Offene monetäre Finanzierung – Konzept für eine moderne Wirtschaftspolitik

Makroskop LogoEin nicht ganz leicht verständlicher Text im Makroskop, der aber die üblicherweise verbreiteten Grundannahmen über Volkswirtschaft (die Haushaltsanalogie) in Frage stellt und einen mir bisher unbekannten Denkansatz verfolgt – der allerdings zu zwei möglichen, aber schwierigen Alternativen führt: entweder die Demokratisierung und Sozialisierung der Institutionen der EU, incl. der EZB
oder der Austritt aus dem Euro, in dem, wie hier erklärt, die Lösung der volkswirtschaftlichen und ökologischen Zukunftsaufgaben nicht möglich ist. Von Thomas Fazi:

https://makroskop.eu/2018/10/konzepte-fuer-eine-moderne-wirtschaftspolitik/
Auszüge:

Wenn wir von einer „modernen Wirtschaftspolitik“ sprechen, sollten wir zunächst präzisieren, was wir damit meinen. Ich würde argumentieren, dass eine „moderne“ Wirtschaftspolitik in erster Linie eine „effiziente“ sein sollte – wobei die Effizienz nicht an Wirtschaftswachstum, Produktivität oder Gewinn, sondern an menschlichen und ökologischen Aspekten gemessen wird.

Ein effizientes Wirtschaftssystem

In diesem Sinne ist eine effiziente Wirtschaftspolitik aus progressiver Sicht eine, die die materiellen und psychologischen Bedingungen so vieler Menschen wie möglich verbessert, die den Einzelnen in die Lage versetzt, sein Potenzial voll auszudrücken und – angesichts der massiven ökologischen Herausforderungen – all dies mit dem weiteren Überleben des biologischen Lebens auf dem Planeten vereinbar macht.

Mit anderen Worten, eine effiziente Wirtschaftspolitik ist eine Politik, in der sich die Wirtschaft im Hinblick auf die Förderung des Gemeinwohls und die Maximierung des Potenzials für alle Bürger im Rahmen der ökologischen Nachhaltigkeit artikuliert. Das heißt, eine Wirtschaft, die uns und dem Planeten dient und nicht umgekehrt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem in all diesen Aspekten dramatisch versagt: Nicht nur, dass Millionen von Menschen weiterhin unter Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung leiden; schon das führt zu einer kolossalen Verschwendung des menschlichen Potenzials, selbst in den reichsten Ländern der Welt – insbesondere in Europa. Sondern es zerstört auch buchstäblich den Planeten, von dem unser Überleben abhängt.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum dies der Fall ist. Vor allem die Tatsache, dass es mächtige wirtschaftliche Interessen gibt, die vom derzeitigen System profitieren.
Ich werde mich jedoch auf einen anderen Aspekt konzentrieren, der mindestens ebenso wichtig ist: die Rolle der Mainstream-Ökonomie bei der Aufrechterhaltung und ideologischen Rechtfertigung des gegenwärtigen Systems sowie bei der Behinderung der Entwicklung radikaler Alternativen.

BBF-Ökonomie

Ein gutes Beispiel dafür ist eine Erklärung, die der Vizepräsident der Europäischen Kommission Valdis Dombrovskis vor einigen Wochen auf dem One Planet Summit on Climate Change in New York abgegeben hat.
Nachdem Dombrovskis die üblichen Bemerkungen darüber machte, dass die Welt um zwei Minuten vor Mitternacht stehe, diese „unsere letzte Chance“ sei, „unsere Kräfte zu bündeln“ im Kampf gegen den anthropogenen Klimawandel und Europa natürlich „den Kampf gegen den Klimawandel anführen“ wolle, kam er zum Punkt: Europa benötige, um seine Pariser Ziele zu erreichen, in den nächsten zehn Jahren rund 180 Milliarden Euro zusätzliche jährliche Investitionen. Deshalb äußerte er die Hoffnung, dass Privatkapital zur Finanzierung des Kampfes gegen den Klimawandel und des Übergangs zu einer grüneren Wirtschaft beitragen würde.

Es lohnt sich, sich eine Minute Zeit zu nehmen, um über die Erklärung von Dombrovskis nachzudenken. Denn sie fasst den pathologischen – und an dieser Stelle zivilisationsbedrohlichen – Charakter der Mainstream-Ökonomie im Allgemeinen und insbesondere ihrer extremen Form, die wir BBF-Ökonomie (Brüssel-Berlin-Frankfurt) nennen können, perfekt zusammen.
Dombrovskis sagt also, dass das Leben auf der Erde einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist – und der einzige Weg, diese Bedrohung abzuwenden, darin bestehe, dass Europa jährlich mindestens 180 Milliarden Euro investiert (obwohl das Ergebnis natürlich auch von dem abhängt, was andere Länder tun, aber das ist eine andere Sache). Und dass wir alle darauf vorbereitet sein sollten, dass Millionen von Menschen vertrieben werden, dass Tausende, wenn nicht sogar Millionen mehr an den Folgen von Dürren, extremen, Energiekriegen usw. sterben. Auf lange Sicht, so Dombrovskis, wird die Menschheit aussterben, wenn wir unsere Produktions- und Verbrauchssysteme nicht radikal verändern.
Doch wir würden wahrscheinlich nicht in der Lage sein, das Geld zu „finden“, das benötigt werde, um dieses dramatische Ergebnis zu vermeiden.

Ich kann mir kein besseres Beispiel für die Absurdität der Welt vorstellen, in der wir heute leben. Lassen wir die Rolle der Geldschöpfung für einen Moment beiseite, zu der ich in einer Minute kommen werde, und gehen sogar davon aus, dass die Regierungen nur durch die Ausgabe von Schuldpapieren an private Märkte die einzige Möglichkeit haben, dieses dringend benötigte Geld aufzubringen.
Nur um die Dinge ins rechte Licht zu rücken – die Regierungen der Welt haben in den drei Jahren nach der Finanzkrise zwischen 12 und 15 Billionen Dollar in das Finanzsystem injiziert.
Allein in der Europäischen Union wurden 6 Billionen Euro beigesteuert (allein Deutschland gab rund 500 Milliarden Euro zur Unterstützung seiner Banken aus).

