Diffamierung von Armen und das Unrechtssystem Hartz IV: »Das muss mal ein Gesicht bekommen«

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Auch viele meiner Patienten haben ähnliches erlebt, was hier in der jungen Welt beschrieben wird:
https://www.jungewelt.de/artikel/339990.hartz-iv-das-muss-mal-ein-gesicht-bekommen.html

Auch in diesem Blog habe ich das schon öfter beschrieben:

https://josopon.wordpress.com/category/schwarze-padagogik/ und

https://josopon.wordpress.com/2018/03/31/hartz-gesetze-die-renaissance-der-hetze/

Auszüge:

Die Diffamierung von Armen und das Unrechtssystem Hartz IV aus der Sicht einer zeitweilig Betroffenen.

Gespräch mit Bettina Kenter-Göttebettina kenter goette

Von Alexander Reich
Sie haben im Frühjahr ein flott geschriebenes Buch über Ihren Alltag als Hartz-IV-Bezieherin veröffentlicht, über das Angewiesensein auf die»Tafel«, absurde »Maßnahmen« und so weiter.
Warum heißt es »Heart’s Fear« (Herzensangst)?

Das spielt auf das Furchterregende dieses Systems an. Ich habe mich bemüht, nicht nur eine Homestory einer Betroffenen zu schreiben, sondern es geht mir auch um den politischen Hintergrund, die Zusammenhänge, um die ganze Entwicklung von der früheren Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum heutigen System. Diesen Bogen wollte ich schlagen.

Wie hat sich das Buch verkauft?

In den ersten drei Monaten tausendmal. Das ist ziemlich viel, finde ich. Wie es jetzt ist, weiß ich nicht.

Gab es mediales Interesse?

Das war und ist riesig. Von Journalistinnen und Journalisten habe ich oft gehört: Wir würden gerne genauer darüber berichten, aber kommen nicht an die Erfahrungsberichte ran.
Betroffene sagen nichts.

Warum nicht?

Sie schweigen aus Angst vor weiteren Schikanen, und wer aus dieser Martermühle lebend und bei Verstand wieder rauskommt, will damit meistens nicht mehr in Verbindung gebracht werden.
Aber solange das nur Zahlen bleiben … Erst wenn sich Menschen mit ihren Geschichten zu Wort melden, wird klar, wie viele wie stark betroffen sind.
Es braucht einen Gegenpol zur Medienkampagne von der schmarotzenden, bildungsfernen Unterschicht.

Wenn es in Talkshows überhaupt mal um Hartz IV geht, dann mit dieser Stoßrichtung.

Ja, darüber wird ganz falsch geredet. Das fängt an mit der Gleichsetzung von Hartz IV und Langzeitarbeitslosigkeit. 40 Prozent der Alleinerziehenden sind von Hartz-IV-Leistungen abhängig, das ist eine Riesengruppe.
Dazu kommen pflegende Angehörige, auch meist Frauen, chronisch Kranke, Behinderte, freie Künstler, angestellte Lehrer, junge Hochschulabsolventen.
Und dann noch ein kleiner Teil, etwa zehn Prozent, die tatsächlich lange arbeitslos sind. Als langzeitarbeitslos gilt ja heute jemand, der nach Jahrzehnten im Beruf ein Jahr und einen Tag ohne Arbeit ist.

Sie gehören zur Gruppe der freien Künstler. Da ist die Scham der Betroffenen nicht kleiner?

In meinem Kollegenkreis will jedenfalls niemand zugeben, dass er prekär lebt oder arm ist.
Die Angst vor Imageverlust und – damit verbunden – Auftragsverlust ist groß, und sie ist völlig berechtigt.

Als Sie dann sagten: »Seht her, ich bin betroffen!« – wie hat dieses Umfeld reagiert?

Dank dieser die Armen diffamierenden Kampagne, die ja von der Bundesregierung angestoßen und immer wieder befeuert wurde, war sofort Verachtung da, wenn ich mich geoutet habe.
Es war immer wieder eine schwierige Entscheidung: Wo oute ich mich, wo besser nicht? Dabei war immer klar, dass so ein Outing alles andere als auftragsfördernd sein würde.

