Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften: »Höchste Zeit, Kuschelkurs und Ko-Management zu beenden« – aktualisiert durch ein Interview mit Christa Hourani

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Darauf, dass sich Gewerkschafter wieder so zu Wort melden, habe ich als früheres ver.di-Mitglied jahrzehntelang vergeblich gewartet:
https://www.jungewelt.de/artikel/371296.kritik-an-gewerkschaftsf%C3%BChrungen-h%C3%B6chste-zeit-kuschelkurs-und-komanagement-zu-beenden.html
Auszüge:


Die gehören NICHT dazu: Reiner Hoffmann (l.), A.Merkel und Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende

Die »Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften« veranstaltete an diesem Wochenende ihre erste Konferenz.

Gespräch mit Angela BankertInterview: Steve Hollasky
Angela Bankert ist Mitglied des Koordinierungskreises der »Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften« (VKG) und der GEW in Köln. Informationen unter: vernetzung.org

An diesem Wochenende veranstaltet die »Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften«, kurz VKG, in Frankfurt am Main ihre erste Konferenz.
Was steckt hinter Ihrer Initiative?

Schon länger vernetzt sich regional und branchenweit eine Reihe von kritischen Kollegen, die für einen klassenkämpferischen Kurs der Gewerkschaften eintreten.
Die Konferenz ist ein Versuch, all diese Gruppierungen zusammenzubringen, sich über Strategien auszutauschen und gemeinsame Vorgehensweisen zu koordinieren.

Die sehr verdienstvollen Streikkonferenzen der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Erneuerung der Gewerkschaften bieten bereits die Gelegenheit, über aktuelle Arbeitskämpfe zu informieren, sie auszuwerten, Anregungen zu vermitteln und Best-practice-Beispiele zu verbreiten.
Die VKG möchte darauf aufsetzend einen Schritt weiter gehen und Strategien diskutieren: Was ist nötig, um Arbeitskämpfe zu gewinnen und Gegenmacht aufzubauen?
Wie kann der Kampf für eine andere Politik der Gewerkschaften geführt werden?
Wie ist ein Brückenschlag zwischen Gewerkschaften und »Fridays for Future« möglich?

Die Gewerkschaftslinke schwächelt seit Jahren. Wie wollen Sie diese Situation mit Ihrer Konferenz jetzt ändern?

Es wird höchste Zeit, diese Schwäche zu überwinden und die Erfahrungen älterer Kollegen an die junge Generation weiterzugeben. Die letzte Weltwirtschaftskrise mit dem Finanzcrash ist alles andere als überwunden.
Alle Elemente, die die letzte Krise vorbereiteten, sind weiterhin vorhanden. Die Frage ist nicht, ob die Krise kommt, sondern ob die Weltwirtschaft hineingleitet oder hineinstürzt.
Hinzu kommen die Herausforderungen des digitalen Überwachungskapitalismus.

Angesichts dessen wird es höchste Zeit, dass die Gewerkschaftsführungen Kuschelkurs und Komanagement beenden. Nicht die kapitalistischen Sachzwänge sind das Maß der Dinge, sondern die Bedürfnisse der Kollegen und die ökologischen Notwendigkeiten.
Es sollte daher nicht heißen: »Geld oder Zeit«, sondern: drastische Arbeitszeitverkürzung, also die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. In der Autoindustrie steht der Kampf um Arbeitsplätze akut an.
Die IG Metall erwartet die Erleichterung von Kurzarbeit, dabei muss es doch um Konversion und Umstellung auf gesellschaftlich sinnvolle Produktion bei voller Gehaltsfortzahlung gehen.

Die Probleme von Gewerkschaften in der BRD sind vielfältig. Gerade im Osten fehlt es oft an Strukturen. Inwieweit kann die VKG hier helfen?

Nach mehreren Jahrzehnten Neoliberalismus und Gehirnwäsche stehen wir vor einem Wiederaufbau der organisierten Arbeiterbewegung. Da helfen manchmal Rückgriffe auf historische Erfahrungen.
So greifen aktuell US-Gewerkschafter auf die Organizing-Ansätze der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, als der kämpferische Gewerkschaftsdachverband CIO aufgebaut wurde.
Das Organizing ist sicher ein guter Ansatz und bei aktiven Gewerkschaftern zu Recht sehr angesagt.

Das zentrale Ziel dabei ist die Selbstermächtigung. Das verträgt sich nicht mit hierarchischen Top-down-Strukturen, wie sie in den Gewerkschaften spätestens ab der mittleren Funktionärsebene vorherrschen.
Damit müssen sich kämpferische Gewerkschafter auseinandersetzen.

Nach der Auftaktkonferenz wird es für viele zurück an die alltägliche Arbeit gehen. Worauf wird sich die VKG konzentrieren?

Es gibt verschiedene Vorschläge, die zunächst auf der Konferenz zu beraten sind.
Vorstellbar wäre unter anderem ein gemeinsames Vorgehen in Vorbereitung der Tarifrunde TVöD für Bund und Kommunen, was Forderungsdiskussion und Aktionen angeht.
Auch die Tarifrunde Nahverkehr ist wichtig, weil es um gute Arbeit in diesem Bereich geht.
Gut bezahlte Arbeitsplätze, Personalaufstockung und ein flächendeckender Ausbau des ÖPNV sind zentral für eine Verkehrswende in Deutschland. Dieses Thema verbindet uns übrigens auch mit »Fridays for Future«.

Dieser Initiative wünschen wir viel Erfolg !

Zu diesem Thema habe ich hier schon 2017 mal was geschrieben:
https://josopon.wordpress.com/2017/03/09/deutsche-gewerkschaften-leugnen-lohndumping-und-beweihrauchern-arbeitnehmerfeindliches-rentenkonzept/
und 2016:
https://josopon.wordpress.com/2016/03/02/wenn-den-gewerkschaften-die-stunde-schlagt/
und 2015:
https://josopon.wordpress.com/2015/04/09/zwei-prozent-das-debakel-der-deutschen-lohnrunde-2015-und-die-verschleierungstaktik-der-gewerkschaften/

Aktualisierung: Co-Management überwinden

Die UZ sprach mit Christa Hourani, einer der Sprecherinnen der VKG.

UZ: Was ist die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften VKG?

Christa Hourani: Die VKG ist ein gewerkschaftsübergreifender Zusammenschluss kritischer Kolleginnen und Kollegen und Initiativen innerhalb des DGB, der sich im Mai 2019 dazu entschlossen hat, für Januar erstmalig eine Konferenz einzuberufen. Uns ist wichtig, innerhalb des DGB für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik einzutreten. Dazu wollen wir uns vernetzen. Immerhin ist es uns gelungen, 20 Organisationen zu gewinnen, diese Konferenz gemeinsam zu gestalten und durchzuführen. Mit dabei sind die Gewerkschaftslinken mit örtlichen Foren in Stuttgart, Hamburg, Wiesbaden, München, Rhein-Neckar und Dortmund, die ver.di-Linke NRW, das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di, LabourNet Germany, Redaktion Express, die Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DidF), das Internationale Bildungswerk TIE, Organisieren-Kämpfen-Gewinnen (OKG) und einige andere. Das ist ein schöner Erfolg.

UZ: Was ist das Ziel eurer Konferenz?

Christa Hourani: Wir wollen für einen kämpferischen Kurs in den Gewerkschaften eintreten. Dazu wollen wir darüber beraten, wie wir gemeinsam an einem Strang ziehen und uns für eine solche Ausrichtung der Gewerkschaften stark machen können. Es gibt viele gute Ansätze, aber um die Gewerkschaften insgesamt in diese Richtung zu bringen, ist es nötig, sich besser zu vernetzen und zu koordinieren. So könnten beispielsweise Vorschläge und Initiativen für Kämpfe und Kampagnen ausgearbeitet, gemeinsam Anträge eingebracht, Solidaritätsarbeit für Kämpfe verstärkt und weitere Absprachen organisiert werden.

UZ: Welche guten Ansätze meinst du?

Christa Hourani: In den letzten Jahren hat es einige positive Ansätze in einzelnen Arbeitskämpfen und Betrieben gegeben. So hat der Streik an der Berliner Charité eine Pilotwirkung für Belegschaften anderer Krankenhäuser gehabt, für tarifliche Vereinbarungen zur Personalbemessung zu kämpfen, etwas, das zuvor nicht für möglich gehalten wurde. Das waren gleichzeitig wichtige Schritte in Richtung Demokratisierung von Streiks. Das hat es auch beim Streik von Erzieherinnen und Erziehern und den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern mit einer bislang einzigartigen bundesweiten Streikdelegiertenkonferenz gegeben.
Auch die Ganztagesstreiks in der Tarifrunde der IG Metall 2018 waren ein neues Element und haben zur tollen Stimmung und zur guten Dynamik beigetragen. Zudem gibt es ein Aufleben von Arbeitskämpfen für Tarifverträge und gewerkschaftliche Organisierung, besonders in den wachsenden prekären Bereichen. Das alles sind zukunftsweisende Projekte.

UZ: Warum ist die Konferenz gerade jetzt so wichtig?

Christa Hourani: In Zeiten der drohenden Zerstörung der Welt durch die kapitalistische Produktionsweise, gegen deren Auswirkungen seit Monaten Hunderttausende auf die Straße gehen, ist eine starke Linke in den Gewerkschaften nötiger denn je. Vor dem Hintergrund von sich abzeichnenden Erschütterungen der Weltwirtschaft, die Deutschland hart treffen können, müssen die Erfahrungen der Vergangenheit ausgewertet und die Weichen für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik gestellt werden.

UZ: Was kritisiert ihr an der jetzigen Gewerkschaftspolitik?

Christa Hourani: Leider ist die Gewerkschaftspolitik vielfach von sozialpartnerschaftlichen Vorstellungen geprägt. Die Politik des Co-Managements scheint weit verbreitet. Das bedeutet, dass oft die Konkurrenz- und Standortlogik vorherrscht. Diese führt zu Verzicht im Interesse der Unternehmen, wobei als Begründung die Sicherung von Arbeitsplätzen angeführt wird. Tarifaus­einandersetzungen werden meist wie ein Ritual durchgezogen, das die Kolleginnen und Kollegen zwar noch mitmachen, aber das sie im Grunde immer weniger überzeugen oder gar neu motivieren kann.

UZ: Was wollt ihr wie ändern?

Christa Hourani: Wir wollen diskutieren, wie Arbeitskämpfe erfolgreicher geführt und wie sie demokratischer gestaltet werden können. Eine Fragestellung ist zum Beispiel, ob der Kampf für eine bessere Personalausstattung sowie eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten bei vollem Entgelt- und Personalausgleich ein verbindendes Element sein kann. Klar sollte sein: Ein solcher Kampf um eine Arbeitszeitverkürzung, die diesen Namen verdient, muss gewerkschaftlich gut vorbereitet und organisiert sein und braucht die aktive Solidarität und Unterstützung aus Betrieben, allen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, um sich gegen Kabinett und Kapital durchsetzen zu können. Angesichts des sich ausdehnenden Niedriglohnsektors und weit verbreiteter ungeschützter und sonstiger „atypischer“ Beschäftigung halten wir gerade dies für eine zentrale Herausforderung gewerkschaftlicher Politik.
Die Gewerkschaftsführungen geben zurzeit die falschen Antworten auf brennende Fragen. Auf der Konferenz wollen wir nach besseren Antworten suchen. Eine erfolgreiche und kämpferische Gewerkschaftsarbeit bietet auch die beste Basis, um rechtsextreme Kräfte zurückzudrängen. Auch dies ist mehr als dringlich.

Das Gespräch führte Gerd Ziegler

Jochen

»Wenn es um Sex geht, wird für viele schnell alles schwierig« – Über kleinbürgerliche Moral, HIV und den Unterschied von Prostitution und Sexarbeit

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Das erschien vor einigen Wochen zum Welt-AIDS-Tag in der jungen Welt. Ich stelle es anlässlich des „Fests der Liebe“ hier noch mal ein:
https://www.jungewelt.de/artikel/367879.prostitutionsdebatte-wenn-es-um-sex-geht-wird-f%C3%BCr-viele-schnell-alles-schwierig.html
Aus meiner sozialistischen Sicht ist Lohnarbeit = Lohnarbeit, egal ob jemand seine Arme, seinen Verstand oder seine Geschlechtsorgane anbietet.
Mir macht es sehr große Sorgen, wenn in dieser Debatte männerfeindliche Emanzen und katholische Nonnen eine Koalition eingehen, die Sexarbeiter durch Einführung neuer Gesetze diskriminieren.
Durch verschärfte Gesetze kann man der Elendsprostitution nicht beikommen, siehe Skandinavien, wo sich diese nur noch mehr in den Untergrund verzogen hat.
Der erfolglose „Kampf gegen die Drogen“ sollte uns da belehren.
Elendsprostitution zu bekämpfen braucht man gut ausgebildete Ermittler und Polizisten, das würde Geld kosten und viele korrupte, im kriminellen System verstrickte Amtsträger gefährden. Gesetzesverschärfungen sind wohlfeil.
Hier gehts zum Text:

Ein Gespräch mit Mareen Heying und Ursula Probst. Über kleinbürgerliche Moral, HIV und den Unterschied von Prostitution und Sexarbeit

Interview: Markus Bernhardt
ehbdilkiljacghik

An diesem Sonntag ist Welt-AIDS-Tag. Hat dieser Tag auch für Sexarbeiterinnen und -arbeiter eine Bedeutung?

Mareen Heying: Wie für alle Menschen, die ein aktives Sexualleben haben und sich möglicherweise mit HIV infizieren können, hat der Tag auch für Sexarbeitende eine Bedeutung.

Und für Prostituierte?

M. H.: Ich verstehe Prostituierte als Sexarbeitende und nutze beide Begriffe synonym. In der Forschung hat sich der Begriff »Sexarbeit« durchgesetzt.
Dagegen kennt die deutsche Rechtsprechung nur den Begriff »Prostitution«. Es ist daher sinnvoll, beide Worte zu gebrauchen.

Ursula Probst: Genau hier liegt ein zentrales Problem: zu behaupten, dass Prostitution und Sexarbeit zwei grundlegend unterschiedliche Dinge wären. Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch und nicht zielführend.

Sie würden also sagen, dass es sich bei allen Prostituierten um Sexarbeiterinnen und -arbeiter handelt?

M. H.: Der Begriff »Sexarbeit« ist spezifischer als »Prostitution«. Letzterer ist zudem mit zahlreichen Zuschreibungen und Bewertungen aufgeladen.
Der Begriff »Sexarbeit« wurde durch die US-amerikanische politisch aktive Prostituierte Carol Leigh 1978 eingeführt. Sie verstand ihn als Gegenbegriff zur Objektivierung von Prostituierten.
Er soll zum Ausdruck bringen, dass es sich bei der Tätigkeit um Arbeit handelt, die als eine freiwillig erbrachte sexuelle Dienstleistung zu verstehen ist, die einen einvernehmlichen Vertrag zwischen erwachsenen Geschäftspartnerinnen und -partnern voraussetzt.
Mit der Bezeichnung »Sexarbeit« verbunden war auch die Forderung nach Anerkennung von Prostituierten als Arbeiterinnen und Arbeiter, anstatt ihnen länger den Status des Opfers zuzuschreiben.
Durch die Verwendung von »Sexarbeit« wird der ökonomische Kern mit seinem Konsumcharakter sichtbar.