So hat allein Europa nach der Finanzkrise rund 25 Mal so viel Geld ausgegeben, wie jedes Jahr in Europa benötigt würde, um den verheerenden Klimawandel abzuwenden. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um das zu verarbeiten: 25 Mal mehr Geld für die Rettung der Banken ausgegeben, als jedes Jahr benötigt würde, um die Welt zu retten.

Nun wurde der größte Teil dieses Geldes – insbesondere in Europa – durch die Ausgabe von Schuldpapieren an die Kapitalmärkte aufgebracht, weshalb die öffentliche Verschuldung in fast allen Ländern explodierte. (Das war an sich schon surreal: Die Regierungen mussten Geld auf den Finanzmärkten beschaffen, um die Finanzmärkte zu retten – aber lassen wir dieses Problem beiseite).
Die Tatsache, dass die Staatsverschuldung viel höher ist als vor zehn Jahren, wird von Menschen wie Dombrovskis genutzt, um zu behaupten, dass die Regierungen heute viel weniger „Finanzraum“ hätten als damals.

Begrenzte finanzielle Ressourcen?

Tatsächlich macht diese Aussage keinen Sinn: nicht nur, weil der Begriff einer „übermäßigen“ Defizit-BIP-Ratio äußerst willkürlich ist. Sondern vor allem, weil die Vorstellung, dass Regierungen das Geld, das sie zur „Rettung der Welt“ benötigen, nur finden können, wenn sie mehr Schulden an private Märkte ausgeben (oder die Reichen besteuern), auf einer zutiefst fehlerhaften Vorstellung davon beruht, wie moderne Währungssysteme funktionieren.

Das heißt, sie basieren auf der falschen Vorstellung, dass Geld eine knappe Ressource sei, dass also Regierungen das notwendige Geld bevor sie es ausgeben können, „aufbringen“ müssen; entweder durch Steuern oder, wenn sie ein Haushaltsdefizit verzeichnen (d.h. wenn die Ausgaben die Einnahmen übersteigen), durch Schulden. Dies führt zu der Konsequenz, dass die Regierungen „im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ leben müssen, da die anhaltenden Defizite zwangsläufig zu einer „übermäßigen“ Anhäufung von Schulden führen werden, von denen wiederum angenommen wird, dass sie auf lange Sicht „nicht nachhaltig“ sind.
Es wird davon ausgegangen, dass die öffentlichen Finanzen mehr oder weniger denen eines Haushalts oder eines Privatunternehmens ähneln.

Diese „Haushaltsanalogie“ geht ständig in Medien und Politik hausieren, weil es sich um eine sehr kraftvolle Erzählung handelt, die an unser intuitives, alltägliches Verständnis von Ökonomie appelliert.

Als Einzelpersonen und Haushalte sind wir uns also der Tatsache bewusst, dass wir erst nach Einkommen verdienen müssen, bevor wir etwas ausgeben können. Sicher, wir können uns etwas leihen, um vorübergehend mehr auszugeben, als wir verdienen, oder wir können unsere Ersparnisse herunterfahren oder unsere Vermögenswerte verkaufen. Aber letztendlich werden wir die Ausgaben reduzieren müssen, um unsere Schulden zurückzuzahlen.
So verstehen wir intuitiv, dass wir nicht unbegrenzt über unsere Verhältnisse leben können. Wir müssen buchstäblich jeden Euro, den wir ausgeben, „finanzieren“, und wir können genauso buchstäblich „kein Geld mehr haben“.

Das Problem mit der „Analogie des Haushaltsplans“ besteht darin, dass das Funktionieren der öffentlichen Finanzen sehr wenig oder gar nichts mit dem Funktionieren unserer eigenen Finanzen als Bürger und Unternehmer zu tun hat – wenn man zufällig ein Unternehmen besitzt.

Eine Welt von FIAT-Währungen

Seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1971 leben wir in einer Welt so genannter Fiat-Währungen – vom lateinischen Wort fiat („es soll sein“) –, weil der Wert unserer Währungen nicht durch ein staatliches Versprechen gestützt wird, unser Geld in Gold oder ein anderes Edelmetall einzulösen, wie es nach dem Goldstandard und dann dem Bretton-Woods-System der Fall war. Ihr Wert wird per Dekret verkündet: Die Regierung verkündet lediglich, dass eine Münze einen Euro wert ist, ohne eine Edelmetallreserve in Höhe eines Euro zu halten. Das bedeutet, dass, wenn Sie Ihre Münze zur Zentralbank bringen, Sie nichts im Austausch dafür bekommen werden.

Eine entscheidende Konsequenz des Fiat-Währungssystems ist, dass Regierungen, die ihre eigenen Währungen ausgeben – was wir monetär souveräne Regierungen nennen –, ihre Ausgaben nicht „finanzieren“ müssen.
Technisch gesehen müssen sie kein Geld durch Steuern aufbringen, bevor sie es ausgeben können. Sie können das nötige Geld „aus dem Nichts“ schaffen. Und das geschieht täglich.
Durch ihr Quantitative-Easing-Programm hat die Europäische Zentralbank zum Beispiel in wenigen Jahren aus dem Nichts mehr als 2 Billionen Euro geschaffen – genug, um zehn Jahre Anti-Klimawandelpolitik zu finanzieren.

Eine weitere Folge ist, dass monetär souveräne Regierungen, die Schulden in ihrer eigenen Währung begeben, niemals „das Geld ausgehen“ oder zahlungsunfähig werden können. Was heißt, die Länder können niemals mit der in ihrer eigenen Währung ausgegebenen öffentlichen Schuld in Verzug zu geraten. Denn sie können ihre Schulden immer überschreiben, indem sie dann neue Schulden aufnehmen, wenn die Altschulden fällig werden. Ein Vorgang, den die meisten Länder praktizieren. Sie können die Schulden sogar durch die Ausgabe von neuem Papiergeld tilgen, das heißt, indem sie die Schulden monetarisieren.