Hat Ihr engerer Bekanntenkreis Sie denn unterstützt?

Es gab entscheidende Hilfe, aber auch im engeren Kreis, wo alle Bescheid wussten, immer mal wieder so ein Befremden.
Ein Beispiel: Ich habe Leute eingeladen, gefüllten Kürbis gemacht. Alle waren begeistert: »Oh, das schmeckt ja gut. Wo hast du denn diesen Riesenkürbis her?« – »Von der ›Tafel‹.« Und plötzlich waren alle satt.
An solchen Sachen hatte ich jedes mal schwer zu schlucken. Aber es wurde mir dadurch auch immer wichtiger, dieses Tabu zu brechen.

Sie sind dann als Hartz-IV-Betroffene im ZDF aufgetreten.

Da war gerade mein Theaterstück »Hartz Grusical« prämiert worden, und ich habe mir gesagt: Das muss mal ein Gesicht bekommen.
Es gab sonderbare Reaktionen. Jemand aus meinem Bekanntenkreis, ein sehr wohlhabender Mensch, meinte: »Du hast super ausgesehen. Und du bist ja auch noch so jung. Das wird schon noch!« Damals war ich 61.
Das ist dieses Wegblenden. In dem Moment ist mir klargeworden: Wenn ich unter der Brücke gesessen hätte, und dieser Mensch wäre vorbeigekommen, hätte er auch gesagt: »Oh, du siehst aber gut aus!«

Kennen Sie denn noch andere Bücher über den Hartz-IV-Alltag?

Der wird zum Beispiel in Christoph Butterwegges »Hartz IV und die Folgen« beschrieben. Oder in Inge Hannemanns »Hartz-IV-Diktatur«.
Ein sehr gutes Buch ist Gabriele Gillens »Hartz IV – eine Abrechnung«. Darüber hinaus kenne ich einige Erfahrungsberichte, die den politischen Hintergrund ausblenden, und viele, die nicht als Buch veröffentlicht wurden.

Ein zentraler Punkt in Ihrem Buch sind die »Hartz-IV-Sanktionen«, Kürzungen des Regelsatzes um bis zu 100 Prozent. 953.000mal gab es das 2017.

Es wird immer so dargestellt, als wäre das ein Knöllchen für pflichtvergessene Menschen.
In Wahrheit ist es der Entzug von Essen, Heizung, Strom – würde man diese Strafe einem Mörder angedeihen lassen, wäre das ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte.
34.000 Vollsanktionen gab es im vergangenen Jahr, das bedeutet: keine Miete, Verlust der Krankenversicherung, gar nichts mehr. Alle leben in der Angst davor, weil es jederzeit passieren kann.
Ich sollte einmal einen Antrag zu spät abgegeben haben, was nicht stimmte.
Beim zweiten Mal haben sie mir eine Sanktionsandrohung geschickt, weil ich einen Antrag angeblich zu früh abgeschickt hatte, was genauso ein völliger Humbug war.
Beides war widerrechtlich und musste zurückgenommen werden. Aber wenn die Sanktion einmal läuft, läuft sie bis zum finalen Gerichtsurteil, das kann drei Jahre dauern.
Es gab schon Todesfälle. Deswegen darf man nicht von Sanktionen sprechen, sondern muss sagen: Es sind mittelalterliche Leib- und Hungerstrafen.

Was für Todesfälle?

Mehrere, zum Beispiel wurde ein junger, behinderter Mann aus irgendeinem Vorwand sanktioniert, konnte sich nicht wehren und ist verhungert. Seine Mutter, die sehr betagt war, haben sie gerade noch gerettet.
Wenn junge Mütter vollsanktioniert werden, darf man nicht fragen: Aus welchem Grund? Einer jungen Mutter alles zu streichen, ist eine Menschenrechtsverletzung.
Genauso bei Schwangeren. Das sind Körperverletzungen. Das ist ein Unrechtssystem, eine Schreckenskammer.
Man darf gar nicht fragen: Was kann man da verbessern? Sondern das Grundgesetz muss wieder für alle gelten. Da muss man es ansiedeln.