U. P.: Wobei man anerkennen muss, dass nicht alle Personen, die der Sexarbeit nachgehen, sich mit diesem Begriff identifizieren – selbiges gilt aber auch für den Begriff Prostituierte.
Wenn ich nun versuche, die unterschiedlichen ­Positionen zusammenzufassen, bevorzuge ich aus den genannten Gründen auch den Begriff »Sexarbeit«.
Gleichzeitig stellt sich dadurch die Frage, wie Arbeit definiert wird. Dazu muss man festhalten, dass Arbeit nicht immer »gut« oder »bereichernd« sein muss, der Begriff »Sexarbeit« also nicht automatisch eine positive Arbeitserfahrung suggeriert.

M. H.: Arbeit ist oft mit Notwendigkeit und Fremdbestimmung verbunden – innerhalb und außerhalb der Prostitution.

Dann ganz konkret: Wie viele Menschen gehen Ihrer Einschätzung nach freiwillig der Prostitution nach, wie viele sind Zwangsprostituierte, und wie viele tun es, weil sie arm sind?

M. H.: Das kommt auf Ihre Definition von »Freiwilligkeit« an. Stellen Sie mir freiwillig diese Fragen, oder weil Sie dafür entlohnt werden?
Ebenso sehen es die Prostituierten. Sie bieten eine sexuelle Dienstleistung an, für die sie entlohnt werden.
Freiwilligkeit verstehe ich, angelehnt an die Soziologin Sabine Grenz, als eine unter bestimmten Umständen bewusste und rational getroffene Entscheidung. Das heißt in diesem Fall, dass eine Person sich rational dafür entscheidet, in der Prostitution tätig zu sein. Das kann viele Gründe haben: ein schlechter Schulabschluss, Schulden, Neugierde oder Spaß an der Arbeit.

Wenn jemand zu einer sexuellen Handlung gezwungen wird, dann ist das klar als Vergewaltigung, Körperverletzung und Misshandlung zu definieren.
Es gibt keinen Grund, hier von »Zwangsprostitution« zu sprechen. Der »Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen« schrieb schon 2013: »Gibt es keine Einwilligung zu sexuellen Handlungen, so handelt es sich nicht um Prostitution. Denn Sex gegen den Willen der Beteiligten ist Vergewaltigung. Das ist auch dann ein Straftatbestand, wenn dabei Geld den Besitzer wechselt.« Es wäre schön, würden die klugen Stellungnahmen der Sexarbeitenden häufiger zur Kenntnis genommen.

U. P.: Unabhängig davon lässt sich Ihre Frage nicht beantworten, da keine verlässlichen Erhebungen zu Sexarbeit existieren. In den Debatten wird zwar mit Zahlen argumentiert, die aber auf Schätzungen beruhen oder sogar frei erfunden sind.
Ich frage mich dabei, warum wir uns genau an dieser Frage, wie hoch der Anteil der einen oder der anderen ist, aufhängen. Fakt ist, dass es Personen gibt, die Sexarbeit gerne und unter selbstbestimmten Bedingungen machen, genauso wie es Personen gibt, die Sexarbeit lieber nicht machen würden, aber keine anderen Einkommensmöglichkeiten sehen oder gar dazu gedrängt werden.

Warum fällt diese recht schlüssige Einteilung sowohl den Gegnern als auch den Befürwortern von Prostitution so schwer?

M. H.: Es geht nicht darum, Prostitution zu befürworten. Es geht darum, Personen zur Selbstermächtigung zu verhelfen, die in der Sexarbeit tätig sind.
Jegliche Versuche, Prostitution zu verbieten, endeten immer darin, dass sie weiterhin stattfand, aber unter schlechten Bedingungen – abgedrängt, verborgen, illegalisiert.

U. P.: Abgesehen davon finde ich die Einteilung überhaupt nicht schlüssig. Das Problem ergibt sich genau daraus, dass wir die Erfahrungen von Sexarbeitenden immer in vermeintlich klar erkennbare Kategorien packen wollen. Das führt aber dazu, dass all diejenigen, die nicht in solche Schubladen passen, unsichtbar werden.

Aber wenn es für jedermann ersichtlich ist, dass verschiedene Arten von Prostitution existieren, muss damit doch auch unterschiedlich umgegangen werden.

U. P.: Ich bin mir nicht sicher, ob das für jedermann so ersichtlich ist, wenn man bedenkt, wie aufgeladen und einseitig die medialen Debatten über dieses Thema sind.

M. H.: Das, worauf Sie mit Ihrer Frage hinaus wollen, gilt auch für andere Berufszweige. Nehmen Sie Ärztinnen: Eine Herzchirurgin hat sicher andere Arbeitskonflikte und Bedürfnisse als eine Anästhesistin oder eine Proktologin. Wenn eine Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich in der Kälte auf Kunden wartet, so hat sie einen anderen Arbeitsalltag als eine Domina, die in einem beheizten Studio einen Kunden per Termin empfängt.

Welche Rolle spielt Moral in dieser Debatte?

M. H.: Eine zu große. Es ist völlig egal, wie ich persönlich zu Sexarbeit stehe: Ich muss anerkennen, dass Menschen diese Arbeit ausführen. Und wenn ich ihre Rechte beschneide, dann beschneide ich Arbeiterinnen- und Arbeiterrechte.

U. P.: Eine Rolle spielt die moralische Bewertung von Sexualität an sich: dass gerade Frauen mit verschiedenen mehr oder weniger unbekannten Personen ohne ausgeprägte Gefühlskomponente Sex haben wollen, ist auch heute noch für viele unvorstellbar.

Hat das auch etwas mit dem gängigen Frauenbild zu tun?

U. P.: Natürlich. Frauenbilder existieren nicht im Vakuum, sondern in Beziehung zu anderen Geschlechterbildern. Das Ganze hat genauso viel mit gängigen Männerbildern zu tun.

In der Debatte um Prostitution wirkt es teilweise, als hätten vor allem Teile der Linken Schwierigkeiten mit Menschen, die frei und selbstbestimmt für sich Entscheidungen treffen. Was ist Ihr Eindruck?

U. P.: Wenn es um Sex geht, wird für viele Leute – unabhängig der politischen Orientierung – schnell alles schwierig.

Frau Heying, Sie haben zur Hurenbewegung der 1980er und 1990er Jahre und über die Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien promoviert.
Warum spielen männliche Sexarbeiter bei Ihren Forschungen keine Rolle?

M. H.: Zwar partizipierten auch männliche und nicht-binäre Prostituierte punktuell an der Hurenbewegung und dem italienischen Pendant »Lucciole«, getragen wurden diese jedoch von weiblichen Prostituierten und ihren Unterstützerinnen. Verglichen mit den Sexarbeiterinnen waren sogenannte Stricher in Deutschland und Italien durchschnittlich jünger und befanden sich in prekäreren Lebenslagen.
Darum entstand eine Stricherhilfe in Deutschland fast ausnahmslos aus niedrigschwelligen sozialarbeiterischen Angeboten, nicht wie die Hurenbewegung aus der Selbsthilfe.

Täuscht denn der Eindruck, dass schwule Männer einen anderen, möglicherweise unverkrampfteren Zugang zum Thema Prostitution haben, weil Sexualität in ihrem Leben oftmals einen größeren Raum einnimmt, verglichen mit bürgerlichen Kleinfamilien von Heterosexuellen?

M. H.: Die Pauschalisierung, ein schwuler Mann könne keine bürgerliche Kleinfamilie haben, ist falsch. Nur weil jemand schwul ist, ist er nicht automatisch aufgeklärt oder weniger bürgerlich.
Dasselbe gilt übrigens für Sexarbeitende. Die Annahme, dass alle Schwulen promiskuitiv leben, ist im übrigen sehr problematisch, gerade angesichts des Welt-AIDS-Tages an diesem Sonntag.
Ihnen wird aufgrund der Unterstellung, ihr Sexual- und Verhütungsverhalten sei risikoreich, weiterhin verweigert, Blut zu spenden. Außer sie belegen, zwölf Monate lang kein »sexuelles Risikoverhalten« gehabt zu haben. Prostituierte dürfen auch nicht spenden.

Wie ist es derzeit um Präventionsangebote in Sachen HIV und anderer sexuell übertragbarer Krankheiten für Menschen, die der Prostitution nachgehen, bestellt?

U. P.: Deutschland hat mit dem Infektionsschutzgesetz von 2001 auf eine Strategie gesetzt, die das Angebot von anonymen und kostenfreien Untersuchungsangeboten ins Zentrum gestellt hat.
Man hat erkannt, dass HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten alle und nicht nur bestimmte Gruppen betreffen können. Unter anderem ist das der Hurenbewegung und der Deutschen Aidshilfe zu verdanken. Statt Zwangsuntersuchungen hat man versucht, die freiwillige Testbereitschaft zu erhöhen. Das funktionierte dem Robert-Koch-Institut zufolge soweit auch ganz gut.
Allerdings müssen die Untersuchungsangebote dafür ausreichend finanziert und ausgebaut sein – und daran hapert es weiterhin, gerade in ländlichen Gegenden.
Das ist nicht nur für Sexarbeitende problematisch, sondern für alle, die sich abseits von Großstädten über HIV und sexuell übertragbare Krankheiten informieren wollen.

Eine Zwangsberatung wird hingegen Sexarbeitenden vorgeschrieben, die sich registrieren lassen müssen. Ist Zwang ein guter Ratgeber, wenn es um Präventionsangebote geht?

M. H.: Das ist er nie. Den Zwang zur Informations- oder Untersuchungsberatung kritisieren viele Institutionen wie Gesundheitsämter und NGOs.

U. P.: Außerdem löst die Zwangsberatung nicht das grundlegende Problem, dass viele Sexarbeitende keinen ausreichenden Zugang zum Gesundheitssystem haben. Würde es wirklich darum gehen, die Gesundheitsversorgung dieser Menschen zu verbessern, hätte man das Geld in den Ausbau der oben erwähnten Angebote und in eine Reform des Krankenversicherungssystems investieren müssen.

Leiden unter dieser Regelung nicht vor allem die Personen, die sich frei entschieden haben, der Prostitution nachzugehen? Armuts- und vor allem Zwangsprostituierte dürften wohl kaum bei den Bezirks- und Ordnungsämtern Schlange stehen.

M. H.: Entscheidend ist, ob die Betroffenen rechtlich dazu in der Lage sind, sich anmelden zu können. Personen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus oder ohne Arbeitserlaubnis werden nicht zur Anmeldung erscheinen, weil sie Abschiebung oder Sanktionierungen befürchten. Damit erreicht das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz eine besonders vulnerable Personengruppe überhaupt nicht.

Bewirkt das Gesetz am Ende gar das Gegenteil von dem, was angeblich geplant war, weil Präventionsangebote und Gesundheitsversorgung für Betroffene weniger zugänglich werden?

M. H.: Wenn Sie das Gesetz wörtlich nehmen, und es um den »Schutz« von Sexarbeitenden gehen soll, dann muss ich Ihre Frage bejahen. Geschützt wird hier niemand.*)

Sie plädieren demnach für eine Abschaffung des sogenannten Prostituiertenschutzgesetzes?

U. P.: Generell ja. Wobei man in Anbetracht der aktuellen Debatten auch sehr kritisch damit umgehen sollte, welche Alternativen vorgeschlagen werden.

Wodurch könnte der Schutz von Prostituierten gewährleistet werden?

U. P.: Es braucht dringend Reformen im Sozialsystem und im Arbeits- und Migrationsrecht, damit diejenigen, die Unterstützung benötigen, diese auch wirklich bekommen.
Zudem brauchen wir bezahlbaren Wohnraum, eine Stärkung der Selbstorganisation von Sexarbeitenden und viele weitere Dinge.
Die meisten halten sich beim Thema Sexarbeit aber lieber mit Moraldebatten auf, als diese grundlegenden Probleme anzugehen.

Manche Kritiker von Sexarbeit fordern einen anderen Umgang mit Sexualität und wollen nicht, dass diese noch weiter zur Ware verkommt. Ist das nicht nachvollziehbar?

U. P.: Man sollte der Kommodifizierung von Sexualität und Intimität kritisch gegenüberstehen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen Prozess, der sich auf Sexarbeit beschränkt.
Zu behaupten, dass dieser Prozess mit Sexarbeit steht und fällt, ist viel zu kurz gegriffen. Es handelt sich um ein systemimmanentes Problem.
Außerdem finde ich es problematisch, was manchmal demgegenüber als »richtige« Sexualität propagiert wird: nämlich, dass insbesondere Frauen ein erfülltes Sexualleben nur in partnerschaftlichen Beziehungen haben können. Das mag für einige, aber sicher nicht für alle so sein. Die Kritik am Warencharakter von Sexualität sollte nicht zur Verteidigung einer kleinbürgerlichen Sexualmoral verkommen.

M. H.: Würden Sie eine Ehe stets als harmonische Liebesbeziehung bewerten? Sind nicht auch dort weiterhin ökonomische Abhängigkeiten zentral?

Wenn ich Sie richtig verstehe, wird es eine Welt ohne Prostitution niemals geben?

Beide: Nicht in diesem System!

Warum haben Huren- und Frauenverbände eigentlich niemals die Kooperation gesucht, sondern – um es vorsichtig auszudrücken – immer stark miteinander gefremdelt?

M. H.: Das ist nicht wahr. Prostituierte und nicht in der Sexarbeit arbeitende Feministinnen hatten in den Jahrzehnten vor der letzten Jahrtausendwende durchaus ähnliche Forderungen.
Die Hurenbewegung war beeinflusst durch feministische Kämpfe. Ihre Forderungen waren zum Teil sehr frauenspezifisch und schlossen die Selbstbestimmung über den eigenen Körper mit ein. Dennoch bestand stets eine Diskrepanz zwischen beiden Gruppen, was die Zusammenarbeit erschwerte.

Die Hurenbewegung fordert eine differenziertere Betrachtung von Prostitution und Prostituierten ein, da sie sich selbst als Teil der Frauenbewegung versteht. Der feministische Charakter der Hurenbewegung wird nicht zuletzt an punktuellen Verbindungen zur Kampagne »Lohn für Hausarbeit« deutlich, die Sex als Teil der von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit begriff. Je nachdem, welche Position Feministinnen zu Sexualität und Sexarbeit einnehmen, gibt es Möglichkeiten zur Zusammenarbeit.

Sie betrachten sich beide als Feministinnen. Wie könnte eine feministische Perspektive auf Prostitution und Sexarbeit aussehen?

U. P.: Das muss ein Blick sein, der Sexarbeit nicht als singuläres, außergewöhnliches »Übel« begreift, durch dessen »Beseitigung« sich plötzlich alle Probleme mit Sexismus, Kapitalismus und Patriarchat in Luft auflösen. Vielmehr müssen wir Sexarbeit im Kontext von geschlechterspezifischen Einkommensunterschieden, Entwicklungen im Bereich Sorgearbeit, Arbeitsmigration oder Diskriminierungen betrachten, diese größeren Zusammenhänge aufzeigen und auch Allianzen bilden.

Ist der von Ihnen gegründete Verein »Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung« demnach auch ein feministisches Projekt?