Dieses Verfahren wurde auch in einem jüngsten Bericht der EZB anerkannt, in dem es heißt, „dass sich die Währungsbehörde und die Steuerbehörde mit einer nationalen Fiat-Währung abstimmen können, um sicherzustellen, dass die auf diese Währung lautende Staatsverschuldung niemals ausfällt, weil fällige Staatsanleihen [immer] in eine Währung zum Nennwert konvertierbar sind“.

Zinsen werden durch Zentralbanken bestimmt

Das bedeutet, dass monetär souveräne Regierungen bei der Zinsfestsetzung nicht von privaten Anleihemärkten abhängig sind: Ist kein privater Investor bereit ist, die Anleihen zu dem von der Regierung festgelegten Zinssatz zu kaufen, kann die Zentralbank eingreifen und die Staatsanleihen selbst aufkaufen. Wie bereits erwähnt, ist das keine Theorie: So funktionieren die meisten Staaten täglich. Seit der Finanzkrise kaufen alle Zentralbanken große Mengen der Staatsschulden ihres Landes durch so genannte quantitative Lockerungen.

Hier liegt auch der Grund, warum Japan – das mit fast 250 Prozent des BIP die größte Schuldenquote der Welt hat – nicht nur keinen Spekulationen ausgesetzt oder als am Rande des Ausfalls betrachtet wird, sondern kürzlich sogar angekündigt hat, dass die Zentralbank die Staatsschulden des Landes auf unbestimmte Zeit aufkaufen wird, um die Zinsen so lange bei Null Prozent zu halten, wie sie es für notwendig hält. Und das, obwohl die japanische Zentralbank heute bereits rund 50 Prozent der Staatsschulden des Landes besitzt.

Schuldenquoten sind irrelevant

Wesentlich ist, dass heute im Falle Japans – das Gleiche gilt für alle monetär souveränen Regierungen – die Schuldenquote aus operativer Sicht weitgehend irrelevant ist. Wenn sich die Schulden größtenteils im Besitz der Zentralbank des Landes befinden (oder möglicherweise sein könnten), geschieht einfach folgendes: ein Arm des Staates verleiht im Wesentlichen Geld an einen anderen Arm des Staates, was offensichtlich keine Probleme der Nachhaltigkeit aufwirft, unabhängig von der Schuldenquote. Es ist ein einfacher Buchhaltungsabschluss. Es ist das, was wir „fiktive“ Schulden nennen könnten.

Tatsächlich müssen souveräne Regierungen aus steuerlicher Sicht nicht einmal Schulden aufnehmen, um staatliche Defizite zu finanzieren. Die Regierung kann einfach ausgeben, indem sie von der Zentralbank die Konten der Empfänger öffentlicher Ausgaben aufladen lässt und das Konto der Regierung bei der Zentralbank belastet.
In diesem Zusammenhang ist die Ausgabe von Staatsanleihen lediglich eine geldpolitische Entscheidung, die darauf abzielt, die aus den Defizitausgaben resultierenden Überschussreserven im Bankensystem abzubauen.
Diese Option wird als offene monetäre Finanzierung (OMF) bezeichnet.

Seit 2008, als Reaktion auf die globale Rezession nach der Krise, wird die Idee von einer Reihe namhafter Ökonomen unterstützt, darunter: Der Chefökonom der Citigroup, William Buiter; Richard Wood; Martin Wolf; Paul McCulley und Zoltan Pozsar; Steve Keen; Ricardo Caballero; John Muellbauer; Paul Krugman und andere.
Obwohl die meisten Autoren die monetäre Finanzierung als eine Möglichkeit betrachten, das Staatsdefizit direkt zu finanzieren, haben andere vorgeschlagen, die OMF zu nutzen, um neues Geld direkt auf die Bankkonten der Bürger zu überweisen *) und die Regierung insgesamt zu umgehen. Sogar der ehemalige Gouverneur der Federal Reserve, Ben Bernanke, forderte kürzlich das, was er als „geldfinanziert“ bezeichnet.

Das Fiscal Program, oder MFFP, beschreibt er als ein politisches Szenario, in dem die Staatskasse die Zentralbank einfach anweist, Bankkonten in ihrem Namen zu kreditieren (das heißt, ohne das Haushaltsdefizit mit Schulden, die an den nichtstaatlichen Sektor oder die Zentralbank ausgegeben werden, abzugleichen). Er stellt fest, dass dies eine attraktive Idee ist, da sie die Wirtschaft stimulieren würde, „auch wenn die bestehende Staatsverschuldung bereits hoch ist und/oder die Zinssätze Null oder negativ sind“.

Inflation und begrenzte Ressourcen

Sobald wir begreifen, wie moderne währungsausgebende Staaten funktionieren, können wir auch verstehen, dass der weit verbreitete Glaube, dass es den Regierungen an Geld mangelt, um hochwertige öffentliche Infrastrukturen, Arbeitsplätze oder massive Investitionen in ein ökologisches Übergangsprogramm zum Ausgleich des Klimawandels zu schaffen, schlicht lächerlich ist. Die einzigen Zwänge, denen monetär souveräne Regierungen ausgesetzt sind, sind:

1) Inflation (wenn die Staatsausgaben die Fähigkeit der Wirtschaft, sie aufzunehmen, übersteigen, obwohl dies ein unwahrscheinliches Szenario in Ländern mit hohem Arbeitsaufkommen und industrieller Unterauslastung ist);

2) reale Ressourcen. Dieser zweite Punkt bedeutet, dass die einzige wirkliche Einschränkung bei der Bewältigung der ökologischen Krise die personellen und materiellen Ressourcen sind, die zur Lösung des Problems erforderlich sind. Es ist die berühmte Antwort, die Keynes geben würde, als die Leute ihn fragten, wie er die großen Wohnprojekte, die er in den 1940er Jahren vorschlug, finanzieren wollte: Meinst du, dass es nicht genug Ziegel und Mörtel und Stahl und Zement gibt? Dass es nicht genug Arbeitskräfte gibt? Oder vielleicht, dass wir nicht genug Architekten haben?“. Das Gleiche gilt heute.

