„Die israelische Gesellschaft ist krank“ Avraham Burg im Interview der IPG

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Danke für die zahlreichen persönlichen Kommentare und richtigstellende Hinweise zu meinem letzten unveröffentlichten Leserbrief ans Neue Deutschland. Ich habe den Artikel https://josopon.wordpress.com/2017/08/29/antideutsche-schmutzereien-jetzt-auch-im-neuen-deutschland-und-mein-diesbezuglicher-leserbrief-zum-artikel-spiel-t-nicht-beim-juden-wird-gesperrt/ überarbeitet.
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Zum Thema der aktuellen Situation in Israel heute ein wichtiges Interview in der Onlinezeitung IPG:
http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/geschichtspolitik/artikel/detail/die-israelische-gesellschaft-ist-krank-2253/

Avraham Burg über Erinnerungskultur in Israel und die Rolle der Geschichte in der heutigen Politik.

Avraham Burg ist israelischer Schriftsteller und ehemaliger Politiker. 2007 veröffentlichte er sein kontroverses Buch Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, in dem er schrieb, das Erbe des Holocaust sei fehlinterpretiert und manipuliert worden.
Karl Gärber sprach mit ihm über den Einfluss des Buches und über die Rolle der Geschichte in der heutigen Politik.

In Ihrem Buch Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss schreiben Sie, Israel müsse lernen, die traumatische Erinnerung an den Holocaust zu überwinden. Dieses Erbe, so meinen Sie, führe heute zu immer mehr Nationalismus und Gewalt. Wie wurde Ihr Buch damals aufgenommen?

Mein Buch war für die israelische oder jüdische Leserschaft gedacht, richtete sich aber auch an die deutschen Bildungsbürger.
Ich wollte eine andere Art der Kommunikation zwischen den israelischen und deutschen Intellektuellen einführen, die nicht auf Schuld oder unbedingter Unterstützung beruht. Ich glaube nämlich, es könnte konstruktiv sein, die Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und der jüdischen Gesellschaft zu betonen.

Noch während unserer Lebenszeit wird der Tag kommen, an dem die letzten Nazis und Holocaust-Überlebenden gestorben sind. Unsere Generation wird die erste sein, für die der Holocaust keine persönliche Erfahrung mehr ist, sondern eine Erinnerung.
Was sollen wir mit dieser Erinnerung machen? Müssen wir die Vergangenheit immer wieder neu inszenieren, und müssen die Deutschen weiterhin die Schuldigen sein?
Und wollen die Juden bis in alle Ewigkeit die Opferrolle spielen? Oder wird es einmal eine Zeit geben, in der die Menschen anders denken?

Ich habe das Buch in Deutschland veröffentlicht und bin gescheitert. Die deutschen Intellektuellen wollten nicht diskutieren. Und die Vertreter der Medien und der Hochschulen sagten mir, das Buch verlange ihnen etwas ab, das sie momentan nicht liefern könnten.

Aber Deutschland verändert sich. Stellen Sie sich eine Schule vor, in der ein großer Teil der Schüler einen Migrationshintergrund hat.
Würde ein Sohn türkischer Einwanderer, der deutscher Staatsbürger ist, sagen: „Ich bin für die Ermordung der Juden verantwortlich“? Niemals! Er wird sagen: „Ich bin Deutscher, habe aber keinerlei Verantwortung für den Holocaust.“ Eines Tages wird sich Deutschland von seiner Vergangenheit befreien.

Wie hat Ihr Buch den Umgang Israels mit seiner Vergangenheit beeinflusst?

Israel ist viel komplizierter. Was ich vor zehn Jahren prophezeit habe, war im Vergleich zu dem, was heute dort tatsächlich geschieht, ziemlich harmlos.
Ich schrieb über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und ethnozentrische Ideologien im Land. Wenn man sich das heutige Israel anschaut, sei es nun den Ministerpräsidenten oder die Öffentlichkeit, muss man gestehen, dass ich mich damals sehr zurückgehalten habe.
Die Gesellschaft ist krank, sucht aber nicht nach Heilung. In Israel gibt es momentan keinerlei ernsthafte politische Debatte – weder in den Zeitungen noch in den Universitäten.

Wie oft waren Sie während Ihrer politischen Karriere Zeuge, wie die Geschichte für politische Zwecke manipuliert wurde?