Nun werden die Armen ja ständig gegeneinander ausgespielt, in letzter Zeit geht es da viel um Flüchtlinge, die angeblich massenhaft in unser Sozialsystem einwandern.
Sind Sie mit denen solidarisch?

Ich bin mit allen Armen solidarisch. Hartz-IV-Beziehende werden zu Fremden im eigenen Land.
Es ist wirklich eine Parallelwelt, in der man da lebt. Das fördert auch das Mitgefühl für Menschen, die auf andere Weise vertrieben wurden.
Es ist genug Geld da. Es wird in Banken reingesteckt, »Paradise Papers«, »Panama Papers«, da sitzen die Schmarotzer.
VW-Betrug geht als Schummelei durch die Presse, aber wenn ein Hartz-IV-Bezieher hundert Euro schwarz verdient, weil er sonst gar nicht überleben kann, schreien sie: Betrug!
Da wird der Blick auf die falsche Ebene gelenkt.

Oben sitzen die Sozialschmarotzer.

Bettina Kenter-Götte: Heart’s Fear/Hartz IV – Geschichten von Armut und Ausgrenzung. Verlag Neuer Weg, Essen 2018, 184 S., 12 Euro

Buchvorstellung mit der Autorin am Donnerstag, 19 Uhr, jW-Ladengalerie, Torstr. 6, Berlin-Mitte

Bettina Kenter-Götte (67) besuchte die Schauspielschule des Piccolo Teatro in Mailand und stand dort 1970 in der italienischen Erstaufführung von Peter Hacks’ »Die Schlacht bei Lobositz« in der Rolle der Regina zum ersten Mal auf der Bühne.
Später spielte sie an diversen Theatern und in TV-Produktionen wie der Serie »Luke’s Kingdom« (Regie: Peter Weir), mit der in Australien das Farbfernsehen begann.
1981 wurde sie Mutter, war von Anfang an alleinerziehend und bald vorübergehend auf Sozialhilfe angewiesen. Sie wurde Synchronsprecherin, Autorin von Dialogbüchern (lippensynchrone Übersetzung), führte bald auch Synchronregie.
Nach 25 Jahren in diesem zweiten Beruf führte die Pleite der Kirch-Mediengruppe zu einer Auftragsflaute, sie brauchte kurzzeitig wieder Sozialhilfe, bekam den Übergang zu Hartz IV mit.
Noch einmal einige Jahre später war sie wegen einer Erkrankung lange arbeitsunfähig und bezog Hartz IV. Sie lebt im Großraum München.

Jochen

Inge Hannemann: »Ich fürchte, daß unbezahlte Bürgerarbeit eingeführt wird«

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein Interview, hier nachzulesen:
http://www.jungewelt.de/2014/01-13/051.php
Interview: Susan Bonath
Auszüge:

Inge Hannemann war Fallmanagerin im Jobcenter Hamburg Altona.
Weil sie das Hartz-IV-System als menschenrechts- und verfassungswidrig anprangerte, ist sie seit neun Monaten freigestellt.

Manipulierte Statistiken, Hartz-IV-Geld, das in den Verwaltungsapparat umgeschichtet wird, Prämien für hart sanktionierende Jobcenterchefs – die Meldungen der vergangenen Monate ließen die Bundesagentur für Arbeit (BA) nicht gut wegkommen. Offenbar unberührt davon, hat die Behörde jetzt eine neue Werbekampagne gestartet. Worum geht es?

Mit ihrer Kampagne will die Bundesagentur vorrangig Jugendliche und Wiedereinsteiger, also meist junge Mütter nach der Erziehungspause, erreichen.

BA-Chef Frank-Jürgen Weise hatte ja zum Jahresende bereits angekündigt, neue Wege zu gehen. Anstatt sich endlich mehr um die Vermittlung von Erwerbslosen in gut bezahlte Arbeit zu kümmern, soll das Image der Behörde wieder einmal mit Werbung aufpoliert werden.
Das Besondere ist dieses Mal die Breite der Kampagne. Erstmals tritt die BA im Fernsehen auf, was wohl Millionen verschlingt – und bei Facebook unter dem Motto »Das bringt mich weiter«.