3 **)

Sonderfall Eurozone

Natürlich gilt dies nicht für Länder, die zur Eurozone gehören: Sie verwenden effektiv eine Fremdwährung (den Euro). Ähnlich wie eine Staatsregierung in den USA oder Australien verschulden sich die Länder der Eurozone in einer Währung, die sie nicht kontrollieren (sie können keine Zinssätze festlegen oder die Schulden mit neu ausgegebenem Geld überschreiben und sind somit im Gegensatz zu währungsausgebenden Ländern, die Schulden in ihrer eigenen Währung ausgeben, dem Risiko des Ausfalls ausgesetzt).

Wie aus einem aktuellen Bericht der EZB hervorgeht, „haben die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten des Euros trotz der Tatsache, dass der Euro eine Fiat-Währung ist, die Möglichkeit, nicht ausfallbare Schulden auszugeben, aufgegeben“. So ist die Ausgabenkapazität der Länder des Euro-Währungsgebiets in der Tat weitgehend abhängig von den Steuereinnahmen (und dem guten Willen der EZB) und ihrer Fähigkeit, Schulden auf den privaten Märkten aufzunehmen.
Diese Situation „erinnert an die Situation der Schwellenländer, die in einer Fremdwährung Kredite aufnehmen müssen“, stellte Paul De Grauwe vor einigen Jahren fest.

Dies liegt jedoch nicht an einem intrinsischen Wirtschaftsrecht, sondern an einem rein selbst auferlegten Zwang: der Mitgliedschaft in der Eurozone. Die EZB hingegen ist, wie jede andere Zentralbank, keinerlei finanziellen Einschränkungen ausgesetzt. Sie könnte den Ausgabenbedarf der Länder der Eurozone – oder eines noch zu erstellenden „europäischen Finanzministeriums“ – leicht decken, indem sie die notwendigen Mittel aus dem Nichts schafft (wie sie es bereits im Rahmen der quantitativen Lockerung tut). Dies würde jedoch eine tiefgreifende Demokratisierung der EZB und der Eurozone im Allgemeinen erfordern, die politisch unwahrscheinlich oder gar unmöglich sein dürfte.

Das ist also das Problem, mit dem wir heute in der Eurozone konfrontiert sind: Die Lösung der menschlichen und ökologischen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, erfordert 1) das Verständnis für das volle Potenzial monetär souveräner Regierungen und 2) die Nutzung dieses Potenzials, um eine massive sozial-ökologische Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft umzusetzen.

Umfassende Wirtschaftsplanung

Letzteres wiederum erfordert eine umfassende Wirtschaftsplanung, also eine drastische Ausweitung der Rolle des Staates – und eine ebenso drastische Verkleinerung der Rolle des Privatsektors – im Investitions-, Produktions- und Verteilungssystem.

Einfach ausgedrückt, ist es inakzeptabel, dass essentielle Entscheidungen über die Zukunft des biologischen Lebens auf der Erde – also was produziert und konsumiert wird und wie – im Wesentlichen dem Privatsektor und den Finanzmärkten überlassen werden.

Indem sich letztere wiederholt als unfähig erwiesen haben, die Preise effizient zu bestimmen und die Ressourcen auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren zu verteilen, haben sie das krebsartige Wachstum sozial und ökologisch destruktiver (aber sehr profitabler) Industrien und Praktiken befördert. Eine progressive Agenda für das 21. Jahrhundert samt einer modernen Wirtschaftspolitik muss daher zwangsläufig eine breite Renationalisierung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft und einen neuen und aktualisierten Planungsbegriff beinhalten.

Die Länder der Eurozone haben jedoch, wie bereits erwähnt, die Grundvoraussetzung für die Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen aufgegeben: die Währungssouveränität.
Damit haben sie sich auf den Status einer lokalen Behörde oder Kolonie reduziert, wie der britische Ökonom Wynne Godley vor Jahren schrieb. Daher fehlen ihnen die wirtschaftlichen Instrumente, um die von uns genannten Probleme grundsätzlich zu lösen.

Wir haben also zwei Möglichkeiten: die Demokratisierung der Eurozone und ihre schrittweise Reform, damit die volle Macht der EZB genutzt werden kann, um eine radikale Transformation der Wirtschaft durchzuführen;
oder den Ausstieg aus dem Euro und die Rückgabe der Währungssouveränität der Länder.
Ich persönlich halte die erstgenannte Option für politisch unmöglich, so dass nur noch die zweite Option bleibt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lösung der sozial-ökologischen Krise darin besteht, die volle Macht der Währungssouveränität zu nutzen, um ein massives Planungsprogramm durchzuführen.
Für die Länder des Euroraums bedeutet dies, dass sie den Euro verlassen müssen.

Thomas Fazi ist italienischer Schriftsteller, Journalist und preisgekrönter Filmemacher. Der Text ist eine Übersetzte Fassung eines Vortrags, den Thomas Fazi am 13. Oktober auf dem Makroskop-Kongress in Würzburg gehalten hat.

*: Sogenanntes Helikopter-Geld
**: Hier nicht erwähnt wird das Risiko des Wechselkursverfalls und des Devisenmangels. Eine solche Währung würde natürlich im Vergleich zu anderen abstürzen wie die Reichsmark unter Hjalmar Schacht, dem „genialen“ Finanzminister der Nazis. Bei einem Land mit so extremen Exportüberschuss wie Deutschland würde Devisenmangel aber keine Rolle spielen.

 

 

 

Präsidentschaftskandidat Christoph Butterwegge zum Abbau des Sozialstaats, vermehrter Armut sowie zur Verelendung per Gesetz

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

butterwegge2016

Prof. Butterwegge hatte sich schon hier vorgestellt: https://josopon.wordpress.com/2016/11/29/christoph-butterwegge-wir-brauchen-einen-solidarischen-ruck/ und http://www.neues-deutschland.de/artikel/956691.vom-sozial-zum-suppenkuechenstaat.html

Zwei aktuelle Beiträge aus der jungen Welt:

A.Schatten des Reichtums

https://www.jungewelt.de/2016/12-12/055.php

Christoph Butterwegge benennt die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse als Ursache

Von Jana Werner
Der Winter und mit ihm die Weihnachtszeit nähern sich. Und damit auch die Zeit des Mitleids und karitativen Engagements.
Kaum ein »Leistungsträger« wird sich die Chance entgehen lassen, sich medial dabei in Szene zu setzen, wie er in einer Suppenküche Essen oder Schokoladenweihnachtsmänner an arme Kinder verteilt.