M. H.: Vor allem ist er ein interdisziplinärer Forschungszusammenhang, den wir in diesem Jahr zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegründet haben, um der Forschung zum Themenfeld im deutschsprachigen Raum Gewicht zu verleihen. Dies ist angesichts des großen Unwissens und der Mythenbildung um Sexarbeit ein wichtiges Anliegen.
Wir brauchen einen besseren Zugang zu kritischer Forschung, die auf Fakten basiert, und nicht auf Emotionen und Moral.

Mareen Heying ist Historikerin. Ihre Dissertation »Huren in Bewegung« wurde 2018 mit dem Dissertationspreis des »Arbeitskreises Historische Frauen- und Geschlechterforschung« ausgezeichnet und jüngst als Buch publiziert.

Ursula Probst ist Kultur- und Sozialanthropologin sowie Slawistin und promoviert an der Freien Universität Berlin. Sie beschäftigt sich seit 2012 mit Sexarbeit und forscht aktuell ethnographisch zum Lebens- und Arbeitsalltag von Menschen aus zentral- und osteuropäischen Ländern, die in Berlin der Sexarbeit nachgehen.

Beide Wissenschaftlerinnen sind im Vorstand der 2019 gegründeten »Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung«.

Mareen Heying: Huren in Bewegung. Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien, 1980 bis 2001. Klartext, Essen 2019, 300 Seiten, 34,95 Euro

*:https://josopon.wordpress.com/2016/11/01/das-neue-prostituiertenschutzgesetz-ein-regelwerk-der-repression/

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Jochen

Sammlungsbewegung »Aufstehen« soll Möglichkeiten zur Selbstermächtigung eröffnen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

SELBSTERMÄCHTIGUNG ist ein schöner Begriff. Meine Patienten und ich müssen ständig gegen die vom System vermittelten Ohnmachtsgefühle ankämpfen. Viele sind schon in Lähmung erstarrt. Eine schöne Zusammenfassung, um wieder Mut zu bekommen, von Daniela Dahn:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1097701.sammlungsbewegung-primat-der-politik-zurueckerobern.html

daniela dahnPrimat der Politik zurückerobern

Angesichts der postdemokratischen Auflösungserscheinungen im Lande, in Europa und in der Welt wollen sich viele Menschen mit den mangelnden Möglichkeiten zu Einmischung und Selbstermächtigung nicht mehr abfinden. Gerade im weitesten Sinne Linksorientierte wollen nicht in Ratlosigkeit und Resignation verharren.
Das zeigt der große Widerhall, den die Idee einer Sammlungsbewegung schon in den ersten Tagen des Registrieren-Könnens erfährt. Bislang war für Hunderttausende die einzige Möglichkeit, ihre Veränderungswünsche durch Resolutionen und Appelle an die Politiker zu erbitten. Das war mitunter nicht ohne Wirkung, befriedigt aber das Bedürfnis, aktiv mitzugestalten, nicht.

Dazu sind die noch aus dem vorigen Jahrhundert mitgeschleppten und aufgestauten Probleme zu grundsätzlich. Ob eine vernünftige Politik die Bürger vor dem globalen Finanzkapitalismus schützen kann, ist bisher nicht bewiesen. Denn die Macht der Wirtschaft ist größer als die der Politik.
Die zersplitterte nationale und internationale Linke stellt derzeit keine konzept- und handlungsfähige Opposition dagegen dar. Opposition aber ist die Seele der Demokratie.

Der Auftrag der Sammlungsbewegung wäre, das Primat der Politik zurückzuerobern. Kann man dafür sammeln, ohne zu spalten?
Den drei quasi-linken Parteien im Bundestag war bisher die Kultivierung ihrer Unverträglichkeiten wichtiger als das Ergreifen einer gemeinsamen Veränderungsoption. Dabei sind die programmatischen Schnittstellen nicht gering.
Es bleiben dennoch markante Unterschiede, innerhalb und zwischen den Parteien. Insbesondere in der Friedens- oder Interventionspolitik, in der angeblichen Notwendigkeit von Rüstung und deren Export.
Hier ist auch die Kluft zwischen dem Willen der Wähler und deren Repräsentanten besonders groß.

In solches Vakuum könnten Bewegungen vordringen und damit Abgeordnete ermutigen, ihr vermeintlich freies Mandat mehr am Wählerauftrag zu orientieren, als an den Partei-Hierarchien.
Außerparlamentarischer und außerpropagandistischer Druck muss klarstellen: Parteien, Parlament und Regierung sind dem Gemeinwohl verpflichtet.
Und zwar nur diesem – im Gegensatz zur Wirtschaft, die pflichtschuldig nur der Rendite ist. Diese dient nur dann dem Gemeinwohl, wenn sie gerecht verteilt wird.
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein sicheres Maß dafür, wie ungezügelt die vermögende Elite schaltet und waltet.

Das Kapital hat seine internationale Sammlungsbewegung schon vor etwa zweihundert Jahren begonnen. Und die Internationale der Rechtspopulisten ist dabei, diesem Vorsprung nachzueifern.
Sie vereinnahmt Gramscis Theorie vom Kampf um die kulturelle Hegemonie und beansprucht die Interpretationshoheit. Wenn ein Jegliches seine Zeit hat, dann ist sie gekommen für einen linken öffentlichen Thinktank*).
Es geht um Emanzipation, um Gegenhalten, um Aufstehen. Dem sich ein aufrechter Gang anschließt. Über dessen Richtung eine allen Sympathisanten offen stehende Denkwerkstatt ohne hierarchische Strukturen und Tabus beraten sollte.

Dabei muss nicht am Nullpunkt angefangen werden, es gibt kompetente Bürgerbewegungen, Forschungs- und Gesprächskreise (z.B. von den NachDenkSeiten), die seit Jahren alternative Entwürfe vorlegen, auch zur Öffnung der Demokratie für mehr Bürgerbeteiligung.
So diskutierten wir im Willy-Brandt-Kreis die Anregung des damaligen Direktors des Hamburger Friedensforschungsinstitutes, Dieter S. Lutz, nach der Parteien nicht der einzige Repräsentant des Gemeinwesens sein sollten.
Zusätzlich zum Generallistenparlament schlug er ein dem Druck der Interessen entzogenes Expertenparlament vor, einen Zukunftsrat. Über dessen Wahlmodus und Zuständigkeit wäre gemeinsam nachzudenken.
Auch darüber, ob es seine Unabhängigkeit durch Verzicht auf Diäten bewahren könnte. Aufwandsentschädigung sollte genügen.
Diese Kammer könnte sowohl das Initiativrecht für Gesetze haben als auch ein Veto-Recht, um Politik und Kapital in den Arm zu fallen.
Ein solches Gremium wäre der Ort, etwa Klima- und Friedensforschern regelmäßig das Wort zu erteilen.

Ergänzend sollte auch Gregor Gysis Jahre zurückliegender Vorschlag von der, nicht zufällig von LINKEN initiierten, Sammlungsbewegung diskutiert werden: neben dem Bundestag eine Kammer der sozialen Bewegungen zu wählen. Solche Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie bedürfte einer Grundgesetzänderung.
Aber wenn der Druck dafür groß genug ist, wird es sich jede Partei überlegen müssen, ob sie sich dem Anspruch auf mehr Bürgerbeteiligung entgegenstellt. Und damit den Eindruck vertieft, die Vertretung des Volkes gegenüber den Eliten habe vermeintlich die AfD übernommen.

Eine solche Kammer wäre mit der Hoffnung verbunden, dass dort die Debatten geführt werden, die man im Parlament vermisst.
Hier würde etwa die Friedensbewegung nach dem Sinn von all den Regime Changes fragen, die oft ins Chaos, aber nie in eine Demokratie geführt haben. Stärker hinterfragt würde wohl die US-dominierte NATO, die ohne konkrete Bedrohungs- und Bedarfsanalysen Rüstungsforderungen stellt, die auch als Bestandteil des Wirtschaftskrieges gegen Europa gedeutet werden können.
Für diese Bürgerkammer könnten sich all die bewerben, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden: Arbeitslose und Gewerkschafter, Mieter und Bürgerrechtsanwälte, Klein- und Mittelstandsunternehmer, Künstler, Seenotretter und Migranten.

Denn schließlich dürfte die Sammlungsbewegung, in welcher Kammer auch immer, keinen Zweifel daran lassen, dass die Folgen westlicher Lebensweise und postkolonialer Politik Hauptursache für viele Flüchtende sind, ihre Heimat zu verlassen. Schon deswegen haben wir die moralische Verpflichtung, gegenüber denjenigen, die sich unter Lebensgefahr bis zu uns durchgeschlagen haben, mitfühlend und entgegenkommend zu sein.
Die praktischen Schwierigkeiten der Aufnahme verlangen genauso viel Beachtung. Ohne Solidarität keine Heimat. Die Geflüchteten erteilen uns eine Lektion, die zu ignorieren sich niemand, und schon gar nicht versammelte Erneuerer, leisten können.

Um mitzumachen, muss und kann man gar nicht einer Meinung sein. Der gemeinsame Wille zur Veränderung mag vorerst genügen. Da werden sich auch einige ungebetene Gäste einfinden, was zu verkraften ist, wenn die Stichhaltigkeit des Argumentes ausschlaggebend ist.
Es soll an vereinter linker Kraft nicht interessierten Kreisen kein weiteres Mal gelingen, ein Zusammengehen zu verhindern, wie unlängst bei der alten und jungen Friedensbewegung.
Einem Neuaufguss der unseligen Querfrontdebatte durch das Hochspielen einiger weniger Trittbrettfahrer sollte von Anfang an eine Absage erteilt werden.

Keine Experimente mehr, schallte es 1989 von konservativer Seite, um das neoliberale Experiment ungestört durchziehen zu können.
Verändert wird in Umbruchsphasen allemal, fragt sich nur, wer in wessen Interesse agiert. In einem solchen historischen Moment plötzlich ohne Konzept dazustehen, ist eine traumatische Erfahrung der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Sie bedarf keiner Wiederholung.

»Aufstehen« wäre auch die Suche nach der zu gewinnenden Zeit. Bleibt zu hoffen, dass sie gelingt. Ein Experiment. Kein Spiel.
Denn Vorsicht, allzu viele Versuchsanordnungen hält die diesseitige Geschichte womöglich nicht mehr bereit.
Wird die Chance verspielt, rette sich, wer kann: Der Wald steht schwarz und schweiget.

*: Zum Thema „linker ThinkTank“ hat sich schon Andrea Ypsilanti mit ihrem Institut Solidarische Moderne geäußert https://www.neues-deutschland.de/artikel/1096979.linke-sammlungsbewegung-sammlung-ist-eine-frage-der-bewegung.html. Nur schade, dass gerade aus diesem Institut auf intrigante Art Machtpolitik im Sinne der Gegner der Sammlungsbewegung betrieben wird. Sie war doch selber schon Opfer von Intriganz https://josopon.wordpress.com/2015/09/14/corbyn-erinnert-an-ypsilanti-was-ist-aus-den-hessischen-spd-rechtsintriganten-geworden-die-2008-die-erste-rot-rot-gr-une-landesregierung-verhindert-haben/und müsste wissen, welcher Schaden so entsteht.

Das Ansinnen von Daniela klingt aus der Sicht des Skeptikers noch zu idealistisch. Ich frage mich, was das Kapital tun wird, wenn seine Macht von einer nicht käuflichen Bürgerbewegung ernsthaft bedroht wird. Der seit den 1950er Jahren von Amts wegen betrieben Aufbau von Todesschwadronen nach südamerikanischem Vorbild wie dem NSU, verbunden mit dem völlig unzureichenden Aufklärungswillen, spricht hier eine deutliche Sprache. Aber solange die staatskapitalistische Meinungsmache noch so gut funktioniert – man sieht es daran, wer sich jetzt aus Eigeninteresse gegen die Sammlungsbewegung in Stellung bringt – lässt man den Tiefen Staat noch unter dem Teppich.

Jochen

Das Ende der Arroganz: Die „Realpolitik“ des Westens ist gescheitert

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es folgen nun in den nächsten Tagen einige längere Beiträge zur aktuellen Vorbereitung eines völkerrechtswidrigen*) Angriffskrieges durch die Bundesregierung gegen das Land Syrien.
Ich möchte die Sachkundigen unter Euch auch dazu auffordern, darüber nachzudenken, ob das eine Strafanzeige gegen die Verantwortlichen Merkel, v.d.Leyen und Steinmeier sowie eine Anzeige beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag nach sich ziehen sollte.
Hier zunächst ein nachdenklicher, grundsätzlicher Artikel aus der „Zeit„, der für den Autor eine bisher ungewohnte Nachdenklichkeit ankündigt – bis auf den obligatorischen Tritt nach Putin am Ende des Artikels. So ein Kotau wirkt wie in der DDR das Marx-Zitat zur Überwindung der Zensur.
Dort auch lesenswerte Kommentare:
http://www.zeit.de/2015/47/muslime-islam-westen-umgang/komplettansicht
Auszüge:

Kolonialismus, Interventionen, Krieg gegen den Terror: Die „Realpolitik“ des Westens ist gescheitert. Wir müssen unser Verhältnis zu den Muslimen grundlegend ändern.

Von Bernd Ulrich
Der Westen ist traurig und verzweifelt über die Toten von Paris und zeigt es auch. Das ehrt ihn, das ehrt uns.
Der Westen ist auch traurig und verzweifelt darüber, dass er nicht weiß, was er nun tun soll. Das zeigt er nicht, sondern versteckt sich hinter martialischen Gesten.
Das ehrt ihn nicht, und es ist gefährlich.

Aus Angst Krieg?

Die Rede ist von Krieg. Aber führen Europäer und Amerikaner nicht schon seit vierzehn Jahren ununterbrochen Krieg im Mittleren Osten?
Hat die französische Luftwaffe nicht auch vor dem 13. November schon Bomben geworfen?

Nun soll es ein neues Bündnis mit Russland gegen den IS geben. Aber kämpfen die Russen nicht bereits in Syrien? Und wenn sie bisher nicht gegen den IS, sondern ausschließlich für Assad kämpfen, warum sollten sie das nun ändern?

Der französische Präsident will fortan „gnadenlos“ die Terroristen jagen, man kann das verstehen, er ist wütend, und er meint jetzt, Härte zeigen zu müssen. Aber hat Frankreich, hat der Westen irgendwann zu viel Gnade walten lassen in Nordafrika? Sind die Invasionen in Afghanistan und im Irak oder die Intervention in Libyen im Chaos geendet, weil der Westen zu rücksichtsvoll war?

Anders als der Westen hat der IS einen Plan: Er will Europäer, Amerikaner und neuerdings auch Russen zu möglichst massiven Gegenschlägen provozieren, sie alle so tief wie es irgend geht hineinziehen ins Chaos; der IS giert danach, aus der Luft attackiert zu werden, weil er um die Kollateralschäden weiß, die dann entstehen. Und er weiß, dass jeder Kollateralschaden sein Kollateralnutzen ist. Bomben töten Terroristen – und schaffen neue.
In dieser Woche berichtete der Guardian, dass amerikanische Drohnen in Pakistan oft mehr als zwanzig Mal so viele Menschen töten wie beabsichtigt.

