wie die von Washington angestrebte Konfrontation mit China, dass die USA mit Unterstützung ihrer europäischen Vasallen ihren Abstieg als alleiniger Welthegemon um jeden Preis verhindern wollen. Gleichzeitig soll der Aufstieg Chinas gestoppt werden, das in den letzten Jahrzehnten eine beeindruckende Entwicklung hingelegt hat und von einem der ärmsten Länder zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und einem der wichtigsten Technologie- und Innovationstreiber avanciert ist.

Für die Länder des Südens liegt in einer multipolaren Weltordnung eine große Chance, dem neokolonialen Joch zu entkommen. Schließlich blieben in der seit dem Kollaps der Sowjetunion andauernden Ära der Unipolarität den Staaten weltweit nicht viel Wahlmöglichkeiten: Entweder sie unterwerfen sich den Interessen der USA, oder sie müssen damit rechnen, Opfer von Invasionen, Staatsstreichen und weitreichenden Sanktionen zu werden. Beispielhaft sei hier Kuba genannt, das seit dem Triumph der Kubanischen Revolution 1959 einen eigenen, einen sozialistischen Entwicklungspfad eingeschlagen hat und sich deshalb seit mehr als 60 Jahren einer inhumanen, völkerrechtswidrigen Wirtschaftsblockade der USA ausgesetzt sieht. Darin ändert auch nichts, dass erst vor wenigen Tagen wieder einmal die breite Mehrheit von 185 Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegen das Votum der USA und Israels, bei Enthaltung von Bolsonaros Brasilien und der Ukraine, für die Beendigung der Blockade gestimmt hat.
Die USA sind offenbar fest entschlossen, an der kleinen Karibikinsel ein Exempel zu statuieren und andere Länder des Südens von einer Entwicklung jenseits der kapitalistischen Ausbeutung und frei von neokolonialer Unterwerfung abzuschrecken. Dass es Kuba trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten gelungen ist, ein herausragendes Bildungs- und Gesundheitswesen zu etablieren und Solidarität mit anderen Ländern des Südens zu leben, ist ein großer Erfolg und zeigt, dass eine alternative Entwicklung möglich ist.

Bei der neokolonialen Beherrschung großer Teile des globalen Südens sind gute Beziehungen von Ländern des Südens zu China, Russland oder Indien und Brasilien dem Westen ein Dorn im Auge. Schließlich bieten diese Länder Möglichkeiten einer Verteidigung der demokratischen Souveränität, indem sie neben den Optionen Unterwerfung oder Widerstand eine weitere Option eröffnen: die der Neutralität.
Was das bedeuten kann, erklärte Pierre Sané, Präsident des Imagine Africa Institute und früherer Generalsekretär von Amnesty International, im Zusammenhang mit der Abstimmung in den Vereinten Nationen über Russlands Invasion in der Ukraine: »Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Neutralität bedeutet, immer wieder einzufordern, dass internationale Gesetze respektiert werden; Neutralität bedeutet, dass unsere Herzen weiter für die Opfer militärischer Invasionen und willkürlicher Sanktionen schlagen, die niemals gegenüber NATO-Staaten verhängt werden.«

In diesem Sinne hatte auch Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor ihre ganz andere Sichtweise auf den Ukraine-Krieg als jene des Westens dargelegt. Die Fragen, »die den Kern des Kon­flikts zwischen der Ukraine und Russland ausmachen, werden weltweit diskutiert, und das seit mehr als zehn Jahren. Afrika wurde aber niemals an den Tisch gebeten, um über diese Fragen zu reden.
Da können Sie jetzt nicht sagen: Entscheidet euch für die eine oder andere Seite! Wir waren nicht involviert in all die Dinge, die zur heutigen Situation geführt haben.
Unsere Position ist: Die Welt hat die Verantwortung, nach Frieden zu streben. Wir sind entsetzt zu sehen, dass in diesem Konflikt, bei dem Tausende ihr Leben verlieren und Infrastruktur zerstört wird, die Verantwortlichen der Welt nicht in der Lage sind, zu tun, was Südafrika getan hat: Wir haben uns an einen Tisch gesetzt, verhandelt und eine Lösung gefunden, dank derer der Krieg beendet wurde.«

Klassen und Massen

Worin die Ursachen für Krieg und Zerstörung liegen, hat der französische Sozialist Jean Jaurès einst treffend formuliert: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.«
Das bedeutet: Krieg und Kapitalismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Da das kapitalistische Wirtschaftssystem auf den Prinzipien von Konkurrenz und Profitmaximierung basiert, sind Ausbeutung und Expansion dem Kapitalismus inhärent. Die Nutzung militärischer Mittel zur Profitmaximierung ist daher eine Konsequenz der kapitalistischen Logik.

Wie können wir also diesen hegemonialen Tendenzen, wie können wir dem neokolonialen Imperialismus, der weite Teile des globalen Südens wirtschaftlich oder militärisch unter seine Kontrolle zu bringen versucht, etwas entgegensetzen?
Einen Teil der Antwort findet sich in Frantz Fanons Schrift »Die Verdammten dieser Erde«. Darin stellt er fest: »Die Massen Europas müssen sich darüber klar werden, dass sie sich in der kolonialen Frage oft, allzuoft mit unseren gemeinsamen Herren verbündet haben.«

In anderen Worten: Wir brauchen ein Bündnis der Arbeiterklasse des Westens und der Bevölkerungen des Südens. Das gemeinsame Interesse eines solchen internationalistischen Bündnisses ist nicht nur in der Frage von Krieg und Frieden offenbar: Gemeinsames Ziel muss es sein, die kapitalistische Produktionsweise als Quell nationaler wie imperialer Ausbeutung zu überwinden.
Die Arbeiterklasse des Westens darf sich dabei, wie von Fanon gefordert, in ihrem Agieren nicht mit sozialimperialistischen Zugeständnissen der herrschenden Klasse abspeisen lassen und mit ihrem Einsatz gegen Ausbeutung und für bessere Lebensbedingungen an den nationalen Grenzen stehenbleiben.
Die Aufgabe besteht vielmehr darin, internationale Solidarität zu üben mit all denjenigen Kräften des Südens, die sich der neokolonialen Unterdrückung entgegenstellen.

In Deutschland haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, ein Umdenken in der nach wie vor von hegemonialen Motiven und kolonialen Denkmustern geprägten deutschen Außenpolitik zu erreichen. Denn diese steht angesichts der Verfolgung geostrategischer Vorherrschaft im Rahmen der NATO sowie kapitalistischer Profitinteressen mittels »humanitärer Interventionen«, gezielter Exporte von Kriegswaffen zur geopolitischen Einflussnahme und durch ausbeuterischen Freihandel in einer Linie mit der imperialistischen Kolonialpolitik, die Karl Liebknecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisiert hatte.
Eine kritische Reflexion und konsequente Dekolonisierung der öffentlichen Erinnerungskultur, die eine tatsächliche Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama sowie die Leistung angemessener Reparationen einschließen würde, bilden hierfür nur den Anfang.

Als notwendiger Rahmen für die Entfaltung von Alternativen jenseits des Neokolonialismus ist der Aufbau einer multipolaren Welt erforderlich.

Der ökonomische Aufstieg Chinas, der weitere Bedeutungszuwachs von Staatenbündnissen wie BRICS oder von kontinentalen Organisationen wie der Afrikanischen Union oder der südamerikanischen Staatengemeinschaft Unasur, die einst als Widerpart zu der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten gegründet wurde, können die Kräfteverhältnisse in diesem Sinne verschieben.
Ausgehend von einer solchen Entwicklung könnte es gelingen, wichtige Fragen der Weltordnung wie eine Neuverhandlung der globalen Handelsbeziehungen, eine Demokratisierung der Vereinten Nationen und eine Entmilitarisierung des Planeten anzugehen.
So utopisch ein solches Szenario auch klingen mag, angesichts von Krieg, neokolonialer Ausbeutung und Umweltzerstörung ist eine friedlichere und gerechtere Weltordnung alternativlos.

Über Kommentare hier würde ich mich freuen.

Jochen

Die Sanktionen des Westens sind großartig für Russland und schlimm für Europa

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Michael Hudson, geboren 1939 in Chicago/USA, ist der Patensohn des russischen Revolutionärs Leo Trotzki, Ökonom und Buchautor. Er arbeitete als Finanzanalyst für verschiedene US-Großbanken an der Wall Street und ist Präsident des Instituts für langfristige Wirtschaftsentwicklung (ISLET) in New York City.
Bereits 2006 und damit ein Jahr vor dem Platzen der Finanzblase warnte Hudson in einem Artikel für das Harper’s Magazine vor Spekulationsexzessen auf dem US-Immobilienmarkt.
2019 war Michael Hudson Referent auf der XXIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin.

Über den Krieg in der Ukraine, Interessen der Finanzoligarchie, China als Hauptrivalen der USA und Europa als Opfer.

Ein Gespräch mit Michael Hudson

Interview: Simon Zeise

https://www.jungewelt.de/artikel/432033.imperialismus-die-sanktionen-des-westens-sind-gro%C3%9Fartig-f%C3%BCr-russland.html

Wirtschaftskrise und Krieg in der Ukraine: Es gibt auf globaler Ebene immer mehr politische Brandherde. Ihr neues Buch trägt den Titel »Schicksal der Zivilisation«. Was meinen Sie damit?

US-Präsident Biden hat gesagt, die Menschheit habe die Wahl zwischen Demokratie und Autokratie. Mit Demokratie meint er Oligarchie. Und Oligarchien werden immer von den Finanzmärkten dominiert. Für Biden geht Demokratie immer mit freien Märkten einher, definiert als staatliche Deregulierung und Neoliberalismus.
Auf der einen Seite steht also das Schicksal der Zivilisation, für das die Vereinigten Staaten in der Ukraine und gegen China und Russland kämpfen, um sie in einen neoliberalen Zustand zu bringen. Wenn Biden über Autokratien spricht, meint er eine Regierung, die stark genug ist, um die Übernahme durch den Finanzsektor zu verhindern. So wie es Rosa Luxemburg vor mehr als hundert Jahren sagte, ist es eine Frage von Sozialismus oder Barbarei.

Sie nennen die USA eine Oligarchie. Wenn ich die Mainstreammedien zur Kenntnis nehmen, lese ich nur von einer Oligarchie in Russland. Was ist nun richtig?

Die USA haben in den 90ern die sogenannte Schocktherapie in Russland angewendet *). Washington wollte, dass Manager öffentlicher russischer Unternehmen alles privatisieren, darunter die Energiekonzerne Gasprom und Yukos, aber auch viele andere Unternehmen sollten zu Geld gemacht werden.
Und da die Schocktherapie all die Ersparnisse in Russland vernichtet hatte, waren die USA und andere Hartwährungsländer der einzige Ort, an dem sie das privatisierte Eigentum verkaufen konnten. Das System, das in Russland als Demokratie verkauft wurde, war in Wirklichkeit eine Oligarchie.
Seit Präsident Wladimir Putin an der Macht ist, haben sie sich von dieser Oligarchie entfernt. Sie entwickeln sich in Richtung einer gemischten Wirtschaft.

In den Vereinigten Staaten hingegen herrscht die Finanzoligarchie. Es ist sehr ähnlich wie im alten Rom: Die Oligarchie hat in den Vereinigten Staaten damit begonnen, die Politik zu finanzieren. Wenn man in den Vereinigten Staaten für eine Wahl kandidiert, braucht man zahlungskräftige Spender. Und diese kommen hauptsächlich aus den großen Unternehmen, die mehrheitlich in der Hand von Finanzinstituten der Wall Street sind. Wenn man in den Vereinigten Staaten für ein Amt kandidiert, muss man einen Finanzier finden, und wenn sich jemand bereit erklärt, Hunderte von Millionen Dollar für einen zweijährigen Wahlkampf beizusteuern, muss man versprechen, eine Politik zu verfolgen, die die Geldgeber – in den USA nennt man sie die Geberklasse – unterstützen.

Was denken Sie über den Krieg in der Ukraine? Ist es ein imperialistischer Akt von Wladimir Putin oder trägt die NATO die Hauptverantwortung?

Der Krieg in der Ukraine begann 2014 mit einem Staatsstreich. Die Vereinigten Staaten unterstützten ihn, um eine Stellvertreterregierung zu installieren. Seit acht Jahren attackieren ukrainische Regierungstruppen die beiden russischsprachigen Provinzen Lugansk und Donezk. Im Frühjahr dieses Jahres plante Kiew dort einen einen Angriff auf Zivilisten – es wäre ein Blutbad gewesen. Russland ist nicht nur zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung, die angegriffen wurde, sondern auch zum Schutz vor der NATO in die Ukraine einmarschiert. Da die Atomwaffen direkt vor der Haustür Russlands standen, hatte Russland kaum eine andere Wahl.

Die Vereinigten Staaten und die EU stellen den Ukrainern Waffen zur Verfügung, damit sie kämpfen können. Das Ziel Washingtons ist es, Russland in der Ukraine militärisch zu binden. Moskau wird nicht in der Lage sein, China, den Hauptfeind der USA, militärisch zu unterstützen.
Die US-Strategie zielt also darauf ab, den Krieg in der Ukraine hinauszuzögern und ihn in Russland unpopulär zu machen, damit der Rückhalt für Präsident Putin schwindet. Das würde die Chance für einen Regime-Change steigern, und ein neuer US-höriger Typ Boris Jelzin könnte installiert werden.

Aber von einer starken Opposition in Russland ist nicht viel zu sehen.

Es war die Wunschvorstellung der Vereinigten Staaten, aber offensichtlich hat es nicht geklappt. Die Russen sind in der Lage, genug militärisches Material zu ersetzen, das in der Ukraine verbraucht wird. Die ukrainische Armee wurde zurückgetrieben, wird vom Westen mit Waffen beliefert und begeht Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Es sieht so aus, dass sie sich aus dem Osten des Landes zurückzieht.
Kiew weiß, dass Russland am Ende nicht nur Lugansk und Donezk haben wird, was die ursprüngliche Absicht war, sondern dass Moskau sich selbst schützen wird, indem es entlang der gesamten Südküste der Ukraine in Richtung Odessa vorrückt und sich vielleicht sogar mit Transnistrien verbindet.
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij wollte ein Friedensabkommen unterzeichnen, damit die Ukrainer weiterhin für ihn stimmen. Aber die Vereinigten Staaten haben gesagt: Nein, ihr müsst weiterkämpfen.
Und offenbar haben die USA ihm zig Millionen Dollar auf seine Offshore-Konten überwiesen, wie es durch die Panama Papers sehr gut dokumentiert wurde.
Selenskij hat im Grunde genommen nur die Befehle Washingtons ausgeführt.

Militärisch und ökonomisch wäre ein langer Krieg ein Desaster. Wie schätzen Sie die Strategie Washingtons ein?

US-Präsident Biden hat angekündigt, dass der Krieg noch Jahre andauern wird. In dem Krieg geht es nicht nur um die Ukraine. Es ist ein Krieg, der China und jedes andere Land daran hindern soll, dass die Regierung die Macht über die Wirtschaft übernimmt, um ihre Gesellschaft zu entwickeln.
Der Krieg in der Ukraine ist nur eine Art Eröffnungsphase für das, was die Vereinigten Staaten beabsichtigen: einen dritten Weltkrieg.

Die NATO-Mitglieder hatten versprochen, zwei Prozent ihres BIP für das Militär auszugeben. Jetzt werden sie drei oder vier Prozent ausgeben, wegen der angeblichen russischen Bedrohung. Das Ergebnis ist, dass der Euro auf die Parität zum Dollar gefallen ist.
Die USA erwarten, dass der Euro um weitere 20 Prozent auf etwa 80 Cent fallen wird, damit die Kapitalflucht aus Europa und besonders aus Deutschland vorangetrieben wird. Die deutsche Industrie wird bedroht, weil sie kein russisches Gas mehr kaufen soll. Im Grunde genommen haben die Vereinigten Staaten den deutschen Politikern gesagt, sie sollen industriellen Selbstmord begehen. Und die deutschen Politiker sind Erfüllungsgehilfen der NATO.
Das Ergebnis ist, dass die Heizkosten von 100 Euro pro Gaseinheit auf 220 Euro steigen. Das wird dazu führen, dass Industriebetriebe pleite gehen und Investoren damit beginnen können, sie günstig aufzukaufen.

Glauben Sie, dass Russlands Wirtschaft wegen der westlichen Sanktionen zusammenbrechen wird?
Ganz im Gegenteil. Die Sanktionen des Westens sind großartig für Russland. Jedes Land, das von US-Sanktionen bedroht wird, ist gezwungen, sich selbst zu versorgen.

Vor einer Woche hielt Präsident Putin eine Rede, in der er sagte, dass die russische Regierung den Ersatz für Importe vorantreiben wird. Anstatt deutsche Autos zu importieren, wendet sich Russland nach China, um eine eigene Automobilindustrie zu entwickeln.
Russland ist nun sehr schnell dabei, die Abhängigkeit vom Westen oder bei Industriegütern durch eine eigene Produktion im Inland zu ersetzen.

Das einzige, was sie nicht gleichwertig produzieren können, sind Walt-Disney-Filme und italienische Handtaschen. Das soll heißen, es werden nicht die Luxusartikel in Massen zu haben sein, die man im Moskauer GUM-Kaufhaus sieht.
Aber die russische Wirtschaft wird im Grunde autark wer­den. Und so haben die Sanktionen nicht nur Russland dazu gebracht, wirtschaftlich unabhängig zu werden, sondern auch dem russischen Staatshaushalt durch die Verknappung von Öl und Gas Mehreinnahmen beschert.
Russland ist der große Nutznießer der deutschen Energieembargopläne. Je weniger Gas Russland verkauft, desto mehr Geld verdient es. Für russische landwirtschaftliche Produkte nicht mehr mit Euro und Dollar zu bezahlen, hat die Lebensmittelpreise enorm in die Höhe getrieben, wovon wieder Russland profitiert.
Der größte Nutznießer der gestiegenen Ölpreise sind allerdings die Vereinigten Staaten, weil sie den globalen Ölmarkt kontrollieren
und Ölkonzerne deshalb enorme Monopolprofite erzielen. Europa und der globale Süden leiden unter den Folgen.

Im Grunde ist es Washington egal, ob Russland den Krieg gewinnt, denn den USA ist es gelungen, ihre Konkurrenz in Europa, vor allem Deutschland auszuschalten.

Sie schreiben, dass die Ukraine nur ein Etappenziel und vielmehr China der größte Rivale der Vereinigten Staaten ist. Erklären Sie mir diesen Zusammenhang.

China entwickelt sich zu einem reichen Land, und die Wirtschaft wird auf die gleiche Weise aufgebaut, wie es die Vereinigten Staaten im späten 19. Jahrhundert gemacht haben: durch staatliche Subventionen, die Bereitstellung von Bildung und Gesundheit und vor allem von Geld und Kredit als öffentliches Gut.
Wenn die Bank of China Kredite vergibt, um den Bau von Gebäuden oder von Hochgeschwindigkeitszügen zu finanzieren, dann geschieht dies, um Geld in die Realwirtschaft oder die Produktions- und Konsumwirtschaft zu investieren. **)
Im Westen hingegen sind die Banken privatisiert, und Kredite werden vergeben, um bestehende Unternehmen und Immobilien zu übernehmen, die bereits vorhanden sind, nicht um die Produktionsmittel zu erweitern.
Der US-Finanzkapitalismus hat das Ziel, den industriellen Kapitalismus zurückzudrängen, der darin bestand, den Aufstieg der Rentiersklasse zu verhindern. Das US-Modell sieht vor, dass es keinen staatlichen Sektor mehr gibt. Der Finanzsektor soll die Macht der Monopole organisieren.

China bietet ein anderes Modell, und es ist eigentlich das alte Modell des industriellen Kapitalismus, das sich in Richtung Sozialismus entwickelt, weil das Finanzsystem für den öffentlichen Sektor bereitsteht. Die öffentliche Infrastruktur ist ein natürliches Monopol in China.
Anstatt dass eine renditesuchende Monopolklasse das Transportwesen, die Kommunikation oder die Elektrizitätsversorgung übernimmt, bietet China die Grundbedürfnisse kostenlos oder zu subventionierten Preisen an.
Die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China ist also keine zwischen zwei verschiedenen Industrienationen, sondern zwischen Wirtschaftssystemen.

Aber kommt es nicht auch in China zu Spekulationsblasen? Die größten Immobilienkonzerne des Landes sind pleite gegangen, die Zentralbank pumpt Milliarden in den Markt.

Das ist derzeit das große politische Thema in China. Die chinesische Volksbank hat Kredite an zwischengeschaltete Banken vergeben, die Geld im wesentlichen an Käufer von Wohnungen und Häusern verliehen haben. Ein Großteil davon waren Hypothekenkredite, die von Unternehmen gehalten wurden.
Da die Regierung der Gläubiger ist, ist die chinesische Regierung in der Lage, die Schulden einer Reihe großer Unternehmen zu tilgen.
Wenn ein US-Immobilienunternehmen seine Schulden nicht bezahlen kann, geht es in Konkurs und wird im Grunde genommen verscherbelt. Und wenn es sich um ein Industrieunternehmen handelt, wird eine Fabrik in eine Luxuswohnung oder etwas anderes verwandelt, das nichts mit Industrie zu tun hat.
Aber die chinesische Regierung sagt, Unternehmen werden nicht geschlossen. Die finanziellen Profiteure kommen nicht ungeschoren davon. Die chinesische Regierung hat erkannt, dass sie sich zu sehr von den USA beraten ließ, und nun versucht sie, den Hypothekenmarkt wieder zu verstaatlichen. Es soll gelingen, ohne einen wirtschaftlichen Zusammenbruch und einen Bankrott zu verursachen.
Beijing hat die Absicht, Immobilienmilliardäre zu belasten, aber nicht die einfachen Familien.

Das ist das genaue Gegenteil von dem, was Präsident Obama in den Vereinigten Staaten getan hat. Er rettete nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarkts 2007 die windigen Banken und vertrieb fast zehn Millionen Familien aus ihren Häusern, die anschließend von privaten Kapitalgesellschaften aufgekauft wurden.
Um so eine Entwicklung zu verhindern, führt Beijing eine Art von Grundsteuer für Immobilienunternehmen ein. Der steigende Wert von Immobilien wird nicht als Hypothekenzinsen an die Banken gezahlt. Er wird als Steuer an die Regierung gezahlt.
Darüber gibt es derzeit im Land eine große Auseinandersetzung. Denn offensichtlich gibt es Interessengruppen in China, die möchten, dass die Regierung den Immobilienmarkt nicht reguliert und es bald so viele Milliardäre in China wie in Hongkong gibt. Beijing lässt das aber nicht zu.

Welche Maßnahmen ergreift Beijing, um den Aufstieg einer Finanzoligarchie zu verhindern?

Anschaulich wurde das der Öffentlichkeit vor Augen geführt, als Jack Ma versuchte, mit seinem IT-Unternehmen Alibaba das Kreditsystem Ant Financial aufzubauen. Beijing schob dem Plan einen Riegel vor. Die Regierung will verhindern, dass Kleptokraten eine Klasse bilden.
Nur eine sozialistische Regierung kann die Gesellschaft vor der Übernahme durch eine Finanzoligarchie schützen
.