Die strukturellen Ursachen von Armut in den Blick zu nehmen, »Hintergründe zu erhellen und Zusammenhänge herzustellen«, ist hingegen das Anliegen des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge. In seinem Buch »Armut«, das 2016 in der Reihe »Basiswissen« des PapyRossa-Verlags erschienen ist, geht er den Fragen nach, warum wenige reich und viele immer ärmer werden, wie und warum die Bundesregierung den Reichtum fördert und warum Arme nur dann als arm und bedürftig gelten, wenn sie Mangel an lebensnotwendigen Gütern leiden.

Butterwegge konstatiert, dass in reichen Gesellschaften wie Deutschland Armut »vorwiegend systemisch, d. h. durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt« sei. Obwohl auch in Deutschland bereits bis zu 800.000 Personen, zumeist Obdachlose, Drogenabhängige, Illegalisierte, von »absoluter Armut« betroffen seien, und diese Zahl zukünftig durchaus ansteigen könne, herrsche aber noch weitestgehend »relative Armut« vor.

Dass es sich dabei um Armut handele, sei allerdings keineswegs gesellschaftlicher Konsens, denn nach wie vor gelte Eliten und Meinungsführern hierzulande nur derjenige als arm, der Lumpen trage und trockenes Brot esse. Dabei käme im Umkehrschluss wohl keiner mehr auf die Idee, Reichtum am Besitz von Pferden, Kutschen, Brokat o. ä. zu messen.
»Armut und Reichtum sind aber zwei Seiten einer Medaille.« Darum könne man sie nicht »unabhängig voneinander, d. h. losgelöst von Raum und Zeit bestimmen«, sondern müsse »das Wohlstandsniveau der jeweiligen Gesellschaft als Vergleichsmaßstab berücksichtigen.«
Soziale Ausgrenzung infolge fehlender Mittel zu kultureller, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, sei daher in einem reichen Land wie Deutschland als »relative Armut« zu qualifizieren und als solche auch zu bekämpfen, denn mit 1,26 Euro pro Monat im Sozialhilfe– bzw. ALG II-Satz sind z. B. Kino- und Theaterbesuche nicht möglich.

Die soziale Ungleichheit nehme kontinuierlich zu, da alle Regierungskoalitionen der vergangenen vier Jahrzehnte im wesentlichen Politik nach dem Matthäus-Prinzip machten:
»Wer hat, dem wird gegeben«, was besonders gut bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer illustriert werde und im Ergebnis dazu geführt habe, dass während »die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fast 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen, die ärmere Hälfte nur auf ein Prozent kam.«
Fast 40 Millionen Menschen hierzulande lebten dauerhaft von der Hand in den Mund – nur eine Krankheit, Kündigung oder einen Schicksalsschlag von der Armut entfernt.
Dabei sei durchaus Geld da, befinde sich nur in der falschen Tasche: das private Nettovermögen habe sich zwischen 2006 und 2011 um 1,5 Billionen auf stolze zehn Billionen erhöht.

Diese, im vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung offenbarte Verteilungsschieflage veranlasste die damalige konservativ-liberale Regierung lediglich dazu, prüfen zu wollen, »wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender in Deutschland für das Gemeinwohl eingeworben werden kann«.

Eine wachsende Anhängerschaft aus allen politischen Lagern wolle dagegen den zunehmenden sozialen Verwerfungen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) begegnen. Diese »Sozialpolitik nach Gießkannenprinzip« sei aber kein probates Mittel zur Armutsbekämpfung, da es privaten Reichtum weder antasten noch umverteilen wolle.
Daher sei es – jedenfalls in seinen medial wahrgenommenen und deshalb mit den größten Realisierungschancen verbundenen Modellen – weit eher geeignet, die bestehende »Verteilungsschieflage zu legitimieren und zu zementieren«.

Dem setzt der Autor das Prinzip der »bedarfsgerechten Mindestsicherung im Rahmen der solidarischen Bürgerversicherung« entgegen, bei der es »im Unterschied zum BGE nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung des bestehenden So­zial­systems« gehe. Es gelte die jahrzehntelange Entwicklung einer Umverteilung von unten nach oben umzukehren, um dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft wieder nach Prinzipien der Solidarität reorganisiert werde.
Allerdings seien reale Verbesserungen unabhängig von wechselnden Regierungskoalitionen nur durch starke außerparlamentarische Bewegungen durchsetzbar.

Das Buch legt in kompakter, gut lesbarer Form dar, dass Armut nicht als isoliertes Phänomen in den Blick genommen werden sollte, sondern als größer werdender Schatten des in Privatbesitz konzentrierten Reichtums hierzulande. Dass diese Zusammenhänge in der herrschenden Armutsdebatte weitgehend ausgeblendet oder negiert werden, und statt dessen Armut als persönliches Schicksal oder Versagen individualisiert wird, illustriert die verbreitete geistige Armut neoliberalen Denkens.
Dabei ist es mitnichten eine neue Erkenntnis: Mit Reichtum verhält es sich wie Mist – auf einem großen Haufen stinkt er, fein verteilt leistet er hingegen gute Dienste.