Wenn aber der IS Luftschläge will, wieso sollen dann Luftschläge gegen den IS helfen?

Kurz nach den Attentaten von Paris saß der Westen beim G-20-Gipfel in Antalya zusammen mit dem islamistischen Regime aus Saudi-Arabien, um gemeinsam mit ihm den islamistischen Terror zu bekämpfen. Man kann so etwas Verqueres natürlich versuchen, Islamisten mit Islamisten zu bekämpfen. Allerdings, man probiert es jetzt schon seit Jahrzehnten. Herausgekommen ist erst Al-Kaida, mit dem Saudi Osama bin Laden an der Spitze. Und dann der aus saudischen Quellen mitgenährte „Islamische Staat“.
Die Brookings Institution hat in diesem Jahr die Zahl der twitternden Unterstützer des IS gezählt. Ergebnis: Die mit sehr weitem Abstand meisten Anhänger des IS kommen aus: Saudi-Arabien.

Wie oft will man noch probieren, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben?

Vierzehn Jahre Krieg gegen den Terror – und was ist herausgekommen? Mehr Krieg, mehr Chaos, mehr Terror.
Wo vorher Al-Kaida war, ist nun der noch mächtigere und brutalere IS. Wo vorher Staaten Terroristen beherbergten, zerstören Terroristen nun Staaten.
Außerdem gibt es jetzt etwas, das es vor Beginn dieses gloriosen Kampfes gegen den Terror so nicht gegeben hat: Abermillionen Flüchtlinge, die nach Europa wollen.

Und nun alles noch einmal? Wie von Sinnen versucht der Westen erneut, mit dem Vorschlaghammer ein Ei zu pellen.

Wäre es nicht vielmehr an der Zeit, die westliche Strategie im Mittleren Osten, ja unser ganzes Verhalten gegenüber der islamischen Welt einmal gründlich auf den Prüfstand zu stellen?
Und sich die tief beunruhigende Frage zu stellen, warum so viele Muslime sich vom Westen verletzt und gedemütigt fühlen und warum es für den Terrorismus infolgedessen ein offenbar unerschöpfliches Reservoir an Menschen gibt?

Ist eine westliche Realpolitik auch nur Ideologie?

Man sollte sich nämlich keinen Illusionen hingeben. Selbst wenn es gelingen sollte, die Lage in Syrien etwas zu beruhigen und den IS ein wenig zurückzudrängen – noch hat die arabisch-islamische Welt den Höhepunkt ihrer destruktiven Entwicklung nicht erreicht.
Algerien beispielsweise, das heute vom greisen Abdelaziz Bouteflika regiert wird, könnte jederzeit ins Chaos stürzen, wenn der Diktator stirbt.
Auch Saudi-Arabien ist alles andere als stabil, nicht nur, weil der Ölpreis im Keller ist. Der kostspielige Krieg, den die islamistische Diktatur im Jemen führt, hat in Riad schon jetzt schwere Machtkämpfe zur Folge. Wie lange hält dieses Regime noch? Zwei Jahre? Fünf?

Es kann also noch viel schlimmer kommen.

Ob es so kommt oder ob eine Wende in dieser Region möglich ist, hängt gewiss nicht allein von Amerikanern und Europäern ab. Jedoch tragen sie viel dazu bei, so oder so. Darum lohnt es sich, eine ehrliche Bilanz der westlichen Politik im Mittleren Osten zu ziehen. Und zu überlegen, wie ein ganz neuer Ansatz im Verhältnis zu den Muslimen aussehen könnte. Beginnen wir mit der Kritik.

„Too big to learn“ – Realpolitik als Ideologie

So fest stecken Amerikaner und Europäer in der Ideologie einer vermeintlichen „Realpolitik“, dass sie die Realität oft nicht mehr sehen. Generationen von Politikern und Journalisten wurden durch diese Denkschule geprägt; wird sie nun nicht überwunden, droht der Kampf gegen den Terror ebenso zu misslingen wie die viel beschworene Bekämpfung der Fluchtursachen.

Ist Realpolitik eine Ideologie? Es gibt natürlich echte, gute Realpolitik, die vom Ende her denkt, die zwar an den eigenen Werten orientiert ist, sich davon aber nicht wegtragen lässt, die genau hinschaut, die sorgsam ihre Mittel wägt, die das Gutgemeinte nicht schon für das Gutgemachte hält. Eine solche Realpolitik kam jedoch im Mittleren Osten so gut wie nie zur Anwendung. Stattdessen mutierte die „Realpolitik“ des Westens dort zu einer gefährlichen Ideologie.

Wichtigstes Kennzeichen einer Ideologie ist nach der Definition von Karl Popper, dass sie nicht falsifizierbar, also nicht widerlegbar ist.
Tatsächlich arbeitet die westliche „Realpolitik“ im Mittleren Osten mit Hypothesen und Methoden, die bei ihrer Anwendung auf die Araber und Perser niemals widerlegt werden konnten. Dafür waren die Kräfteverhältnisse immer zu ungleich. Fehler von Briten, Franzosen oder Amerikanern wurden nie wirklich bestraft, vielmehr konnten sie stets durch neue, noch größere Fehler, durch Ins-gegenteilige-Extrem-Umschlagen, durch noch imposantere Interventionen zum Verschwinden gebracht werden.

Beispiel Afghanistan: Mitte der achtziger Jahre haben die Amerikaner dort die sogenannten Mudschahedin aufgerüstet, auf dass sie gegen die sowjetische Besatzung kämpften. Dann, nach dem Untergang des Sowjetreiches, überließ man sie ihrem Schicksal. Die schwer bewaffneten Mudschahedin errichteten daraufhin eine Gangster-Herrschaft ohne jede politische oder religiöse Legitimation.
So lange, bis die Taliban große Teile Afghanistans eroberten und schließlich Al-Kaida die Chance gaben, von dort aus die Angriffe auf das World Trade Center vorzubereiten, weswegen der Westen mit einem gigantischen Militärbündnis einmarschierte.
Westliche Soldaten stehen heute noch da – aber die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Lerneffekt: null.

Beispiel Irak: Anfang der achtziger Jahre rüsteten die Amerikaner Saddam Hussein auf, damit er gegen den Iran Krieg führen konnte, wo die bärtigen Ajatollahs die Macht übernommen hatten. Den Krieg hat er dann weder gewonnen noch verloren, aber er kostete ungeheuer viel Geld, weswegen er sich das kleine, ölreiche Kuwait einverleibte, woraufhin die USA in ihren ersten Irakkrieg zogen, Saddam aus Kuwait hinauswarfen, ihn aber an der Macht ließen. Später, im Jahre 2003, marschierten sie – aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird – erneut und mit noch größerer Militärmacht ein, um ihren in Ungnade gefallenen Verbündeten zu stürzen.

Fehler werden also nicht korrigiert, sie werden ins Quadrat gesetzt. Westliche „Realpolitik“ im Mittleren Osten funktioniert nach dem Motto: Warum falsifizieren, wo man auch eskalieren kann.

Nur die Geste zählt – Realitätsverlust der „Realpolitik“

Weil die „Realpolitik“ des Westens über so immense Mittel verfügt, muss sie sich um die Realität nicht wirklich kümmern, sie kann sie ja jederzeit auch zusammenschießen, wegputschen, aufkaufen oder ihr einfach den Rücken kehren. Das ist aber nur ein Grund für den häufigen Realitätsverlust der „Realpolitik“.
Der andere liegt in der wirkungsvollsten Pose. Denn in Wahrheit fühlt sie sich nicht da besonders stark, wo sie akribisch und geduldig die Gegebenheiten eines Landes und ihrer Menschen studiert hat, um hernach etwas zu tun, was zwar den westlichen Werten und Prinzipien ein klein wenig widerspricht, aber der Sache und den eigenen Interessen dient.

Ein mörderisches Pilotspiel des Westens

Oft ist es umgekehrt: Nicht die Nähe zur Realität gibt der „Realpolitik“ ihre Gewissheit, sondern die Entfernung von den eigenen Werten und Regeln. Je weiter weg von den Idealen, so der Fehlschluss, desto näher am Realen. Das wiederum liegt am männlichen Gestus der „Realpolitik“, die, wenn es ernst wird, immer signalisiert: Pfaffen und Weiber bitte mal weggucken, jetzt kommen die wirklich harten Jungs und regeln die Sache.
Das ist magisches Denken. Natürlich regeln sie meistens nichts.

Hier liegt eine wichtige Weisheit: Wer sich von den eigenen Werten allzu weit entfernt – und zugleich an den Belangen der betroffenen Araber und Perser chronisch desinteressiert ist –, der verliert den Sinn für Wirklichkeit und Verhältnismäßigkeit.
Was eigentlich nicht verwundern sollte, weil unsere Werte und Ideale schließlich nicht auf einem Kindergeburtstag ersonnen wurden, sondern das Produkt jahrhundertelangen Kämpfens, Nachdenkens, Probierens und Verwerfens sind, sie stellen die Lehre dar, die wir aus Millionen Litern sinnlos vergossenen Blutes destilliert haben.

Wie viele Tote für wie viel Öl? – Die „Realpolitik“ als Pilotspiel**)

Fehlende Verhältnismäßigkeit sowie die Gewohnheit, Fehler unter noch größeren Fehlern zu begraben, haben aus der „Realpolitik“ im Mittleren Osten ein Pilotspiel gemacht. Nehmen wir hier nur einige Stränge heraus, die verdeutlichen, wie dieses Spiel funktioniert und wieso es in seine Schlussphase eingetreten ist.

Von Afghanistan war schon die Rede, wo in einer für das Agieren des Westens typischen Mischung aus Interventionismus und Gleichgültigkeit ein immer größerer Mitteleinsatz nötig wurde, um die Fehler aus der je letzten Runde zu beseitigen. Auch der Irak stellt, wie gesehen, ein solches Beispiel dar.

Besonders eklatant ist jedoch, was der Westen im Iran angerichtet hat. Im August 1953 wurde die demokratisch gesonnene Regierung unter dem Premier Mossadegh vom amerikanischen und britischen Geheimdienst gestürzt. Der Grund: Er wollte für die Iraner einen höheren Anteil am Gewinn aus den Ölfeldern erzielen.
Im Interesse westlicher Ölkonzerne wurde daraufhin Mohammed Reza Pahlevi an die Macht geputscht. Der wurde Schah genannt, war aber einfach ein säkularer Diktator, der die religiösen Gefühle seiner Landsleute buchstäblich mit Füßen trat und eine Verwestlichung des Irans durchsetzte – minus Demokratie und Menschenrechte, plus Folter und allmächtigem Geheimdienst.

1979 endete seine aggressiv-säkularistische Herrschaft folgerichtig mit einer islamistischen Revolution, angeführt von Ajatollah Chomeini.
Um dessen Einfluss wiederum einzudämmen, unterstützten die USA den Krieg von Saddam Hussein gegen den Iran. In diesem grauenvollen Stellungskrieg fielen auf seiten des Irans bis zu 800.000 Männer und Jungen. Ein ungeheurer Blutzoll, der die Mullahs stabilisierte und den Iran zu einem Todfeind der USA machte.
Als dann die USA zweimal in den Irak einmarschierten, um ihren ehemaligen Kameraden Saddam erst unter Kontrolle zu bringen und später zu stürzen, stärkte das wiederum den Iran, diesen Feind des Westens.
Infolgedessen fühlte sich das ebenfalls islamistische, aber sunnitische Saudi-Arabien herausgefordert dagegenzuhalten. Die Kooperation der Islamisten von Riad mit dem Westen wurde und wird vom dortigen Regime in einer Art Ablasshandel durch den massiven Export islamistischer Ideologie in die ganze Region kompensiert.
So wurde der religiöse Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten durch den Westen scharfgemacht, mit Waffen und Geld aufgeladen, um sich dann in die ganze Region auszubreiten. Der IS ist dabei nur eine von vielen indirekten Nebenwirkungen dieses westlichen Gebarens.

Das Grundmuster des mörderischen Pilotspiels wird am Beispiel Iran besonders deutlich: Was mit dem banalen Profitinteresse westlicher Ölkonzerne und einer Geheimdienstaktion begann, eskalierte zu einem verheerenden Krieg mit fast einer Million Toten, gebar sodann zwei weitere Kriege mit direkter Beteiligung des Westens und ist mit der beginnenden Destabilisierung Saudi-Arabiens und der Ausbreitung des IS womöglich noch nicht einmal an seiner Klimax angekommen.

Wenn man die anderen Stränge des Pilotspiels „Realpolitik“ dazunimmt, also die afghanische Eskalation, die syrische, die libysche und so weiter, wenn man sich vorstellt, wie all diese Konflikte sich gegenseitig durchdringen und befeuern, dann wird schließlich klar, an welcher Stelle wir uns befinden: da, wo auch der mächtige, reiche Westen den Mitteleinsatz nicht weiter erhöhen kann. Das Pilotspiel ist in seine letzte Phase eingetreten.

Die Schuld der USA und das Versagen der „checks and balances“

Viele fragen sich im Angesicht der Millionen Flüchtlinge aus Arabien und des dort um sich greifenden Chaos, warum sich die Amerikaner, die ja die westliche Politik im Mittleren Osten zuletzt dominiert haben, für ihr Versagen nicht schämen, warum sie nicht darum bitten, durch die Aufnahme der ein oder anderen Flüchtlingsmillion ein wenig Wiedergutmachung zu üben.

Wenn aus der „Realpolitik“ Kolonialismus wird

Der Grund ist verblüffend einfach: Es gibt in dieser Frage keine Amerikaner, sondern nur Republikaner und Demokraten. Und dann machen halt die Demokraten die Regierung von George W. Bush mit ihren Invasionskriegen für all das verantwortlich, während die Republikaner Präsident Obama wegen seiner Rückzüge und der verwischten roten Linien attackieren.
Nur dass irgendetwas grundlegend falsch sein könnte an der gesamten US-Politik im Mittleren Osten, dieser Gedanke kommt ernstlich nicht auf.

Besonders sinnfällig wird das an jenem Familienstreit, der zurzeit die Präsidentschaftskandidatur von Jeb Bush begleitet. War die zweite Invasion des Iraks durch George W. Bush gar keine Realpolitik, sondern nur wild gewordene Gesinnung? Das behauptet nun dessen Vater George Bush senior, der zwölf Jahre zuvor in seinem wegen Kuwait geführten Irak-Krieg auf den Sturz des Diktators verzichtet hatte.

Diese Kritik des Vaters am Sohn, der sonst wirklich alle Kritik verdient hat, ist ungerecht. Ein Ideologe und heißblütiger Idealist war George W. Bush von seiner Natur her sicher nicht. Dass er dennoch auf Ideologen wie Dick Cheney gehört hat, lag an der logischen Stelle, an der er sich im Pilotspiel Mittelost befand. Wenn eine Politik wie die seines Vaters – auf halbem Wege stehen bleiben – zu 9/11 führt, dann muss man danach eben etwas anderes machen: den ganzen Weg gehen. Wenn eine von der Geheimdienstaktion über den Stellvertreterkrieg bis zur Bodenoffensive sich steigernde, also immer höher gepokerte Stabilitätspolitik keine Sicherheit für das amerikanische Territorium bringt, dann vielleicht der totale Umsturz, so wird der Junior gedacht haben.
Den Zugzwang, unter dem er sich wähnte, hat er aber von seinem Vater nur geerbt. Folglich hat sich der Sohn keineswegs an den realpolitischen Vorgaben seines Vaters vergangen, er hat sie vielmehr ausgebadet.