Mein Buch basiert auf einer Reihe von Vorträgen und Treffen, die ich mit vielen chinesischen Beamten und Professoren hatte. Ich wollte erklären, was die klassischen Ökonomen und Marx darüber geschrieben haben, wie man eine Immobilienblase verhindern kann. Ich riet ihnen stets dazu, Band zwei und drei von Marx’ Kapital zu lesen, insbesondere die Theorien über den Mehrwert.

Die westlichen Sanktionen führen zu einer engeren Kooperation von China und Russland. Wird es zu einer wirtschaftlichen Entkoppelung vom Westen kommen und der Dollar seine Bedeutung als Leitwährung verlieren?

Schon vor dem Krieg in der Ukraine gab es Bestrebungen zur Dedollarisierung***). Ich hatte bereits Artikel zum Thema für den russischen Waldai-Club geschrieben, auf dessen Jahrestagung Präsident Putin stets teilnimmt. Mit offiziellen chinesischen Vertretern diskutiere ich bereits seit zehn Jahren darüber. Mein Buch über das Schicksal der Zivilisation ist im Grunde ein Handbuch, wie man die Dedollarisierung angehen kann. Niemand hatte erwartet, dass der Prozess so schnell in Gang gesetzt würde.
In den Gesprächen, die ich mit Russen und Chinesen führte, sagten sie mir: Das wird uns länger beschäftigen, es ist sehr schwierig, die Dedollarisierung durchzusetzen.
Aber Präsident Biden hat in dieser Hinsicht wie ein chinesischer Agent in den Vereinigten Staaten agiert. Washington hat alle Konten in Dollar und Euro eingefroren, also musste Russland sich aus dem Dollar-System verabschieden. Und das ist es, was dem russischen Rubel geholfen hat.
Die Absicht hinter den westlichen Sanktionen war, den Rubel-Kurs zum Einsturz zu bringen, um die russischen Importe zu verteuern. Die russische Oligarchie sollte sich von Putin distanzieren. Statt dessen konterte die russische Regierung und beschloss: Wenn wir nicht in Euro und Dollar für Öl, Gas, Titan und Aluminium bezahlt werden, muss der Westen eben in Rubel bezahlen. Und so hat der Rubel an Wert gewonnen. Man kann durchaus sagen, dass der Westen sich ins eigene Knie geschossen hat.

Die Staaten in der EU hatten wohl erwartet, dass sie profitable Geschäfte machen würden. Die Roh­stoffimporte aus Russland würden sich verbilligen, und Russland wäre vermehrt auf Importe aus der EU angewiesen, so die Kalkulation. Diese Pläne sind aber durch die Aggression der NATO und der USA beendet worden.
Das Resultat ist, dass Russland und China nicht mehr auf die USA und die EU angewiesen sind.

Und die Lohnabhängigen in Europa müssen im Winter frieren.
Biden will dafür sorgen, dass es im Winter sehr kalt wird, indem er jede Art von Friedensabkommen blockiert.
Und Russland hat es nicht eilig, den Krieg zu beenden oder ein Friedensabkommen abzuschließen.
Die Frage ist, wie Deutschland und der Rest Europas handeln werden, wenn einige ihrer Unternehmen pleite gehen und die Kosten für die Beheizung ihrer Häuser die Budgets sprengen.
Der Lebensstandard wird sinken, um den Krieg der NATO führen zu können.

Schock-Strategie_Naomi_Klein*: Siehe Naomi Klein: Schock-Strategie

**: und so Massenkaufkraft zu erzeugen.

***: Seit längerer Zeit wird dem Petrodollar schon das Ende prophezeit und der Begriff der Dedollarisierung taucht in immer mehr Quellen auf. Russland und China machen sich auf, sich vom US-Dollar zu lösen. Nicht im überhasteten Verkauf ihrer amerikanischen Staatsanleihen, sondern über die Stärkung der eigenen Währung und Beziehung zueinander. Seit Jahren besteht eine wachsende wirtschaftliche Partnerschaft zwischen beiden Ländern. Dieser Umstand ist vor allem dem Aufstieg der Volksrepublik China und dem gleichzeitigen Niedergang der Sowjetunion geschuldet. …
Dieser Aufstieg hat seine Wurzeln im radikalen ökonomischen Kurswechsel unter Deng Xiaoping Ende der siebziger Jahre. „Werdet reich“, war das Motto der Deng’schen Reformen, die China seitdem hohe Wachstumsraten bescheren und die Weltbank (etwas voreilig) dazu verleitet haben, die Ablösung der USA als größter Wirtschaftsmacht durch China für das Jahr 2020 vorauszusagen.

Mit Russland als Partner!

 

Gold- und US-Dollar-Bestände Chinas und Russlands: - Bildquelle: www.zerohedge.com

Gold- und US-Dollar-Bestände Chinas und Russlands: – Bildquelle: http://www.zerohedge.com

Mein Kommentar: Unsere Regierungsmitglieder, Volksvertreter, Pressezaren und Oligarchen sind schon eifrig dabei, ihr schäfchen ins trockene zu bringen, siehe Kahrs‘ Schließfach.
Wer was dagegen sagt, ist ein Spinner oder rechtsradikal.
Und ein großer Teil der Linken mittlerweile macht eifrig dabei mit.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Theodor Lessing: »Wir machen nicht mit!«

Verfolgt, ermordet, totgeschwiegen: Zum 150. Geburtstag des Philosophen, Publizisten und radikalen Kriegsgegners

Von Helmut Donat

https://www.jungewelt.de/artikel/420253.radikale-kriegsgegnerschaft-wir-machen-nicht-mit.html

Theodor Lessing, geboren am 8. Februar 1872 in Hannover, ermordet von faschistischen Attentätern am 31. August 1933 in Marienbad, Tschechoslowakei (undatierte Aufnahme)

Anlässlich des 150. Geburtstages von Theodor Lessing, der am 8. Februar 1872 geboren wurde, sind dessen seit langem vergriffenen Lebenserinnerungen »Einmal und nie wieder« (1935) kürzlich in einer Neuausgabe erschienen. Wir veröffentlichen daraus den Beitrag »Theodor Lessing und der Erste Weltkrieg« – ergänzt um Informationen, die dem Lebenswerk und der Bedeutung Lessings gewidmet sind. (jW)

Mitte Juni 1924 fiel Hannover in Schockstarre. Unfassbares war geschehen: Fritz Haarmann hatte jahrelang und unter den Augen der Polizei, getarnt als ihr Gehilfe, mindestens zwei Dutzend Sexualmorde begangen. Sogar Kannibalismus war dabei. Davon habe ich, im Niedersächsischen geboren und aufgewachsen, schon vor meiner Einschulung gehört. Als Kinder sangen wir das Lied: »Warte, warte noch ein Weilchen, / dann kommt Haarmann auch zu dir. / Mit dem kleinen Hackebeilchen / macht er Hackefleisch aus dir.«

Von Theodor Lessing, der über den Serientäter 1925 das Buch »Haarmann – die Geschichte eines Werwolfes« publizierte, erfuhr ich erst etwas, als ich weit über Dreißig war. Die Gründe dafür sind so einfach wie banal. Keiner ist in der Lage gewesen, sich so des Themas anzunehmen. Lessing war – so der Neuausgabe seiner lange vergriffenen Lebenserinnerungen »Einmal und nie wieder« zu entnehmen – eine der wenigen geistigen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts von universalem Gepräge: Dichter, Mediziner, Philosoph, Psychologe, Wanderlehrer, Vortragsredner, Journalist, Kritiker, Begründer der ersten Arbeiterunterrichtskurse in Dresden (1904) und Mitbegründer der Volkshochschule Hannover (1919). Zudem lehrte er in seiner Heimatstadt als Professor an der Technischen Hochschule, erkannte klarer als die meisten seiner Zeitgenossen schon 1923 die Gefahren, die von Hitler und den Nazis ausgingen.

Aufmerksam beobachtete Lessing den Haarmann-Prozess und bot in seinem Buch eine Analyse des Charakters des Massenmörders, übte Kritik am Gericht und am Verlauf des Verfahrens, bezeichnete die Verteidiger als völlig überfordert. Vor allem scheute Lessing nicht vor einer schonungslosen Aufdeckung der gesellschaftlichen und ordnungspolitischen Missstände jener Zeit zurück, die Haarmanns Wüten erst ermöglicht und begünstigt hatten. Lessing schrieb, eine »Verteidigung« sei eben nur möglich, wenn sein Anwalt klargemacht hätte, was »zwangssüchtiger Triebirrsinn« bedeute, oder »wenn er, die ›Schuld‹ auf Umwelt, Zeit, Verrottung der Zustände abwälzend, zum flammenden Ankläger von Polizei und Sittlichkeit der Stadt Hannover, ja, zum Richter einer ganzen Kultur« geworden wäre. Da Lessing seine Meinung schon während des Prozesses in einem Aufsatz bekanntmachte, schloss man ihn von der weiteren Beobachtung des Verfahrens aus. Das Gericht fühlte sich verunglimpft. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, sich weiter dem Fall Haarmann zu widmen. Zum Leidwesen vieler Hannoveraner, denen Lessing seither im Magen lag.

Als er am 25. April 1925 im Prager Tagblatt in einer Glosse auch noch vor der Wahl des ehemaligen Feldmarschalls Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten warnte – am Schluss des Artikels hieß es, geradezu prophetisch: »Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: ›Besser ein Zero als ein Nero.‹ Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht« –, da war das Maß voll. Eine reichsweite Schmähkampagne gegen den Dozenten an der Technischen Hochschule, den »verleumderischen Juden«, begann. Aufgehetzte Studenten, aus allen Richtungen mit Sonderzügen nach Hannover gereist, störten Lessings Vorlesungen, riefen zu deren Boykott auf, verlangten, ihm die Lehrbefugnis zu entziehen und ihn aus der Universität zu entfernen. Hinter alldem sowie hinter der Gründung eines »Kampfausschusses gegen Lessing« standen deutschnationale, völkische und antisemitisch gesinnte Kreise, die an dem verhassten Kulturkritiker, Pazifisten und Juden ein Exempel statuieren und ihn zur Strecke bringen wollten. Unterstützung fanden sie bei Lessings Professorenkollegen, die sich mit seinen Gegnern solidarisierten. Auch nach seiner Beurlaubung im Wintersemester 1925/26 ging die Kampagne weiter. Am 7. Juni 1926 drohten an die tausend Studenten mit einem Wechsel an die Technische Universität in Braunschweig. Der preußische Kultusminister C. H. Becker und Lessing vereinbarten daraufhin, dass er fortan seine Lehrtätigkeit einstellte und bei reduzierten Bezügen einer unbefristeten Beurlaubung zustimmte. Damit gehörte Lessing zu den Geistesgrößen in Deutschland, die lange vor 1933 von der universitären Lehre ausgeschlossen wurden – ein »Vorspiel« auf den »Auszug des Geistes«, der nicht erst im »Dritten Reich«, sondern schon in der Weimarer Republik begann, so Jörg Wollenberg in seinem Beitrag »Einmal und nie wieder«.

»Die verfluchte Kultur«

Lessing hielt an seiner Gegnerschaft zu den Deutschvölkischen und Nazis fest, warnte weiter vor dem Bündnis von »Hakenkreuz und Stahlhelm« und dessen Folgen für den Frieden in Europa und auf der Welt. Dennoch ist er selbst in Hannover weithin vergessen. Selbst in dem Streit um die Hindenburgstraße und deren Umbenennung ist Lessings Name nicht einmal gefallen. Auch heute erinnert man sich nicht gern an ihn und an die Boykotthetze von 1924 bis 1926, die einst jeder in Hannover mitbekommen hat. Man tut so, als habe er nie existiert. Die Nazis hingegen vergaßen ihn nicht. Ende August 1933 reisten drei fanatisierte Deutsche nach Marienbad in die Tschechoslowakei, und einer von ihnen erschoss den dorthin emigrierten Lessing durch ein Fenster seines Arbeitszimmers.

Hans Mayer hat Lessings »Einmal und nie wieder« als seine bedeutendste Veröffentlichung bezeichnet – »als Aufschreibung seiner Jugendgeschichte und als Liebeserklärung an Hannover«. Aber der Erinnerungen sind mehr. Sie legen Zeugnis ab von dem Versuch, den Werdegang und das Schicksal eines geistigen Menschen zu deuten. Kaum jemand hat sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in deutschen Gefilden so aufrichtig und redlich wie Lessing bemüht, bei der Schilderung seines Weges nichts zu beschönigen – selbst auf die Gefahr hin, seinen Gegnern und Feinden durch das Bekenntnis eigener Schwächen und Peinlichkeiten in die Hände zu spielen.

Kollwitz_KriegDer Nationalökonom und Pazifist Oskar Stillich hat errechnet, dass man aus Deutschland ein soziales Paradies hätte machen können, wäre das im Ersten Weltkrieg in die Waffenproduktion gesteckte Geld für friedliche Zwecke verwandt worden. Jeder Familie hätte ein Eigenheim gebaut werden können, dazu zahllose soziale Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Badeanstalten, Freizeitheime, Begegnungsstätten, Volkshochschulen etc. Theodor Lessing, am 8. Februar 1872 in Hannover geboren, zog eine ähnliche Bilanz. In seiner Schrift »Die verfluchte Kultur« (1921) schreibt er über den Ersten Weltkrieg: »In runden Zahlen ausgedrückt kostete er von 1914 bis 1918 ungefähr zehn Millionen Menschen das Leben. An Geld kostete jede Sekunde seiner Dauer etwa 6.000 deutsche Silbermark. Jede Minute eine halbe Million. Jede Stunde dreißig Millionen. Mit jedem Tage seiner Dauer gingen Werte von 700 Millionen Mark für die Erde verloren. Mit der Hälfte dieser im wörtlichen Sinn verpulverten Kraft hätte man die Wüste Sahara in einen blühenden Garten verwandeln, den Atlantischen Ozean untertunneln können, hätte aufkaufen und urbar machen können halb Patagonien, Chile und Brasilien, hätte jedem deutschen Jungen ein kleines Fürstentum sichern können. Alle diese Milliarden Goldes brachte man spielend zusammen, als es galt, die Jahrhunderte geweihten Münster der Gotik, die unwiederbringlichen Schlösser des Barock in Trümmer zu schießen; als man aber jüngst bemüht war, für Deutschland das verfallende Haus zu erretten, darin Goethe geboren ward und aufwuchs, da erbettelte man mit Mühe die wenigen hundert Mark vergeblich. Sicher aber hat jener englische Staatsmann recht, welcher jüngst sprach das echt europäische Wort: Der Weltkrieg war ein Geschäft, das sich nicht bezahlt machte.«

Viel stärker jedoch als die wirtschaftlichen Folgen nahmen sich die moralischen Schäden aus. Der Glaube an den Fortschritt der Geschichte war auf den Schlachtfeldern zerrieben, Europa zum Tollhaus und Menschenschlachthaus geworden, das Vertrauen in das Recht tiefgreifend erschüttert, die Hoffnung, der Geheimdiplomatie, zwischenstaatlichen Anarchie und des Rüstungswahns Herr zu werden, zunichte gemacht. Der Erste Weltkrieg war nicht nur ein Attentat auf den Frieden, sondern auch ein Attentat auf die mühsam erkämpften Errungenschaften der Zivilisation. In seinen »Satiren und Novellen« (1923) bemerkte Lessing lapidar, aber treffend: »Im August 1789 beschlossen die Menschen, Weltbürger zu werden. Im August 1914 beschlossen sie das Gegenteil.«

Eine Welt brach zusammen

Sensible und empfindsame Naturen – vor allem Pazifisten und Kriegsgegner – spürten, dass im August 1914 eine Welt zusammenbrach. Rosa Luxemburg warf sich, als sie die Nachricht vom »Ausbruch« des Weltkrieges erhielt, auf den Boden und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Andere, die nicht ertragen konnten, was sie auf die Menschheit zukommen sahen, gingen in den Freitod. Auch Lessing war, wie er im »Gerichtstag über mich selbst« betonte, »mit jedem Blutstropfen angewidert von der grässlichen Barbarei des Zeitalters«. In den ersten Tagen nach dem 4. August 1914 bewegte ihn nur ein einziger Vorsatz: »Halte den Kopf frei. Lass dich nicht anstecken von Barbarei. Das Leben lassen, um das Grässliche zu hindern, tausendmal mit Freude! Aber Mitmachen, begeistert sein, weil alle begeistert sind, nein! Und wenn sie dich steinigen. Nichts gegen das eigene Gewissen.«

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Lessing zum Dienst als Lazarettarzt.

»Ihn berührte« – so der einstige niedersächsische Kultusminister und Landtagspräsident Rolf Wernstedt in der Neuausgabe von Lessings Erinnerungen – »das Elend der Verwundeten und Sterbenden mehr als die überhöhte Propaganda, die vom Heldentod sprach. Diese Grundeinstellung gab er in seinem Leben nicht wieder auf, sondern fragte ohne Rücksicht auf Beeinträchtigungen oder Nackenschläge stets nach den Gründen und Folgen allen menschlichen und also auch politischen Handelns.« Nebenher verfasste er die »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. Die Veröffentlichung des Buches, während des Krieges von der Militärzensur verhindert, da Lessing sich darin gegen den Krieg aussprach, erfolgte erst 1919.

»Mit dem Weltkrieg«, schreibt Lessing, »endete unsere Jugend« – »und alles, was vor ihm lag, war noch keine rechte Wirklichkeit«. Er fühlte sich »einsam und abgedrängt«. Der Krieg war für ihn »ein Wahnsinn, ein Verbrechen, eine abscheuliche Bestialität«, erschütterte ihn und gab seinem Leben eine andere Richtung. In welcher depressiven Stimmung Lessing sich zu Beginn des Krieges befand, ist seinen Tagebuchnotizen zu entnehmen. Im August 1914 verfasst, heißt es dort: »Ich fühle, dass meine Kräfte nachlassen. Mein Leben ist im Absinken. Die Müdigkeit und Nervenerschöpfung vieler Jahre hat sich in einem Zustand nicht mehr überwindlicher Schwäche angehäuft. Werde ich diese grauenhafte Zeit überleben? Ich weiß kaum, ob ich mir noch längeres Leben wünschen darf. – Mich hält einzig der Gedanke, dass ich die ›Philosophie der Not‹ vollenden muss. Dazu war ich geboren. Darum bitte ich. Gelingt das nicht, so bin ich um mein Leben betrogen.«

Noch im Wintersemester 1914/15 hielt Lessing im Plenarsaal der königlichen Technischen Hochschule in Hannover eine Reihe von Vorträgen gegen den Krieg. Ein halbes oder ein Jahr später wäre das schon nicht mehr möglich gewesen. Die Militärbehörden kontrollierten die öffentliche Meinung, verboten Zeitungen und verfolgten pazifistische Regungen, wo immer sie auftraten. Von Beginn an wurde die Friedensbewegung in ihrem Aktionsradius beschnitten, schließlich völlig lahmgelegt, ihre Vertreter unter Briefzensur gestellt oder gar verhaftet und weggeschlossen. Manche, wie Hans Paasche, Hans-Georg von Beerfelde oder Heinrich Vogeler, landeten wegen ihrer Kritik an der kaiserlichen Kriegs- und der Katastrophenpolitik des Hohenzollernreiches in einer Irrenanstalt.

Das Kriegserlebnis gab Lessings Philosophie eine tiefere, entschiedene und unumkehrbare Prägung, beeinflusste seine Haltung zur Geschichte und sein Bild vom Menschen nachhaltig. Seine Geschichtszweifel gründeten sich auf die »Eindrücke und Erlebnisse« der ersten drei Kriegsjahre. Ablesbar ist das an den ersten Fassungen seiner Werke »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« und »Europa und Asien«. Beide sind »ein einziger Aufschrei wider Zeit, Vaterland und Weltkrieg« und, wie Hans Stern es einmal ausgedrückt hat, »von einer echt plebejischen Skepsis gegen die ›großen Männer der Geschichte‹, gegen ihr ›Tötenkönnen‹, das andere zum ›Sterbenmüssen‹ verurteilt«. »Europa und Asien« sollte eigentlich schon 1915 erscheinen, aber die Militärzensur verbot es, und so kam es erst ein Jahr später heraus. Zu deutlich war die antimilitaristische Stoßrichtung. In der Vorbemerkung, verfasst im Winter 1914, schreibt Lessing: »Die vorliegende kleine Schrift ist aus jener Stimmung von Schmerz, Scham und tiefem Menschenekel geboren, die eine ganz kleine Schar Einsamer und Unzeitgemäßer aus allen Ländern Europas zur Notbruderschaft zusammenschmiedete, in demselben Augenblick, wo Europas Menschen – allen voran die ›führenden Geister‹ – am großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten

Über seine »Reden gegen den Krieg« sagte Lessing nachträglich: »Ich will, dass meine Urenkel erfahren, dass nicht jeder bessere Europäer in diesem ›Heldenzeitalter‹ seine Geistespflicht versäumt hat; die Pflicht, ein geistiger Mensch zu sein auch im Höllensturz. Ich gehöre nicht zu den Vertretern der ›europäischen Kultur‹. Ich verachte diese Kultur. Nein, mich ekelt vor ihr. Und mich ekelt vor ihren Vertretern.« Klarer und unmissverständlicher hat sich zu diesem Zeitpunkt wohl kein Deutscher und Europäer von den sogenannten Errungenschaften der westlichen Zivilisation losgesagt.

Der Abwendung von einem seelenlos gewordenen Europa entspricht die Hinwendung zu einem idealisierten Asien, wo noch vorhanden, was den weißhäutigen Menschen längst verlorengegangen ist – der ungestörte Einklang mit der Natur –, wo »die Vergottung des Ich die Welt noch nicht verfälscht hat«, wie es in »Europa und Asien« heißt.

Wider den Fortschrittsglauben

Lessing war ein empfindsamer Mensch und eine Rebellennatur. Seine Wurzeln hatte er im humanen Erbe der deutschen und europäischen Aufklärung. Mit einer Wissenschaft aber, Technik und Industrie, die der Zerstörung und dem Mord diente, und mit einer Philosophie und Geschichtsschreibung, die das noch rechtfertigte, wollte er fortan nichts mehr zu tun haben. Wie wenige seiner Zeitgenossen hat Lessing den historischen und kulturpolitischen Einschnitt des Ersten Weltkrieges wahrgenommen, begriffen und darunter gelitten. Und er sah deutlich voraus, wohin die nicht erfolgte Umkehr nach 1918 führen musste. Am 31. Januar 1933 sagt er im Hannoverschen Volkswillen: »Der menschliche Geist (…) steht heute an einem Punkte der Geschichte, wo die Wissenschaft, Chemie, Physik und Technik mit voller Sicherheit zum Untergang führen muss. Zur Selbstzerstörung des Menschen durch den Menschen. Zum Untergang der ganzen lebenden Erde, wenn nicht ein Volk aufsteht und verkündet: ›Bis hierher und nicht weiter!‹«

Lessing war angesichts der Trümmer und Ruinen, der Verstümmelten und Toten, der Opfer, die der Krieg kostete, nicht bereit, weiter einem wie immer gearteten Glauben an den Fortschritt der Menschheit anzuhängen. Als Vertreter der Aufklärung ist er zugleich ihr Widerspruch. Ähnlich Jean-Jacques Rousseau will er die Welt sehen, wie sie ist, ohne sie zu akzeptieren, wie sie ist. Mit einem Kulturpessimismus im oberflächlichen Sinne hat das nichts gemein. Lessing wollte sich und seine Leser, wo es um den Zustand der Welt, das Verständnis von Geschichte, die Erkenntnis der Wirklichkeit oder um die Problematik von Krieg und Frieden ging, nicht in Illusionen wiegen. Als einer der bedeutenden Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts befasste er sich in seinem Werk »Der Untergang der Erde am Geist« mit der Stellung des Menschen zum Universum und fragt: Was hat der menschliche Geist aus der Welt gemacht? Seine Antwort: Die europäische Kultur mit ihrem Größen- und Machbarkeitswahn reiße im Vertrauen auf die industrielle Überlegenheit alles mit sich und weg, was sich ihr in den Weg stelle, steuere letztlich auf das Ende aller Kultur zu und führe in den Abgrund: in die Unterdrückung, Entfremdung und Gleichmacherei – nicht in die Befreiung und schon gar nicht ins Paradies. Lessing – und das macht ihn hochaktuell – führt uns vor Augen, in welchem Ausmaß der Mensch in der Lage ist, das Leben und die Natur zu zerstören, anstatt beides zu erhalten und sorgsam zu pflegen.