B.Verelendung per Gesetz

https://www.jungewelt.de/2016/12-05/050.php

Die Teilprivatisierung der Rente unter SPD und Grünen hat das Problem der Altersarmut noch verschärft. Eine Lösung boten auch die jüngsten Beratungen der Bundesregierung nicht. Dabei gibt es eine Alternative: eine solidarische Bürgerversicherung für alle

Ältere bilden hierzulande seit geraumer Zeit die Bevölkerungsgruppe, deren Armutsrisiko stärker wächst als das jeder anderen. Vielerorts gehören Seniorinnen und Senioren, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen, wenn nicht gar Essensresten wühlen, beinahe zum »normalen« Stadtbild. Umfragen zeigen regelmäßig, dass ein Großteil der Befragten Angst vor Altersarmut hat.
Im bevorstehenden Bundestagswahlkampf dürfte die Rentenpolitik daher eine noch größere Rolle spielen als in der Vergangenheit, zumal CDU, CSU und SPD trotz monatelanger Beratungen keinen Konsens darüber erzielt haben, wie sie das Problem lösen wollen, von der Einleitung wirksamer Reformmaßnahmen ganz zu schweigen. Umso notwendiger ist es, über erfolgversprechende Gegenstrategien und alternative Handlungsmöglichkeiten nachzudenken.

Versicherungswirtschaft gefördert

CDU, CSU und SPD halten an dem von der rot-grünen Koalition mit der Rentenreform im Jahr 2001 institutionalisierten Drei-Säulen-Modell fest. Schon vor ihren zwei »Rentengipfeln« im November 2016 einigten sich die Regierungsparteien auf einen Ausbau der betrieblichen Alterssicherung als mittlerer Säule neben der gesetzlichen Rente als erster und der privaten Vorsorge (»Riester-Rente«) als dritter Säule. Zuletzt war die Riester-Reform wegen extrem niedriger Renditen vieler der ca. 250 Vorsorgeprodukte in Verruf geraten.

Den inhaltlichen Kern der großkoalitionären Rentenreform bildet das Betriebsrentenstärkungsgesetz, welches auf denselben Prämissen beruht wie das Altersvermögensgesetz und das Altersvermögensergänzungsgesetz, mit denen Walter Riester seinerzeit Parlamentsmehrheiten für eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge organisierte.
Der Gesetzesentwurf wurde von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) am 4. November vorgelegt. Wie beim privaten »Riestern« sollen die lohnabhängig Beschäftigten ab 2018 nicht bloß durch Steuernachlässe, sondern auch durch staatliche Zulagen dazu verleitet werden, Verträge mit Versicherungsunternehmen, Banken oder Finanzdienstleistern abzuschließen, diesmal jedoch über ihren Betrieb.

Damit hat Nahles dem Druck einflussreicher Lobbygruppen nachgegeben: Die deutschen Unternehmer wollen trotz erwarteter Kostensteigerungen vor allem Beitragssatzanhebungen der Rentenversicherung so lange wie möglich vermeiden. Denn niedrigere Beiträge ermöglichen höhere Gewinne. Und die Versicherungsbranche möchte neue Kunden für ihre Altersvorsorgeprodukte gewinnen.
Da sich Union und SPD auf eine Ausweitung der sogenannten Entgeltumwandlung (steuer- und sozialversicherungsfreie Umwandlung eine Teils des Bruttolohns für die betriebliche Altersvorsorge, wobei im Gegenzug die spätere Rentenzahlung aber einkommensteuerpflichtig ist) verständigten, haben beide Interessengruppen ihr Wunschziel erreicht.

Beschäftigte können fortan sieben Prozent statt bisher vier Prozent ihres Bruttoeinkommens steuerbefreit der betrieblichen Altersvorsorge zuführen. Gleichzeitig werden tarifgebundene Unternehmen aus der sogenannten Arbeitgeberhaftung für die betriebliche Altersvorsorge und die Garantiepflicht einer Mindestleistung entlassen.
Selbst wenn das Unternehmen aufgrund eines Tarifvertrages verpflichtet ist, einen »Sicherungsbeitrag« in Höhe von mindestens 15 Prozent des bei Entgeltumwandlung sozialabgabenfreien Lohn- bzw. Gehaltsanteils an die Versorgungseinrichtung zu zahlen, wird er durch die reine Beitragszusage gegenüber der früher üblichen Leistungszusage entlastet.

War die Riester-Rente wegen der Widerstände in den eigenen Reihen am Ende nicht obligatorisch, sondern optional, können Tarifverträge künftig eine betriebliche Altersvorsorge vorschreiben. Beschäftigte, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssen dies in einem »Opting-out-Modell« ausdrücklich erklären.
Durch einen neu geschaffenen und bis zur Hälfte des Regelbedarfs für Alleinstehende (2016: 202 Euro) reichenden Freibetrag in der Grundsicherung sollen mentale Hürden aus dem Weg geräumt werden, die vor allem Geringverdienende bisher davon abhielten, einen Riester-Vertrag abzuschließen oder betriebliche Altersvorsorge zu betreiben. So wird eine kapitalmarktabhängige Altersvorsorge, die bisher wenigstens freiwillig war, für Menschen mit niedrigem Einkommen attraktiver und nahezu verpflichtend gemacht, also ausgerechnet für eine Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige vorher höchst selten Riester-Verträge abschlossen, weil sie mit ihrem kargen Gehalt ohnehin kaum über die Runden kamen. Dies stellt ein weiteres Förderprogramm für Versicherungskonzerne, Banken und Finanzdienstleister dar.

Trotz des durch hohe Abschluss- und Verwaltungskosten, unrealistische Sterbetafeln (die eine zu hohe Lebenserwartung ansetzen), ungünstige Leitzinsentscheidungen der Europäischen Zentralbank und Finanzmarktrisiken zustande gekommenen Riester-Desasters kümmert sich die große Koalition nur um ein anderes Etikett.
Sie eröffnet der Versicherungsbranche ein weiteres lukratives Geschäftsfeld und beschert ihr erneut saftige Profite und Provisionen, ohne dafür zu sorgen, dass die Versicherten im Alter vor Armutsrisiken gefeit sind.

Es sind nicht etwa gute Argumente, sondern mächtige Interessen, die CDU, CSU und SPD veranlassen, auf eine kapitalmarktabhängige Altersvorsorge statt auf das bewährte Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung zu setzen. CDU, CSU und SPD wiederholen den Kardinalfehler der rot-grünen Koalition, diesen Teil des Sozialversicherungssystems zu demontieren und die Altersvorsorge stärker über Kapitalmärkte zu organisieren.
Stand damals die private Altersvorsorge im Mittelpunkt des Verwertungsinteresses der Versicherungswirtschaft, so ist es jetzt die betriebliche. Beide müssen Renditen für Anleger erbringen und sind für die, die solche Verträge unterschreiben, entsprechend risikoreich.