Bush junior wollte das Pilotspiel beenden, indem er es gewinnt, doch hat er es nur auf eine noch gefährlichere Stufe gehoben.

Die USA sind zu einer grundlegenden Kritik ihrer eigenen Mittelostpolitik unfähig, während ihre europäischen Partner entweder zu ähnlich denken wie sie (Großbritannien) oder zu friedfertig sind (Deutschland), um eine echte Debatte anzuzetteln. Und so ging dem Westen der Zugang zu einer seiner wichtigsten Kulturtechniken verloren – zu den checks and balances.

Der Kolonialismus kehrt heim – Untergang der „Realpolitik“

Lassen wir alle moralischen Fragen einmal beiseite, so muss man gleichwohl konstatieren: Die westliche „Realpolitik“ ist am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen.
In ihrem Werkzeugkasten wurden alle Instrumente in jeder beliebigen Kombination auf so gut wie jedes Land im Mittleren Osten angewendet: Geheimdienstaktionen, Drohnen, Invasionen, Stellvertreterkriege, Korruption, Waffenlieferungen, Bombardements, Sanktionen, Stabilisieren oder Stürzen von Diktatoren.

Skrupel spielten kaum je eine Rolle, doch stellt sich neuerdings heraus: Reine Interessenpolitik dient nicht mal mehr unseren Interessen.

Auch darum ist die „Realpolitik“ am Ende, denn sie braucht Entfernung, sie muss ihre Objekte in einem weitgehend abgeschlossenen Bestiarium halten.
Nähe verstört „Realpolitik“, weil sie dann mit den Konsequenzen am eigenen Leib konfrontiert wird. Auch darum war 9/11 so ein Schock und wurde mit einer weiteren, vielleicht letzten Explosion der herkömmlichen Politik beantwortet – allerdings mit dem Effekt, dass in der zweiten Runde die Flüchtlinge kamen. Der Kolonialismus kehrt nun heim, die Flüchtlinge bringen ihn dahin, wo er herkam.

Was machen wir jetzt? Aufgeben? Das läge uns nahe. Die Geschichte des Mittleren Ostens wird bei uns gern so erzählt, dass diesen verfluchten Arabern mit ihrer unseligen Religion einfach nicht zu helfen ist. Zentrales Argument für diese These ist heutzutage die Arabellion, die ja „auch nichts gebracht hat“. Ist das nicht etwas vorschnell und anmaßend? Schließlich handelte es sich bei den Aufständen lediglich um verzweifelte, erstmals auf breiter Fläche entflammende Befreiungsversuche in einer durch schlechtes Regieren völlig heruntergewirtschafteten, an Demokratie nicht gewöhnten Region. Besser hätten womöglich nicht mal wir Helden der Demokratie es so einfach hingekriegt.

Unsere Kriege überschatten die guten Taten

Man kann das Scheitern westlicher Politik aber auch als Chance betrachten. Denn ob den Muslimen tatsächlich nicht zu helfen ist, wie man jetzt gern stöhnt, das können wir nicht wissen, denn wir haben es noch nie ernstlich probiert.

Zweifellos braucht der Westen einen neuen, einen zweiten Werkzeugkasten. Und eine neue Hypothese: Muslime sind Menschen wie du und ich, Realpolitik muss sich damit anfreunden.

Die Schuld der Araber und der Beitrag des Westens

Ja, es stimmt, der Islam ist, wie jede andere Religion, mit Hass aufladbar, vielleicht sogar mehr als andere Religionen. Aber ob er sich so auflädt, dass er zu Islamismus wird und gar zu islamistischem Terror, das hängt doch sehr von den Umständen ab. Und damit auch von uns.

Ja, es stimmt, die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten birgt seit jeher kriegerisches Potenzial, aber es gab immer wieder auch Phasen, in denen die beiden großen islamischen Religionsgemeinschaften recht friedlich miteinander lebten.

Ja, es hat schon Stammeskriege in Arabien gegeben, bevor der Westen seine willkürlichen Linien in den Sand gezogen hat. Es ist daher keineswegs sicher, dass im leicht entzündlichen Mittleren Osten alles besser wird, sobald der Westen es besser macht.
Man kann auch lange darüber streiten, wie hoch der muslimische und wie hoch der westliche Anteil an der Misere ist, 60/40 oder 40/60? Aber was soll das bringen?

Fest steht zweierlei: Zum einen können wir eher unser Verhalten ändern als das der anderen.
Zum Zweiten: Wenn ohnehin schon so viel Gift in Arabien und Persien steckt, kann niemals etwas daraus werden, wenn wir unser Gift auch noch weiter mit hineinspritzen. Und das haben wir in den letzten 100, 50, 20 und zwei Jahren getan.

Keine Frage, es hat auch positive Ansätze gegeben. Da war die Entwicklungshilfe, da waren die Versuche, in Afghanistan Brunnen und Schulen zu bauen, da gab es eine humanitär gemeinte Intervention in Libyen sowie den Versuch, den Sudan durch Teilung zu heilen, und vieles mehr. Aber all das war zumeist halbherzig, ungenau, ungeduldig; insgeheim diente die gute Tat weniger den Arabern als uns und unserem flüchtigen Gewissen.

Nichts davon konnte das Bild, das die Menschen da unten vom Westen haben, wirklich aufhellen. Dafür sprachen die anderen, die massiveren Interventionen eine zu klare Sprache: dass uns das Leben eines Muslims nicht viel wert ist, dass ein Wort kein Wort ist und ein Vertrag kein Vertrag, eine Freundschaft keine Freundschaft.
Millionen Tote können nicht durch Brunnenbauen vergessen gemacht werden. Ganz offenbar trauen die Menschen in Arabien und im Iran dem Westen nicht, auch seine guten Worte und besten Taten subsumieren sie nur unter eine Geschichte von Rassismus und Imperialismus. Und was das Schlimmste ist: Sie haben nicht ganz Unrecht. Selbst der gelegentliche Export von Freiheit (wenn es grad passte) musste auf die Araber wirken wie ein Geschoss, nicht wie eine Einladung. Der Westen, der daheim die Demokratie lebt, tritt global zumeist als übler Autokrat auf.

Die große Frage ist darum kaum noch, ob der Westen eine grundlegend neue Politik gegenüber den Muslimen finden muss, sondern vielmehr: Wieso sollten sie uns glauben?

Die Willkommenskultur ist der effektivste Feind des Terrors

Bisher haben die Würde, Sicherheit und Menschlichkeit der Muslime den Westen kaum interessiert, bestenfalls waren sie eine Dreingabe, meistens nicht einmal das. Dies hat sich mit dem historischen Jahr 2015 geändert. Denn die Millionen von Flüchtlingen stellen uns vor die Alternative: Entweder wir helfen ihnen in bisher nie gekannter Weise bei der Verbesserung ihrer Lebensumstände in ihrer Heimat – oder sie kommen und bleiben. Das große Teilen hat begonnen, die Fließrichtung der Geschichte zwischen Europäern und Arabern hat sich umgekehrt.

Vielen in Europa macht das verständlicherweise Angst, sie träumen sich zurück in die Abschottung früherer Tage, wir hier oben, die da unten. Doch das wird es nicht wieder geben, weil das Pilotspiel zu Ende und die Geduld zu vieler Araber aufgebraucht ist.

Willkommenskultur ist eine Chance zur Versöhnung

Also muss man diese ungeheure Chance nutzen, um die Muslime und den Westen zu versöhnen.
Endlich werden Araber in großer Zahl von Europäern, von Christen besser behandelt als von ihresgleichen.
Darin liegt der politische Kern der Willkommenskultur: Was wir hier mit den Arabern machen, wird das Bild, das sie in der Region von uns haben, prägen. Das ist eine heikle Aufgabe und eine riesige Chance. Die braucht übrigens Zeit.
Dass drei Länder in Europa seit drei Monaten Flüchtlingen mit einem freundlichen Gesicht und warmen Kleidern begegnen, verändert noch nicht die Welt. Es ist ein Anfang, ein fragiler dazu.

Wegen dieser historischen Aussichten wäre es äußerst kurzsichtig, nun zu versuchen, das leidlich freundliche Willkommen wieder in eine Abschreckungskultur zu verwandeln. Sollte diese Chance zur Versöhnung verspielt werden, entsteht so viel neue Wut, dass wir sie militärisch und geheimdienstlich nicht wieder einfangen können.

Unsere Muslime und der Untergang der DDR

Eines der größten Dilemmata des Westens bestand zuletzt darin, dass sich die Diktatoren oft nicht mehr stabilisieren ließen, dass ihr Sturz jedoch auch nur Chaos erzeugt hat, die Lage sich also nicht wirklich verbesserte. Daraus kann man nur eine Lehre ziehen: Wir sollten von beidem die Finger lassen, vom Stürzen und vom Stabilisieren.

Wie man trotzdem Einfluss nehmen kann, das zeigt die deutsch-deutsche Geschichte. In den achtziger Jahren stieg die Zahl der Besuche von DDR-Bürgern in Westdeutschland auf bis zu sechs Millionen jährlich. Deren positive Erfahrungen im Westen trugen mehr und mehr zur Erosion des SED-Regimes bei, bis es dann 1989 in sich zusammenbrach.

Eine ähnliche Funktion dürften die Millionen Araber haben, die jetzt hierher kommen. Sie erzählen ihren Freunden und Verwandten daheim, wie das Leben auch sein kann, wie man ohne Bestechung eine Urkunde bekommt, was eine freie Presse ausmacht, wie gut die ärztliche Versorgung ist und wie wenig der Ungläubige dem Bild entspricht, das man sich gern von ihm macht. Auch wie ein toleranter Islam aussieht oder eine entgiftete Männlichkeit wird sich rumsprechen, auch wenn das zunächst nicht allen von ihnen gefallen wird. Zugleich werden die Daheimgebliebenen mit politischen Informationen versorgt, auch mit Geld, ganz dezentral und organisch.

Letztlich ist die Befürchtung fast obskur, dass die Flüchtlinge unsere Kultur islamisieren. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass auf diese graswurzelhafte Art der arabische Raum humanisiert, entgiftet und auf lange Sicht politisch verändert wird.

Entschuldigung des Westens, Selbstermächtigung des Mittleren Ostens

Haben sich Franzosen, Deutsche, Briten, Italiener und Amerikaner eigentlich jemals offiziell entschuldigt bei den Menschen in Nordafrika? Für den Kolonialismus? Für den Rassismus? Nein? Und warum nicht?

Damit würde man einiges von dem Groll wegräumen, der jetzt unter Arabern gegen uns gehegt (und gepflegt) wird. Diese Wut machen sich die Herrschenden dort zunutze, die, nebenbei gesagt, oft selbst ein rassistisches Verhältnis zu ihrem eigenen Volk haben. Die westliche Arroganz aber schweißt Herrscher und Beherrschte zusammen. Auch dass der Westen immer wieder so massiv und zugleich ungenau interveniert, hält die arabische Ausredenkultur stabil. Entzieht der Westen sein Gift, dann kollabieren früher oder später jene Systeme, die immer wieder Terror und Flucht entstehen lassen. Um den islamistischen Terror zu bekämpfen, müssen wir uns mit den Muslimen versöhnen. Es wäre also Zeit für eine neue, eine echte Realpolitik.

Realpolitik, jetzt aber richtig – ein New Deal mit den Muslimen

Sobald die Wende in der westlichen Mittelostpolitik verstanden, verkündet und vollzogen sein wird, kann auch wieder über die unschönen Dinge geredet werden.
Wenn Abstriche an unseren Prinzipien, Dialoge mit regierenden Mördern, Geschäfte mit kriminellen Stammesfürsten nicht mehr als der wahre Kern westlicher Politik wahrgenommen werden müssen, sondern nur als gelegentliche und vorübergehende Abweichung von einem Kurs, der offenkundig den Menschen dienen soll, der von Respekt und Interesse getragen ist, dann geht das auch.

Zwar wird man mit dem uniformierten Diktator von Ägypten weiter reden müssen, ebenso wie mit den Islamisten in Riad und Teheran. Nur sollte das künftig mit einer egalitären Kühle geschehen. Man kann nicht die einen Islamisten wie den Teufel persönlich behandeln (Iraner) und die anderen (Saudis) als Brüder in die Arme nehmen. Auch Waffenlieferungen müssen drastisch zurückgefahren werden. Es gibt dort fast keine befreundeten und gutartigen Regime.

Gleichwohl darf der Westen auch bei einer neuen Strategie nicht gutgläubig erscheinen. Angesichts des Terrors brauchen die Europäer einen stärkeren Staat, auch das Militär muss effektiver werden, wahrscheinlich auch teurer.

Wenn allerdings eine neue Realpolitik näher an den eigenen Werten angesiedelt sein soll, dann muss man sich vor Wladimir Putin hüten, denn der versucht nun wieder, den Westen in eine klassische brutalisierte Machtpolitik einzuspinnen.

Vor allem aber braucht es eine positive Agenda: Entwicklungshilfe in einer neuen Dimension, konditioniert und möglichst unterhalb der Herrschercliquen verteilt. Vielleicht einen Marshallplan für die Region und die Öffnung des europäischen Marktes.

Das Ende der alten Realpolitik wird die Fantasie für neue Ideen wecken, dann wird ein neues Kapitel in der Geschichte zwischen Abendland und Morgenland aufgeschlagen. Und wir können alle sagen, wir sind dabei gewesen.

*Ein Angriff auf ein Territorium eines souveränen Landes, UN-Mitgliedes, das weder Deutschland noch Frankreich noch die NATO bedroht, ist eindeutig völkerrechtswidrig. Hierzu Wolfgang Gehrcke, MdB der Linken: 

„Das offensichtliche Angebot der Bundeskanzlerin, deutsche RECCE-Tornados über Syrien einzusetzen, erfolgt ohne Beschluss der Vereinten Nationen und ohne jede Rücksprache mit der syrischen Regierung. Der Bundestag soll im Nachhinein informiert werden. DIE LINKE lehnt ein solches Vorgehen strikt ab.“

** das Pilotspiel ist wohl eher als Schneeballsystem zu versehen, in dem die letzten, d.h. die ärmsten Länder, automatisch als Verlierer dastehen.

Jochen

Das Versagen der JUNGEN WELT – Aufforderung zu einem offenen Gespräch

Da ich die junge Welt regelmäßig lese und auch hier gelegentlich Artikel daraus wiedergebe, gestatte ich mir, auch die folgenden kritischen Anmerkungen wiederzugeben. Ich werde die junge Welt allerdings auch weiterhin regelmäßig lesen und mein Abo nicht kündigen, denn es gibt wenig Alternativen zu ihr.