Hans Mayer hat in seinem in den »Lebenserinnerungen« abgedruckten Essay »Bericht über ein politisches Trauma« Lessing als einen »Denker im Bereich der Gegenaufklärung« charakterisiert. Denn wie Rousseau misstraute Lessing der Vernunft als einem Garanten menschlichen Fortschrittes. Der Glaube an die Lern-, Vernunft- und Gesellschaftsfähigkeit des Menschen hat ihm angesichts der Realität nicht eingeleuchtet. Schärfer als viele andere sah er voraus, dass die Bedrohung des Menschen durch den Menschen durch nichts geschützt ist. So schmerzhaft es auch immer sein mag, spätestens seit »Auschwitz« muss man alles – aber auch wirklich alles – für möglich halten.

Doch keineswegs hat Lessing der Ausweglosigkeit das Wort geredet oder sich ihr von der Warte eines Elfenbeinturms hingegeben. Er legte den Finger dort in die Wunde, wo sie sich immer mehr zu einem Geschwür auswuchs und von dort die Menschheit bedrohte. Intuitiv und dank seiner zutiefst verwurzelten Abneigung gegen die Dominanz des Militärischen erfasste er, dass die Gefahr für den Frieden von deutschem Boden ausging. Daher seine Warnung vor Hindenburg, den er – auch das nicht zu Unrecht – als Vorläufer von Schlimmeren begriff.

»Halt vom Hasse dich rein!«

Der Erste und Zweite Weltkrieg gingen nicht zwangsläufig aus der europäischen Geschichte und Kultur hervor, wie Christopher Clark und andere zur Entlastung der Hohenzollern behaupten – und auch Lessing ist nicht ganz frei von solcher Haltung, aber keineswegs aus denselben Gründen wie die heutigen Unschuldsapostel, die sich auf Clark berufen und allen Großmächten zu gleichen Teilen eine schlafwandelnde Verantwortung für den Zivilisationsbruch von 1914 zusprechen. Beide Kriege waren vor allem das Ergebnis der Verirrung jenes Geistes, der sich im Kaiserreich seit 1871 der Menschen und ihrer Köpfe bemächtigt hatte und der auch Lessing ausgesetzt und zunächst erlegen gewesen ist. Seine Abkehr von Gewalt- und von Freund-Feind-Kategorien – und damit für ein Zusammenleben der Menschen, das nicht weiter von Hass, Betrug, Verleumdung, Lüge, Misshandlung, Ausgrenzung, Verbrechen und Mord geprägt sein sollte – war grundlegend und bestimmte fortan sein Wirken für Frieden und soziale Gerechtigkeit sowie seinen Widerstand gegen eine Politik, die Ziele erstrebte, die sich nur durch Krieg erreichen ließen.
Liga_gegen_koloniale_UnterdrueckungIn der Friedensbewegung der Weimarer Republik zählte er zu dem antimilitaristischen Flügel und wandte sich gegen die von deutschem Boden ausgehende Kriegsgefahr. Wie andere Pazifisten engagierte er sich in der 1926 gegründeten »Liga gegen koloniale Unterdrückung«, die auf eine Initiative der KPD zurückging. Seit 1922 gehörte er der SPD an.

Im Vorwort zu den »Lebenserinnerungen« Lessings weist Hans Mayer zu Recht darauf hin, dass jener sich vom »philosophischen Pessimismus« freigemacht hat. Das ist auch der Grund für Lessings Engagement in der Tagespolitik. Statt sich resigniert zurückzuziehen, hat er die politische Reaktion in Deutschland bekämpft, ihr widersprochen und darüber aufgeklärt, welch neue Katastrophe auf die Menschen und die Welt zusteuere, wenn es nicht gelänge, die Verherrlicher von Krieg und Gewalt, ihre Menschenverachtung und Fremdenfeindlichkeit in die Schranken zu weisen. Ungeachtet aller Klarsicht und seines »Ekels vor deutscher Geistigkeit und ihren Führern« und trotz der Mahnungen vor einer sich selbst zerfleischenden Menschheit, hielt Lessing an der Gewissheit fest, »dass eben nur Politik von Politik, nur die Geschichte von Geschichte« uns erlöst »von aller Willkür und Zufälligkeit des Nur-Persönlichen«. Dafür hat er im politischen Tagesgeschäft gestritten und vor dem »volksbetrügenden« Nationalismus gewarnt – wie es in der Auswahl von Artikeln und Abhandlungen in dem 1997 erschienenen Band »Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage« nachzulesen ist.

Lessing protestierte, den weiteren Irrweg und Irrsinn vor Augen, gegen das »Zeitalter der Verrohung und Verdummung«, gegen den Wahnsinn des Krieges und gegen die »Selbstzerstörung des Menschen durch die Menschen«. Einen Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler rief er seinen Landsleuten zu: »Halt vom Hasse dich rein!« Und: »Wenn man uns zwingen will zu Frevel an Leben und Erde, wir sagen: Nein! Wenn man uns pressen will zum Irrsinn im Namen des Gesetzes, dann brechen wir das Gesetz. Wir lieben das Vaterland tiefer, tiefer die Menschen.« Noch heute hallt das Echo dieses Bekenntnis nach – und wird noch immer kaum gehört oder ernstgenommen.

Der Erste Weltkrieg hatte Lessing vor Augen geführt, in welchem Ausmaß der Mensch in der Lage war und ist, das Leben und die Natur zu zerstören, anstatt beides zu erhalten und sorgsam zu pflegen. Vor dem Hintergrund der Glorifizierung des Krieges in Deutschland als »Kulturerrungenschaft« und des mit solch Schwertglauben einhergehenden Massensterbens verfestigte sich in ihm, wie er schreibt, »die folgende letzte Erkenntnis: ›Alles kommt darauf an, in einem Reich erhabener menschlicher Narrheiten solche Sicherungen zu schaffen, welche, der Willkür der Person entzogen, dafür sorgen, dass kein Mensch fürder an dem andern, keiner an sich selbst Schaden anrichtet«.

Literatur

– Helmut Donat: Wider den unrühmlichen Umgang mit der Vergangenheit – Theodor Lessing und die Umbenennung der Hindenburgstraße in Hannover, Bremen 2022

– Theodor Lessing: Bildung ist Schönheit – Autobiographische Zeugnisse und Schriften zur Bildungsreform, Bremen 1995

– Theodor Lessing: Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage, Bremen 1997

– Theodor Lessing: Einmal und nie wieder – Lebenserinnerungen. Hrsg. von Helmut Donat unter Mitwirkung von Jörg Wollenberg, Bremen 2022

(alle Donat-Verlag)

 

Gerichtsentscheid: Julian Assange soll nicht an die USA ausgeliefert werden – US-amerikanische Mythen über Freiheit und Tyrannei

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Assange 2020

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Aktuell auf SPiEGEL online auszugsweise:
https://www.spiegel.de/politik/ausland/julian-assange-a-80f8da1f-ce27-4b4f-afef-5ae657f46284

Ein britisches Gericht hat den US-Auslieferungsantrag für Wikileaks-Gründer Julian Assange abgelehnt. Der 49-jährige gebürtige Australier werde wegen der Haftbedingungen, die ihn in den USA erwarteten, nicht ausgeliefert, teilte das Gericht in London am Montag mit. Im Fall einer Verurteilung hätten Assange in den USA bis zu 175 Jahre Haft gedroht.

Die USA kündigten an, in Berufung zu gehen.

Assanges Anwalt will am Mittwoch dessen Entlassung aus britischer Haft auf Kaution beantragen. Das Gericht könnte diese aber aufgrund der bereits eingelegten Berufung ablehnen.

Die von Assange gegründete Enthüllungsplattform WikiLeaks hatte 2010 und 2011 Hunderttausende geheime Papiere vor allem zum US-Einsatz im Irakkrieg ins Internet gestellt.
Damit habe Assange das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht, so der Vorwurf. Seine Unterstützer sehen in ihm hingegen einen investigativen Journalisten, der Kriegsverbrechen publik gemacht hat.

Um einer Auslieferung zu entgehen, hatte sich Assange in die Botschaft Ecuadors in Großbritannien geflüchtet und dort sieben Jahre gelebt, bevor ihm 2019 dort das Asyl entzogen wurde.
Er wurde festgenommen und kam in ein Londoner Hochsicherheitsgefängnis.

Assange drohen in den USA 175 Jahre Haft

Die US-Justiz will den Australier wegen der Veröffentlichung der Dokumente und wegen Verstößen gegen das Anti-Spionage-Gesetz vor Gericht stellen. Sie wirft ihm vor, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen zu haben. Bei einer Verurteilung in den USA drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft.

Zu diesem Thema heute auf den NachDenkSeiten ein Kommentar von Glenn Greenwald:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=68442

GreenwaldDer Journalist Glenn Greenwald hat die Debatte um das Verfahren gegen seinen Kollegen und die überbordende Selbstgerechtigkeit vieler Mainstream-Kommentatoren genutzt, um einmal etwas weiter auszuholen und über die Meinungsfreiheit im Westen zu reflektieren.
Volker Jansen
hat
den Text dankenswerterweise für Leser der NachDenkSeiten ins Deutsche übertragen.

Der wahre Maßstab dafür, wie frei eine Gesellschaft ist, ist nicht, wie ihre brav der herrschenden Klasse Dienenden aus dem Mainstream behandelt werden, sondern das Schicksal ihrer wirklichen Dissidenten.

Verfolgung wird in der Regel nicht denjenigen zuteil, die den Mainstream rezitieren oder davon absehen, eine ernsthafte Herausforderung für diejenigen darzustellen, die die institutionelle Macht ausüben, oder gehorsam innerhalb der von der herrschenden Klasse auferlegten Grenzen der erlaubten Rede und des Aktivismus bleiben.

Diejenigen, die sich auf diese Weise duldsam und harmlos zeigen, werden – in jeder Gesellschaft, auch in der repressivsten – normalerweise frei von Repressalien sein.
Sie werden nicht zensiert oder inhaftiert. Es wird ihnen erlaubt sein, ihr Leben weitgehend unbehelligt von den Behörden zu leben, und viele werden für diese Unterwürfigkeit gut belohnt werden.
Diese Menschen werden sich als frei betrachten, weil sie es in gewissem Sinne auch sind: Sie sind frei, sich zu unterwerfen, sich anzupassen und sich zu fügen.
Und wenn sie das tun, werden sie es nicht einmal bemerken oder sich zumindest nicht darum kümmern und es vielleicht sogar für gerechtfertigt halten, dass diejenigen, die diesen von ihnen eingegangenen Orwell’schen Handel (“Freiheit” im Tausch gegen Unterwerfung) ablehnen, mit unbegrenzter Härte zerschlagen werden.

Diejenigen, die nicht versuchen, ernsthaft zu widersprechen oder die Macht zu untergraben, werden gewöhnlich leugnen – weil sie nicht wahrnehmen – dass solcher Dissens und solche Subversion in der Tat rigoros verboten sind. Sie werden weiterhin selig glauben, dass die Gesellschaft, in der sie leben, zentrale bürgerliche Freiheiten garantiert – Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit – weil sie ihre eigene Rede und ihren Aktivismus, wenn es sie überhaupt gibt, so harmlos gemacht haben, dass sich niemand, der dazu in der Lage ist, die Mühe machen würde, sie zu beschneiden.
Die Beobachtung, die man der sozialistischen Aktivistin Rosa Luxemburg apokryph [zweifelhaft] zuschreibt, die wegen ihrer Opposition gegen die deutsche Beteiligung am Ersten Weltkrieg inhaftiert und dann vom Staat kurzerhand hingerichtet wurde, drückt es am besten aus: “Wer sich nicht bewegt, bemerkt seine Ketten nicht.”

Der Maßstab, um festzustellen, ob eine Gesellschaft frei ist, ist nicht, wie ihre orthodoxen, gut erzogenen, der Autorität gegenüber respektvollen Bürger behandelt werden.
Solche Menschen werden von jedem Souverän und jedem Machtzentrum in jeder Ära und überall auf der Welt gut behandelt oder zumindest normalerweise in Ruhe gelassen.

Sie werden den Stachel des Silicon Valley oder anderer institutioneller Zensoren nicht spüren, solange Sie die neuesten COVID-Verlautbarungen der Weltgesundheitsorganisation und von Dr. Anthony Fauci bejahen (selbst wenn diese Dekrete denen widersprechen, die sie nur ein paar Monate zuvor herausgegeben haben), aber Sie werden es, wenn Sie sie infrage stellen, sie bestreiten oder davon abweichen.
Ihre Facebook-Seite wird nicht gelöscht, wenn Sie die israelische Besatzung Palästinas verteidigen, aber Sie werden von dieser Plattform verbannt, wenn Sie im Westjordanland und Gaza leben und zum Widerstand gegen die israelischen Besatzungstruppen aufrufen.
Wenn Sie Trump einen orangefarbenen faschistischen Clown nennen, können Sie für immer auf YouTube bleiben, aber nicht, wenn Sie seine höchstumstrittene Politik und Forderungen verteidigen.
Sie können lautstark darauf bestehen, dass die US-Präsidentschaftswahlen 2000, 2004 und 2016 alle gestohlen wurden, ohne die geringste Sorge, verboten zu werden, aber die gleiche Behauptung über die 2020-er Wahl wird zur vollständigen Entziehung Ihrer Möglichkeit führen, Online-Tech-Monopole zu verwenden, um gehört zu werden.

Zensur ist, wie die meiste Unterdrückung, für diejenigen reserviert, die von mehrheitsfähigen Orthodoxien abweichen, nicht für diejenigen, die Ansichten äußern, die sich mit dem Mainstream decken.
Die etablierten Demokraten und Republikaner – Anhänger der vorherrschenden neoliberalen Ordnung – haben keinen Bedarf an Schutzmaßnahmen für die freie Meinungsäußerung, da es niemanden mit genügend Macht interessieren würde, sie zum Schweigen zu bringen.
Es sind nur die Unzufriedenen, diejenigen, die sich an den Rändern und am Rande aufhalten, die diese Rechte brauchen. Und das sind genau die Menschen, denen sie per Definition am häufigsten verweigert werden.

Ähnlich: Mächtige Beamte in Washington können illegal die sensibelsten Regierungsgeheimnisse durchsickern lassen und werden nicht bestraft oder bekommen nur einen leichten Klaps auf die Hand, vorausgesetzt, ihr Ziel ist es, die Mainstream-Narrative zu fördern.
Aber niedere Leaker, deren Ziel es ist, das Fehlverhalten der Mächtigen aufzudecken oder ihre systemischen Lügen zu enthüllen, werden das volle Gewicht der Strafjustiz und der Geheimdienstgemeinschaft zu spüren bekommen, um sie mit einem Vergeltungsschlag zu vernichten und auch um ihre Köpfe auf einem Spieß zur Schau zu stellen, um zukünftige Dissidenten zu terrorisieren, damit sie nicht in ähnlicher Weise in Erscheinung treten.

Journalisten wie Bob Woodward, die Jahrzehnte damit verbringen, auf Geheiß der D.C.-Eliten der herrschenden Klasse die sensibelsten Geheimnisse auszuspucken, werden mit Auszeichnungen und unermesslichem Reichtum überhäuft.
Aber diejenigen wie Julian Assange, die ähnliche Geheimnisse veröffentlichen, aber gegen den Willen dieser Eliten, mit dem Ziel und Ergebnis der Entlarvung (statt Verschleierung) der Lügen der herrschenden Klasse und der Behinderung (statt der Förderung) ihrer Agenda, werden das entgegengesetzte Schicksal wie Woodward erleiden: Sie werden jede erdenkliche Strafe erleiden, einschließlich der unbegrenzten Haft in Hochsicherheitszellen. Das liegt daran, dass Woodward ein Diener der Macht ist, während Assange ein Dissident gegen sie ist.

All dies veranschaulicht eine wesentliche Wahrheit. Der wahre Maßstab dafür, wie frei eine Gesellschaft ist – von China, Saudi-Arabien und Ägypten bis hin zu Frankreich, Großbritannien und den USA – ist nicht, wie ihre braven Diener der herrschenden Klasse behandelt werden.
Den königlichen Hofvasallen geht es immer gut: Sie werden für ihre Unterwürfigkeit belohnt und verdoppeln daher in der Überzeugung, dass es viele Freiheiten gibt, ihre Loyalität zu den bestehenden Machtstrukturen des Status quo.

Ob eine Gesellschaft wirklich frei ist, wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Dissidenten behandelt, diejenigen, die außerhalb der erlaubten Grenzen leben, sprechen und denken, diejenigen, die die Ziele der herrschenden Klasse erfolgreich infrage stellen.
Wenn Sie wissen wollen, ob die Meinungsfreiheit echt oder illusorisch ist, schauen Sie nicht auf die Behandlung derjenigen, die loyal den Fraktionen des Establishments dienen und lautstark ihre heiligsten Grundsätze bekräftigen, sondern auf das Schicksal derjenigen, die sich außerhalb dieser Fraktionen aufhalten und in Opposition zu ihnen arbeiten.
Wenn Sie wissen wollen, ob eine freie Presse wirklich garantiert ist, dann schauen Sie sich die Notlage derjenigen an, die Geheimnisse veröffentlichen, die nicht dazu dienen, die Bevölkerung zur Verehrung der Eliten zu animieren, sondern deren Veröffentlichungen dazu führen, den Unmut der Massen gegen sie zu erzeugen.

Das ist es, was die andauernde Inhaftierung von Julian Assange nicht nur zu einer grotesken Ungerechtigkeit macht, sondern auch zu einem lebenswichtigen, kristallklaren Prisma, um den grundlegenden Betrug der US-Erzählungen darüber zu sehen, wer frei ist und wer nicht, darüber, wo Tyrannei herrscht und wo nicht.

Assange ist seit fast zwei Jahren inhaftiert. Er wurde am 11. April 2019 von der britischen Polizei aus der ecuadorianischen Botschaft in London herausgezerrt.
Das war nur möglich, weil die Regierungen der USA, Großbritanniens und Spaniens den schwachen Präsidenten Ecuadors, Lenin Moreno, dazu zwangen, das Asyl zu widerrufen, das Assange sieben Jahre zuvor von seinem standhaften, die Souveränität verteidigenden Vorgänger Rafael Correa gewährt wurde.

Die Regierungen der USA und Großbritanniens hassen Assange wegen seiner Enthüllungen, die ihre Lügen und Verbrechen entlarvten, während Spanien über die journalistische Berichterstattung und den Aktivismus von WikiLeaks gegen Madrids gewaltsame Unterdrückung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung 2018 wütend war.
Also bedrängten und bestachen sie Moreno, um Assange den Wölfen vorzuwerfen – d.h., ihnen. Und seitdem wird Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London festgehalten, einer Einrichtung für Terrorverdächtige, die so hart ist, dass die BBC im Jahr 2004 fragte, ob es “Großbritanniens Guantanamo Bay” sei.

Assange ist derzeit nicht in Haft, weil er für ein Verbrechen verurteilt wurde. Zwei Wochen nachdem er aus der Botschaft geschleppt wurde, wurde er des geringfügigen Vergehens der “Missachtung der Kautionsauflagen” für schuldig befunden und zu 50 Wochen Gefängnis verurteilt, der maximalen Strafe, die das Gesetz erlaubt.
Im April dieses Jahres hatte er diese Strafe vollständig verbüßt und sollte daher ohne weitere Anklagen entlassen werden. Aber nur wenige Wochen vor seiner Freilassung veröffentlichte das US-Justizministerium eine Anklage gegen Assange, die aus der Veröffentlichung von diplomatischen Kabeln und Kriegsprotokollen des US-Außenministeriums durch WikiLeaks im Jahr 2010 resultierte, die massive Korruption durch zahlreiche Regierungen, Bush- und Obama-Beamte und verschiedene Unternehmen auf der ganzen Welt enthüllten.

Diese US-Anklage und der begleitende Antrag, Assange an die USA auszuliefern, um sich vor Gericht zu verantworten, lieferten der britischen Regierung den Vorwand, Assange auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren. Ein Richter entschied schnell, dass Assange bis zu seiner Auslieferungs-Anhörung nicht auf Kaution freigelassen werden kann, sondern stattdessen hinter Gittern bleiben muss, während die britischen Gerichte umfassend den Auslieferungsantrag des Justizministeriums bewerten.
Egal was passiert, es wird Jahre dauern, bis dieser Auslieferungsprozess abgeschlossen ist, denn welche Seite auch immer in jeder Phase verliert (das DOJ oder Assange) (und Assange wird sehr wahrscheinlich die erste Runde verlieren, wenn die untere Gerichtsentscheidung über den Auslieferungsantrag nächste Woche ausgestellt wird), sie werden Berufung einlegen, und Assange wird im Gefängnis bleiben, während diese Berufungen ihren Weg sehr langsam durch das britische Justizsystem nehmen.

Das bedeutet, dass – abgesehen von einer Begnadigung durch Trump oder die Rücknahme der Anklagen durch das, was die Biden DOJ werden – Assange für Jahre eingesperrt bleiben wird, ohne die Notwendigkeit, zu beweisen, dass er irgendeines Verbrechens schuldig ist.
Er wird einfach verschwunden sein: zum Schweigen gebracht von den gleichen Regierungen, deren Korruption und Verbrechen er angezeigt und aufgedeckt hat.

Das sind dieselben Regierungen – die USA und Großbritannien – die scheinheilig ihre Gegner (aber selten ihre repressiven Verbündeten) für die Verletzung der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit und des Rechts auf ein ordentliches Verfahren verurteilen.
Es sind dieselben Regierungen, denen es gelingt – größtenteils aufgrund einer grenzenlos willfährigen Konzernpresse, die entweder die Propaganda glaubt oder sie wissentlich zu ihrem eigenen Vorteil verbreitet – eine große Anzahl ihrer Bürger davon zu überzeugen, dass, anders als in den bösen Ländern wie Russland und Iran, diese bürgerlichen Freiheiten in den guten westlichen Ländern garantiert und geschützt sind.