Viel Lärm um wenig

Andrea Nahles erörterte im Rahmen eines auf drei Sitzungen beschränkten »Regierungsdialogs Alterssicherung« unmittelbar vor den Koalitionsgipfeln zur Rente sowohl mit Vertretern der Tarifvertragsparteien wie der Versicherungswirtschaft und Wissenschaftlern mögliche Reformmaßnahmen. Spitzenpolitiker der Unionsparteien übernahmen dabei den Vorschlag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das gesetzliche Renteneintrittsalter an die allgemeine Lebenserwartung zu knüpfen, auf den die SPD jedoch nicht einging.
Ulrich Grillo
, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), hatte bereits im Oktober 2015 verkündet, dass ein Renteneintrittsalter von 85 Jahren angemessen sei, wenn die Menschen eines Tages durchschnittlich 100 Jahre alt würden. – Nur Arbeiten bis zum Tod käme die Rentenkasse noch billiger.

Abgesehen davon, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer und der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen – man denke nur an Dachdecker, Altenpflegerinnen und Straßenarbeiter – deutlich nach unten abweicht, was unberücksichtigt bliebe, wird schon jetzt mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre eine genau 100 Jahre alte Errungenschaft aufgegeben, was ein sozialer und kultureller Rückschritt sondergleichen ist: 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde das unter Bismarck geltende Renteneintrittsalter von 70 Jahren nämlich auf 65 Jahre herabgesetzt.
Und die um ein Vielfaches reichere Gesellschaft der Bundesrepublik soll es sich nicht leisten können, ihre Bürgerinnen und Bürger im selben Lebensalter wie das kriegführende Kaiserreich aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand zu entlassen? Natürlich werden die Rentnerinnen und Rentner heute in der Regel älter und beziehen daher auch über einen längeren Zeitraum eine Altersversorgung. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist jedoch die gegenwärtig und zukünftig erheblich höhere Arbeitsproduktivität und nicht der Rentenbezugszeitraum.

Ein großer rentenpolitischer Wurf gelang der Bundesregierung im Spätherbst 2016 nicht. Vielmehr dokumentieren die Ergebnisse der beiden »Rentengipfel« letztlich ihre Kapitulation vor der Altersarmut. Außer der schrittweisen Verlängerung der Zurechnungszeit von 62 auf 65 Jahre für Erwerbsgeminderte, die übrigens erst im Jahr 2024 vollständig wirken und auch nur für Neurentnerinnen und -rentner gelten soll, ist nichts Substantielles beschlossen worden, um die Not der Menschen zu lindern, die mit ihrer Rente kaum über die Runden kommen.
Um den Schutz bei Erwerbsminderung grundlegend zu verbessern, müssten außerdem die Rentenabschläge gestrichen werden. Schließlich ist es für die Betroffenen keine freie Entscheidung, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.
Für eine krankheitsbedingte Frühverrentung darf in einem Sozialstaat, der diesen Namen verdient, niemand mit der Kürzung seiner ohnehin kargen Rente bestraft werden!

Die von Angela Merkel (CDU) schon bei ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin versprochene, nunmehr in fünf Trippelschritten erfolgende und erst zum 1. Juli 2025 abgeschlossene Angleichung der Rentenwerte in Ost- und Westdeutschland trägt zwar der Vereinigung von BRD und DDR endlich Rechnung. Aber der parallel dazu stattfindende Wegfall der als »Hochwertung« bezeichneten Umrechnung ostdeutscher Löhne benachteiligt gerade jene Beschäftigten im »Beitrittsgebiet«, die bis heute Opfer des dort nach der »Wende« eingeleiteten Lohndumpings sind.

Kein Rezept gegen Altersarmut

Wochenlang erweckte Andrea Nahles im Herbst 2016 den Eindruck, dass sie rechtzeitig ein rentenpolitisches Gesamtkonzept vorstellen würde, auf das sich die große Koalition verständigen könne. Denn genauso wie Merkel wollte die Ministerin das Thema aus dem bevorstehenden Wahlkampf möglichst heraushalten. Es blieb bis zum zweiten Rentengipfel bei vagen Andeutungen, wie es nach dem Jahr 2030 weitergehen soll.
Nahles, deren Ministerium im September 2016 der Öffentlichkeit alarmierende Zahlen über das 2045 auf 41,7 Prozent des Durchschnittseinkommens sinkende Rentenniveau präsentierte, sprach anfangs nur von einer »verlässlichen Haltelinie«, die sie für den genannten Zeitraum beim Nettorentenniveau vor Steuern markieren wolle, um massenhafte Altersarmut zu verhindern. Bald darauf war jedoch bloß noch von einer »doppelten Haltelinie« die Rede, weil sich offenbar die Unternehmerverbände mit ihren Warnungen vor Gefahren für den hiesigen Wirtschaftsstandort aufgrund explodierender »Lohnnebenkosten« (sprich: »Arbeitgeberbeiträgen« zur Rentenversicherung) bei der Arbeits- und Sozialministerin Gehör verschafft hatten.

Erst als der zweite Rentengipfel am 24. November 2016 keinen Durchbruch innerhalb der Koalition gebracht hatte, stellte Nahles der Öffentlichkeit am nächsten Morgen ihr »Gesamtkonzept zur Alterssicherung« vor, das die Blaupause für den sozialdemokratischen Bundestagswahlkampf bilden dürfte. Demnach soll das Sicherungsniveau vor Steuern, welches derzeit 48 Prozent beträgt, zwar weiter sinken, aber bei 46 Prozent stabilisiert werden und der Beitragssatz bis zum Jahr 2045 die Höhe von 25 Prozent nicht überschreiten. Nötig wäre jedoch die Rückkehr zum Rentenniveau der Jahrtausendwende, als es 53 Prozent betrug und den Lebensstandard von jahrzehntelang sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand noch weitgehend garantierte.
Ein höherer Beitragssatz wäre dann kein Problem, wenn die Unternehmer gezwungen würden, sich wieder paritätisch an der Finanzierung der gesetzlichen Rente zu beteiligen, was das Auslaufen der Riester-Förderung unter Bestandsschutz für die laufenden Verträge einschlösse.