Fünf Mal täglich. Aber Manipulation ist ein sehr starker Begriff. Normalerweise geht es eher darum, wie die Geschichte interpretiert wird.

Betrachten wir den Begriff der „Geschichte“ genauer. Ein Dichter würde ihn im Sinne von „Geschichten“ interpretieren.
Das Ganze ist sehr subjektiv. Es geht um Narrative. Jeder hat sein eigenes Narrativ und ist sicher, dass es das richtige ist. Obwohl die Menschen natürlich manchmal ein sehr selektives Gedächtnis haben.

Haben wir den Staat Israel gegründet, um ständig in der Vergangenheit zu leben? Oder wollten wir eine bessere Zukunft schaffen?
Heute scheint es so, als hätten wir die Vision einer kreativeren, besseren Zukunft verloren und würden tatsächlich am liebsten in der Vergangenheit verharren – mit all ihrem Ethos und Pathos.

Sie verwenden den Begriff „selektives Gedächtnis“. Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie die Geschichte bewusst vergessen wurde?

Natürlich. Wenn sie durchschnittliche Israelis fragen, was sie über Deutschland denken, ist das erste und oft einzige, das sie erwähnen, der Holocaust. Aber die jüdisch-deutschen Beziehungen reichen Tausende von Jahren zurück.
Ein Teil dieser gemeinsamen Vergangenheit ist schlimm, etwa wie das, was Martin Luther über die Juden geschrieben hat.

Manches davon ist wirklich wundervoll. Aber heute haben wir aus der Beziehung zwischen unseren Ländern all diese positiven Elemente entfernt, also haben wir diese Kapitel unserer Geschichte bewusst vergessen.

Den Menschen, die in der DDR geboren und unter sowjetischem Einfluss aufgewachsen sind, wurde beigebracht, sie hätten Hitler besiegt. Den Westdeutschen hingegen wurde gesagt, sie seien für die Verbrechen der Nazis verantwortlich. In gewisser Hinsicht haben beide gleichzeitig recht und unrecht.

Glauben Sie, historische Narrative können unabhängig von der Politik existieren?

Nein. Mein Vater, Yosef Burg, war ein sehr kluger Mann. Er wurde in Dresden geboren, war einer der Gründerväter Israels und viele Jahre lang Minister in der Regierung.
Er sagte immer: Die Geschichte ist die Politik der Vergangenheit, und die Politik ist die Geschichte der Zukunft. Zwischen dem tatsächlichen Hier und Jetzt und den langfristigen Konzepten und Paradigmen, die daraus entstehen, besteht ein permanentes Wechselspiel, ein ständiger Austausch. Man kann Geschichte und Politik nicht voneinander trennen.

Staaten wollen oft an die Großartigkeit ihrer eigenen Geschichte erinnern, an ihre vergangenen Siege und Erfolge. Sind nationale Narrative für Identität und Selbstwertgefühl wichtig?

Wir stehen heute an einem sehr interessanten historischen Wendepunkt. Der Nationalstaat, der im vorigen Jahrhundert so wichtig war, verliert an Bedeutung.
Im Zuge der Globalisierung lösen sich die Grenzen auf, und es entstehen länderübergreifende Strukturen wie die EU. Aber wir hören auch nativistische Parolen wie „Deutschland den Deutschen“, und manche Teile der Gesellschaft ziehen sich in ethnische, gruppenbezogene oder religiöse Identitäten zurück.

Israel ist dabei gewissermaßen ein Sonderfall. Dort baut die jüdische Nationalität auf einer Kombination von fünf unterschiedlichen Elementen auf: Religion, Macht, Land, Sprache und Souveränität. Anstatt mit seinen Nachbarn zu kooperieren, scheint Israel seinen Schwerpunkt immer mehr auf Kriterien wie ethnische Zugehörigkeit zu legen.

Können Länder ihrer eigenen glorifizierten Vergangenheit zum Opfer fallen?

Länder können entweder ihrer Arroganz oder ihrer Stagnation zum Opfer fallen.
Eine Nation kann sagen: „Unsere große Zeit liegt hinter uns, wir können keine Fortschritte mehr machen“. Und sie kann auch sagen: „Wir waren einst so groß“, und völlig aus den Augen verlieren, was heute geschieht.
Ich glaube nicht, dass die Erinnerung an die Geschichte ein Problem ist. Es kommt immer darauf an, was man daraus macht.