Bei Facebook kann jeder Nutzer seinen Kommentar abgeben …

In der Tat, und diese Kommentare hagelt es bereits. Ich glaube, die BA hat die Situation falsch eingeschätzt, wohl deshalb löscht sie mittlerweile viele kritische Kommentare, obwohl diese keineswegs beleidigend sind
Ich denke, das ist eine Gelegenheit für Betroffene, ihre Kritik am System an die richtige Adresse zu bringen.
Um einiges zu nennen: Vermittlung in Niedriglohnjobs; Erpressung durch Sanktionen wie Kürzung der Grundsicherung; Verweigerung von Kostenübernahmen, wodurch oft Bildungswege von Jugendlichen behindert werden.
Wir wollen auch dagegenhalten, daß die Behörde mit der Unwissenheit ihrer jungen Zielgruppe spielt.

Was sind die häufigsten Kritiken?

Sehr oft geht es um Schikanen, aber auch um fehlende Beratung, um unsinnige Maßnahmen. Angeprangert wird ferner, daß Qualifizierungen häufig aus Kostengründen abgelehnt werden.
Deshalb rate ich dazu, Ausbildungen bis spätestens März zu beantragen. In diesem Jahr hat die Bundesregierung 600 Millionen Euro mehr für »Integration« veranschlagt, insgesamt 3,1 Milliarden.

BA-Chef Weise will durch seine »neuen Wege« auch die Zahl der Arbeitslosen auf 1,5 Millionen halbieren. Was halten Sie davon?

Durch die fortschreitende Automatisierung werden Vollzeitarbeitsplätze logischerweise nicht mehr, sondern eher weniger.
Also kann es nur funktionieren, wenn noch mehr Menschen in »Maßnahmen« oder Ein-Euro-Jobs gedrückt werden.
Ich fürchte, daß unbezahlte Bürgerarbeit eingeführt wird, daß also Erwerbslose gezwungen werden, für Hartz IV zu arbeiten – das sogenannte Workfare-Prinzip.
Eventuell schicken sie auch mehr Schülern aus Bedarfsgemeinschaften Arbeitsangebote, etwa Zeitungaustragen. Das wäre nur okay, solange es freiwillig bleibt.

Schülern?

Ja, das passiert schon jetzt. Wir in Hamburg wurden immer wieder aufgefordert, über 15jährigen Schülern Nebenjobs anzubieten, damit sie ihre Eltern unterstützen.
Zudem vermute ich, daß die Bundeswehr größeren Spielraum zum Werben bekommt. Noch können Jugendliche nicht zwangsrekrutiert werden.
Aber Einladungen zu Berufsmessen, wo das Militär wirbt, dürfen sie nicht ablehnen.

Was halten Sie davon, daß Jobcenter Hartz-IV-Bezieher mit 63 Jahren in Zwangsrente schicken?

Das ist eine Katastrophe! 2013 betraf dies bereits rund 28000 Menschen. In diesem Jahr wird schon mit 65000 und im kommenden Jahr mit 75000 Betroffenen gerechnet.
Das bedeutet hohe finanzielle Einbußen für die Menschen, und zwar für den Rest ihres Lebens. In meinen Augen ist das ein rechtswidriger Zugriff auf ihr Privatvermögen, das sie sich jahrelang erarbeitet haben.
Es liegen schon mehrere Klagen vor.

Wie geht es mit Ihrer eigenen Klage gegen Ihre Freistellung vom Dienst weiter?

Die nächste Verhandlung findet am 28. Februar vor dem Arbeitsgericht Hamburg statt. Ich bin überzeugt, daß ich nicht an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehren werde.
Entlassen will mich die Stadt Hamburg, bei der ich angestellt bin, aber nicht. Zuletzt habe ich ein Arbeitsangebot in der Jugendhilfe – Bearbeiten von Anträgen – bekommen. Es ist alles offen.

Liebe Frau Hahnemann, ich bewundere Ihren Mut, mit dem Sie ein herausragendes Beispiel für Zivilcourage sind!
Jochen