Auch die von Nahles vorgeschlagene »gesetzliche Solidarrente«, die einen zehnprozentigen Zuschlag auf die regional unterschiedlich hohe Grundsicherung im Alter vorsieht (wenn 35 Beitragsjahre zu Buche schlagen, wobei Erziehungs- und Pflegezeiten ebenso berücksichtigt werden sollen wie bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit), wird aufgrund der niedrigen daraus resultierenden Gesamtsumme, die noch unter der EU-Armutsgrenze (60 Prozent des mittleren Einkommens) liegt, nur wenige Bezieherinnen und Bezieher aus der Armut herausführen.

Die rentenpolitische Quadratur des Kreises ist der Bundesarbeitsministerin – wie zu erwarten – nicht gelungen: Sie versucht erfolglos, mittels einer »doppelten Haltelinie« gleichzeitig die Steigerung des Beitragsniveaus und die Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente nach unten zu begrenzen.
Weder ist jedoch die Finanzierung durch einen »Demographiezuschuss des Bundes« gewährleistet, wie ihn Nahles fordert – selbst die Herstellung der sogenannten Renteneinheit über Steuermittel war zwischen CDU, CSU und SPD nicht gleich konsensfähig –, noch dürfte die Propaganda der Unternehmerverbände gegen höhere »Lohnnebenkosten« durch Beitragssatzsteigerungen nachlassen.

Solidarische Bürgerversicherung

Armut im Alter hat zwei Hauptursachen: die Deformation des Sozialstaates im allgemeinen und die der gesetzlichen Rentenversicherung im besonderen sowie die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Als Beispiele seien hierfür genannt: der Einbau sogenannter Dämpfungsfaktoren (»Riester-Treppe«, »Nachhaltigkeitsfaktor« und »Nachholfaktor«) in die Rentenanpassungsformel, die Anhebung der Regelaltersgrenze und die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge.
Dazu kommen die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- und Midijobs sowie die Liberalisierung der Leiharbeit.

Gegenstrategien müssen vor allem an den beiden Kardinalfehlern (Destabilisierung der Rentenversicherung und Deregulierung des Arbeitsmarktes) ansetzen. Die in Zukunft eher wachsende Altersarmut muss mit einer Rückbesinnung auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beantwortet werden.
Dazu gehören die Durchsetzung des früheren bestehenden sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisses (nicht nur für Männer) sowie eine Rückabwicklung der mit den Namen von Walter Riester (SPD) und Bert Rürup verbundenen Rentenreformen.
Zu rehabilitieren ist die Lohnersatzfunktion der gesetzlichen Rente, also das Lebensstandardsicherungsprinzip. Außerdem muss das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 65 Jahren bleiben und die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet werden, für Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher wieder (ausreichend hohe) Beiträge in die Rentenkasse einzuzahlen.

Den durch Deregulierungsmaßnahmen hervorgerufenen Veränderungen am Arbeitsmarkt, die eine Verschlechterung für jene Menschen darstellen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um leben zu können, oder die sie zu (Solo-)Selbständigen gemacht hat, denen es häufig nicht besser geht, sollte vorrangig durch eine Ausdehnung der Versicherungspflicht begegnet werden. Da abhängige und selbständige Arbeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen bzw. zu besonderen Bedingungen abgesichert werden (Beamte, Landwirte, Handwerker, Künstler und andere freie Berufe).

Eine solidarische Bürgerversicherung würde dem Rechnung tragen. »Solidarisch« meint, dass sie zwischen ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellen muss. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung – sind Beiträge zu erheben.
Dabei darf es weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Andererseits muss finanziell aufgefangen werden, wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann.
Nur im Falle fehlender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit der Versicherten hätte also der Staat die Aufgabe, Beiträge bedarfsbezogen zu »subventionieren«, also Mittel dafür aus dem allgemeinen Steueraufkommen zuzuschießen.

In die Bürgerversicherung wären sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner einbezogen. So würde die Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems verbreitert und der Kreis seiner Mitglieder im Sinne der Schaffung eines inklusiven Sozialstaates erweitert.
Eine solche Versicherung« bedeutete schließlich, dass gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau der Versicherung beteiligt.

In die Bürgerversicherung sollte eine armutsfeste und bedarfsdeckende Mindestrente integriert sein, deren Niveau die heutige Grundsicherung deutlich übersteigt. Eine an den Gesetzen des Marktes orientierte Rente sichert ein Alter in Würde gerade nicht. Wenn in Zukunft, wie allenthalben prognostiziert, hierzulande mehr Menschen ein Lebensabend in Armut droht, muss das Solidaritäts- gegenüber dem Äquivalenzprinzip an Bedeutung gewinnen.
Dazu wäre die Auf-, zumindest jedoch eine starke Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze notwendig, ohne dass Spitzenverdienern viel höhere Renten als den übrigen Versicherten gezahlt werden müssten. Eine stark degressive Ausgestaltung der Leistungskurve entspräche eher dem bewährten Modus bei Dienst- und Sachleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Dort erhält der Abteilungsleiter trotz seines höheren Beitrages schließlich auch nicht mehr Grippetabletten, wenn er krank ist, als eine Sekretärin mit demselben Krankheitsbild. Außerdem müssten nicht bloß (Solo-)Selbstständige in die zur Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickelnde Rentenversicherung einbezogen werden, wie Andrea Nahles fordert, sondern auch Beamte, Abgeordnete, Ministerinnen und Minister sowie Kanzlerinnen und Kanzler.

Literatur

– Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012

– Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl. Wiesbaden 2014

– Butterwegge, Christoph: Armut, Köln 2016

Ich vermute, dass die mit den Entscheidungen befassten Funktionäre der SPD wie schon andere für ihren Lobby-Kotau bald fürstlich belohnt werden. Schließlich sind dort noch viele gut dosierte Pöstchen zu vergeben.

Jochen