(Die zahlreichen Beweise, die zeigen, dass die Anklage gegen Assange die größte Bedrohung für die Pressefreiheit seit Jahren ist, und dass die Argumente, die zu ihrer Rechtfertigung vorgebracht werden, betrügerisch sind, wurden von mir und anderen wiederholt dokumentiert, sodass ich diese Diskussionen hier nicht wieder aufwärmen werde.
Interessierte können den Artikel und das Videoprogramm sehen, die ich zu dieser Strafverfolgung produziert habe, zusammen mit meinem Leitartikel in der Washington Post; dem Leitartikel von Laura Poitras in der New York Times letzte Woche zur Anklage; dem Leitartikel des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva im Guardian, in dem er die sofortige Freilassung von Assange fordert; dem Leitartikel des Guardian und der Kolumne der Medienreporterin der Washington Post, Margaret Sullivan, die diese Strafverfolgung als missbräuchlich verurteilt; und Erklärungen der Freedom of the Press Foundation, des Committee to Protect Journalists, der Columbia Journalism Review und der ACLU, die vor den ernsten Gefahren für die Pressefreiheit warnen, die damit verbunden sind).

Sogar Assanges Verurteilung wegen “Kautionsflucht” und die Art und Weise, wie sie im Diskurs der Mainstream-Medien dargestellt wird, offenbart, wie trügerisch diese Narrative sind und wie illusorisch diese angeblich geschützten Freiheiten sind.
Assanges Verurteilung wegen Kautionsflucht basierte auf seiner Entscheidung, Asyl in Ecuador zu beantragen, anstatt 2012 zu seiner Auslieferungsanhörung in London zu erscheinen. Dieser Asylantrag wurde von Ecuador mit der Begründung bewilligt, dass Schwedens Versuch, Assange wegen einer Untersuchung wegen sexueller Nötigung aus Großbritannien auszuliefern, als Vorwand benutzt werden könnte, um ihn in die USA zu überstellen, die ihn dann für das “Verbrechen” der Berichterstattung über ihre illegalen und betrügerischen Handlungen inhaftieren würden.
Eine solche Vergeltungsinhaftierung, so sagte Ecuador, käme einer klassischen politischen Verfolgung gleich und erfordere daher Asyl, um seine politischen Rechte vor Angriffen durch die USA zu schützen (der Fall in Schweden wurde später eingestellt, nachdem die Staatsanwälte zu dem Schluss kamen, dass Assanges Asyl die Untersuchung sinnlos machte).

Wenn die USA Dissidenten aus gegnerischen Ländern Asyl gewähren, um sie vor Verfolgung zu schützen, verkünden die US-Medien dies als edlen, wohlwollenden Akt, der beweist, wie sehr sich die US-Regierung für die Rechte und Freiheiten von Menschen auf der ganzen Welt einsetzt.

Erinnern Sie sich an den feierlichen Ton der US-Medienberichterstattung, als die Obama-Regierung dem blinden chinesischen Aktivisten und Anwalt Chen Guangcheng Zuflucht in ihrer Botschaft in Peking und dann dauerhaftes Asyl gewährte, der in seinem Heimatland mit zahlreichen strafrechtlichen Anklagen konfrontiert war wegen seiner Arbeit gegen verschiedene Politikmaßnahmen, die er als unterdrückerisch und ungerecht ansah?
Amerikanische Liberale stellen Asyl, wenn es von der US-Regierung zum Schutz vor Verfolgung in anderen lateinamerikanischen Ländern gewährt wird, als so heilig dar, dass die Bemühungen der Trump-Administration, dieses Asyl einzuschränken, ihre anhaltende Wut hervorgerufen haben (diese Wut ist dabei, sich zu verflüchtigen, da Biden das Gleiche tut, aber mit der weicheren und sanfteren Sprache des Zögerns).

Aber wenn Asyl von anderen Ländern gewährt wird, um jemanden vor Verfolgung durch die US-Regierung zu schützen, dann verwandelt sich Asyl plötzlich von einem edlen und wohlwollenden Schutz gegen Menschenrechtsverletzungen in ein heimtückisches, korruptes Verbrechen.
So verunglimpfen US-amerikanische und britische Journalisten routinemäßig die Entscheidung Ecuadors, Assange vor der Möglichkeit abzuschirmen, in die USA überführt zu werden, um dort für seinen Journalismus bestraft zu werden, oder wie sie immer noch von Russlands Asylgewährung für Edward Snowden sprechen, die ihn davor schützt, in die USA überführt zu werden, um dort wahrscheinlich eine lebenslange Haftstrafe nach dem repressiven Spionagegesetz von 1917 zu riskieren, einem Gesetz, das ihn sogar daran hindert, sich vor Gericht auf eine “Rechtfertigung ” zu berufen und so einen fairen Prozess zu erhalten.
Unter diesem propagandistischen Rahmen werden nicht nur die Regierungen, die Asyl gegen US-Verfolgung gewähren (wie Ecuador und Russland), sondern auch die Personen, die Asyl vor US-Verfolgung suchen (wie Assange und Snowden), von den US-amerikanischen und britischen Medien als Schurken und sogar Kriminelle dargestellt, weil sie dieses international garantierte Asylrecht in Anspruch nehmen.

In der Tat, die britische Richterin, die Assange die Höchststrafe für Kautionsflucht auferlegte, Deborah Taylor, spöttelte bei seiner Verurteilungsanhörung, dass er “sein Asyl in der ecuadorianischen Botschaft nutzte, um die britische Justiz zu beleidigen”. Sie fügte hinzu: “Es ist schwierig, sich ein schwerwiegenderes Beispiel für dieses Vergehen vorzustellen. Indem Sie die Botschaft betraten, haben Sie sich absichtlich außer Reichweite gebracht, während Sie in Großbritannien blieben. Sie blieben dort fast sieben Jahre lang und nutzten Ihre privilegierte Position aus, um das Gesetz zu missachten und international Ihre Geringschätzung für das Recht dieses Landes bekannt zu machen.”

Snowdens Asyl in Russland – das einzige, was zwischen ihm und Jahrzehnten in einem Hochsicherheitskäfig in den USA für das “Verbrechen” der Aufdeckung verfassungswidriger Spionage durch Obama-Beamte steht – wird in den elitären US-Medien und politischen Kreisen in ähnlicher Weise als etwas Schändliches und sogar Verräterisches verhöhnt und nicht als ein vollkommen legaler Schutzschild unter internationalen Asylkonventionen gegen die Verfolgung durch den rachsüchtigen und notorisch repressiven US-Sicherheitsstaat.

Hier sehen wir die verblendende Propaganda, der die US-Bürger endlos unterworfen sind. Asyl ist immer gerechtfertigt, wenn es von der US-Regierung an Dissidenten oder Ausgestoßene aus untergeordneten Ländern gewährt wird, aber es ist nie gerechtfertigt, wenn es von anderen Ländern an US-Dissidenten oder andere Journalisten und Aktivisten gewährt wird, deren Bestrafung die USA anstreben.
Diese verzerrte Argumentation ist deshalb so wirkungsvoll, weil die US-Medien erfolgreich mit dem giftigen Mythos hausieren gehen, dass die USA einzigartige Rechte und Ansprüche haben, die mindere Länder nicht haben, weil die USA im Gegensatz zu ihnen eine freiheitsliebende Demokratie sind, die die grundlegenden Menschenrechte ehrt und standhaft die grundlegenden bürgerlichen Freiheiten der freien Meinungsäußerung, einer freien Presse und eines ordentlichen Gerichtsverfahrens für alle Völker garantiert.

Das nächste Mal, wenn jemand diese Behauptung aufstellt, explizit oder anderweitig, sagen Sie ihm, er solle sich das Schicksal von Julian Assange ansehen, einem der wirkungsvollsten Journalisten und Aktivisten dieser Generation, der die Verbrechen, den Betrug und die Korruption der wichtigsten US-Machtzentren aufgedeckt hat, insbesondere des permanenten Sicherheitsstaats.
Assange ist nicht einmal ein US-Bürger, der insgesamt eine Woche in seinem Leben auf US-Boden verbracht hat und absolut keine Verpflichtungen – rechtlich, journalistisch oder ethisch – hat, US-Geheimnisse zu schützen.

Aber egal: Jeder, der die US-Macht erfolgreich herausfordert, muss und wird zerstört werden.
Das liegt daran, dass die Rede- und Pressefreiheit und andere bürgerliche Garantien nur denen gewährt werden, die es unterlassen, die herrschende Klasse der USA ernsthaft herauszufordern: d.h. denen, die diese Rechte nicht brauchen.
Denjenigen, die diese Rechte brauchen – denjenigen, die abweichend denken und unzufrieden sind – werden sie verweigert, was definitiv beweist, dass diese Rechte nur auf dem Papier existieren, dass sie in Wirklichkeit unecht und illusorisch sind für diejenigen, die sie tatsächlich brauchen und verdienen.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Noam‌ ‌Chomsky:‌ ‌Internationalismus‌ ‌oder‌ ‌Untergang‌

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

PI-Ratsmitglied Noam Chomskys programmatische Rede auf dem Eröffnungsgipfel der Progressiven Internationale

Eine Rede, die von sehr viel Weitblick und Einsicht zeugt, von dem alten Anarchisten:

Internationalism_Extinctionhttps://progressive.international/wire/2020-09-18-noam-chomsky-internationalism-or-extinction/de
Bei Rosa Luxemburg hieß das noch: „Sozialismus oder Barbarei“

chomsky american dreamAuszüge:

Wir treffen uns zu einem Zeitpunkt des Zusammentreffens diverser Krisen von außerordentlicher Schwere, in dem das Schicksal des Experiments Menschheit buchstäblich auf dem Spiel steht.
In den kommenden Wochen werden sich die Probleme in den beiden imperialen Großmächten der Neuzeit zuspitzen.

Das immer schwächer werdende Vereinigte Königreich, das öffentlich erklärt hat, dass es internationales Recht zurückweist, steht kurz vor einem klaren Bruch mit Europa und ist auf dem besten Weg, noch deutlicher zu einem US-Satelliten zu werden, als es dies ohnehin schon ist.
Aber was für die Zukunft natürlich von größter Bedeutung ist, ist das, was im wahren globalen Hegemon geschieht — geschwächt durch Trumps Amokläufe, aber immer noch mit überwältigender Macht und unvergleichlichen Vorteilen. Sein Schicksal, und gleichsam das Schicksal der Welt, wird womöglich im November entschieden.

Wenig überraschend ist der Rest der Welt daher besorgt, wenn nicht gar entsetzt. Es ist schwierig, einen so nüchternen und renommierten Kommentator wie Martin Wolf von der Londoner Financial Times zu finden. Und selbst er schreibt, dass der Westen vor einer ernsten Krise steht und wenn Trump wiedergewählt wird, “wird dies das Ende sein”.
Das sind starke Worte und er bezieht sich nicht einmal auf die großen Krisen, mit denen die Menschheit aktuell konfrontiert ist.

Wolf bezieht sich auf die globale Ordnung, sicher eine wichtige Angelegenheit, wenn auch nicht in der Größenordnung der Krisen, von denen weitaus schwerwiegendere Folgen drohen.
doomsday-clockAlso derjenigen Krisen, die die Zeiger der berühmten “Doomsday Clock” in Richtung Mitternacht treiben — in Richtung Ende.

Wolfs Begriff des “Endes” ist kein neuer Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Wir leben seit 75 Jahren in dessen Schatten, seit wir an einem unvergesslichen Augusttag erfuhren, dass die menschliche Intelligenz nun Mittel entwickelt hatte, die bald die Fähigkeit zur tödlichen, absoluten Zerstörung hervorbringen würden.
Das war erschütternd genug, aber da war noch mehr: Damals verstand man noch nicht, dass die Menschheit in eine neue geologische Epoche, das Anthropozän, eintritt. Eine Epoche, in der menschliche Aktivitäten die Umwelt auf eine Art und Weise verwüsten, das diese sich nun ebenfalls der endgültigen Zerstörung nähert.

Die Zeiger der “Doomsday Clock” wurden zum ersten Mal eingestellt, kurz nachdem Atombomben in einer Eskalation des unnötigen Abschlachtens eingesetzt wurden.
Seitdem haben die Zeiger im Zuge der Entwicklung der jeweiligen globalen Umstände oft oszilliert. Doch mit jedem Jahr, in dem Trump im Amt war, haben sich die Zeiger weiter in Richtung Mitternacht bewegt. Vor zwei Jahren waren sie so nah wie nie zuvor. Im vergangenen Januar sprachen Beobachter*innen nicht mehr von Minuten und wandten sich stattdessen den Sekunden zu: 100 Sekunden vor Mitternacht.
Sie verwiesen auf dieselben Krisen wie zuvor: die wachsende Gefahr eines Atomkrieges, einer Umweltkatastrophe sowie der Verfall der Demokratie.

Letzteres mag auf den ersten Blick unangebracht erscheinen, ist es aber nicht. Die zu beobachtende Rückgang der Demokratie passt in dieses düstere Trio.
Denn die einzige Hoffnung, den beiden Bedrohungen des “Endes” zu entkommen, ist eine lebendige Demokratie, in der besorgte und informierte Bürger*innen sich voll und ganz in Deliberation, Politikgestaltung und direkte Aktionen einbringen.

Das war also im vergangenen Januar. Seitdem hat Präsident Trump es geschafft, alle drei Bedrohungen zu verschlimmern. Das ist ja in gewisser Weise auch eine Leistung.

green-attraction-war-museum.jpgEr hat die Zerschlagung des Systems der Rüstungskontrolle — das einen gewissen Schutz gegen die Gefahr eines Atomkriegs bot — fortgesetzt und gleichzeitig, sehr zur Freude der Rüstungsindustrie, die Entwicklung neuer und noch gefährlicherer Waffen gefördert.
pexels-photo-545960.jpegIn seinem engagierten Einsatz für die Zerstörung der lebenserhaltenden Umwelt hat Trump riesige neue Gebiete für Bohrungen erschlossen, darunter auch die letzten großen Naturschutzgebiete.
Unterdessen sind seine Schergen dabei, systematisch das Regulierungssystem abzubauen, das die zerstörerischen Auswirkungen der Nutzung fossiler Brennstoffe etwas mildert und die Bevölkerung vor giftigen Chemikalien und Umweltverschmutzung schützt — ein Übel, das angesichts der aktuellen schweren epidemischen Ausbreitung einer Atemwegserkrankung (SARS-CoV2) doppelt mörderisch ist.SARS-CoV-2

Des Weiteren hat Trump seine Kampagne zur Schwächung der Demokratie fortgeführt. Laut Gesetz unterliegen die Ernennungen durch den Präsidenten der Bestätigung durch den Senat.
Trump vermeidet diese Unannehmlichkeiten, indem er die Positionen einfach unbesetzt lässt und die Ämter lediglich mit “vorübergehend ernannten” Personen besetzt, die seinem Willen nachkommen —und wenn sie dies nicht mit ausreichender Loyalität gegenüber ihrem Herren tun, werden sie entlassen.
Er hat die Exekutive von jeglicher unabhängigen Stimme gesäubert. Nur noch Speichellecker bleiben übrig.
coins-currency-investment-insurance-128867.jpegDer Kongress hatte schon vor langer Zeit Generalinspektoren eingesetzt, um die Leistung der Exekutive zu überwachen. Sie begannen, sich mit dem Sumpf der Korruption zu befassen, den Trump in Washington geschaffen hat. Er kümmerte sich schnell um dieses Problem, indem er sie entließ.
Vom republikanisch dominierten Senat, den Trump fest im Griff hat, war kaum ein Mucks zu hören; kaum ein Fünkchen Integrität blieb zurück, so erschrocken sind sie dort über die “Volksbasis”, die Trump mobilisiert hat.

Dieser Angriff auf die Demokratie ist erst der Anfang. Trumps warnte jüngst, dass er gegebenenfalls sein Amt nicht niederlegen wird, wenn er mit dem Ergebnis der Wahlen im November nicht zufrieden ist.
Diese Drohung wird in hohen Kreisen sehr ernst genommen. Um nur einige Beispiele zu nennen:
Zwei angesehene pensionierte hochrangige Militärkommandeure veröffentlichten einen offenen Brief an den Vorsitzenden des Generalstabs, General Milley, in dem sie ihn an seine verfassungsmäßige Verantwortung erinnerten, die Armee zu entsenden, um einen “gesetzlosen Präsidenten”, der sich weigert, nach der Wahlniederlage aus dem Amt zu scheiden, gewaltsam zu entfernen.

firearm-handgun-revolver-gun-53351.jpegAußerdem warnten sie vor möglichem Widerstand durch paramilitärische Einheiten, die Trump bereits nach Portland, Oregon, entsandt hatte, um die Bevölkerung dort zu terrorisieren — entgegen des heftigen Widerstands der gewählten Amtsträger*innen dort.

Viele Persönlichkeiten des Establishments halten die Warnungen für realistisch, darunter auch das angesehene Transition Integrity Project, das soeben die Ergebnisse der “Kriegssimulation” veröffentlicht hat, die es zu möglichen Folgen der Wahlen im November durchgeführt hat.
Die Projektmitglieder gehören “zu den versiertesten Republikanern, Demokraten, Beamten, Medienexperten, Meinungsforschern und Strategen überhaupt”, erklärt der Ko-Direktor des Projekts.
Unter ihnen sind auch prominente Persönlichkeiten beider Parteien. In jedem denkbaren Szenario, abgesehen von einem klaren Trump-Sieg, führten die Simulationen zu so etwas wie einem Bürgerkrieg, womit Trump also beschließen würde, “das amerikanische Experiment” endgültig zu beenden.

Wiederum starke Worte, die so noch nie zuvor von nüchternen Mainstream-Stimmen zu hören waren. Allein die Tatsache, dass solche Gedanken aufkommen, ist schon bedrohlich genug.
Und sie sind bei Weitem nicht allein. Angesichts der unvergleichlichen Macht der USA ist weit mehr als das “amerikanische Experiment” in Gefahr.

Nichts dergleichen ist in der oft turbulenten Geschichte der parlamentarischen Demokratie bisher geschehen. Wenn man sich an die vergangenen Jahre erinnert, so hatte Richard Nixon — sicherlich nicht die angenehmste Person in der Geschichte der Präsidentschaft — guten Grund zu der Annahme, dass er die Wahlen von 1960 nur wegen krimineller Manipulation durch Mitarbeiter der Demokraten verloren hatte. Er focht die Ergebnisse dennoch nicht an und stellte das Wohlergehen des Landes über seine persönlichen Ambitionen.
Albert Gore
tat im Jahr 2000 dasselbe. Heute gilt das nicht mehr.

In reiner Verachtung für das Wohlergehen des Landes neue Wege zu beschreiten, reicht dem Größenwahnsinnigen, der die Welt beherrscht, offenbar nicht mehr aus.
Nein, Trump hat darüber hinaus mehrfach angekündigt, dass er die Verfassung missachten und über eine dritte Amtszeit “verhandeln” könnte, wenn er entscheidet, dass er irgendeinen Anspruch darauf hat.

Manche tun das als Verschrobenheit einer Witzfigur ab. Wie die Geschichte zeigt, tun sie das aber auf eigene Gefahr.

Das Überleben der Freiheit wird nicht durch “Pergament-Barrieren” garantiert, wie James Madison warnte.
Das will heißen: Worte auf Papier reichen nicht aus. Freiheit gründet auf den Grunderwartungen von Gutwilligkeit und dem allgemeinen Anstand.
Diese Grunderwartung ist von Trump zusammen mit seinem Mitverschwörer, dem Senatsmehrheitsführer Mitch McConnell — der das “größte beratende Gremium der Welt”, wie es sich selbst nennt, in einen erbärmlichen Witz verwandelt hat — in Stücke zerfetzt worden.
McConnells Senat weigert sich, Gesetzesvorschläge auch nur in Erwägung zu ziehen. Seine Sorge gilt den Reichen und der Justiz, die von oben bis unten mit jungen Anwält*innen der extremen Rechten besetzt ist. Diese sollen sicherstellen, dass die reaktionäre Trump-McConnell-Agenda über die nächste Generation hinweg gesichert wird — was auch immer die Allgemeinheit will; was auch immer die Welt zum Überleben braucht.

Die Unterwürfigkeit der Republikanischen Partei unter Trump und McConnell in ihrem Dienst an den Reichen ist wirklich bemerkenswert, selbst für die neoliberalen Standards und der dort üblichen Verherrlichung der Gier.
Eine Veranschaulichung liefern die führenden Spezialisten für Steuerpolitik, die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman. Sie zeigen, dass im Jahr 2018, nach dem Steuerbetrug, der bisher die einzige Errungenschaft von Trump-McConnell war, “zum ersten Mal in den letzten hundert Jahren Milliardäre weniger [an Steuern] bezahlt haben als Stahlarbeiter*innen, Lehrer*innen und Rentner*innen” und damit “ein Jahrhundert der Steuergeschichte” praktisch ausgelöscht wurde.
“Im Jahr 2018 wurde zum ersten Mal in der modernen Geschichte der Vereinigten Staaten das Kapital weniger besteuert als die Arbeit” — ein wirklich beeindruckender Sieg in diesem Klassenkampf, der in der aktuell hegemonialen Doktrin “Freiheit” genannt wird.

syringe and pills on blue backgroundDie “Doomsday Clock” wurde im vergangenen Januar neu gestellt, also bevor das Ausmaß der Pandemie verstanden wurde. Die Menschheit wird sich früher oder später von der Pandemie erholen, was schreckliche Kosten verursacht. Es sind oftmals unnötige Kosten.
Wir sehen das deutlich an den Erfahrungen der Länder, die entschiedene Maßnahmen ergriffen, als China der Welt am 10. Januar die relevanten Informationen über das Virus zur Verfügung stellte:
An erster Stelle standen dabei Ost-Südostasien und Ozeanien, andere folgten. Das Schlusslicht bilden einige veritable Katastrophen, namentlich die USA, gefolgt von Brasilien unter Bolsonaro und Indien unter Modi.

Doch trotz des Fehlverhaltens oder der Gleichgültigkeit einiger politischer Anführer wird es letztlich eine Art Erholung von der Pandemie geben.
Im Gegensatz dazu werden wir uns jedoch weder vom Abschmelzen der Polkappen noch von der in die Höhe schießende Zahl der Brände in der Arktis, die enorme Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre freisetzen, oder von anderen Schritten auf unserem Marsch in die Klimakatastrophe erholen.

Wenn die renommiertesten Klimawissenschaftler*innen uns mahnen, “jetzt in Panik zu geraten”, sind sie nicht alarmistisch. Wir dürfen keine Zeit verlieren.
Nur wenige tun genug; und was noch schlimmer ist: die Welt ist mit führenden Politiker*innen gestraft, die sich nicht nur weigern, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, sondern den Wettlauf in die Katastrophe absichtlich beschleunigen. Die Bösartigkeit im Weißen Haus steht bei diesem ungeheuerlichen Verbrechen unangefochten an der Spitze.

Doch es sind nicht nur Regierungen. Dasselbe gilt für die fossile Brennstoffindustrie, die Großbanken, die sie finanzieren, und andere Industrien, die von Handlungen profitieren, die das “Überleben der Menschheit” ernsthaft gefährden, wie es in einem geleakten internen Memo der größten Bank Amerikas heißt.