Eine Diskussion um Mahnwachen und Friedenswinter führen wir in der hiesigen Friedensbewegung, der neu gegründeten Gruppe Nordschwaben der DFG-VK, auch. Ich bin froh über jedes neue Gesicht, das sich hier blicken lässt, und stelle nicht sofort unter Antisemitismus-Verdacht, wenn jemand das militärische Vorgehen des Staates Israel kritisiert oder auf Verflechtungen des US-Finanzkapitals mit Rüstungsindustrien in aller Welt hinweist. Von Mitgliedern der klassischen und emanzipatorischen Linken habe ich allerdings bei diesen Themen auch schon sehr blasierte und entwertende Umgangsformen erlebt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Jutta Dithfurth, die ich früher sehr verehrt habe, gerät aus meiner Sicht da schon in die gefährliche Nähe der Bildzeitungsfeministin A.Schwarzer. Ich fordere auch zur Unterschrift unter den Friedensaufruf der Arbeiterfotografie und des Freidenkerverbandes auf, auch wenn bei den Erstunterzeichnern Organisationen sind, mit denen ich mich ansonsten nicht gerne sehen lassen würde.

In der Diskussion gibt es einen Beitrag eines Genossenschaftsmitgliedes, der auf ein ernsthaftes Problem hinweist, das die junge Welt wie alle anderen Zeitungen im Kapitalismus hat: Wer zahlt, bestimmt, und es wäre an den Genossenschaftsmitgliedern, da transparente Strukturen zu schaffen. Das schöne an einer Genossenschaft ist nämlich, dass die Stimme eines jedes Mitgliedes, unabhängig vom eingesetzten Kapital, gleich viel zählt.

Die komplette Diskussion ist im Originalbeitrag lohnenswerterweise  hier zu lesen, wobei man die einzelnen Beiträge dem Zeitstrahl entsprechend von unten angefangen lesen sollte:

http://www.rationalgalerie.de/schmock/das-versagen-der-jungen-welt.html

Und hier auszugsweise der Text:

Autor: U. Gellermann
Datum: 03. September 2015

Die JUNGE WELT ist eine wichtige linke Zeitung. Nicht wenige ihrer Autoren sind für die linke Öffentlichkeit unverzichtbar. Bei anderen wiederum muss die Frage gestellt werden, was denn für sie links ist. Die Autorin Christel Buchinger* hat diese und andere Fragen in einem Essay fomuliert, der über den JUNGE WELT-Komplex hinausgeht. Leider gab es auf ihren Text von der JUNGEN WELT keine Resonanz. Wie die Zeitung auch einer ganzen Reihe anderer Leser keine Möglichkeit zur Diskussion gab und gibt.

Die RATIONALGALERIE will der notwendigen Debatte Raum verschaffen. Wenn das in der Rubrik SCHMOCK geschieht, dann zum einen, weil die Site technisch nicht sonderlich gelenk ist und keinen anderen Platz bietet. Zum anderen, weil manche Artikel der JW in den letzten Monaten tatsächlich ziemlich verschmockt waren.

Über eine Beteiligung an der Debatte würde ich mich sehr freuen. Und natürlich auch, wenn Kolleginnen und Kollegen der JUNGEN WELT ihre Meinung äußern wollten. 

Uli Gellermann

DER TEXT VON CHRISTEL BUCHINGER

Ich habe die Junge Welt gekündigt, weil sie ausgerechnet an Brennpunkten der politischen Entwicklung versagt, wo es gerade heute bedeutsam ist, genau hinzuschauen, in die Tiefe zu gehen, zu recherchieren, zu diskutieren, zu fragen. Ich spreche damit neben der Berichterstattung zu Griechenland, das völlige Versagen beim Thema Geschlechterverhältnisse an, vor allem aber den „Friedenswinter“. Ich will den Umgang mit dem Friedenswinter, respektive mit den Montagsmahnwachen, kritisch beleuchten, wissend, dass die Junge Welt auch diese Meinungsäußerung dazu nicht ernst nehmen wird. Wer Rainer Rupp dermaßen abblitzen lässt (1), schert sich um die Meinung einer ehemaligen Leserin nicht.

Bei Friedenswinter und Montagsmahnwachen deutete sich eine neue Entwicklung an, Bewegung und Aufruhr entstanden, ohne dass, wie es traditionell der Fall ist, die Linke ihre Finger im Spiel hatte. Im Gegenteil: die Bewegungen entstanden gerade auf diese Art und Weise, weil die Linke sich vor entscheidenden Auseinandersetzungen und Zuspitzungen drückt, den Kampf um Gegenhegemonie zum Neoliberalismus und zur Kriegstreiberei geradezu verweigert. Das betrifft die ganze Linke, nicht nur die gleichnamige Partei. An dem Eindruck, dass der Kampf um Gegenhegemonie verweigert wird, ändern auch die aufgeblasenen Backen von Monty Schädel und anderen Helden nichts. Weil ein Vorwurf und eine Begründung, warum man sich von den Veranstaltungen fernhalten muss, der auch von der Jungen Welt wiedergegeben wird, jener ist, unter den Demonstranten und Aktivisten des Friedenswinters und der Montagsmahnwachen befänden sich Verschwörungstheoretiker, beginne ich mit einer Verschwörungstheorie.

1. Verschwörungstheorie im Selbstversuch

Größeren Katastrophen gehen oft Vorwarnungen voraus. Kleine Erdbeben kündigen große an, der Vulkan spuckt und raucht, bevor er ausbricht. Und so waren die Herrschenden gewarnt. Der erste Warnschuss hieß Stuttgart 21.
Viele Menschen aus Stuttgart und Umgebung engagierten sich gegen dieses Bahnprojekt, gingen auf die Straße, zogen nach Berlin, dachten sich phantasievolle Aktionen aus, gingen so weit, neue Aktionen des zivilen Ungehorsams zu erproben, zum Beispiel Bäume zu besetzen. Der Protest strahlte in das ganze Land aus. Er traf tief und breit in die Gesellschaft, erfasste viele Menschen, auch weit über die Region hinaus. Die Kritik war fundiert, sie berührte in Einzelfällen gar das Gesellschaftssystem als ganzes. Und der Prostest ist immer noch nicht zu Ende, kann jederzeit wieder ausbrechen, die Aktivisten sind noch nicht geschlagen. (2)

Dann kamen die Montagsmahnwachen. Der Protest entzündete sich an der Ukraine-Krise. Hier ging es nicht nur um einen Bahnhof.
Die Herrschenden sahen sich einer neuen Gegnerin gegenüber. Aus dem Nichts war eine Bewegung aufgetaucht, die üblichen Verdächtigen, Linke, Friedensgruppen waren nicht beteiligt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren ähnlich empört wie die in Stuttgart, der Initiator politisch ein unbeschriebenes Blatt. Und es kam noch schlimmer: ohne organisatorischen Rückhalt durch gewachsene Strukturen, Parteien, Gewerkschaften breitete sich die Bewegung über das ganze Land aus. Es kamen einfach Leute aus allen Löchern, versammelten sich und protestierten. Zum Höhepunkt waren jeden Montag mehrere tausend Demonstranten auf den Beinen. Ähnlich wie bei den Occupy-Protesten durfte jede reden, die wollte. Und sie redeten. Gutes und Krauses. Unbekannte und Promis waren da. Auffallend viele Frauen gingen einfach ans offene Mikro und redeten los, was sie dachten und was sie erlebt hatten.
Man kann sich den Unmut vorstellen, den diese Friedensinitiative bei den Mächtigen, den Kriegstreibern, den Oligarchen, den Rüstungsgewinnlern und ihren Bütteln in Politik und Medien hervorrief. Die schöne Farbenrevolution, der Menschenrechtsaufstand wurden desavouiert. Der gut und von langer Hand vorbereitete Regimechange, das Herausbrechen der Ukraine aus dem Einfluss Moskaus war öffentliches Thema und wurde ungestüm kritisiert. Offen wurde gemacht, dass es um Krieg und Frieden ging, und das bunte Völkchen, das, wie sagt man doch gleich, aus der Mitte der Gesellschaft kam, verweigerte offen die Gefolgschaft. Dabei war alles so schön vorbereitet. Nicht dass die Herrschenden fürchten müssten, wirklich einen Fight zu verlieren, aber der Angriff ging auf den Kernbereich der Macht, aufs Ganze.

Die Herrschaft der staatsmonopolistischen Oligarchie ist selbstverständlich noch nicht angefochten, alle Herrschaftsinstrumente sind fest in ihrer Hand, sie sind waffenstarrend, sie bauen ihre Geheimdienste aus, die Polizei wird paramilitärisch aufgerüstet. Aber sie spüren, dass ihre Hegemonie, ihre Herrschaft über das Bewusstsein der Menschen, in Frage gestellt wird. Die logische Reaktion war, die Medienwalze in Bewegung zu setzen. Da kam Jutta Ditfurths Aufschlag gerade recht: da versammeln sich Antisemiten, glühende sogar, Verschwörungstheoretiker und Querfront-Anhänger und tarnen sich als Friedensbewegung! Damit gab sie die Stichworte für die Medien. Alle (fast alle) plapperten nach, kaum jemand bemühte sich hin und befragte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oder die Organisatoren, recherchierte und bewertete aufgrund von Kenntnis. Das Foto eines Nazis, der ohne Fahne oder Umhängeschild in der Menge stand, reichte. Ein Shitstorm der Medien brach los.
Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wiederum führte das zu neuer Erkenntnis der Manipulationsmacht der Medien. Viele Linke aber verjagte er gänzlich in die Mauselöcher. Um Gottes Willen nicht wieder Anlass für den Vorwurf des Anitsemitismus geben!
Ob Ditfurth wusste, wessen Geschäft sie da betrieb?

Weiter ging’s: Die Mahnwachen sind von der NPD initiiert, werden von ihr als Friedensbewegung 2.0 bezeichnet. Praktischerweise tauchte Elsässer als Redner auf, der Querfrontler, der mit Ultrarechten paktierte, dem die Nähe zu Nazis nichts ausmacht. Über Mährholz wurde enthüllt, dass er dereinst einer merkwürdigen Journalistenvereinigung angehörte, die von einem deutschnationalen Burschenschaftler gegründet worden war. Und Ken Jebsen wurde beim Rundfunk gefeuert, weil man ihm Antisemitismus vorwarf. Der Vorwerfende war damals Henryk Broder.
Antisemiten, Nähe zu Nazis, das ist normalerweise ein politisches Todesurteil. Aber die Bewegung gab nicht klein bei. Die Vorwürfe wurden zurückgewiesen, entkräftet, relativiert. Die Bewegung ging weiter, wurde größer. Die Hatz auch. Da blieben noch zwei scharfe Waffen für die Obrigkeit. Erstens die Spaltung und zweitens …
Zum ersten Punkt, der Spaltung wollen wir später kommen. Beginnen wir mit der zweiten Waffe: die Gründung einer neuen Bewegung, die geeignet ist, alle weiteren Bewegungen dieser Art zu diskreditieren und ganz nebenbei die vorhandene Wut der Menschen auf die Verhältnisse auf AusländerInnen und Muslime umzuleiten.
Man nehme: eine geklaute Idee (Mahnwachen) oder eine Idee, die im ersten Anlauf schief ging (Hogesa), ein paar V-Leute, Staatsknete, ein Thema (Angst vor Islamisten), lasse aber auch andere Themen zu, z.B. Kritik an den Medien.
Man suche sich einen Ort aus, am besten im Osten Deutschlands, dort ist die rechte Szene stark.
Über die sozialen Netzwerke wird der Aufruf lanciert. Erste Aufmärsche werden von der Presse hochgeschrieben, das ganze von Rundfunk und Fernsehen mit einer Mischung aus Grusel und Neugier übergossen. Immer mehr Demonstranten nahmen teil, tausende waren es schnell, die Zahl Zehntausend wurde überschritten. Es gibt genügend Unzufriedene. In anderen Städten ging´s weiter: wiederum ein paar V-Leute, Geld, Medienrummel. Die Vorwürfe von Medien und Politik waren die gleichen wie bei den Montagsmahnwachen: Rechtsradikale und Antisemiten, Rassisten und Fremdenhasser. Da die Nazis zu den Demos mobilisierten, war das stimmig. Was die Masse der Demonstrierenden wollte oder dachte, wer wusste das? Angereichert wurde noch durch Todesdrohungen durch Antideutsche gegen den sog. Initiator Bachmann.
Und dann der Knaller: Bachmann, einer der Strippenzieher erschien im Internet als Hitlerimitator und verbreitete auf seinem Facebook-Account bösartige, rassistische Sprüche gegen Flüchtlinge. Beweis erbracht. Beweis organisiert. Die Demonstranten wurden weniger, die Nazis übernahmen und bekräftigten damit den „Beweis“. Bachmann trat erst zurück, kam dann wieder.

Im Folgenden wurden Montagsmahnwachen mit Pegida und seinen Ablegern konsequent in einen Topf geworfen. Das war’s.
Das alles wäre leicht durchschaubar gewesen, wenn es nicht die Flankierung von links gegeben hätte. Sie verlieh dem Schmierentheater Glaubwürdigkeit. Wenn Bildzeitung, Welt, Zeit, Linke und Friedensaktivisten das gleiche sagen, muss es ja stimmen. Den Friedenswinter diskreditieren mittels Montagsmahnwachen, das kann nur die Linke selber leisten.

Deshalb kommen wir jetzt zur ersten oben genannten Waffe, der Spaltung.
Auch hier stand am Beginn Jutta Ditfurth. Sie gilt als Linke. Ihr Angriff galt vordergründig Jürgen Elsässer. Sie zielte auf Elsässer, aber sie meinte die Friedensdemonstrantinnen und -demonstranten. Jürgen Elsässer hat seine politische Karriere ganz links begonnen, beim Kommunistischen Bund, er publizierte bei der linken Tageszeitung Junge Welt. Inzwischen ist sein Markenzeichen die Vermischung von linken und rechten Positionen. Er ist ein Rechter, aber kein Nazi. Ihn als „glühenden Antisemiten“ zu bezeichnen, war völlig überzogen. Wer es dennoch tut, will nicht kritisieren, sondern eine Kampagne eröffnen. Und das war dann auch der Fall. An ihr beteiligten sich Antideutsche, die sich selber als links bezeichnen, aber kaum dieser politischen Seite zugerechnet werden können, es beteiligten sich aber auch Linke aus der Partei DIE LINKE und aus der Friedensbewegung; es beteiligten sich ebenso linke Presseorgane wie das Neue Deutschland, die Junge Welt oder die linksliberale Wochenzeitung Freitag sowie die Zeitschrift konkret. In Facebook und in Blogs waren der Shitstorm kaum noch zu überschauen. Ein Grundmuster war das „In einen Topf werfen“. Pegida und Montagsmahnwachen, Elsässer und Jebsen, Pegida und Friedenswinter. Ein anderes war der Angriff auf alle, die es wagten, die Vorwürfe zu relativieren oder gar sich an den Montagsmahnwachen zu beteiligen.