Die Fragen stellte Karl Gärber

Jochen

ARD beim Lügen erwischt: verdreht Assad-Aussagen aus eigenem Interview

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein Lehrstück zu Manipulation und Meinungsmache, aufgedeckt von den des Linksextremismus oder der Putin-Verschwörung unverdächtigen Deutschen Wirtschaftsnachrichten und kommentiert von Albrecht Müller in den NachDenkSeiten:
http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/03/02/ard-verdreht-assad-aussagen-aus-eigenem-interview/
Auszüge:

ard_und_coDie ARD hat ein interessantes Interview mit dem syrischen Präsidenten Assad geführt. Das ist lobenswert und ein Scoop.
Doch leider entwertet der ARD-Reporter sein eigenes Interview, indem er in einer Interpretation für den Sender Assad eine Aussage in den Mund legt, die dieser nicht getätigt hat. Die dpa übernimmt den Spin und verbreitet ihn, als hätte Assad das wirklich gesagt.
Anmerkung: „Spin“:= Verdrehung, auch Lügengespinst

Assad macht in dem Interview, das die ARD und die syrische Regierung im Wortlaut dokumentieren, klar, dass in seinem Land zahlreiche Söldner und Milizen aktiv sind, die von anderen Staaten ausgerüstet und finanziert werden.

An einer Stelle fragt der Reporter Thomas Aders:

„Herr Präsident, können Sie sagen, dass Syrien nach wie vor ein souveräner Staat ist, oder wird Ihre Politik bereits in Teheran bzw. im Kreml gemacht?“

Darauf antwortet Assad wörtlich:

„Der Begriff Souveränität ist relativ und verhältnismäßig. Vor der Krise hielt Israel unser Land besetzt, und wir betrachteten unsere Souveränität so lange nicht als vollständig, wie wir unser Land nicht zurückhatten. Und jetzt überschreiten während der Krise zahlreiche Terroristen unsere Grenze, und viele Flugzeuge der Amerikaner und ihrer Alliierten (was man dort als Allianz bezeichnet) verletzen unseren Luftraum. Auch hier kann man nicht von vollständiger Souveränität sprechen. Gleichzeitig ist man allerdings nach wie vor souverän, wenngleich nicht im vollen Umfang des Begriffs, wenn man eine Verfassung hat, wenn die Institutionen funktionieren und wenn der Staat mit seiner Arbeit ein Minimum für das syrische Volk leistet und wenn schließlich das syrische Volk sich keiner anderen Macht zu unterwerfen hat, was sicher das Wichtigste von allem ist.“

In einem kurzen Videobeitrag am Anfang des Artikels der Tagesschau befragt ein ARD-Moderator den Reporter nach seinem Eindruck von dem Interview. Darin schildert Thomas Aders Assad als schüchtern und zurückhaltend. Schließlich arbeitet der Reporter eine „News“ heraus, die das Interview seiner Meinung nach gebracht hat:

„Ihm geht es darum, dass das System überlebt, das System seines Regimes. Und er wird alles dafür tun, dass das so weitergeht. Er wird jeden Terroristen bekämpfen, das hat er ganz klipp und klar gesagt.

Und trotzdem hat er, und das fand ich sehr interessant, zugegeben, dass die Souveränität Syriens, mittlerweile nicht mehr vollständig sei, eben durch die Hilfe, durch die Waffenhilfe von Russland, vom Iran und von der libanesischen Hisbollah.“

Assad hat in dem Interview an keiner Stelle gesagt, dass er wolle, dass „das System seines Regimes“ überlebt. Er hat klipp und klar gesagt, dass er sich dem Willen des Volkes beugen werde: „Wenn das syrische Volk will, dass ich diesen Platz räume, dann habe ich das sofort und ohne Zögern zu tun.“

Doch noch viel gravierender ist die von Assads Aussage zur Souveränität abweichende Interpretation des Interviewers: Assad hat nie gesagt, dass die Souveränität Syriens wegen der „Waffenhilfe von Russland, dem Iran und der Hisbollah“ nicht mehr vollständig sei, sondern dass „viele Flugzeuge der Amerikaner und ihrer Alliierten (was man dort als Allianz bezeichnet)“ den syrischen Luftraum verletzen und Terroristen die Grenze überschreiten, und man deshalb „nicht von vollständiger Souveränität sprechen“ könne.