Die Menschheit wird diese institutionelle Bösartigkeit nicht mehr lange überleben. Die Mittel zur Bewältigung der Krise sind zwar vorhanden; aber nicht mehr lange.
Eine Hauptaufgabe der Progressiven Internationale ist es daher dafür zu sorgen, dass wir jetzt alle in Panik geraten — und entsprechend handeln.

Die Krisen, mit denen wir in diesem einzigartigen Moment der Menschheitsgeschichte konfrontiert sind, sind natürlich internationaler Natur.
Die Umweltkatastrophe, der Atomkrieg und die Pandemie kennen und akzeptieren keine Grenzen.
Und in weniger offensichtlicher Weise gilt das auch für den dritten der Dämonen, die die Erde heimsuchen und den Zeiger der “Doomsday-Clock“ weiter gen Mitternacht treiben: der Verfall der Demokratie.
Der internationale Charakter dieser letzten Seuche wird deutlich, wenn wir ihre Ursprünge untersuchen.

Die Umstände sind unterschiedlich, aber es gibt einige gemeinsame Grundlagen. Ein großer Teil des Übels geht auf den vor 40 Jahren gestarteten neoliberalen Angriff auf die Weltbevölkerung zurück.

Der grundsätzliche Charakter dieses Angriffs wurde in den Ansprachen seiner prominentesten Figuren festgehalten.
Präsident Ronald Reagan erklärte in seiner Antrittsrede, dass die Regierung das Problem ist und nicht die Lösung — was bedeutet, dass Entscheidungen von Regierungen, die zumindest teilweise unter öffentlicher Kontrolle stehen, auf private Macht übertragen werden sollten, die der Öffentlichkeit gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen muss und deren einzige Verantwortung die Selbstbereicherung ist, wie der Ökonom Milton Friedman proklamierte.
Die andere Figur war Margaret Thatcher, die uns lehrte, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur einen Markt, auf den die Menschen geworfen werden, um so gut wie möglich zu überleben — und zwar ohne Organisationen, die es ihnen ermöglichen, sich gegen die zerstörerischen Kräfte des Marktes zu wehren.

Zweifellos unbeabsichtigt paraphrasierte Thatcher damit Marx, der schon die autokratischen Herrscher seiner Zeit dafür verachtete, dass sie die Bevölkerung in einen “Sack Kartoffeln” verwandelt hatten: wehrlos gegenüber konzentrierter Macht.

Mit beeindruckender Konsequenz zogen die Regierungen Reagan und Thatcher los, um die Arbeiter*innenbewegung zu zerstören, das Haupthindernis für eine harte Klassenherrschaft der wirtschaftlich Stärksten.
Damit übernahmen sie die Leitprinzipien des Neoliberalismus aus seinen Anfängen im Wien der Zwischenkriegszeit, wo der Gründer und Schutzpatron der Bewegung, Ludwig von Mises, seine Freude kaum im Zaum halten konnte, als die protofaschistische Regierung Österreichs lebendige Sozialdemokratie und diese verabscheuungswürdigen Gewerkschaften, die sich in die ach-so-gesunde Wirtschaft einmischten, indem sie die Rechte der Werktätigen verteidigten, gewaltsam zerstörte.
Wie von Mises in seinem neoliberalen Klassiker “Liberalismus” von 1927 (fünf Jahre nachdem Mussolini seine brutale Herrschaft begann) erklärte: „Es kann nicht geleugnet werden, dass der Faschismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und dass ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faschismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben” — wenn auch der Faschismus selbst nur vorübergehend sei, versicherte er uns.
Die Schwarzhemden werden also gesittet nach Hause gehen, nachdem sie ihr gutes Werk vollbracht haben.

Dieselben Prinzipien beflügelten die begeisterte neoliberale Unterstützung für die abscheuliche Pinochet-Diktatur.
Einige Jahre später wurden sie in anderer Form unter der Führung der USA und des Vereinigten Königreichs auf globaler Ebene durchgesetzt.

pexels-photo-259027.jpegDie Folgen waren vorhersehbar: Zum einen kam es zu einer starken Konzentration des Reichtums bei gleichzeitiger Stagnation für einen Großteil der Bevölkerung, was sich im politischen Bereich in der Aushöhlung der Demokratie niederschlug.
Die Auswirkungen in den Vereinigten Staaten zeigen sehr deutlich, was man erwarten kann, wenn die Herrschaft des “Business” praktisch unangefochten ist. Nach 40 Jahren verfügen nun 0,1 Prozent der Bevölkerung über 20 Prozent des Reichtums, doppelt so viel wie zum Zeitpunkt der Wahl Reagans.
Die Vergütung der CEOs ist nach oben geschnellt und hat das Vermögen des gesamten Managements mit in die Höhe getrieben. Die Reallöhne für männliche Arbeitnehmer ohne Aufsichtsfunktion sind hingegen gesunken.
Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck, mit nahezu keinerlei Reserven.
Auch die Finanzinstitutionen, die weitgehend rücksichtslos und räuberisch auftreten, sind in ihrer Größe geradezu explodiert. Es gab wiederholte Zusammenbrüche, die jedes Mal schlimmer wurden.
Die Täter wurden per Bailout vom freundlichen Steuerzahlenden gerettet — wobei das wohl noch eine der geringsten der indirekten staatlichen Subventionen ist, die sie erhalten.
“Freie Märkte” führten zu einer Monopolisierung mit weniger Wettbewerb und Innovation, da die Starken die Schwachen schluckten.
Die neoliberale Globalisierung hat ganze Regionen im Rahmen der Investorenrechtsabkommen, die fälschlicherweise als “Freihandelspakte” bezeichnet werden, deindustrialisiert.
Mit der Annahme der neoliberalen Doktrin, dass “Besteuerung Raub ist”, öffnete Reagan die Tür für Steuerparadiese und Briefkastenfirmen — die zuvor verboten und durch wirksame Rechtsdurchsetzung praktisch ausgeschlossen waren.
Das führte sofort zu einer riesigen Steuerhinterziehungsindustrie, die den massiven Raubüberfall auf die breite Bevölkerung durch die Reichen und die Konzerne beschleunigte. Und das war keine kleine Veränderung; das Ausmaß wird auf Dutzende Billionen Dollar geschätzt.

So ging es weiter und die neoliberale Doktrin festigte sich.

Als dieser Angriff gerade erst begann, Gestalt anzunehmen, trat der Präsident der Gewerkschaft “United Auto Workers”, Doug Fraser, 1978 aus einem von der Carter-Administration eingerichteten Ausschuss für Arbeiter*innen und Angestellte zurück und drückte seine Betroffenheit darüber aus, dass die Wirtschaftsführer “beschlossen hatten, in diesem Land einen einseitigen Klassenkrieg zu führen — einen Krieg gegen die arbeitende Bevölkerung, die Arbeitslosen, die Armen, die Minderheiten, die ganz Jungen und die ganz Alten und sogar viele aus der Mittelschicht unserer Gesellschaft”.
Damit hätten sie “den zerbrechlichen, ungeschriebenen Pakt, der zuvor in einer Zeit des Wachstums und des Fortschritts existierte, zerbrochen und weggeworfen”.
Er verwies damit auf die Zeit der Klassenzusammenarbeit im reglementierten Kapitalismus.

Er erkannte etwas verspätet, wie die Welt funktioniert. Und zwar zu spät, um den erbitterten Klassenkampf abzuwehren, der von den Wirtschaftsführern angezettelt wurde, denen von willfährigen Regierungen bald freie Hand gelassen wurde.
Die Folgen für einen Großteil der Welt sind wenig überraschend: weit verbreitete Wut, Ressentiments, Verachtung für politische Institutionen, während die vorrangig wirtschaftlichen Institutionen durch wirksame Propaganda eher im Schatten stehen können.
All das bietet ein fruchtbares Terrain für Demagogen, die vorgeben können, Dein Retter zu sein, während sie Dir in den Rücken fallen und gleichzeitig die Schuld für die herrschenden Zustände auf Sündenböcke abwälzen: Immigrant*innen, Schwarze, China, wer auch immer am besten zu lang bekannten Vorurteilen passt.

Doch kommen wir zurück zu den großen Krisen, mit denen wir in diesem historischen Moment konfrontiert sind: Alle sind international; und zwei internationale Gruppierungen formieren sich, um ihnen zu begegnen. Eine davon wird heute vorgestellt: die Progressive Internationale.
Die andere hat bereits unter Trumps Führung des Weißen Hauses Gestalt angenommen: Eine Reaktionäre Internationale, der die reaktionärsten Staaten der Welt angehören.

In der westlichen Hemisphäre umfasst diese Reaktionäre Internationale Bolsonaros Brasilien und einige andere.
Im Nahen Osten sind die wichtigsten Mitglieder die Familiendiktaturen am Golf, die ägyptische Diktatur von al-Sisi — vielleicht die härteste in der ohnehin bitteren Geschichte Ägyptens—- und Israel, das vor langer Zeit seine sozialdemokratischen Ursprünge über Bord geworfen hat und weit nach rechts gerückt ist; die vorhersehbaren Auswirkungen der lang anhaltenden und brutalen Besatzung.
Die gegenwärtigen Abkommen zwischen Israel und arabischen Diktaturen, die langjährige stillschweigende Beziehungen formalisieren, sind ein bedeutender Schritt zur Festigung dieser Nahost-Basis der Reaktionären Internationale. Den Palästinenser*innen wird ins Gesicht getreten.
Es ist das scheinbar angemessene Schicksal derer, denen es an Macht mangelt und die nicht ordnungsgemäß vor den Füßen ihrer natürlichen Herren kriechen.

Ein Partner im Osten ist Indien, wo Premierminister Modi die säkulare Demokratie Indiens zerstört und das Land in einen rassistischen hinduistisch-nationalistischen Staat verwandelt, während er Kaschmir vernichtet.
Das europäische Kontingent umfasst die “illiberale Demokratie” Viktor Orbans in Ungarn und ähnliche Elemente in anderen Ländern.
Die Reaktionäre Internationale hat auch starke Rückendeckung in den dominierenden globalen Wirtschaftsinstitutionen.

Diese beiden Internationalen machen einen guten Teil der Welt aus, die eine auf der Ebene der Staaten, die andere auf der Ebene der Basisbewegungen. Jede von ihnen ist eine prominente Vertreterin viel breiterer gesellschaftlicher Kräfte, die gegensätzliche und hart umkämpfte Visionen von der zukünftigen Welt haben, die aus der gegenwärtigen Pandemie entstehen soll.
Eine Kraft arbeitet unermüdlich daran, eine strengere Version des neoliberalen globalen Systems zu konstruieren, von dem sie sehr profitiert hat, mit einer intensiveren Überwachung und Kontrolle.
Die andere freut sich auf eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens, in der Energien und Ressourcen auf die Bedürfnisse der Menschen und nicht auf die Forderungen einer winzigen Minderheit ausgerichtet sind.
Es ist eine Art Klassenkampf auf globaler Ebene, mit vielen komplexen Facetten und Wechselwirkungen.

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Schicksal des Experiments Menschheit vom Ausgang dieses Kampfes abhängt.

Hier kann man den Newsletter bestellen und Mitglied werden:

https://progressive.international/

hawking

Schon 2016 warnte Stephen Hawking: https://josopon.wordpress.com/2016/11/23/stephen-hawking-warnt-erde-wird-spatestens-in-1-000-jahren-zerstort-sein/

samir amin

Zum Thema „Internationale“ vgl. hier Samir Amin: https://josopon.wordpress.com/2017/10/01/interview-mit-okonom-samir-amin-wir-brauchen-eine-funfte-internationale/
Von Chomsky habe ich hier schon berichtet:
https://josopon.wordpress.com/2017/02/09/noam-chomsky-sozialismus-in-zeiten-der-reaktion/
und https://josopon.wordpress.com/2014/12/23/wiederkehr-des-kalten-krieges-einsichten-von-noam-chomsky-uber-die-amerikanische-ausenpolitik-a-nlasslich-des-ukraine-konfliktes/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Zu Weihnachten ein Text von Rosa Luxemburg (1905): Des Erlösers Geburt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.rosalux.de/publikation/id/6328/des-erloesers-geburt/
Bei Recherchen für einen Ergänzungsband zu den Gesammelten Werken Rosa Luxemburgs stießen wir auf diesen Artikel.
Fr die Autorschaft Rosa Luxemburgs sprechen Vergleiche mit ihrer 1905 in polnischer Sprache und unter dem Pseudonym Józef Chmura geschriebenen Broschüre Kosciol a Socjalizm (Krakau 1905), Kirche und Sozialismus (vgl. Standpunkte 4/2005). Sie verwendet u.a. in ihrem Artikel dieselben Zitate von den ersten Aposteln des Christentums, nämlich von Gregor dem Großen und vom heiligen Basilius, wie in Kirche und Sozialismus. Außerdem war sie seit Ende Oktober 1905 die leitende Redakteurin des Vorwärts und gestaltete nicht nur die Rubriken Die Revolution in Russland und Aus der Partei, sondern schrieb auch die maßgeblichen Leitartikel.

Warum sollte sie die erste Seite des Vorwärts am 24. Dezember 1905 nicht für ihre religions- und universalgeschichtlich kritische Sicht genutzt haben, zumal sie nach Weihnachten ins Revolutionsgeschehen nach Warschau reisen wollte. Schließlich korrespondiert dieser Artikel mit zwei bisher unveröffentlichten Artikeln Rosa Luxemburgs von 1902 in der Leipziger Volkszeitung, die mit Der neue Glaube und Proletariat und Religion betitelt sind.

Des Erlösers Geburt

Von Rosa Luxemburg

Mehr als neunzehn Jahrhunderte sind verflossen, seit die gläubige Menschheit die Geburt des Zimmermannssohnes aus Nazareth feiert, der dem Menschengeschlechte als Erlöser verkündet ward.
In einer furchtbaren Zeit der Zersetzung des alten Römerreiches, da Millionen in ausweglosem Elend, in Sklaverei und Erniedrigung versanken, in dieser düsteren sozialen Nacht ging die Morgenröte der christlichen Erlösung auf, von den Elenden und Enterbten mit frommem Glauben und jauchzender Hoffnung begrüßt.
Und heute wieder, wie seit bald zweitausend Jahren werden die Glocken von unzähligen Kirchtürmen in unzähligen Städten und Dörfern mit eherner Zunge die Wiederkehr jenes freudigen Tages preisen, in hohen Palästen und niedrigen Hütten werden Tannenbäume im Kerzenlicht und Flitterschmuck erglänzen zur freudigen Feier der Geburt des Erlösers.

Doch wo ist die Erlösung geblieben? Darben nicht heute Millionen in täglicher Pein, wie vor Jahrtausenden? Und werden sie nicht wie damals von den Reichen mit Füßen getreten, die doch schwerer in das Himmelreich kommen sollten, denn ein Kamel das Nadelöhr passieren?

Es ist nichts als eine pfäffische Lüge, wenn dem Volke eingeredet wird, das Christentum habe eine seelische und nicht eine leibliche Erlösung verheißen und vollbracht, das Reich Jesus sei nicht von dieser Welt.
Nichts als ein unbestimmter Wunsch auf die Glückseligkeiten des Jenseits, sondern als ein Evangelium der Erlösung von dem materiellen Elend, der sozialen Ungleichheit und der sozialen Ungerechtigkeit hienieden auf Erden ward die christliche Lehre gepredigt und aufgenommen.
Die Erlösung von den ungeheuerlichen Folgeerscheinungen der Klassenherrschaft, von gesellschaftlichen Kontrasten, von täglicher Not, von Bedrückung des Menschen durch den Menschen, der Volksmasse durch eine Handvoll Mächtiger, das war das Evangelium der ersten Apostel des Christentums und das war es, was ihnen die Anhänger und die Gläubigen in hellen Scharen zuführte.
So irdisch, so realistisch, so sinnlich war diese Erlösung gemeint, dass die ersten Christen sofort an die Wurzel des sozialen Übels, an die Eigentumsverhältnisse die Axt mit wuchtigem Hiebe anlegten. Das Evangelium der christlichen Erlösung war ein durch Jahrhunderte hallender schmetternder Trompetenruf zum Kriege wider die Reichen und das Privateigentum.
Ihr Elenden, rief der heilige Basilius im vierten Jahrhundert den Reichen zu, wie wollt Ihr Euch vor dem ewigen Richter verantworten? Ihr erwidert uns: Wie habe ich unrecht, da ich nur für mich behalte, was mir gehört? Ich aber frage Euch: Was nennt Ihr Euer Eigentum? Von wem habt Ihr es erhalten? Wodurch werden die Reichen reich, als durch die Besitznahme von Dingen, die allen gehören? Wenn jeder für sich nicht mehr nähme, als er zu seiner Erhaltung braucht, und den Rest den anderen ließe, dann gäbe es weder Reiche noch Arme.
Und zwei Jahrhunderte später donnerte noch ein anderer wackerer Gottesstreiter, Gregor der Große: Es genügt nicht, dass man anderen ihr Eigentum nicht nimmt, man ist nicht schuldlos, solange man Güter sich vorbehält, die Gott für alle geschaffen hat. Wer den anderen nicht gibt, was er hat, ist ein Totschläger und Mörder, denn da er für sich behält, was zur Erhaltung der Armen gedient hätte, kann man sagen, dass er tagaus, tagein so viele erschälgt, als von seinem Überfluss leben konnten.Diese schneidende Sprache führten die Jünger Jesu wider die soziale Ungleichheit der Menschen und mit solchen rein irdischen Argumenten führten sie die Sache der Enterbten, die zu erlösen der große Nazarener seine Schule stiftete.

Allein, die materiellen Verhältnisse erwiesen sich stärker als die feurigste Rede der christlichen Apostel. Die Worte eines Chrisostomus, des Mannes mit dem goldenen Munde, die Donnerstimme des großen Gregors verhallten wie die Stimme des Rufers in der Wüste. Der Strom der geschichtlichen Entwicklung, dem das christliche Evangelium des Kommunismus und der Abschaffung des Reichtums eine Zeitlang zu trotzen versuchte, riss das kühne Boot der Welterlöser mit, kehrte es um und zwang es, mit dem Gang der Verhältnisse zu schwimmen. Die Klassengesellschaft hat die zu ihrer Vernichtung verkündete Lehre in ihren eigenen Dienst gespannt, die Erlöserin Kirche wurde zu einem neuen Pfeiler der jahrtausende alten Sklaverei der Volksmassen.
Aus dem Evangelium der sozialen Gerechtigkeit haben die herrschenden Klassen und ihre Diener, die Kirchendiener, ein Evangelium der Barmherzigkeit, aus der Religion Freier und Gleicher eine Religion der Bettler und der Aussätzigen gemacht, aus der irdischen sozialen Erlösung von Hunger, Not und Erniedrigung ein Wolkenkuckucksheim der Seelenerlösung nach dem Tode. Dieser unbarmherzige Prozess der historischen Umschmelzung der christlichen Erlösungslehre dauert bis auf unsere Tage fort.
Die mittelalterliche feudale Gesellschaft hatte den urwüchsigen, kühnen christlichen Kommunismus zu der krankhaften, tränenreichen christlichen Barmherzigkeit, zur Lehre des weltabgeschiedenen Klosterlebens verrenkt. Die kapitalistische Neuzeit hat die christliche Caritas zur Heuchelei, zum frechen Hohn auf die christliche Lehre gemacht. In jeder Klassengesellschaft, wo die Not der Massen eine soziale Notwendigkeit, ist die Heuchelei eine öffentliche, staatliche Einrichtung. Mit jedem weiteren Schritte in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft wird die mit dem christlichen Glauben getriebene Heuchelei der herrschenden Klassen gröber und ungeschminkter.

Elende Heuchelei ist dieses offizielle Weihnachtsfest, wo zur Feier der Geburt des Erölsers der Armen, der Geburt in der Krippe, von der reichen Bourgeoisie am Tannenbaum ein Luxus getrieben wird, der den notleidenden, frierenden, darbenden Massen Hohn spricht.
Elende Heuchelei die frommen Gebete und die himmelwärts verdrehten Blicke der salbungsvollen Kirchendiener, die zum Weihnachtsfest, zur Geburtsfeier des milden Menschenfreundes rüstend, zuvor eilig zu neuen Mordwerkzeugen und neuen Lasten für die Bedrückten ihren Segen geben.
Elende Heuchelei dies ganze offizielle Christentum der heutigen Gesellschaft, das sich eine Adventnacht auswählte, um durch einen räuberischen Überfall Millionen fleißiger Arbeiter den letzten Bissen täglichen Brotes vom Munde zu reißen und kurz vor Glockenschlag des Weihnachtsfestes den schwarzen Brüdern in Afrika neue Gräuel des Krieges, neue furchtbare Vernichtungsbotschaft ins Land schickt als Bescherung.
Das einzig Wahre an dem heutigen christlichen Weihnachtsfest, aus dem jeder innere lebendige Geist verschwunden, von dem nur der tote Brauch und das sinnliche Blendwerk geblieben, ist das ewig gürne Tannenbumchen, der duftige Gruß der reinen frischen Natur, das Bäumchen, das die christlichen Kirchendiener der alten naiven Heidenwelt und ihrem Sonnenkultus gestohlen und mitten in das fremde, unnatürliche Milieu der christlich-bürgerlichen Heuchelei gepflanzt haben zur Freude der Kinder und der kindlichen Erwachsenen.

Dieser Welt der offiziellen christlichen Heuchelei gegenüber stehen wir proletarische Rotte, wir Vaterlandslosen, wir Geächteten, wir Elenden, und mit Prometheus fragen wir:

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?

Auch wir feiern die Ankunft des Erlösers, des wahren Erlösers der Menschheit. In jeder verfallenden Gesellschaft, in der die aufstrebende, unterdrückte Klasse durch ihren Kampf neue Bahnen der Entwicklung nicht auszuhauen vermag, da taucht der Glaube an einen wundertätigen Erlöser auf, die ermüdete, verzweifelte Menschheit klammert sich an die Darstellung einer mächtigen, rettenden Persönlichkeit, die durch ihre Wunderwirkung alle erlösen wird.
Das alte Volk der Hebräer erwartete seine Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei von Mose, in dem verfallenden Rom steht Christus als Erlöser auf, in den Anfängen der kapitalistischen Gesellschaft, bevor noch das moderne Proletariat auf die geschichtliche Bühne trat, suchte ein Fourier lange den Mächtigen und Reichen, der ihm helfen sollte, seinen Erlösungsplan für die Menschheit zu verwirklichen.

Uns hat der Erlöser Sozialismus den starken Hammer des Klassenkampfes und der Erkenntnis in die Hände gedrückt und zugerufen: Erlöset euch selbst!
Die Selbsterlösung der Menschheit durch den Kampf des klassenbewussten Proletariats, die Erlösung der Masse nicht durch einen wundertätigen Erlöser, sondern durch die Masse selbst, – das ist der erlösende Gedanke des Sozialismus, das unser Erlösungsevangelium.

Auch wir feiern unser Weihnachtsfest, auch wir stecken Lichter auf unseren Weihnachtsbaum, auch unter uns ist heute Freude, und Hoffnung und Glaube ziehen in unsere Herzen. Denn unsere Erlösung vollzieht sich schon mit jedem Tage, mit jeder Stunde. Hört Ihr vom Osten das Stimmengewirr und den Lärm des Kampfes? Dort brechen bereits unsere Brüder ihre schwersten Ketten, die Selbsterlösung der Masse beginnt, der zündende Blitz der sozialistischen Erkenntnis hat bereits die alte Finsternis erhellt, der starke Hammer des Klassenkampfes wird geschwungen, das Volk wird zum Schmiede des eigenen Schicksals.