Die Jungle World schrieb: „Na, von wem ist hier die Rede? Vom Pegida-Mob oder vom Mahnwachen/Friedenswinter-Mob? Von beiden! So groß ist der Unterschied nicht. Der Friedenswinter ist Pegida für Linke und Pegida die Mahnwachenbewegung für Rechte.“

Die Partei DIE LINKE fasste schnellstens Unvereinbarkeitsbeschlüsse wie seinerzeit die alte Tante SPD: Wo Montagsmahnwachen drin sind, wird von der Partei nicht finanziell unterstützt. Einzelne Linke, die sich über den Bannfluch hinwegsetzten, waren Angriffen ausgesetzt. Es traf zum Beispiel Prinz Chaos II., Pedram Shahyar, Dieter Dehm und Heike Hänsel, die bei den Mahnwachen auftauchen, sowie Friedensaktivisten wie Reiner Braun, der das Gespräch und die Zusammenarbeit suchte. Wer sich den Montagsmahnwachen, und sei es auch nur interessiert, näherte, wurde sofort angegriffen. Viele zogen den Schwanz ein. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse von diversen Friedensinitiativen folgten.
Nun war es ein Leichtes den Friedenswinter in aller Gemütsruhe ebenfalls fertig zu machen. Das schafften Linke ganz allein. Da mussten die Medien gar nichts mehr tun. Die ersten Erklärungen zur Nichtteilnahme am Friedenswinter von VVN bis DKP verhallten medial, aber nach innen hatten sie Wirkung. Auch Tobias Pflügers Distanzierung war sicher wirksam. Im Ergebnis war die alte , linke Friedensszene gespalten, der Friedenswinter konnte nicht die notwendige Kraft entfalten. Das Spiel der Herrschenden war aufgegangen.

2. Verschwörungen

In Deutschland ist „Verschwörungstheoretiker“ ein Schimpfwort. Warum ist das so? Und warum greift sogar die Linke auf diese Bezeichnung zurück? Auch unter Linken ist doch bekannt, dass es Verschwörungen gab und gibt. Große Verschwörungen, wie diejenige, Hitler an die Macht zu bringen. Den Tonkin-Zwischenfall, den die USA-Regierung erfand, um den Vietnamkrieg zu beginnen.

Es waren Linke, die große Verschwörungen enthüllten. Die Enthüllungen um Gladio und die Stay Behind-Truppen der NATO haben Verschwörungen gegen die Nachkriegsdemokratien in schwindelerregendem Ausmaß gezeigt. Putsche und Putschversuche in Herzen Europas waren die Taten dieser Gladios. Hätten wir das in den Siebzigern behauptet, was wäre passiert?
Verschwörungstheorien gibt es, weil es Verschwörungen gibt. Viele Verschwörungstheorien wurden im Laufe der Zeit bestätigt. Dass Terror und Staat vom gemeinsamen Teller essen und gemeinsam Leichen im Keller haben, vermutete Hannes Wader in den Siebzigern. Wer hat darüber gelacht oder den Kopf geschüttelt? Spätestens seit 9/11 versuchen die Herrschenden und ihre Medien, jene Menschen zu verleumden, lächerlich zu machen, die der viel lächerlicheren offiziellen Erklärung zu den Anschlägen eigene Recherchen entgegenstellen. Sie nennen sie Verschwörungstheoretiker.

3. Zweiter Selbstversuch einer Verschwörungstheorie

Etwas, was in Demokratien oder aufgrund des Völkerrechts nicht durchsetzbar ist, aber gewollt von Mächtigen, wird heimlich durchgezogen. Das nennt man eine Verschwörung. Es wird dazu eine Geschichte fabriziert, das ist die dazugehörige Verschwörungstheorie der Herrschenden. Das Problem an Verschwörungen ist, dass sie früher oder später auffliegen. Dann wird die bisher in Umlauf gebrachte Story, die alle Medien nachgebetet haben, in Frage gestellt und investigative Journalisten zum Beispiel arbeiten an einer neuen Geschichte. Diese werden nun von den Medien, von interessierten Kreisen, von Geheimdiensten, die in die Verschwörung verwickelt waren, ironischerweise als Verschwörungstheoretiker beschimpft. Und damit das V-Wort auch ein Schimpfwort ist oder wird, beteiligen sich die „Dienste“ im Auftrag der Oberen an der Produktion von Verschwörungstheorien, verrückten und absurden oder glaubwürdigen.

Beide Sorten kann man gut brauchen. Die glaubwürdigen, damit viele kritische Menschen, die den Oberen nicht mehr alles glauben, sich damit beschäftigen und verwirrt werden, wenn die Unglaubwürdigkeit der Theorien nachgewiesen wird und die absurden, damit man dann die Verschwörungstheoretiker öffentlich und medienwirksam lächerlich machen kann.
Ich glaube also, dass die Geheimdienste des Westens und ihre Beauftragten das Internet mit Verschwörungstheorien überschwemmen, um die wirklichen Verschwörungen unsichtbar zu machen. Darauf fallen viele rein. Auch Linke. Auch die Junge Welt.

4. Noch einmal zu den Montagsmahnwachen

Es waren ganz normale Menschen, mehrheitlich Männer. Das zeigen die Videos, die es in großer Zahl im Internet über die Montagsdemonstrationen, die sich Mahnwachen nannten, gibt. Es war der Durchschnittsbürger, der da hinging. Auch ein paar alternativ aussehende, buntere, langhaarige, auffälligen Schmuck tragende. Was sie dachten und sagten, dachten und sagten viele. Sie hatten die Nase voll. Sie wollten von den arroganten Medienfuzzis und deren Brötchengebern, den Medienmogulinnen und -moguln nicht mehr belogen werden. Sie wussten folglich, dass sie belogen wurden. Sie wussten, dass die Lüge vor allem Urständ feiert, wenn es um Krieg geht.
Sie informierten sich im Internet und vieles durchschauten sie, wenn auch nicht alles. Aber das ist kein Wunder. Wer durchschaut schon alles. Sie sahen, dass aus Putin ein Monster gemacht wurde, obwohl er sich im Ukraine-Konflikt ganz rational verhält, rationaler verhält sich kaum ein westlicher Regierungschef. Sie sahen, dass da ein Putsch stattgefunden hatte, der aber vom Westen gutgeheißen wurde. Sie sahen, dass dieser Putsch weitgehend von außen gesteuert worden war, von den Regierungen, den Stiftungen, den Geheimdiensten, dem Establishment der USA und Europas.

Sie merkten, dass die Kriegsgefahr, die in den letzten Jahrzehnten immer nur Asien und Afrika betraf, nun näherrückte. Sie wollten keinen Krieg, sie hielten Krieg für Irrsinn und sie hatten begriffen, dass die Medien und die Politik für die Propagierung dieses Irrsinns verantwortlich sind. Mehr noch: Sie erkannten, dass die Kriege nicht nur mit dem Rohstoffhunger des Westens zu tun haben, sondern mit seinem Wirtschaftssystem überhaupt, dem Kapitalismus.

Sie fingen an zu begreifen. Daran trägt die FED (3) die Schuld, sagten einige. Die FED steht für das Bankensystem. Occupy nannte das Kürzel für das Finanzkapital „Wallstreet“. Mit Lenin wissen wir, dass das Finanzkapital die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital ist, unter der Hegemonie der Banken. Die Verquickung amerikanischen Kapitals mit Hitler und dem deutschen Faschismus ist mittlerweile gut dokumentiert, siehe z.B. „Kein Blitzkrieg ohne USA – Nicht nur die deutsche, auch die herrschende Klasse der Vereinigten Staaten liebte Hitler und verlängerte profitträchtig den Zweiten Weltkrieg“ von Werner Rügemer (4). Die Mahnwachler, die anfingen zu begreifen waren auf der richtigen Spur.

Was taten Linke? Gingen sie hin und diskutierten mit? Nein! Sie mäkelten herum, dass nur die FED genannt wurde, nannten das strukturellen Antisemitismus, angeblich, weil dort viele in den Chefetagen Juden seien. Das wisse man im Prinzip und würde Kritik an der FED nutzen, um die Juden zu treffen. Die meisten MahnwachlerInnen hatten bis dahin wahrscheinlich keinen Gedanken darauf verwandt, dass in der FED vielleicht Juden sitzen.
Es gab unter all den Rednerinnen und Rednern, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch ganz absonderliches Gedankengut. Wie im Querschnitt der Gesellschaft auch. Allerlei Mythologisches, Spirituelles und Verschwörungstheoretisches. Wobei weder Mythologie noch Spiritualität oder Verschwörungstheorien per se absonderlich sind. Mythologien sind für das Begreifen der menschlichen Geschichte und der Ideengeschichte wichtig, Spiritualität ist für viele Menschen ein zentraler Lebensinhalt und Theorien zu Verschwörungen sind notwendig, weil es Verschwörungen gibt. Wie sich zuletzt in der Ukraine zeigte.
Warum wurden die Herrschenden nun so nervös? Ganz einfach: Als die Occupy-Bewegung über den Globus rollte, waren das viele, aber es waren die üblichen Verdächtigen. Es waren Jugendliche, junge Menschen, Linke und Alternative. Leicht marginalisierbare Leute, die man nur in ein paar gewalttätige Auseinandersetzungen verwickeln musste, und schon war der gute Ruf hin.
Occupy hatte eine eigene Kultur entwickelt. Jeder Anwesende durfte reden. Man wollte Basisdemokratie, keine Hierarchien und keine Gurus. Das Links-Rechts-Schema wurde zunehmend in Frage gestellt oder ganz abgelehnt. Herkömmliche Politik und Politiker hatten bei ihnen verspielt. Und genau diese Kultur übernahmen die Montagsmahnwachen. Occupy war bei den Normalen und Durchschnittlichen angekommen. Und nun wurde es für die dauerhafte Hegemonie der Herrschenden eng.
Und noch etwas war anders. Es waren keine Demos, die Forderungen an die Politik stellten. Es waren Versammlungen, die Leute zusammen brachten, die selber etwas ändern wollten und überlegten, wie das gehen kann.

Klaus-Peter Kurch, ein kluger Linker, der den Opablog betreibt, beschreibt, was ich nur aus der Ferne über youtube sehen konnte, sehr schön: „Ganz ähnlich erlebe ich die Situation wöchentlich auf den Montagsmahnwachen. Außerhalb gewohnter Bahnen bewegen sich Informationen zwischen den Menschen, und zugleich sind die Menschen begierig, sich mit Informationen, auch “unüblichen”, auseinanderzusetzen. Das ist ein breiter Fluss, der auch trübe Bestandteile mit sich führt. Vieles passiert doppelt und dreifach, Informationen behindern sich gegenseitig, manchmal macht sich Abstruses breit. Doch ich glaube, dass das Äußerlichkeiten sind. Das Beständige, Innere, das sich auszuprägen scheint, ist ein Prozess komplexer Informationsverarbeitung zu Kernfragen, Grundfragen, Lebensfragen der Menschen durch die eigene Initiative der Menschen. Sie sind spontan und Viele durchaus aufmüpfig in den direkten wechselseitigen Austausch gegangen. Für die modernen Götterorakel, “Massenmedien” genannt, diese “Medien” die statt Mittler zwischen den Menschen und der Welt zu sein, in Wahrheit eher Irrgartenspiegel sind, für die wird der Platz plötzlich knapp. Da geschieht, allem Anschein nach, etwas Enormes.“ Schön gesagt und gut gesagt!
Aber nur wenige Linke reagierten wie Klaus-Peter Kurch und sahen sich das ganze selber an. Zeitungs- und Blogseiten wurden vollgeschrieben von Linken, die nie persönlich bei einer Montagsmahnwache waren oder mit einem Teilnehmer oder einer Teilnehmerin gesprochen hatten.

5. Junge Welt drückt sich und entlarvt die Lüge nicht

Am 11. Oktober gelang überraschend der Schulterschluss, als Vertreterinnen und Vertreter der Montagsmahnwachen an der Aktionskonferenz der Kooperation für den Frieden in Hannover teilnahmen. Alte und neue Friedensbewegung redeten miteinander. Bis dahin war der Weg steinig. Einzelne Linke und ProtagonistInnen der traditionellen Friedensbewegung, die sich bei den Montagsdemonstrationen blicken ließen, dort gar redeten, wurden bezichtigt, Nazis auf den Leim zu gehen, Querfrontpolitik zu unterstützen, mindestens ernteten sie Kopfschütteln.

Die Wellen im linken Lager schlugen zeitweise hoch. In einer solchen Situation käme einer linken Tageszeitung wie der Jungen Welt die Rolle zu, analysierend, klärend, kommunizierend einzugreifen. Bezeichnet sich die Junge Welt doch selbst als eine Zeitung, die die Wahrheit sagt, wo andere lügen. Und diese Lügen dienen ja nicht selten der Hetze. Gegen Putin, gegen Russland, gegen die Armen, gegen Roma, gegen Muslime. Dienen auch der Kriegsvorbereitung. Der Feindbildproduktion. Und wenn die Junge Welt den Anspruch formuliert, dort die Wahrheit zu sagen, wo andere lügen, muss sie das dann nicht überall tun, wenn sie glaubwürdig sein will? Muss sie die Wahrheit nicht in allen Fragen suchen? Auch wenn es wehtut? Die TeilnehmerInnen der Montagsmahnwachen hatten im Übrigen einen ähnlichen Anspruch, nämlich die Mauer der Desinformation zu durchbrechen. Eigentlich also ein positiver Grund hin zu gehen.

Als allerdings die „Qualitätsmedien“ die Montagsmahnwachen eine Versammlung, von Spinnern, Neu-Rechten, Antisemiten und Verschwörungstheoretikern nannten, mischte die Junge Welt in diesem Chor mit. Die seltene Übereinstimmung, kam ihr nicht komisch vor. Was tat der zuständige Redakteur der Jungen Welt, Sebastian Carlens? Er gab die ganzen Vorwürfe von Ditfurth und den Mainstreammedien kritiklos und ohne den Aufwand von zusätzlicher Recherche weiter. Das war bequem vom Sessel in der Redaktion aus zu erledigen. Die Junge Welt, sonst Dokumentaristin noch des winzigsten Autonomenaufmarschs, ansässig in Berlin, große Reisekosten waren also kaum zu erwarten, hat noch nicht einmal verdeckte Aufklärer zu den Demos geschickt. Um die Ecke zum Brandenburger Tor zu gehen, war zu viel verlangt? Oder wollte man, da das Label des Antisemitismus schon angeheftet war, dort nicht gesehen werden? Ich halte das für einen möglichen Beweggrund für das Nichtdahinbewegen. Es ist natürlich feige.
Auch nachdem einige Linke neugierig geworden waren, aber auch besorgt und Kontakte aufnahmen, dort sprachen, auch in anderen Städten sprachen, änderte Sebastian Carlens seine Haltung nicht. Haben also die Leserinnen und Leser der Jungen Welt keinen Anspruch, diesbezüglich informiert zu werden?