Das ARD-Team hat sich nach eigenen Angaben vier Jahre lang um das Interview bemüht. Es ist schade, dass im Fazit eine Frage mit einer Antwort vermischt wird.
So wird ein „Spin“ erzeugt, der die journalistische Leistung entwertet und beim Zuseher einen äußerst schalen Beigeschmack hinterlässt.

Update Mittwoch, 10.04 Uhr: Wie das mit dem Spin funktioniert, zeigt die dpa sehr schön. Sie zitiert, was Assad NICHT gesagt hat und verbreitet aus dem Interview (Dienstag, 1.3., 14.38 Uhr):

„Er räumte ein, dass Syrien nicht mehr ,vollständig souverän‘ sei und militärische Hilfe aus Russland, dem Iran und aus dem Libanon erhalte.“

Am Mittwoch findet sich der dpa-Spin auf vielen Web-Plattformen.

Dazu der gestrige Kommentar von Albrecht Müller:a mueller k

http://www.nachdenkseiten.de/?p=31734#more-31734
Auszüge:

Gestern brachte die ARD ein Interview mit dem syrischen Präsidenten Assad. Nachdem so viel über ihn gesagt und geschrieben wird, ist dies ein lobenswertes Ereignis.
Der für „ARD aktuell“ zuständige Dr. Kai Gniffke hat die Ausstrahlung des Interviews verteidigt – siehe hier: Darf man mit Assad reden?.*)
Aber er verbindet dies sofort wieder mit einer dem Standard der etablierten Medien entsprechenden aggressiven und einseitigen Parteinahme:
„Er hat Giftgas eingesetzt“ – so schreibt Gniffke, „er hat Städte bombardiert, er lässt Menschen aushungern, in seinen Gefängnissen wird gefoltert – und mit so jemandem führen wir ein Interview. Gibt es für Journalisten eine moralische Grenze, mit wem man spricht? Darf man mit Baschar al-Assad reden?“ –

Ob die syrische Regierung Giftgas eingesetzt hat, oder ob dieses Giftgas von den Rebellen oder sogar von der Türkei eingesetzt wurde, ist meines Wissens offen. Siehe dazu auch einen Beitrag bei Telepolis.
Weiß Herr Dr. Gniffke mehr? Es wäre wirklich großartig, wenn unsere etablierten Medien endlich aufhören würden, einseitig zu berichten und zu urteilen.

Sie tun das im Falle des Konfliktes mit Russland wegen der Ukraine wie auch im Konflikt über Syrien und den gesamten mittleren und Nahen Osten ständig. Sie sind wohl alle im Besitz des westlichen Sprechzettels, auf dem vermutlich steht: „Diktator Assad wirft Fassbomben auf syrische Kinder, er setzt Giftgas ein, er bombardiert Städte seines eigenen Landes.“ –
Ob das alles stimmt, erfahren wir nicht und schon gar nicht, wie der gesamte Konflikt entstanden ist und welche unangenehmen und menschenverachtenden Diktatoren und Autokraten ansonsten an dem Konflikt beteiligt sind: Saudi-Arabien, Bahrain, Erdogans Türkei, und andere mehr.
Es wird in den etablierten Medien auch nicht annähernd objektiv berichtet darüber, welche Rolle die militärischen Interventionen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und die Unterstützung Deutschlands spielen.
Wir werden auch nicht darüber aufgeklärt, welchen Charakter und Public Relations Hintergründe die häufig zitierten sogenannten Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsgruppen mit Sitz in London oder sonst wo haben.

Die Durchleuchtung der eigenen Propaganda ist tabu, genauso wie die der eigenen Menschenrechtsverletzungen, Gräueltaten und Kriegsverbrechen – so zum Beispiel des Bombardement eines Krankenhauses in Kundus. (Dazu kommt gleich noch ein eigener Bericht: http://www.nachdenkseiten.de/?p=31744)

Es ist im Sinne des Blicks auf alle Seiten gut, sich das Interview mit dem syrischen Präsidenten Assad anzuschauen, falls man die Zeit dafür aufbringen kann.
Auch das Gespräch von KenFM mit Karin Leukefeld über den Status Quo in Syrien ist in diesem Zusammenhang lohnenswert.

*) Mein Kommentar: kuekenpiepsenThomas Aders ist ein Kükenpiepser in Reinkultur. Anders scheint man bei der ARD nicht überleben zu können.