Auch dort in dem heiligen Russland wurde Jahrhunderte lang Weihnachten gefeiert. In dem alten frommen Mütterchen Moskau erdröhnten alljährlich zur Geburt des Erlösers die betäubenden schweren Glocken von den vierzig mal vierzig schwerfälligen byzantinischen Kirchen mit ihren breiten, schreiend goldenen Kuppeln. In der neueren Zarenhauptstadt, in Petersburg, wurden alljährlich zur Feier der christlichen Weihnacht am Newastrande krachende Salutschüsse gegeben. Fromm bekreuzten sich dreimal mit eiliger Gebärde und besonderer orthodoxer Fingerstellung die offiziellen russischen Christen und berührten in fleißigem Erdengruß unzählige mal den Boden mit der schweißperlenden Stirn. Jahrein jahraus jubelte die russische Christenheit ob der Geburt des Erlösers, dieweil Millionen Muschiks an Hungertyphus und Skorbut starben, wegen rückstndiger Steuern mit Nagajkas [Kntteln] ausgepeitscht wurden, dieweil Hunderte Fabrikproletarier in 16stndiger Fron verkrüppelten und bei geringster Auflehnung erschossen wurden, dieweil Kibitkas mit eintönigem Schellengeläute über die unendliche Schneesteppe Sibiriens fegten und einen Schub Verbannter nach dem anderen in das große Totenhaus der Zwangsarbeit in den Bergwerken lebendig ablieferten.
Und es war knapp zwei Wochen nach dem letzten orthodoxen Weihnachtsfest, als in Petersburg der Zug der Zweihunderttausend mit dem Kruzifix in der Hand vor das Zarenschloss zog, um in des Erlösers Namen um Erlösung von der furchtbaren Sklaverei zu flehen. Noch waren die feierlichen Glockentöne der Weihnachtsfeier in den Lüften nicht verklungen, als sie von krachenden Gewehrsalven üöbertnt wurden, und des Erlsers Kruzifix senkte sich blutbespritzt zu Boden, entfiel der todesstarren Hand der Bittenden unter dem Kugelregen des allerchristlichen Zaren. Darauf ermannte sich die Volksmasse und griff zur Selbsterlösung, von der Bitte und der Hoffnung zum Kampf, vom Kruzifix zum roten Banner der Sozialdemokratie.

Ein Jahr ist seitdem verflossen, heute kehren die Weihnachten wieder, die heilige Nacht zieht im heiligen Russland herauf über einem rauchenden Trümmerhaufen der ehemaligen christlichen Zwingburg. Noch ist heiß der Kampf und furchtbar der Opfer Zahl. Doch die Erlösung, die Selbsterlösung des russischen Volkes, unser aller Selbsterlösung hat begonnen. Das rote Banner, unserer Erlösung Zeichen, flattert aus dem Kampfgewühl immer wieder siegreich in den Lüften auf und Millionen und Abermillionen Enterbter, Erlösung harrender scharen sich um die Sturmfahne auf dem ganzen Erdenrund.
Klopfenden Herzens, des Glaubens und der Hoffnung voll, senden wir heute heiße Blicke nach dem Osten und begleiten jede Bewegung der stolzen Standarte mit Jubel. Die ersten Wälle der alten Gesellschaft fangen an zusammenzustürzen, die rote Fahne führt siegreich den ersten Sturmlauf aus.

Und so feiern wir heute unser Weihnachtsfest, durch einen Abgrund getrennt von der heuchlerischen bürgerlichen Christenwelt mit ihren heuchlerischen Feiern, Gebeten und Glocken. Um unseren grünen Lebensbaum geschart, fest im Glauben und froh in der Hoffnung auf der Menschheit nahende Erlösung, gestützt auf den nie versagenden Hammer unserer Arbeit und unserer Befreiung Symbol, feiern wir unser Arbeitsfest, wir Millionen Elender und Enterbter, ein stolz und trotzig und kräftig Geschlecht und rufen der verlogenen herrschenden Christenwelt zu, wie Prometheus:

Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu kämpfen,
Zu genießen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten,
Wie ich!


Aus: Vorwärts (Berlin),Nr. 301 vom 24. Dezember 1905

Das rote Banner der Sozialdemokratie, von ihnen mit Füßen getreten, hat sich um die Füße der Parteifunktionäre geschlungen und diese zu Fall gebracht, wo die Revolution ihre Permanenz verloren hat.

Jochen

Heimlicher „Atlantiker“ ? Linker Kultursenator Lederer unterdrückt israelkritische Veranstaltung – EMPÖRT EUCH!

Man fragt sich, ob auch Klaus Lederer ein heimlicher Anhänger des Atlantik-Brücken-Netzwerkes ist, das seit jahrzehnten hier die Meinungsbildner im Sinn der aktuellen US.-Außenpolitik und der reaktionären israelischen Regierung korrumpiert. Wir werden auf die Langzeitkarriere des Herrn Lederer schauen müssen, um einsortieren zu können, wo die Abseiten seiner Motivation für diese Einflussnahme liegen.
Zu seinem Verhalten passt auch, dass er „Künstlern“ Räume eröffnet, die unter dem Einfluss islamistischer, von der CIA finanzierter Terroristen stehen – weiteres dazu demnächst, ich finde den Link gerade nicht mehr.
Auch wenn ich nicht unbedingt ein Fan von Ken Jebsen bin, finde ich es jedenfalls wichtig, das nicht so durchgehen zu lassen. Lederers Twitter-Eintrag geht über eine Meinungsäußerung hinaus und erfüllt aus meiner Sicht schon den Straftatbestand übler Nachrede.

Der Linke Wolfgang Gehrcke hat dazu einen Aufruf verfasst:

Gehrcke

Wolfgang Gehrcke

Am 14.Dezember soll im Berliner kommunalen Kino Babylon der Karls-Preis für engagierte Literatur und Publizistik an den Journalisten und Medienmacher Ken Jebsen vergeben werden.
Ob es bei dem Ort bleibt, ist derzeit unsicher, denn Kultursenator Klaus Lederer (DIE LINKE) übt Druck aus. Er schrieb am 13. November auf Twitter: Der Preisträger sei „durch offen abgründigen Israelhass, die Verbreitung typisch antisemitischer Denkmuster und kruder Verschwörungstheorien in Erscheinung getreten … Ich bin entsetzt, dass ein Kulturort in Berlin diesem Jahrmarkt der Verschwörungsgläubigen und Aluhüte eine Bühne bietet. Vom Geschäftsführer des Kinos Babylon würde ich mir angesichts dessen die Courage wünschen, zu sagen: Als Plattform für diesen Wahnsinn stehen wir nicht zur Verfügung.“
Finanziell von der Kulturbehörde abhängig, hat sich das Babylon vorerst dem Druck von oben gebeugt. Dieser Druck hat einen Namen: ZENSUR!

Wir bitten Euch und Sie:
Verbreitet den untenstehenden Text, sendet Unterschriften und Kommentare an: post@wolfgang-gehrcke.de
Die Veröffentlichung erfolgt auf www.wolfgang-gehrcke.de.

EMPÖRT EUCH!

Das Kino Babylon liegt am traditionsreichen Platz, der den Namen Rosa Luxemburgs trägt. Ihr Gedanke von der Freiheit der Andersdenkenden ist dem Kino in seiner cineastischen Tradition und politischen Arbeit nah; der Kulturort Babylon ist genau der richtige Raum, um Ken Jebsen und die Arbeit von KenFM zu würdigen.
Der Druck aus der Berliner Kulturbehörde ist das Gegenteil von der Freiheit der Andersdenken, er zeugt vielmehr von Zensur. In unserer Gesellschaft sind Freiheit der Kultur und Meinungsäußerung in höchstem Maß gefährdet. Auch in der linken Geschichte hat Zensur eine leidvolle und zerstörerische Schneise geschlagen.

Manche meinen: So ist eben DIE LINKE. Wir sagen: Das Vorgehen des Kultursenators ist weder links noch emanzipatorisch. DIE LINKE orientiert sich in ihrem Programm und ihrer Praxis so gut sie kann am freiheitlichen und kritischen Geist Rosa Luxemburgs. Der wird heute nicht zuletzt angegriffen von denjenigen, die allzu leichtfertig, dafür umso verbissener und leider auch raumgreifender kritische Geister als Verschwörungstheoretiker, Antiamerikaner, Antisemiten, Querfrontler diffamieren. Zu einem ihrer Lieblingsobjekte ist Ken Jebsen geworden.
Allein: Er ist zwar umstritten und ob seine Art und Weise oder seine Argumente im Einzelnen gefallen oder nicht, sei dahingestellt, er ist weder rechts noch antisemitisch, er stellt sich kontroversen Debatten, er hilft Griechenland, unterstützt Flüchtlinge, er ist Teil einer breiten Friedensbewegung.

Wir möchten mit Euch gegen diese Zensur protestieren und wir wünschen uns mehr gemeinsame und konzentrierte Aktionen gegen den zerstörerischen Ungeist von Stigmatisierungen und Zensur. Auch in den eigenen Reihen.

Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Christiane Reymann

Dazu ein Kommentar von Wolfgang Bittner

https://kenfm.de/der-berliner-babylon-skandal/:

Wir haben es schon seit Jahren immer mehr mit Politikern und Journalisten zu tun, die sich windschnittig im gesteuerten Mainstream etabliert haben, die Krieg als Mittel der Politik befürworten und für jede Gemeinheit und Aggression der USA Verständnis bekunden.
Zu diesem Personenkreis der sogenannten Atlantiker gehört offenbar auch der Berliner Kultursenator Klaus Lederer, der kurioserweise der Partei DIE LINKE angehört. Da wird dann das Messer gewetzt, wenn etwas nicht in die vorgegebene Ideologie passt, deren Befolgung oder sogar Verinnerlichung man seine Karriere zu verdanken hat.
Jetzt hat Lederer dafür Sorge getragen, dass die Verleihung des Kölner Karlspreises für engagierte Literatur und Publizistik (benannt nach Karl Marx) an den Journalisten und Verleger der Internetplattform KenFM, Ken Jebsen, im Kinopalast Babylon in Berlin-Mitte vertragswidrig abgesagt worden ist.

Lederer hat dazu auf Facebook geschrieben: „Wie ich heute erfahren habe, soll im Dezember im Kino Babylon die Verleihung eines Preises für ‚engagierte Literatur und Publizistik‘ an Ken Jebsen stattfinden. Der Preisträger und mehrere an dieser Veranstaltung Beteiligte sind in der Vergangenheit durch offenen, abgründigen Israelhass, die Verbreitung typisch antisemitischer Denkmuster und kruder Verschwörungstheorien in Erscheinung getreten… Ich bin entsetzt, dass ein Kulturort in Berlin diesem Jahrmarkt der Verschwörungsgläubigen und Aluhüte eine Bühne bietet. Vom Geschäftsführer des Kinos Babylon würde ich mir angesichts dessen die Courage wünschen, zu sagen: Als Plattform für diesen Wahnsinn stehen wir nicht zur Verfügung.“(1)

Das Babylon erhält jährlich eine Zuwendung von 400.000 Euro aus dem Berliner Kulturetat. Insofern ist es nicht völlig unverständlich, dass die Geschäftsführung auf das nachdrückliche Ansinnen des Kultursenators einging und den Nutzungsvertrag mit der Neuen Rheinischen Onlinezeitung, die den Preis vergibt, kündigte, zumal die Kultursenatsverwaltung auch direkt interveniert hat.
Wer Jebsen und sein Internetportal kennt, wird sich zwar über diesen Angriff auf die Kultur- und Pressefreiheit empören, aber wundern kann man sich nicht. Denn der investigativ arbeitende Journalist, der dezidiert Gegenpositionen zum Mainstream einnimmt, ist seit Längerem Persona non grata für die etablierte Politik- und Medienszene.

2007 hatte Jebsen, Jahrgang 1966, noch für eine Reportage den Europäischen Civis Hörfunkpreis erhalten. Aber 2011 wurde er dann aufgrund einer Intrige nach zehnjähriger erfolgreicher Tätigkeit als Moderator beim Rundfunk Berlin Brandenburg entlassen. Vorausgegangen war eine regelrechte Kampagne, in der ihm Antisemitismus und Holocaust-Leugnung vorgeworfen wurden.
Dass es sich dabei um eine Verleumdung handelte, war bald geklärt. In einer Meldung der Pressestelle des rbb hieß es: „Die Vorwürfe gegen den Moderator, er verbreite antisemitisches Gedankengut und verleugne den Holocaust, hält der Rundfunk Berlin-Brandenburg für unbegründet.“ Aber wer mit Dreck beworfen wird, hat Mühe, sich reinzuwaschen.

Die Konsequenz war, dass Jebsen seine Hörfunksendung KenFM als crowdfinanzierten Blog im Internet unter eigener Regie weiterführte. Er bringt seither Artikel, Interviews, Gruppendiskussionen, Monologe und Kommentare mit zumeist brisanten Inhalten. Und er ist damit außerordentlich erfolgreich.
Das Internetportal hat inzwischen etwa so viele Aufrufe wie Spiegel Online und mehr „Follower“ bei Facebook als die ARD. Es hat sich dank des enormen Engagements seines Herausgebers zu einem der wichtigsten alternativen Medienorgane in Deutschland entwickelt.
Das ist eine ernstzunehmende Konkurrenz für die sogenannten Qualitätsmedien, und viele der in die Kritik geratenden Politiker sehen es als eine ernste Gefahr für ihr Image und die von ihnen vertretene Politik an.

Dass dieser ungewöhnliche Journalist und „Macher“ preiswürdig ist, noch dazu für den einzigen alternativen Kultur- und Literaturpreis in Deutschland, steht außer Frage. Seine Veröffentlichungen, sein friedenspolitisches Engagement und seine geschliffenen, oft sehr pointierten Stellungnahmen erregen Aufsehen, die intensive Arbeit für das von ihm gegründete Internetportal trägt Früchte, auch international. Dass dies bei dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer nicht auf Wohlwollen stößt, wird verständlich, wenn man dessen Aufstieg von der PDS zum Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und schließlich – mit wessen Unterstützung auch immer – zum Kultursenator und stellvertretenden Bürgermeister der Bundeshauptstadt sowie seine bisherigen Aktivitäten betrachtet.

Es reicht jetzt. In Artikel 14 der Verfassung von Berlin heißt es ausdrücklich: „Jedermann hat das Recht, innerhalb der Gesetze seine Meinung frei und öffentlich zu äußern, solange er die durch die Verfassung gewährleistete Freiheit nicht bedroht oder verletzt… Eine Zensur ist nicht statthaft.“ Artikel 20 bestimmt: „Das Land schützt und fördert das kulturelle Leben.“
Und die Sozialistin Rosa Luxemburg hat gesagt, Freiheit sei immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht einmal das scheint Lederer, der sich als Linker geriert, begriffen zu haben.
Er ist aufgefordert zurückzutreten. Und die Partei DIE LINKE sollte ihn wegen parteischädigenden Verhaltens ausschließen, ehe sie noch mehr Wähler verliert.

Und ein Kommentar von Albrecht Müller

http://www.nachdenkseiten.de/?p=41076

Wir stehen unter der Knute des westlichen Establishments und sind die Opfer ihrer willfährigen Helfer in Deutschland – gerade auch in Medien und Gruppen, die sich wie die taz, die SZ und Lederer ein progressives Image angelacht haben.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Basis dieser undemokratischen Gängelung und Machtausübung die Propaganda ist. Dahinter stecken Strategien der Meinungsmache. Der Vorwurf „Querfront“ wurde neu belebt, um die kritischen Begleiter des Geschehens mundtot zu machen. Im konkreten Fall Ken Jebsen.
Vor einem guten Jahr Sahra Wagenknecht. Siehe hier am 14. Juni 2016: Es gibt keine linke Querfront.
Oder 2015 der Versuch des Journalisten Wolfgang Storz im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung in seiner unseligen Querfrontstudie. Die NachDenkSeiten waren davon betroffen; darüber berichteten wir hier: Unterste Schublade – eine sogenannte Studie der Otto Brenner Stiftung über das angebliche Netzwerk „Querfront“.

Mit diesen Hinweisen will ich belegen, dass diese Art von Etikettenverteilung von langer Hand geplant und umgesetzt worden ist.
Und wie damals die Otto-Brenner-Stiftung, also eine eher fortschrittliche Einrichtung, eingesetzt wurde, um die NachDenkSeiten, Daniele Ganser und Ken Jebsen zu diffamieren und mundtot zu machen, so geschieht es heute mithilfe eines Berliner Senators, der der Linkspartei angehört, und mithilfe eines Blattes, der taz, von der immer noch gutmeinende Menschen glauben, sie sei ein fortschrittliches kritisches Blatt. Dort schreiben Autoren, die sich kritisch geben und es wohl auch sind.
Aber sie sehen nicht, welche Rolle sie spielen: die Rolle eines Alibis, das für Glaubwürdigkeit sorgen soll.
Oder sie sind so unter beruflichem Druck, dass sie gar nicht anders können, als ihren guten Namen für eine miese taz einzusetzen.
Ich verstehe das sogar. Aber wir alle sollten diese Hintergründe kennen.

Einen Kommentar von Jens Berger zur Querfrontkampagne und der dadurch beabsichtigten Zersetzung linker solidarischer Gemeinschaften habe ich schon 2015 hier veröffentlicht: https://josopon.wordpress.com/2015/11/06/es-geht-darum-die-linke-gegenoffentlichkeit-zu-zerstoren-im-gesprach-mit-jens-berg-er-nachdenkseiten/

Einen weiteren Kommentar hat Jochen Mitschka auf Rubicon veröffentlicht: https://www.rubikon.news/artikel/pseudolinke-neocons

Pseudolinke Neocons

Linke, die in der Tradition der Nachkriegs-Sozialdemokratie oder des Marxismus aufgewachsen sind wie ich, standen ungläubig vor der Bewegung, die sich heute als „Links“ bezeichnet und von der „Revolution“ redet. Wie konnte es sein, dass sie Deutschland am liebsten in einem neuen Bombenhagel verbrannt sehen oder, in der EU aufgehend, als Nation für immer ausgelöscht sehen möchten? Wie kann es sein, dass sie einerseits „Nationalismus“ ablehnen, aber andererseits den Israels und der USA toll finden, dass sie ein Israel, welches zum Apartheidstaat mutiert, von jeder Kritik ausschließen und für unantastbar erklären, egal wie groß die Verbrechen sind? Wie kann es sein, dass sich „Linke“ nicht durch ermüdende Überzeugung und Diskurs, sondern Indoktrination, Verleumdungen, notfalls Gewalt durchsetzen wollen? Und wie kann es sein, dass sie stärker an die Fleischtröge der staatlichen Subvention streben und sich gerne von denen bezahlen lassen, die sie angeblich ablehnen, als in die Fabriken und Büros, um mit den normalen Menschen zu reden? Und wem nützen sie schlussendlich? Der derzeitige Höhepunkt der neolinken Agitation ist die Verleumdung von Friedensaktivisten und die Verhinderung der Preisverleihung an Ken Jebsen in Berlin, ausgerechnet durch einen Regierungspolitiker der Linkspartei.

Der Widerstand

Alles beginnt damit, dass wir uns der Wort- und Meinungsinquisition widersetzen. Progressive sollten begreifen, dass sie, um „progressiv“ zu sein, sich gegen die Bevormundung einer Interpretation der eigenen Meinung durch Andere, widersetzen und darauf bestehen müssen, dass nur die eigene Interpretation diejenige ist, die mit dem genutzten Begriff in Verbindung mit ihnen verwandt werden kann. (Verständlicherweise tun sich jene damit schwer, eigene Ideen über die Bedeutung ihrer Worte zu entwickeln, die glauben, bereits zum Establishment zu gehören oder von ihm zu profitieren.)

  1. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Menschen wegen einer Meinung in eine anrüchige Ecke gestellt werden, weil man ihnen ihre Worte interpretiert und nicht zulässt, dass sie sie selbst interpretieren. Wenn Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine selbst von Jakob Augstein in eine rechte Ecke gestellt werden, nur weil sie wagen, etwas auszusprechen, das auch dem politischen Gegner gefällt, müssen wir aufstehen und dem entgegentreten. Verschämt wegschauen und hoffen, dass man nicht selbst einmal erwischt wird, ist der Beginn vom Ende der Freiheit.
  2. Wer also etwas verändern will, muss a) die Schere im Kopf vermeiden und b) auch jedem politischen Wettbewerber zubilligen, seine Worte SELBST zu interpretieren. Wir müssen uns die Interpretationshoheit über unsere Worte wieder zurückholen.
  3. Als im Kaiserreich Kritik am Herrscher durch das Lèse Majèsté bestraft wurde, verstießen, um es dann schließlich dadurch zu Fall zu bringen, tausende von Journalisten mit unterschiedlichsten politischen Meinungen bewusst dagegen, ließen sich auch dafür sogar ins Gefängnis sperren. Wir müssen wieder mit höherem Einsatz in den Diskurs über die Deutungshoheit über eigene Aussagen und damit für die Meinungsfreiheit gehen. Auch wenn wir Niederlagen riskieren, das heißt: Schmähungen, Verleumdungen, persönliche Angriffe. Wer die Verleumdungen des Friedensforschers Daniele Ganser selbst in Wikipedia verfolgte, wird verstehen, was ich meine.
  4. Seine Meinung zu vertreten bedeutet aber auch, immer bereit zu sein, Argumente dagegen abzuwägen, denn sonst fällt man in eine geistige Verhornung, die zu einer anderen Art der Versteinerung von Vorurteilen führt, die im Ergebnis eine Art innere Interpretationsinquisition wird.

Jochen

Daniela Dahn: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Fluchtursachen schweigen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute auf den NDS die von mir sehr geschätzte Daniela Dahn. Sie fordert u.a. eine Fakultät für Atheismus:

http://www.nachdenkseiten.de/?p=30582

Verantwortlich: Jens Berger

Kaum einer kennt einen. Doch alle reden über sie. Sie sind anders. Nicht wie wir. Gefährlich. Und auch für Köln verantwortlich, wie man meint. Die Flüchtlinge. Aber warum flüchten Menschen überhaupt? In welchem Kontext findet die aktuelle Debatte statt? Und was verschweigen die Leitmedien uns? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit der Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn, die meint, dass das Gegenwärtige längst unhaltbar sei und daher gelte: „Solidarisches Gemeinwesen oder Barbarei“.

und das ist erst der anfang

Frau Dahn, die im Dezember bei Rowohlt herausgegebene Anthologie „Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge“, erscheint nun schon in der 5. Auflage. Auch Sie mischen sich darin mit einem Beitrag in die Debatte ein. Eine Debatte, die seit Silvester gekippt ist.

Ja, die Geschichte von den potenten arabischen Sextätern und den impotenten Polizei-Nichtstuern kam mächtigen und ohnmächtigen Kreisen, die möglichst viele Flüchtlinge abschieben und an der Einreise hindern wollen, wie gerufen. Wie hier mit dem Leid der betroffenen Frauen Stimmung gemacht wurde, hat für mich eine neue Qualität von Einflussnahme auf politische Debatten.