Die Medien griffen sich einzelne Personen heraus. Die Junge Welt folgt ihnen.
Die Bundestagsabgeordnete der LINKEN, Ulla Jelpke, die ich ansonsten schätze, verging sich an Ken Jebsen. Mit einer hanebüchenen „Beweiskette“ will sie ihn des Antisemitismus überführen:
„Mit dabei ist auch der frühere RBB-Moderator Ken Jebsen (…) Jebsen musste den RBB nach bis heute nicht ganz aufgeklärten Antisemitismus-Vorwürfen verlassen. Ob diese zutreffen, kann dahingestellt bleiben – in jedem Fall vertritt der Mann Positionen, die eine antisemitische Interpretation nahelegen. So weist er bezüglich der Schuld am Zweiten Weltkrieg auf seiner Homepage darauf hin, dass »Firmen wie Shell, die damals zu 40 Prozent in jüdischem Besitz waren, 40 Millionen Reichsmark an die NSDAP spendeten«“.
Die Vorwürfe sind also nicht ganz aufgeklärt, ihre Klärung kann aber unterbleiben? Jelpke weiß natürlich um die Finanzierung der Nazis durch amerikanisches Monopolkapital und auch um deren Sympathien für den Faschismus. Sie weiß natürlich um den Aberwitz, dass mit dieser Finanzierung auch Juden den deutschen Faschismus unterstützten, weil Kapital keine nationalen, religiösen oder kulturellen Grenzen kennt, wenn es um Profit und Herrschaft geht. Auch kein eigenes Volk.
Weiter schrieb sie:
„Medienvertreter, die kritisch über ihn berichten, fordert er auf: »Würdet ihr klassisches Pay-TV anbieten, könnte man euch schon kommenden Monat keine Löhne mehr zahlen. Oder muss man sagen, fiele der Judaslohn weg.«“
Ist – Teufel nochmal – die Benutzung des Begriffs Judaslohn Beweis einer antisemitischen Gesinnung? Und dann kommt es ganz bizarr:
„Da Jebsen zudem unaufhörlich vom »Fed-Imperium« spricht, kann man das nur als Unterstellung lesen, die Medien seien jüdisch kontrolliert, um im Auftrag der (jüdischen) Federal Reserve die Welt unter Kontrolle (des Judentums) zu behalten.“
Kann man das? Ich meine nein. Auch nur wenig genaueres Hinsehen, hätte den Aberwitz dieser „Beweiskette“ gezeigt. Ginge sie noch einen Schritt weiter, sie landete bei den Antideutschen, für die Kapitalismuskritik und Kritik am US-Imperialismus „strukturell antisemitisch“ sind.

Nachdem Ulla Jelpke sich mit den Montagsmahnwachen auseinandergesetzt hatte, nicht ohne die Vorwürfe ihrerseits ungeprüft zu wiederholen, aber immerhin mit dem Ziel, jetzt eine linke Debatte zu beginnen, schob die Junge Welt einen Artikel aus der Feder von Peter Strutinsky nach, in dem dieser ohne einen einzigen Beleg behauptete, die neue Friedensbewegung sei von der NPD ins Leben gerufen. Auf welche Erkenntnisse stützte er sich dabei? Wer sind seine Zeugen? War er da? Hat er mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern gesprochen? Er führte keinerlei Belege an. Er ist Wissenschaftler. Er weiß, was er tut, wenn er etwas behauptet, ohne es zu belegen. Der Artikel strotzte von Unterstellungen und von verletzter Eitelkeit des Autors. Traute sich da eine Friedensinitiative auf die Straße, ohne die Erlaubnis der erlauchten etablierten Friedensbewegung zu erbitten!

Der Geschäftsführer der Genossenschaft Junge Welt, Dieter Koschmieder, konnte ebenso nicht an sich halten, diese neuen Friedensinitiative zu verteufeln.
Auch er arbeitete sich an Ken Jebsen ab und warf ihn mal schnell in einen Topf mit Jürgen Elsässer und Pegida. Ist das gut recherchiert? Ist das die Wahrheit? Jebsen wird mit den anderen o.g. Verdächtigen vorgeworfen, er rede dafür, das gute nationale Kapital gegen das böse ausländische verteidigen, mittels christlichem Glauben die islamische Verrohung zu bekämpfen, abendländische Werte zu vertreten und nicht links oder rechts und oben und unten zu sehen sondern nur das deutsche Volk, zu fragen, wer uns vor Fremden schütze usw. Das ist infam!
Wieder die Frage: Wo sind dafür die Belege, wo ist der Beleg für auch nur einen der Punkte? Gibt es Zitate? All das gibt es nicht. Es bleibt dabei: Jede einzelne Behauptung ist üble Verleumdung. Dass er auf das Feindbild der Mainstreammedien reinfällt, wäre noch die freundlichste Unterstellung. Es könnte auch sein, dass er einen alten, miesen, kleinen Meinungsmachertrick anwendet, nämlich einen Unliebsamen in den Sack mit anderen Wüstlingen stecken, Beschuldigungen zu nennen, die auf die anderen zutreffen und dann draufzuschlagen.

Danach war wieder Funkstille bei der JW. Dabei wäre eine Analyse der Bewegung notwendig und hilfreich gewesen und für die Junge Welt auch nicht so sehr aufwändig. Am anderen Ende der Republik sitzend war es mir zumindest möglich, über die von den Versammlungen eingestellten Videos einen guten Eindruck davon zu erlangen, was sich dort abspielte. Natürlich waren da seltsame Gestalten dabei. Aber war das in den Achtzigern bei der damaligen Friedensbewegung nicht auch so? Wenn wir das damals abgeblasen hätten wegen der Esoteriker, der Spinner, der Rechten, hätte es eine große Friedensbewegung nicht gegeben. Da waren Generäle dabei. Mechtersheimer war eine zentrale Person in der Bewegung. Hat er sich wirklich erst danach als einer vom rechten Rand erwiesen?
Zurück zu den Mahnwachen. Ein soziologischer Schnelltest erbrachte kurz darauf, dass das ganze Geunke von der Nazi-Friedensbewegung wohl Quatsch war. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen verortete sich eher links. Das wurde von der Jungen Welt etwas pikiert zur Kenntnis genommen, aber Konsequenzen wurden keine gezogen.
Zweidrittel bis dreiviertel der Deutschen sind gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr und für eine friedliche Politik. Da sind die nicht deutschen Menschen, die bei uns leben, noch gar nicht gerechnet. Die Junge Welt und andere Linke räsonierten jahrelang darüber, dass diese Friedensfreunde sich leider, leider nicht mobilisieren ließen. Das war offenbar Quatsch. Der Linken und der linken Friedensbewegung gelang es nicht, diese Leute zu mobilisieren. Dass sie mobilisierbar waren, haben die Montagsmahnwachen gezeigt. Offenbar waren einige Leute darüber so beleidigt, dass sie lieber in den Chor der Medien einfielen, als sich freuen zu können, dass es Bewegung gibt und dass man reden kann. Nein. Selbst die Junge Welt sprach von „Wutbürgern“. Geht’s noch?

Wich die Skepsis, als TeilnehmerInnen der Montagsmahnwachen und Teile der Friedensbewegung zum Friedenswinter mobilisierten? Machte der verantwortliche Redakteur Sebastian Carlens sich kundig? Wieder nicht! In der Schmollecke in der Redaktionsstube saß er und produzierte ein „manipulatives Traktat“ (Rainer Rupp) und nannte es „Formierte Gegenaufklärung“. Rupps Bezeichnung „manipulativ“ trifft das Wesen des Artikels gut. Sein lang geratener Einstieg ins Thema suggeriert marxistische Analyse. Ohne dass er den Leuten der Mahnwachen etwas konkretes nachsagen kann, außer dass sie die Fed verantwortlich machen für die Kriegsgefahr, spannt er einen suggestiven Bogen vom Friedenswinter über Pegida und Afd zu angeblich „neuen Inflationsheiligen“. Da gehört Elsässer dazu, dessen rechtsradikale Gesinnung wird genutzt, um auch Jebsen zu entlarven, auch diesmal ohne einen konkreten Vorwurf.

Der Artikel erschien in der gleichen Ausgabe, wie ein Interview mit Monty Schädel, in dem dieser in der gleichen Art wie Carlens ohne Beweise die Montagsmahnwachenleute zum rechten Rand erklärt. Eine Breitseite der Jungen Welt gegen den Friedenswinter also. Schädel ist Vorsitzender der DFG/VK. Auf seiner Website steht geschrieben, er habe mit anderen Aktivisten zusammen die Proteste gegen den G8-Gipfel in, Heiligendamm organisiert. Hört sich etwas überheblich an. Dass Schädel im besten Falle ein Sempliciotto, im schlechteren Falle ein übler Provokateur ist, zeigt er, wenn er in dem Interview skandalisiert, der Journalist Ken Jebsen teile alle Meinungen seiner Interviewpartner von weit rechts bis weit links. Er findet, die Friedensbewegung solle sich wieder auf ihre bewährten Strukturen stützen und den „Friedenswinter“ beenden. Und das, obwohl er zugibt, in der Ukraine-Frage habe die Friedensbewegung versagt. Er sagt das so dahin, dabei handelt es sich um den für den Frieden in Europa gefährlichsten Konflikt gegenwärtig. Da hat die Friedensbewegung halt mal versagt. Und wenn die Montagsmahnwachen nicht stattgefunden hätten? Dann wäre es bei diesem Versagen geblieben, nicht wahr?
Der Friedenswinter habe mit der Friedensbewegung, wie er sie kenne, nichts zu tun, teilt der Ossi Schädel mit. Ja eben, die alte große, starke, breite Friedensbewegung, in der alle politischen Meinungen und Haltungen außer faschistischen willkommen waren, eine ohne Gesinnungsprüfung für die, die mitmachen wollten, eine die auch Militärs willkommen hieß und Kapitalisten, das kann sich Schädel nicht vorstellen. Weil er sich nicht vorstellen kann, was er nicht selber erlebt hat? Wahrscheinlich kann er nur eine Friedensbewegung gut finden, die ihm selber ein Podium ohne Konkurrenz für seine Selbstdarstellung bietet.
Reiner Rupp, der den Skandal dieser JW-Ausgabe benannte, wurde abgefertigt, seine Aufforderung, eine breite Debatte in der Jungen Welt zu führen, kaltschnäuzig abgelehnt. Dagegen darf ein Leander Sukov einen „Debattenbeitrag“ leisten – in welcher Debatte? And who the hell is Leander Sukov? Doch nicht der mit der angeblich „wuchtigen Sprache“? Und was hat nun ausgerechnet Leander Sukov befähigt, diese Zusammenfassung zu schreiben? Vielleicht eine Auftragsarbeit weil er Geld brauchte. Der Beitrag ist weniger als eine schmalbrüstige Zusammenfassung aller Vorurteile, die in der JW bereits serviert wurden.
Das alles Revue passieren lassend, könnte man auf eine neue Verschwörungstheorie kommen: Die Junge Welt ist vom Gegner gekapert.

6. Zum Schluss

In der Jungen Welt ist der Zustand von Teilen der Linken abgebildet, jener Linken, die sich radikal oder marxistisch oder kommunistisch oder alles gleichzeitig wähnen. Kennzeichnend für diese Linke ist, dass sie gesellschaftlich isoliert ist. Dies führt sie selber gerne auf den noch immer wirkenden Antikommunismus und die Linkenhatz zurück. Aber der Antikommunismus hat viel von seiner Wirkung verloren, nicht nur bei jungen Menschen. Die radikale Linke betreibt vielmehr eine sehr effiziente Selbstisolierung. Sie wirkt nach außen unattraktiv. Attraktivität ist aber Teil der Fähigkeit, eine Gegenhegemonie gegen die neoliberalen Machteliten aufzubauen. Die radikale Linke aber ist abgeschottet von der Gesellschaft, zerstritten, misstrauisch, gibt sich elitär und teilweise rückwärtsgewandt, ist voller Vorurteile und wahrscheinlich durchsetzt von Agenten. Sie bietet reichlich Platz für Selbstdarsteller, Wichtigtuer, Halbgebildete und Looser, die sich durch ihr Dabeisein Bedeutung zu geben versuchen. Die Linke hat kein Charisma und sie findet das noch nicht einmal traurig. Sie sind stattdessen gerne graue Mäuse, Hauptsache, sie haben Recht.

Die Selbstisolation hat Folgen. Von Veränderungen in der Gesellschaft, die sich unter der Oberfläche vollziehen, bekommen sie nichts mit. Sie bemerken nicht, dass die Hegemoniefähigkeit der herrschenden neoliberalen Machteliten schwindet. Dass der gesellschaftliche Konsens brüchig wird. Dass die Menschen anfangen, selber zu denken, dass diese überall spürbare Aufmüpfigkeit Ausdruck von sich ändernden Verhältnissen ist. Es gibt einen Trend zur Selbstermächtigung. Immer mehr Menschen nehmen wahr, dass ihre Interessen, die Interessen der Mehrheit, von den Herrschenden ignoriert werden, was sich auch in sinkenden Wahlbeteiligungen äußert. Die radikale Linke hingegen lässt sich von 70 Prozent Zustimmung für Schäuble und Merkel in Umfragen blenden, obwohl sie um den Schwindel mit Umfragen weiß und übt sich lieber in Publikumsbeschimpfungen, als dass sie ihre Wichtigtuerecke verließe.
Und so hält sie die Gesellschaft auch nicht für würdig, dass sie ihr Vorschläge macht. Sie macht keine Angebote an jene Menschen, deren Misstrauen in den Kapitalismus wächst. Sie formuliert keine Zukunftsinteressen und -forderungen. Wo in der ach so radikalen Linken diskutiert jemand über den Ausweg aus dem Kapitalismus und wie es in Richtung Sozialismus gehen könnte?

Ein weiteres Beispiel: Wo ist die linke Politik für die EU? Wieso wird nicht die Solidarität derer propagiert, die gezwungen sind, vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben? Wo wird von dem Gewinn berichtet, wenn man zusammenhält? Und zwar unabhängig davon, ob man nun raus aus der EU will oder drinbleiben oder für die Auflösung ist.
Weil die Menschen in Deutschland keine Zukunftsvorstellungen, keine Kämpfe mit der Linken verbinden, sind einige leichte Opfer für Rattenfänger von rechts, für Pegida, Nazis, Rechtspopulisten, Salafisten, fundamentalistische religiöse Sekten, Männlichkeitswahn und Chauvinismus.
Der Kampf für eine bessere Welt beginnt mit dem Kampf gegen die kulturelle und ideologische Hegemonie des Finanzkapitalismus und das ist der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen.
„Wenn wir es nicht schaffen, all dies zu thematisieren, wird es die Rechte übernehmen.“ (Oskar Lafontaine)

1 http://www.rationalgalerie.de/schmock/junge-welt.html
2 Wie sich gerade zeigt, erhält die Bewegung gegen Stuttgart 21 erneuten Schwung durch die Ergebnisse der Recherchen eines Journalisten.
3 Federal Reserve Bank; US-amerikanische Notenbank
4 http://www.jungewelt.de/2014/04-28/005.php

* Christel Buchinger, Jahrgang 1954, Dipl. Biologin. Lebt und arbeitet zu Feminismus, Medien und Geschlechterverhältnissen im Saarland.

Aus der Diskussion:

Am 03. September 2015 schrieb Thomas Immanuel Steinberg:

Die junge Welt als Veranstalter der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Berliner Urania im Januar 2015 hat Ken Jebsen Hausverbot erteilt. Die an Abstrusität nicht zu überbietende Begründung dafür lieferte der Verlagsleiter des 8.-Mai-Verlags, Peter Borak: Jebsen nutze junge-Welt-Veranstaltungen für das Abwerben von Interviewpartnern.

Hinter Verbot, Begründung und Verlagsleiter steht Dietmar Koschmieder, dem der Verlag zu 48% gehört. Er sorgt mit seiner Minderheitsbeteiligung dafür, dass Menschen wie Sebastian Carlens der jungen Welt den Ast absägen, auf dem sie sitzt. Gegen Koschmieder werden sich Redaktion, freie Mitarbeiter und Genossenschaft nicht durchsetzen können. Ich habe daher meine Mitgliedschaft gekündigt.