Merkels Bundesbruder Erdogan lässt auch Bomben auf kurdische Kinder werfen, zerstört Städte seines eigenen Landes, lässt Journalisten foltern. Und ??? Darf man mit Erdogan reden ?

Und Merkels Bundesbruder Obama lässt Drohnen auf afghanische Kinder feuern, zerstört Städte in fremden Ländern, die die USA nicht angegriffen haben, lässt Whistleblower lebenslang einsperren und in Guantanamo Gefangene ohne juristisches Verfahren foltern. Darf man mit Obama reden ?

Jochen

Demokratische Souveränität als Leitkategorie des Plan B

Eine wichtige Beobachtung von Heiner Flassbeck:

http://www.flassbeck-economics.de/demokratische-souveraenitaet-als-leitkategorie-des-plan-b/

Lafontaine_PlanB

flasbeck2013k

Siehe hierzu auch  https://josopon.wordpress.com/2015/09/15/ein-plan-b-fuer-europa-fassina-konstantopoulou-lafontaine-melenchon-varoufakis/#

Am vergangenen Wochenende besuchten Andreas Nölke und ich die Auftakttagung der von Jean-Luc Mélenchon, Oskar Lafontaine, Stefano Massina und Zoe Konstantopoulou angestoßenen internationalen „Plan B“-Initiative. Zwei Tage lang diskutierten Vertreter linker Parteien, Gewerkschafter, Aktivisten unterschiedlichster zivilgesellschaftlicher Gruppen und progressive Wissenschaftler Wege zum Ausstieg aus der Austeritätspolitik. Als Bezugspunkt hatte sich die in Deutschland vor allem von Oskar Lafontaine vertretene Forderung herauskristallisiert, den Euro durch ein modifiziertes Europäisches Währungssystem zu ersetzen (hierzu kommt in Kürze ein separater Beitrag). Weitere Themen waren die soziale Lage in der Europäischen Union, Wirkungsweisen von Kapitalverkehrskontrollen, die Gefahren eines internationalen Währungskriegs und natürlich die Flüchtlingskrise.

Besonders berichtenswert erscheint uns hier aber ein Umstand, den wir zwar schon im Vorfeld erahnten, dessen Intensität uns in Paris aber gleichwohl überwältigte: Das Ausmaß, in dem die Eurokrise quer durch die Mitglieder der Eurozone heute als Souveränitätsdiskurs behandelt wird. Nicht nur in den südlichen Krisenländern, sondern auch und gerade in Italien und Frankreich wird der Euro als lange Sequenz illegitimer Übergriffe und nationaler Erniedrigungen durch die europäischen Institutionen und vor allem durch Deutschland erlebt. Die Leitfrage nahezu aller Redner lautete: Wie lässt sich heute, gegen die EU und gegen Deutschland, ein Mindestmaß an demokratischer Souveränität und Selbstbestimmung zurückgewinnen?

Das ist verständlich und weitgehend berechtigt – auch wenn wir uns an der einen oder anderen Stelle veranlasst sahen, daran zu erinnern, dass der Euro keine deutsche Idee war und zumindest an dieser Stelle das „blame it all on Germany“ mit einem Fragezeichen zu versehen ist.

Deutsche tun aber gut daran, sich die Problemperzeptionen der Partnerländer sorgsam anzuhören. Denn das Problem wird in Deutschland oft nicht verstanden. Gerade progressive Kräfte halten die europäische Integration in Deutschland oft für ein Programm gegen den Nationalstaat und Begriffe wie „Souveränität“ und „nationale Selbstbestimmung“ daher für Kategorien Ewiggestriger.

Wer im Diskurs mit den europäischen Partnern auf diese Sichtweise beharrt und dem überragenden Stellenwert der nationalen demokratischen Selbstbestimmung die Berechtigung abspricht, wird auf Granit beißen. Ebenso übrigens, wer unsere Nachbarn über eine angeblich nicht vorhandene Preiselastizität deutscher Produkte oder ähnlichen Unfug belehren will. Und erst recht, wer unsere Nachbarn im Rahmen der Flüchtlingskrise über den Wert internationaler Solidarität und ethisch überlegenes Verhalten aufklären möchte. Sie wollen es nicht hören und haben damit völlig Recht.

Erst nach und nach wird deutlich, was der Euro und das deutsche Verhalten in ihm alles kaputtgemacht haben. Die europäische Zusammenarbeit war schon einmal wesentlich weiter.

 Diese Ansicht teile ich auch.
Jochen