Nachdem die Polizei für ihre verbale und praktische Zurückhaltung kritisiert wurde und es zu schnellen Entlassungen kam, war nur noch satisfaktionsfähig, wer nachträglich voll zuschlug. Die Schlagzeilen sprachen von barbarischer Silvesternacht, von Horror, Albtraum, Gewaltexzessen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Besonders in den sogenannten sozialen Medien war mehrheitlich Schluss mit Willkommenskultur.

Die Hassbotschaften gingen nicht nur unter die Gürtellinie, sie waren derart unterirdisch, dass viele Portale geschlossen werden mussten. Ich muss sagen, mir hat das mehr Angst gemacht als die eigentlichen Vorkommnisse. Ein paar Dutzend, vielleicht ein paar hundert ausländische Täter wurden instrumentalisiert, um einen Schatten des Vorurteils über eine Million Flüchtende zu werfen. Vertreter ausnahmslos aller Parteien sorgten sich um ihre Wählerschaft und versprachen konsequenter zu strafen und abzuschieben.
Selbst der sonst so bedachtsame Justizminister gab unbewiesene Verdächtigungen ab, was ein Jurist unterlassen sollte.

Die Taten sind aber doch durch Anzeigen belegt. Unterstellen Sie, dass die Dynamik der Ereignisse einerseits aufgebauscht und andererseits Bedenkenswertes verschwiegen wurde?

Wer Überlegungen darüber anstellt, mit welchen Mitteln in Geschichte und Gegenwart Interessen durchgesetzt werden, bekommt seit einiger Zeit sofort die Totschlagskeule Verschwörungstheoretiker übergezogen – ein selten dämlicher Vorwurf. Darüber war ja auf den Nachdenkseiten immer wieder Erhellendes zu lesen.

Natürlich gibt es Verschwörungen auf dieser Welt. Die Anschläge vom 11. September waren auf jeden Fall eine weit verzweigte Verschwörung. Fragt sich nur, von wem genau. Theorien darüber können gut oder schlecht sein, sie sind aber keinesfalls unnötig und von vornherein verdammenswert.

Was nun Anzeigen betrifft so sind sie, auch das weiß jeder Jurist, zunächst Schuldzuweisungen, keine Beweise. Die Häufigkeit der Anzeigen erhöht natürlich ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Beweiskraft. Die entwürdigenden Übergriffe sind überhaupt nicht zu bezweifeln oder in ihrer Erbärmlichkeit zu verharmlosen.
Dennoch fällt auf, dass naheliegende Fragen, deren Beantwortung von dem abweichen könnte, was zur Zeit gehört werden will, nicht verfolgt werden.

Zum Beispiel?

Es ärgert mich, wenn nur im Netz fundierte Analysen darüber zu finden sind, woher auf Twitter Hashtags wie Arrest Merkeloder Merkel Has To Go kommen, wer sie womöglich aufgreift und weiterverbreitet und welche nachvollziehbaren politischen Großziele dahinter stehen könnten, die bis zu Merkels in letzter Zeit reservierten Haltung gegenüber den privaten Schiedsgerichten bei TTIP reichen.
Es ist offenbar leicht, den Volkszorn aufs Grapschen „maghrebinischer Wüstlinge“ zu lenken, um das ganz große Grapschen der Wirtschaftseliten politisch zu ermöglichen. Abstrakt über Cyber-War zu schreiben, gilt als Beleg für Durchblick, konkreten Beispielen nachzugehen und Interessen offen zu legen, ist zu heiß. Wer meint, der Tatort spiele nur am Kölner Hauptbahnhof, ist wohl dem Böller-Nebel erlegen.

Aber auch in Köln ist noch viel Widersprüchliches unaufgeklärt …

Richtig. Peter Pauls vom Kölner Stadtanzeiger sprach von „Bildern, die die Welt erschüttern“. Da ist einem wohl was entgangen, wenn man den Kölner Stadtanzeiger nicht liest.
In den überregionalen Medien habe ich bisher kein einziges Bild gesehen, das mich erschüttert hat. Ich sehe auf dem Bahnhofsvorplatz dunkle Gestalten im spärlichen Licht von Laternen stehen, die Böller werfen. Ganz normale Silvester-Bilder. Ich sehe sie weder rennen, noch raufen noch saufen. Die zwei Videos, die widerliche Übergriffe auf blonde Frauen zeigten, stammten vom ägyptischen Tahrir-Platz und aus Budapest.
Dabei ist doch vollkommen unumstritten, dass die sexuellen Übergriffe und Taschendiebstähle stattgefunden haben, dass es unmittelbar vor dem Bahnhof, da wo die meisten Kameras installiert sind und es am hellsten ist, die reisenden Frauen dem Spießrutenlauf hilflos ausgesetzt waren. Warum dauert das Auswerten der Überwachungsbilder derart lange? Warum ist eine Hundertschaft bewaffneter Polizisten nicht mit Gruppen unbewaffneter Männer fertig geworden?

Glauben Sie, dass Informationen bewusst zurück gehalten werden oder darauf verzichtet wird, sie überhaupt zu recherchieren?

Die Kollegen von Hintergrund.de schreiben auf ihrer Seite, es dränge sich der Eindruck auf, dass die Polizei nicht hilflos war, sondern hilflos gemacht wurde. Es sei um eine mutwillige Demonstration staatlicher Machtlosigkeit gegangen, um die Asylgesetze und die Überwachung zu verschärfen, und die Stimmung gegen Merkel zu wenden. Die Redaktion zitiert hierzu den einstigen CDU-Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer mit der Bemerkung, man müsse stets an die nachrichtendienstliche Komponente bei der Vorbereitung und Durchführung derartiger Abläufe denken. Was immer das heißen mag.
Bei solchen Erwägungen bewegt man sich natürlich immer am Rande der Lächerlichkeit, weil man gegenüber Geheimdiensten nie oder erst Jahre später etwas beweisen kann. Und es ist journalistischer Grundsatz, über Unbeweisbares nicht zu schreiben. Die Alternative ist, sich alles bieten zu lassen.

Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner?

Gern. Eine Kölner Kollegin erzählte mir von einem Gespräch mit einem Polizisten, der sich ihr gegenüber beklagte, dass unter den Anzeigenden viele Trittbrettfahrerinnen aus dem rechten Milieu und sich in lauter Widersprüche verwickelnde Wichtigtuerinnen seien. Ein Interview oder auch nur eine Namensnennung lehnte er vehement ab, die Polizisten sind nach all der Kritik extrem verunsichert. Lieber lassen sie sich Unfähigkeit nachsagen als anzuecken.
Gab es Interviews mit den normalen Streifenpolizisten der Silvesternacht? Die Öffentlichkeitsarbeit ist auf zwei, drei Chefs reduziert. Nachdem in den rechten Seiten im Netz geradezu angestachelt wurde, jetzt nicht feige zu sein, sondern die Gunst der Stunde zu nutzen, um den „arabischen Sex-Mob“ kaltzustellen, wäre doch aber naheliegend gewesen, dass Journalisten zum Thema Anzeigen und Stimmungsmache recherchieren.

Auf YouTube findet man das Video eines jungen türkischen Bloggers, der zeigt, was für Leute auf Facebook mit ihren Videos und Gepostetem zu den ersten Stimmungsmachern gehörten. So Ivan Jurevic, Anhänger der Tea-Party, Schauspieler bei Privatsendern wie RTL, Sat.1 oder ProSieben, Kölner Türsteher, der sich im Video damit brüstet, schutzbedürftige Mädchen in seiner Kneipe aufgenommen und „Flüchtlinge weggeklatscht“ zu haben.
Ich kann das nicht überprüfen, ich stelle nur fest, dass sich die großen Medien um solche vermeintlichen Nebensächlichkeiten nicht kümmern. Wichtige Fragen werden nicht gestellt.

Kümmern sie sich denn noch um die Hauptsächlichkeiten? Im Herbst hatten wir eine nicht unwichtige Debatte über die Beseitigung von Fluchtursachen. Droht die nicht nun, im Gerangel um Obergrenzen, Quoten, Abschiebungen und Merkel-Rücktrittsforderungen unterzugehen?

Damit kommen wir zum eigentlichen Thema meines eingangs erwähnten Essays, ein Thema, zu dem ich mehr beitragen kann, als nur Fragen zu stellen.

Merkels humane Haltung gegenüber Flüchtlingen gilt als unklug und naiv. Ich halte dagegen alle für naiv, die sich weigern zu begreifen, dass wir einen Point of no Return erreicht haben. Es gibt kein Zurück mehr. Es ist ignorant, nicht wahrhaben zu wollen, dass die Flüchtlinge uns eine Lektion erteilen: Es war eine Lebenslüge zu glauben, ein kleiner Teil der Welt könne auf Dauer in Frieden und Wohlstand leben, während der Großteil in von den westlichen Eliten mitverschuldeten Kriegen, Chaos und Armut versinkt. Dass sich eine Völkerwanderung früher oder später in Bewegung setzen würde, haben wir geahnt. Eigensüchtig haben wir gehofft, es würde später losgehen.

Wie sehr der Wohlstand im wohlhabenden Westen, gerade auch in Deutschland, auf Kosten anderer geht, wollten wir so genau nicht wissen. Die Unerträglichkeit auf der anderen Seite hat inzwischen ein Maß erreicht, an dem kurzfristig nichts zu ändern ist. Die meisten Fluchtursachen sind so gravierend, dass sie für Generationen irreparabel sein werden. Selbst dann, wenn man sich in der EU oder der UNO wider Erwarten sofort auf einen Plan zu ihrer Beseitigung einigen könnte. Das ist nicht fatalistisch, sondern realistisch.

Wenn wir nicht ein eingemauertes Land in einem Europa sein wollen, dessen Strände eingezäunt sind, an dessen Grenzen geschossen wird und in dem Orwell´sche Überwachung herrscht, dann müssen wir uns damit abfinden, dass die Wanderungsbewegung nicht aufzuhalten ist.

Im Gegensatz zu weit verbreiteten Meinungen, „die Globalisierung“ oder „Diktatoren vor Ort“ seien an den aktuellen Fluchtbewegungen schuld, argumentieren Sie, der Westen trage einen Gutteil der Verantwortung selbst…

Die Globalisierung ist ja keine Naturgewalt, sondern Menschenwerk. Ein Prozent der Weltbevölkerung hat heute mehr Vermögen als der „Rest“ von 99 Prozent. Die Globalisierung begann bereits mit Kolonialismus und Sklavenhandel, in dem fünfzig Millionen Afrikaner verschleppt oder getötet wurden und mit ihrer nie entschädigten Schinderei den Reichtum des Westens mitbegründet haben.
Und sie reicht bis zu den imperialen Angriffskriegen der Neuzeit gegen Jugoslawien, den Irak und Afghanistan. Zu meinem Entsetzen bomben wir nun auch in Syrien und Libyen mit.
Das alles hat mentale und praktische Konsequenzen bis heute. Das Vergangene ist bekanntlich nicht vergangen. Der Schnee von gestern ist die Flut von heute.

Sie sehen den Grund für die Fluchtbewegung in einer Art Neokolonialismus?

Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch von der Beseitigung von Fluchtursachen schweigen. Die größten Flüchtlingslager sind heute in Afrika, von wo künftig die meisten Fliehenden zu erwarten sind. Die reichen G8-Staaten nutzen den Kontinent als Produktionsbasis für die Bedürfnisse des westlichen Marktes. Einheimischer Bedarf ist für sie ohne Belang. Sie haben von korrupten afrikanischen Führern hunderte Millionen Hektar erworben oder langfristig gepachtet, damit multinationale Konzerne Getreide und Mais nicht etwa für die Hungernden verarbeiten, sondern daraus „Biosprit“ für ihre westliche Kundschaft produzieren können. Deutschland ist in Äthiopien dabei.

Der Neokolonialismus funktioniert über gekaufte Gesetze, die ausländische Investoren begünstigen, etwa beim Land Grabbing. Oder durch Handelsschranken, die Afrikaner vom globalen Wettbewerb ausschließen. Sie verlieren allein durch den Agrarprotektionismus der US-Amerikaner, Europäer und Japaner jährlich rund 20 Milliarden Dollar – das Doppelte der Entwicklungshilfe, die nach Afrika fließt. Millionen bäuerliche Existenzen werden zerstört.
Und dann fallen die sogenannten Geierfonds über die Staaten her, die Kreditschulden billig aufkaufen, um die Länder über private Schiedsgerichte zur Rückzahlung mit Zins, Zinseszins und Verzugszinsen zu verklagen. Sambia, eines der allerärmsten Länder, ist so vom US-Fonds Donegal geschädigt worden, der dabei eine Rendite von 700 Prozent verbuchen konnte.

Solche Praktiken hinterlassen ja auch erhebliche immaterielle Schäden

Ja, und zwar nachhaltige. Der alte und neue Kolonialismus hat über vier Jahrhunderte in seinem rücksichtslosen Missionierungs- und Ausplünderungswahn die heimischen Traditionen und Werte der Unterworfenen ausgemerzt. So ist unter den Betroffenen ein kollektives Trauma zurück geblieben, das die behauptete Minderwertigkeit verinnerlicht hat. Fatalismus und mangelndes Selbstvertrauen sind weit verbreitet. Die eigene Kultur wird meist nicht geschätzt. Was Würde ist, hat man kaum erlebt.

Drei Viertel der Afrikaner leben in Armut, obwohl der Kontinent reich an Rohstoffen, Energiequellen und Arbeitskräften ist. In vielen Regionen liegt die Arbeitslosigkeit bei über 70 Prozent. Studien haben nachgewiesen, dass die meisten Länder, gerade Schwarzafrikas, in den nächsten 50 Jahren keine Chance haben werden, ihren Lebensstandard zu verbessern. Jeder, wirklich jeder von uns würde unter solchen Bedingungen fliehen.

Aber die Menschen fliehen, wie wir aus den Medien täglich erfahren, doch vor allem vor ihren Diktatoren vor Ort …

Sicher, man kann die Erklärung für das ganze Elend in Afrika und anderswo nicht nur in den Kolonialschoß legen. Überall in Afrika und dem Nahen Osten trifft man Menschen, die die eigene Elite äußerst kritisch beurteilen.
Es geht mir nicht um monokausale Geschichtsschreibung, sondern um die Aspekte, die in der Debatte gern verdrängt werden und deshalb im öffentlichen Bewusstsein unterrepräsentiert sind. Dazu gehört auch, genauer zwischen Aktion und Reaktion zu unterscheiden, also was folgt woraus?

Afrikanische Intellektuelle werfen ihren Diktatoren zurecht vor, sie seien brainwashed vom Kolonialgebaren, wirtschafteten alles in die eigene Tasche und kümmerten sich nicht um die Nöte ihrer Völker.
Da könnte man sich ja getrost zurück lehnen: überall dasselbe. Man kann aber auch nach der Kränkung fragen, die die Demütigung jahrelangen Beherrschtwerdens nur noch durch Selberherrschen kompensierbar macht. Ganz nach Camus: „Wer lange verfolgt wird, wird schuldig.“ Für mich ein Schlüsselsatz.

Danach hätten die Neokolonisatoren selbst für die Machtversessenheit und Korruptheit vieler afrikanischer Politiker eine Mitverantwortung. Zumal sie deutliche Zeichen gesetzt haben, dass sie gegenüber westlichen Interessen willfährige Diktatoren wünschen, keine Demokraten.

Mit dem Sturz des iranischen Premiersministers Mohammed Mossadegh, der bestialischen Ermordung des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba nach einem Plan der CIA und der einstigen Kolonialmacht Belgien, mit der Bombardierung des chilenischen Präsidentenpalastes beim Putsch gegen Salvadore Allende, bei der Unterjochung der Befreiungsbewegung in Nicaragua und vielem mehr, hat der Westen und haben, allen voran die USA, in den Entwicklungsländern schwere historische Schuld auf sich geladen. In den 27 Jahren, in denen Nelson Mandela im Kerker saß, war Südafrika ein enger Verbündeter der Bundesrepublik.

Nun ist aber eine neue Dimension hinzugekommen, der Kampf gegen Terrorismus und Islamismus. Mit dem Rückständigen an sich, wie behauptet wird.

Wer definiert, was rückständig ist? Natürlich ist jede Art von Gewalt und Fanatismus mit Fortschritt unvereinbar.
Aber war es nicht auch überaus rückständig, auf die schrecklichen Anschläge vom 11. September nur mit der alttestamentarischen, archaischen Blutrache zu antworten?
Rückständig, die Anschläge nicht rechtsstaatlich als das zu behandeln, was sie waren, nämlich Schwerstkriminalität, sondern von der „Koalition der Willigen“ einen „Krieg gegen den Terror“ auszurufen?
Wenn überhaupt, sieht das Völkerrecht militärische Verteidigung gegen Staaten vor, nicht gegen irgendwelche Banden, von denen man nicht mal weiß, in welcher Wüste genau sie sich eigentlich aufhalten.

So ist das verarmte Afghanistan, das sich kaum von der sowjetischen Invasion erholt und als Staat nichts mit den Anschlägen zu tun hatte, erneut ins Elend gestürzt worden. Und nach ihm sind unter heftiger Desinformation von Geheimdiensten der Irak, Libyen und nun Syrien ins Chaos gebombt worden.
Der Krieg gegen den Terror gebiert nur eins: Terror. Er destabilisiert eigene Entwicklungswege und wird in vielen arabischen Ländern als Instrument des Westens angesehen, anderen Kulturen eigene, gesellschaftspolitische Normen überzustülpen und sich die Welt untertan zu machen. Aber nun wird immer deutlicher: Wer Kriege säht, wird Flüchtlinge ernten.

Kann und sollte Deutschland eine Millionen Menschen überhaupt aufnehmen?

Niemand kann eine Zahl aus dem Ärmel schütteln, sehr viel kleinere und ärmere Länder wie der Libanon oder Jordanien sollten uns beschämen, mit den vielen Millionen, die sie aufgenommen haben. Das ist eine Frage des politischen Willens. Hierzulande werden zwei Begrenzungsgründe diskutiert – die kulturellen und die ökonomischen.

Auch nach Köln sind für mich die Pegida-Ängste vor Überfremdung und Islamisierung irrational und fremdenfeindlich. Dass wir jetzt massiv über den zivilisierten Umgang mit Frauen reden, sollen nicht nur die betreffenden einreisenden Männer zur Kenntnis nehmen und sich danach benehmen, wir sollten diese Diskussion auch als Chance und Notwendigkeit für die Defizite in unserer Kultur anerkennen. Es werden oft die falschen Geschichten erzählt.

Eine Freundin von mir hat als junges Mädchen im katholischen Spanien unter der Franco-Diktatur gelebt. Das war auch eine Zeit bigotter Prüderie, es durfte kein Aktbild gezeigt werden, wer sich öffentlich umarmte oder küsste konnte verhaftet werden. Eine neurotisierte Gesellschaft, die sich im Verborgenen austobte. Wenn meine Freundin ins Kino ging, so erzählt sie, wusste ihre sie begleitende Mutter gar nicht, auf welche Seite sie sich setzen sollte, um ihre hübsche Tochter vor Grapschereien zu bewahren. Wenn sie nach der Schule in den Bus steigen musste, hatte sie sich mit ihrer Freundin eine Strategie ausgedacht: Sie stellten sich Rücken an Rücken und hielten die Bücher vor die Brust.
Nach Francos Tod normalisierte sich die Lage. Eine Erfahrung, die noch nicht so lange her ist, als dass man nicht wissen könnte, dass unwürdiges Verhalten gegenüber Frauen weder an Regionen, noch an Religionen gebunden ist. Stattdessen immer an Politik.

Die sexuelle Befreiung und Emanzipation werden Sie den 68ern aber nicht absprechen?

Flächendeckend funktioniert sie dennoch nicht. Nehmen sie doch nur die Meldungen der letzten vier Wochen: Sexueller Missbrauch und hunderte Misshandlungen an den katholischen Regensburger Domspatzen aufgedeckt. In Berlin werden jährlich 76.000 Menschen auf der Straße Opfer von Raub, Körperverletzung oder sexuellem Missbrauch.
Wobei sich sexuelle Übergriffe noch häufiger zu Hause abspielen. Im Jahr 2014 waren in der Hauptstadt fast 10.000 Frauen von häuslicher Gewalt betroffen. Die Berliner Frauenhäuser sind wie in allen Großstädten und Ballungsgebieten hoffnungslos überfüllt, betroffene Frauen werden abgewiesen und müssen zu ihren Peinigern zurück. Die Politik kümmert sich ungenügend darum.

Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes sind in Deutschland jährlich mehrere Zehntausend Frauen von Menschenhandel zum Zwecke sexuellen Missbrauchs betroffen. Die Dunkelziffer ist so hoch, weil die Frauen sich schämen oder sich nicht wagen Anzeige zu erstatten. Im Jahr 2014 konnten 557 Opfer ermittelt werden, die meisten aus Rumänien und Bulgarien, fast ein Viertel aber auch aus Deutschland, einige aus Ungarn, Polen, der Slowakei und der Türkei. Fast die Hälfte der Opfer war unter 21 Jahren, 57 minderjährig, 5 sogar unter 14 Jahren.
Einen öffentlichen Aufschrei ist all das nicht wert. Aber über die Übergriffe auf deutsche Frauen in Köln soll die Welt erschüttert sein. Das ist doch bigotte Heuchelei.

Wir sollten also das Thema Sexualität auch selbstkritisch aufgreifen?

Durchaus. Vielleicht sollten wir auch mal über das Gegenteil reden, nämlich welche Missverständnisse unsere enthemmte öffentliche Feierkultur bei Fremden auslösen kann. Zwar höre ich jetzt schon den Vorwurf des Relativierens und damit angeblich Verharmlosens. Aber diesem dümmlichen Denkverbot habe ich mich nie gebeugt. Ich relativiere, so oft ich nur kann, weil man überhaupt nur durch Denken in Zusammenhängen, durch Setzen von Geschehnissen in Relation zu Vergleichbarem, der Gefahr des Verharmlosens oder Dämonisierens entgeht.
Nur so kommt die Wissenschaft, die Justiz, die Essayistik und jeder denkende Mensch zu belastbaren Schlüssen.

Also: Nach lustigen Knutschereien und Besäufnissen beim Münchner Oktoberfest gibt es jedes Wochenende etwa 150 sexuelle Nötigungen. Allein der kurze Weg zur Toilette sei der reinste Spießrutenlauf, schrieb die SZ am 29.9.2011. Umarmungen von besoffenen Männern, Klappse auf den Hintern, hochgehobener Dirndlrock und absichtlich ins Dekolleté geschütteter Bierschwall sei die normale Bilanz dieser 30 Meter. Am Security Point wird den Frauen geraten, das Fest keinesfalls allein oder mit Unbekannten zu verlassen.
Die Täter seien nie konsequent zur Rechenschaft gezogen worden, hat Bundesrichter Thomas Fischer in seiner einzigartigen Kolumne betont. Und er hat auch die Statistik vom Kölner Karneval 2014: Allein im Zülpicher Viertel gab es 55 Strafverfahren wegen Körperverletzung, die auch bei sexueller Nötigung passiert, wegen Taschendiebstählen und Raub.
Hat man vom Karneval je am laufenden Meter Interviews mit Kölner Opfern gesehen? Mit dieser Diskrepanz in der Berichterstattung bedienen unsere Medien rassistische Vorurteile.

Sie sehen also in Verhalten, das sich auf den Islam beruft, gar keine spezifische Herausforderung?

Doch, in manchen Punkten bin ich auch unversöhnlich. Ich bin für ein Verbot von Burka und Nikab, weil es eine spezifische Form der Gewalt gegen Frauen ist. Für mich erfüllt diese Sitte den Straftatbestand der Körperverletzung, wenn nicht der Folter. Widersprechen sollte mir keine und keiner, die und der nicht selbst unter glühender Sonne einen Vollschleier aus dem üblichen Kunststoff getragen hat.
Ich habe das im Jemen versucht. Bei jedem Atemzug legt sich der luftundurchlässige Stoff vor Mund und Nase und löst Atemnot aus. Unter den Schweißausbrüchen glaubte ich zusammen zu brechen.

Viele Trägerinnen leiden unter Ekzemen, wie mir Ärztinnen sagten. Es ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, mit schweren gesundheitlichen Folgen. 90 Prozent unseres lebensnotwenigen Vitamin D wird über die UV-Strahlung in der Haut gebildet. Das verhindert der Stoff ähnlich wie Fensterglas. Ohne direktes Sonnenlicht auf der Haut wird das Immunsystem geschwächt, die betroffenen Frauen werden anfälliger für Grippe, Osteoporose, Krebs, Herzinfarkt, selbst für Depressionen und Demenz.
Insofern ist diese Kleiderordnung keine Privatsache, mit ihrem frauen- und männerfeindlichen Menschenbild hat sie eine gesellschaftliche Dimension, die mit Religionsfreiheit nichts zu tun hat.

Und es gibt noch etwas, was mich nervt. Die Mehrheit der Deutschen sind Atheisten oder Agnostiker. Uns wird die Beschäftigung mit Religion im öffentlichen Diskurs zunehmend aufgedrängt.
Ich wünschte mir, wie etwa auch Salman Rushdie, dass Religionen nach den Maßgaben der Aufklärung wieder stärker zur Privatsache werden.
An Universitäten soll nun Islam-Wissenschaft gefördert werden. Na bitte schön. Die gleichen Finanzmittel sollte dann aber auch eine zu gründende Fakultät für Atheismus bekommen.

Die Religionen haben keinen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Humanismus und Moralität. Natur- und geisteswissenschaftlich orientierte Freidenker müssen hörbar mitreden.
Eine solche Fakultät sollte sich auch wissenschaftlich mit Religionskritik befassen. Dort könnten erstmalig repräsentative Studien über die Motive von Terroristen und Selbstmordattentätern gemacht und so andere Strategien der Überwindung als Bomben angeboten werden.

Womit wir abschließend zu den wirtschaftlichen Vorbehalten gegen Flüchtlinge kommen. In Ihrem jüngsten Buch „Wir sind der Staat. Warum Volk sein nicht genügt“, beschreiben Sie nicht nur die inhumane Funktionslogik des Kapitalismus, sondern auch die Gebrechen des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie. Verteidigen Sie trotz dieser Gebrechen Merkels „Wir schaffen das“?

Ich hatte bisher wenig Grund, die Harte-Harke-Politik der Kanzlerin zu loben. Jetzt aber zeigt sie zu meiner Überraschung protestantische Nächstenliebe, gepaart mit mutigem Beharrungsvermögen und pragmatischer Klugheit. Sie hat verstanden, dass wir gar keine andere Wahl haben, als das zu schaffen.
Die Wirtschaftsverbände schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, bei der Vorstellung von Grenzkontrollen, die das kapitalistische Herzstück, den Warenverkehr, erheblich behindern würden. Sie wissen, dass junge, dynamische Zuwanderer den Mangel an Fachkräften und die Probleme einer altersdominanten Gesellschaft mildern können, dass sie Nachfrage und Wachstum schaffen.
Noch sind längst nicht alle leerstehenden Kasernen, Plattenbauten und Fabrikgebäude erfasst. Sicher, sie wohnlich zu machen, kostet Geld, genauso wie die Ausbildung und Versorgung der Geflüchteten.
Die Frage, woher wir dieses Geld nehmen, wird entscheiden, ob wir das schaffen.

Der Vorschlag des Finanzministers, europaweit die Benzinsteuer zu erhöhen, gießt Öl ins Feuer. Das trifft nicht nur die Autofahrer, sondern wieder mal alle kleinen Leute, die den unvermeidlich steigenden Preisen für Waren und Dienstleistungen nicht ausweichen können.

In einem sind die Pegida-Ängste ja berechtigt: Kapitalismus kann nichts anderes, als Umverteilung von unten nach oben. Privatleute besitzen in Deutschland ein Gesamtvermögen von mehr als 11 Billionen Euro. Das ist etwa so viel wie die jährliche Wirtschaftsleistung der gesamten EU.
Da wäre doch eine gesetzliche Solidaritätsabgabe von Milliardären für ausländische Neubürger recht und billig. Das gebieten die westlichen Bereicherungsmechanismen.
Aber das einzugestehen, widerspricht kapitalistischer Funktionslogik.

Unser Recht ist die Scharia der Konzerne. Im Grunde haben wir keine Flüchtlingskrise, sondern eine Besitzstandswahrungskrise.
Wir haben noch nicht begriffen, dass nicht nur die Ausländer sich bei uns integrieren müssen, sondern auf verträgliche Weise auch die Reichen in eine Welt der Armut und des Elends.

Bischof Tutu hat schon vor Jahren eine neue Weltordnung verlangt. Der Papst ist auch so zu verstehen. Es gibt keine systemimmanente Lösung mehr. Die Krise wäre zu schaffen, aber nicht mit dieser CDU/CSU und Europas Konservativen.
Die Alternative liegt links von der Mitte, das ist Chance und Herausforderung. Aber ich befürchte, die Linken, die sozialen Bewegungen und die Aktivbürger werden die Chance sorgenvoll verschlafen.

Entweder gibt es jetzt sehr rasch linke Antworten auf die Krise – oder der Weg in den totalitären Staat wird kaum mehr aufzuhalten sein. Stimmen Sie dem zu, mit Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Barbarei?

Ich zitiere Ihnen den Schluss meines Essays, das Anlass dieses Gespräches war:
„Weltweit sollen die Superreichen über 100 Billionen Euro verfügen. Wenn sie für die Stabilität des Weltgefüges 10 Prozent abgeben, können sie 90 Prozent behalten. Sonst vielleicht nichts. Eben weil das Vergangene nicht vergangen ist. Das Gegenwärtige nicht haltbar. Und das Künftige nicht gesichert. Solidarisches Gemeinwesen oder Barbarei.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Daniela Dahn ist Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Bei Rowohlt sind bislang zehn Essay-Bücher erschienen, zuletzt „Wehe dem Sieger!“ und „Wir sind der Staat!“. Mehr von ihr unter danieladahn.de.

kontext_tv_banner_grossWeiterlesen:

Ein Foto schreckt die Öffentlichkeit auf – Aylan -Stunde der Heuchler

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wichtige Ergänzung zu meiner vorigen Veröffentlichung. Bitte um Diskussionen!
http://www.jungewelt.de/2015/09-04/046.php

Von André Scheer
Das Bild geht um die Welt: Ein kleiner Junge liegt tot an einem Strand in der Türkei. Zahlreiche Medien zeigten die Aufnahme oder brachten das Foto, auf dem ein Polizist den Körper wegträgt.
»Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes, unansehnliches Ding. Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln.«

Diese Worte schriebrosalux_briefmarke Rosa Luxemburg vor 103 Jahren in einem Artikel für die sozialdemokratische Zeitung Die Gleichheit.
Am Donnerstag griffen zahlreiche Menschen diese Worte auf und kommentierten damit im Internet das Foto des dreijährigen Aylan Kurdi, der zwar die Flucht aus der von den IS-Terroristen attackierten und belagerten Stadt Kobani überlebte, nicht aber die Fahrt nach Europa. Auch sein fünf Jahre alter Bruder und seine Mutter starben, sein Vater überlebte schwerverletzt. Ihr Boot war auf dem Weg von der Türkei zur griechischen Insel Kos untergegangen, mindestens zwölf Menschen kamen dabei ums Leben – zwölf von insgesamt 2.600 Menschen, die allein in diesem Jahr die Flucht über das Mittelmeer nicht überlebt haben.

Es ist die Stunde der Heuchler.

Bild, das seit Jahrzehnten gegen Flüchtlinge, Minderheiten und Schwächere hetzt, räumte die komplette letzte Seite der Ausgabe vom Donnerstag frei, um das Foto umgeben von einem schwarzen Kasten abzudrucken: »Bilder wie dieses sind schändlich alltäglich geworden. Wir ertragen sie nicht mehr, aber wir wollen, wir müssen sie zeigen, denn sie dokumentieren das historische Versagen unserer Zivilisation in dieser Flüchtlingskrise.«
Frankreichs Ministerpräsident Manuel Valls, dessen Polizei in Calais mit Hunden Jagd auf Flüchtlinge macht, schrieb auf Twitter: »Er hatte einen Namen: Aylan. Wir müssen dringend etwas tun.«

Die Organisation Human Rights Watch (HRW) verteidigt die Veröffentlichung des Fotos.
»Einige sagen, das Foto sei zu anstößig, um es online zu teilen oder in unseren Zeitungen abzudrucken, aber ich finde es vielmehr anstößig, dass an unseren Küsten ertrunkene Kinder angespült werden, wenn wir mehr hätten tun können, um ihren Tod zu verhindern«, erklärte der für Kriseneinsätze zuständige Direktor der in den USA beheimateten Organisation, Peter Bouckaert, am Donnerstag.
Es sei falsch, die Eltern dafür zu verurteilen, dass sie ihre Kinder auf der Flucht einer so großen Gefahr aussetzten. Es sei vielmehr verständlich, wenn die Eltern versuchten, ihre Kinder an einen sicheren Ort zu bringen. »Diese Eltern sind Helden«, stellte Bouckaert fest.

Die Ursachen für das sich täglich ausweitende Drama benennt jedoch auch Bouckaert nicht, etwa das Anheizen des Krieges in Syrien auch durch EU- und NATO-Staaten, die Zerstörung Libyens durch die Bombenangriffe 2011, das Ausblutenlassen ganzer Länder durch die Ausplünderung ihrer Ressourcen durch europäische und US-amerikanische Konzerne.
Rosa Luxemburg schließt ihren eingangs zitierten Artikel, dessen Anlass eine Reihe von Todesfällen in einem Berliner Obdachlosenasyl war, mit der Forderung:
»Nieder mit der infamen Gesellschaftsordnung, die solche Greuel gebiert!«

Dazu sei noch auf den folgenden Artikel in der FAZ verwiesen:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/syrien-der-westen-ist-schuldig-12314314.html

Wie hoch darf der Preis für eine demokratische Revolution sein? In Syrien sind Europa und die Vereinigten Staaten die Brandstifter einer Katastrophe. Es gibt keine Rechtfertigung für diesen Bürgerkrieg.

02.08.2013, von REINHARD MERKEL

Jochen

Aufruf: Friedenswinter 2014/2015: Gemeinsam für den Frieden – Friedenslogik statt Kriegsrhetorik

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Liebe Friedensfreunde,
ich bitte Euch herzlich:

  1. den u.a. Aufruf wohlwollend durchzulesen und auch zu unterzeichen.
  2. an lokalen Veranstaltungen der Friedensinitiativen teilzunehmen
  3. den Aufruf in Eurem Freundeskreis weiter zu verteilen und über das Thema zu diskutieren.

Der Aufruf kann hier im ganzen eingesehen und online unterzeichnet werden:
http://friedenswinter.de/

Veröffentlicht am 03.11.2014 von Pascal

Wir sind – wie Millionen Menschen in unserem Land und weltweit – tief besorgt. Kriege breiten sich weltweit in einer immensen Geschwindigkeit aus, sie kehren mit dem Krieg in der Ukraine nach Europa zurück.

Hundertausende Tote und Verwundete, Millionen Flüchtlinge, noch mehr Hunger und Armut sind die dramatischen Folgen von Kriegen, die primär für wirtschaftliche und geostrategische Interessen geführt werden – in Europa, im Nahen/Mittleren Osten, Afghanistan und in anderen Ländern.
Die NATO und besonders die USA führen weltweit völkerrechtswidrige Kriege und geben 72% der weltweiten Rüstungsausgaben aus.
Die Bundesregierung ist ein aktiver Bestandteil dieser militaristischen Politik.

Politische Führungskräfte überall auf der Welt sagen uns, noch mehr (High-Tech-) Waffen, Drohnen und eine Automatisierung der Kriegsführung sowie mehr Soldaten seien sinnvoll; noch mehr Rüstung, Waffenexporte und die Ausweitung des Krieges wären notwendig, um Frieden zu schaffen.
Wir aber wissen, mit mehr Krieg und noch effizienteren Waffen wird es keinen Frieden geben.
Die „Logik des Krieges“ muss weltweit durch die Logik des Friedens abgelöst werden – und wir müssen jetzt hier bei uns damit anfangen.

Wir kritisieren die häufig tendenziöse Berichterstattung in den Medien, die zur Produktion von Feindbildern beiträgt.

Der Weg der Konfrontation und der Gewalt, des Hasses und der Vernichtung muss überwunden werden – gerade als Lehre aus zwei Weltkriegen und Faschismus.

Wir wollen Frieden und Überwindung von Gewalt überall auf der Welt und durch eine umfassende Abrüstung eine Welt ohne Waffen schaffen.
Konflikte müssen zivil gelöst werden. Dialog, Verhandlung und das Menschenrecht auf Frieden sind unsere Werte.
Die Politik der Gemeinsamen Sicherheit muss das Denken und Handeln bestimmen.

Wir brauchen die 1,35 Billionen Euro, die jedes Jahr für Rüstung ausgegeben werden, für die Überwindung von Hunger und Armut, für Ökologie und Bildung.
Die globalen Herausforderungen, die uns und unseren Planeten Erde bedrohen, sind ohne Abrüstung, ohne Frieden nicht zu bewältigen.

Wir wollen:

  • Kooperation statt Konfrontation! Wir treten ein für eine Politik der Gemeinsamen Sicherheit, die auch Russland mit einbeziehen muss.
  • Für eine Zukunft ohne NATO! Ja zur OSZE und zu einer reformierten, demokratisierten UNO.
  • Abrüstung für nachhaltige Entwicklung in Nord und Süd! Stopp von Rüstungsproduktion, Waffenhandel und Rüstungsexporten. Entwicklung von Konversionsprogrammen und aktive Waffenvernichtungen.
  • Keine militärischen Interventionen! Stattdessen humanitäre Hilfe und offene Grenzen für die Flüchtlinge.
  • Eine Welt ohne Atomwaffen, das bedeutet für Deutschland: sofortiger Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel.
  • Eine Welt frei von Militärbasen und internationalen Kriegs-Einsatzzentralen, das bedeutet für Deutschland: Schließung der US Kommandozentralen Ramstein, Africom und Eucom sowie des Luft- und Raumfahrtführungszentrums in Kalkar.
  • Keine Drohnen und keine Automatisierung des Krieges!
  • Friedliche Konfliktlösungen durch Dialoge und Verhandlungen zwischen allen Konfliktparteien! Beendigung aller Kriegshandlungen, u.a. durch sofortige Waffenstillstände!

Eine friedliche Welt ist möglich und nur eine gerechte Welt kann eine friedliche sein.

Wir wissen: Wir werden unser Ziel, Frieden schaffen ohne Waffen, die Träume von Martin Luther King, Bertha von Suttner, Mahatma Gandhi und Rosa Luxemburg nicht heute und sofort erreichen. Wir werden es nur erreichen, wenn wir uns und viele andere sich engagieren und wir gemeinsam den Frieden in unsere Hände nehmen.

Den Menschenrechten, dem Völkerrecht und der internationalen Solidarität gilt unser aktives Handeln. Rassismus und Faschismus lehnen wir entschieden ab.

Frieden braucht Mut, Engagement und Solidarität.

Dafür setzen wir uns – regional, national und international vernetzt – im Friedenswinter 2014/2015 ein und fordern alle zum Mitmachen auf.

Wir wollen Mut machende Zeichen setzen:
Höhepunkte des Friedenswinters 2014/2015

9.-19.11.2014 Breite Mobilisierung zur Friedensdekade der Kirchen
8.12.2014 bis 13.12.14 Aktionswoche
Vielfältige dezentrale Aktionen. u.a. symbolische Aktionen, z.B. Aufhängen von Friedensfahnen besonders auch am 10.12.2014 dem Tag der Menschenrechte
13.12.2014 regionale Demonstrationen in Berlin, Hamburg, München (12.12.), Ruhrgebiet in Bochum, Leipzig, Heidelberg
6.-8. Februar 2015 Friedensdemonstration (7.2.) und Friedenskonferenz zur Sicherheitskonferenz (Siko) in München und zusätzlich dezentrale Aktionen
3.-6. April 2015 Ostermärsche
  1. Mai 2015
Bundesweite Demonstration in Berlin zum 70. Jahrestag der Befreiung von Krieg und Faschismus
14. März 2015 2. Aktionskonferenz Friedenswinter 2014/2015

An der Erarbeitung des Aufrufs waren beteiligt:

Thomas Bauer (Hannoveraner Friedensbündnis), Gabi Bieberstein (Versöhnungsbund), Reiner Braun (IALANA), Meike Brunken (Mahnwache Göttingen), Andreas Grünwald (Hamburger Forum), Franz Haslbeck (OCCUPEACE München), Peter Jüriens (Mahnwache Bochum), Kristine Karch (Internationales Netzwerk No to War – No to NATO), Lutz Krügener (Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers), Wolfgang Lieberknecht (Initiative für eine gemeinsame Welt), Wiltrud Rösch-Metzler (pax christi), Dominik Rißart (Mahnwache Düsseldorf), Bernhard Trautvetter (Essener Friedensforum), Lucas Wirl (NaturwissenschafterInnen für den Frieden)

Berlin, den 23.10.2014

Download: Aufruf Friedenswinter 2014_2015

Nachtrag: Information zum Friedenswinter | Rundschreiben Nr. 3

Liebe Friedenfreundinnen und Friedenfreunde, liebe Kolleginnen und Kollegen,

 die Aktionen nehmen Gestalt an, die Planungen für die Aktionswoche fügen sich zusammen, der Friedenssymboltag wird ausgestaltet. Die Unterstützung für den Friedenswinter 2014/2015 wächst (auch wenn das nicht allen Gazetten gefällt):

 Mehr als 1000 Personen und über 70 Organisationen unterstützen jetzt die Aktionen und die Forderungen des Friedenswinters. Auch die Mitgliederversammlung der Kooperation hat sich bei einigen Enthaltungen einstimmig hinter diese Aktionen gestellt.

  • Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin ruft zu der Demonstration in Berlin auf.
  • Der eigenständige Aufruf für die regionale Demonstration in Bochum findet zunehmende Unterstützung und wird auf einer eigenen Pressekonferenz in Essen am 2.12.2014 vorgestellt (friedenswinter.de/aufruf-friedenswinter-buendnis-nrw/).
  • Die 2. Auflage der Zeitung mit 30.000 Exemplaren ist vergriffen. Wir haben nur noch einige für den Friedensratschlag in Kassel aufgehoben. Dort können sie noch mitgenommen werden.
  • Erste Aktionsbeispiele für den Friedenssymboltag z.B. aus Aachen findet ihre auf der Webseite.
  • Das Plakat Friedenswinter 2014/ 2015 ist fertig, wird versandt und kann bei uns bestellt werden.

Alle diese positiven Beispiele – und die Liste ließe sich ohne Probleme verlängern (siehe www.friedenswinter.de) – sollen nicht verdrängen, dass noch ein großes Stück des Weges vor uns liegt und dass kaum ein Schritt ohne Konflikte voran geht. Es ist eine große Herausforderung, im jetzigen Klima und gegen die Politik von oben, von unten zu mobilisieren; und dies auch noch gemeinsam über traditionelle Grenzen hinweg, bei Anerkennung, dass Frieden immer eine klare Abgrenzung von rechtradikalen Strukturen und Inhalten erfordert. Der Friedenswinter 2014/ 2015 und alle ihn unterstützenden Initiativen und Organisationen stehen zu dieser Grundposition.

Alle unsere guten Ideen und Gedanken, alle Wünsche und auch alles Sehnen nach einer friedlichen Welt ist – und diese gilt besonders am Ende des Jahres 2014 – ohne Aktionen und ohne eigenständiges Handeln von Menschen zu wenig. Deshalb ist die Herausforderung, die schwer aber unverrückbar vor uns liegt, die Mobilisierung für unsere Aktionen.

Jeder Verteilung von Materialien, das Aushängen der Plakate, jede Facebook-Notiz, jedes Gespräch, jede Diskussion sollte immer die Frage beinhalten, kommst Du mit am 13.12 auf die Friedensdemonstration, nimmst Du mit uns den Frieden in die eigenen Hände. „Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden“ (Willy Brandt).

Wir hoffen, dass der folgende Überblick über den Stand der Vorbereitung ermutigend ist, jetzt bei der Mobilisierung noch „eine Schippe“ zuzulegen:

Berlin:

Datum: 13. Dezember 2014
Ort: Hauptbahnhof Berlin (Washingtonplatz)
Beginn: 13 Uhr
Ende: ca. 15:30 Uhr vor dem Bundespräsidialamt (Schloss Bellevue)

u.a. mit: Reiner Kröhnert, Siegfried Menthel, Eugen Drewermann

 

Bochum:

Datum: 13. Dezember 2014
Ort: Rathaus / Glocke
Beginn: 13 Uhr
14-15 Uhr Demonstration durch die Stadt
15 Uhr am Rathaus / Hand-in Hand- Umzingelung des Rathauses plus Schlusskundgebung mit Kultur bis 18:00 Uhr

 

Hamburg:

Datum: 13. Dezember 2014
Ort: Kriegsklotz (S-Bahn Dammtor)
Beginn: 13 Uhr
Ende: ca. 15 Uhr auf dem Hansaplatz in St. Georg (Nähe Hbf)

Musik (soweit schon feststehend): Prinz Chaos II

 

Heidelberg:

Datum: 13. Dezember 2014
Ort: St. Annagasse (“Zeitungsleser”)
Beginn: 14 Uhr
Ende: ca. 15 Uhr am Theaterplatz mit Kundgebung

 

Leipzig:

Datum: 10. Dezember 2014, am Internationalen Tag der Menschenrechte
Ort: Platz vor der Moritzbastei / Universitätsstraße
Beginn: 18 Uhr
Ende: ca. 20 Uhr vor dem US-amerikanischen Generalkonsulat im Musikerviertel

 

München:

Datum: 12. Dezember 2014
Ort (stationäre Kundgebung): Max-Joseph-Platz (vor der Oper)
Beginn: 17 Uhr
Ende: ca. 20 Uhr

Redner/Themen (soweit schon fest stehend): Reiner Braun – Friedenswinter, Wolfgang ‘Wob’ Blaschka – Alte West-Ost-Konfrontation – neuer Kalter Krieg? und Weitere

Musik (soweit schon feststehend): Breath Of Rap, Kilez More, Morgaine, Sam Rasta, und Weitere

Bis bald, meldet Euch gerne per Mail oder Telefon.

Friedliche Grüße

Lucas, Pascal, Reiner

Jochen