Präsidentschaftskandidat Christoph Butterwegge zum Abbau des Sozialstaats, vermehrter Armut sowie zur Verelendung per Gesetz

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

butterwegge2016

Prof. Butterwegge hatte sich schon hier vorgestellt: https://josopon.wordpress.com/2016/11/29/christoph-butterwegge-wir-brauchen-einen-solidarischen-ruck/ und http://www.neues-deutschland.de/artikel/956691.vom-sozial-zum-suppenkuechenstaat.html

Zwei aktuelle Beiträge aus der jungen Welt:

A.Schatten des Reichtums

https://www.jungewelt.de/2016/12-12/055.php

Christoph Butterwegge benennt die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse als Ursache

Von Jana Werner
Der Winter und mit ihm die Weihnachtszeit nähern sich. Und damit auch die Zeit des Mitleids und karitativen Engagements.
Kaum ein »Leistungsträger« wird sich die Chance entgehen lassen, sich medial dabei in Szene zu setzen, wie er in einer Suppenküche Essen oder Schokoladenweihnachtsmänner an arme Kinder verteilt.

Die strukturellen Ursachen von Armut in den Blick zu nehmen, »Hintergründe zu erhellen und Zusammenhänge herzustellen«, ist hingegen das Anliegen des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge. In seinem Buch »Armut«, das 2016 in der Reihe »Basiswissen« des PapyRossa-Verlags erschienen ist, geht er den Fragen nach, warum wenige reich und viele immer ärmer werden, wie und warum die Bundesregierung den Reichtum fördert und warum Arme nur dann als arm und bedürftig gelten, wenn sie Mangel an lebensnotwendigen Gütern leiden.

Butterwegge konstatiert, dass in reichen Gesellschaften wie Deutschland Armut »vorwiegend systemisch, d. h. durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt« sei. Obwohl auch in Deutschland bereits bis zu 800.000 Personen, zumeist Obdachlose, Drogenabhängige, Illegalisierte, von »absoluter Armut« betroffen seien, und diese Zahl zukünftig durchaus ansteigen könne, herrsche aber noch weitestgehend »relative Armut« vor.

Dass es sich dabei um Armut handele, sei allerdings keineswegs gesellschaftlicher Konsens, denn nach wie vor gelte Eliten und Meinungsführern hierzulande nur derjenige als arm, der Lumpen trage und trockenes Brot esse. Dabei käme im Umkehrschluss wohl keiner mehr auf die Idee, Reichtum am Besitz von Pferden, Kutschen, Brokat o. ä. zu messen.
»Armut und Reichtum sind aber zwei Seiten einer Medaille.« Darum könne man sie nicht »unabhängig voneinander, d. h. losgelöst von Raum und Zeit bestimmen«, sondern müsse »das Wohlstandsniveau der jeweiligen Gesellschaft als Vergleichsmaßstab berücksichtigen.«
Soziale Ausgrenzung infolge fehlender Mittel zu kultureller, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, sei daher in einem reichen Land wie Deutschland als »relative Armut« zu qualifizieren und als solche auch zu bekämpfen, denn mit 1,26 Euro pro Monat im Sozialhilfe– bzw. ALG II-Satz sind z. B. Kino- und Theaterbesuche nicht möglich.

Die soziale Ungleichheit nehme kontinuierlich zu, da alle Regierungskoalitionen der vergangenen vier Jahrzehnte im wesentlichen Politik nach dem Matthäus-Prinzip machten:
»Wer hat, dem wird gegeben«, was besonders gut bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer illustriert werde und im Ergebnis dazu geführt habe, dass während »die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fast 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen, die ärmere Hälfte nur auf ein Prozent kam.«
Fast 40 Millionen Menschen hierzulande lebten dauerhaft von der Hand in den Mund – nur eine Krankheit, Kündigung oder einen Schicksalsschlag von der Armut entfernt.
Dabei sei durchaus Geld da, befinde sich nur in der falschen Tasche: das private Nettovermögen habe sich zwischen 2006 und 2011 um 1,5 Billionen auf stolze zehn Billionen erhöht.

Diese, im vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung offenbarte Verteilungsschieflage veranlasste die damalige konservativ-liberale Regierung lediglich dazu, prüfen zu wollen, »wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender in Deutschland für das Gemeinwohl eingeworben werden kann«.

Eine wachsende Anhängerschaft aus allen politischen Lagern wolle dagegen den zunehmenden sozialen Verwerfungen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) begegnen. Diese »Sozialpolitik nach Gießkannenprinzip« sei aber kein probates Mittel zur Armutsbekämpfung, da es privaten Reichtum weder antasten noch umverteilen wolle.
Daher sei es – jedenfalls in seinen medial wahrgenommenen und deshalb mit den größten Realisierungschancen verbundenen Modellen – weit eher geeignet, die bestehende »Verteilungsschieflage zu legitimieren und zu zementieren«.

Dem setzt der Autor das Prinzip der »bedarfsgerechten Mindestsicherung im Rahmen der solidarischen Bürgerversicherung« entgegen, bei der es »im Unterschied zum BGE nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung des bestehenden So­zial­systems« gehe. Es gelte die jahrzehntelange Entwicklung einer Umverteilung von unten nach oben umzukehren, um dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft wieder nach Prinzipien der Solidarität reorganisiert werde.
Allerdings seien reale Verbesserungen unabhängig von wechselnden Regierungskoalitionen nur durch starke außerparlamentarische Bewegungen durchsetzbar.

Das Buch legt in kompakter, gut lesbarer Form dar, dass Armut nicht als isoliertes Phänomen in den Blick genommen werden sollte, sondern als größer werdender Schatten des in Privatbesitz konzentrierten Reichtums hierzulande. Dass diese Zusammenhänge in der herrschenden Armutsdebatte weitgehend ausgeblendet oder negiert werden, und statt dessen Armut als persönliches Schicksal oder Versagen individualisiert wird, illustriert die verbreitete geistige Armut neoliberalen Denkens.
Dabei ist es mitnichten eine neue Erkenntnis: Mit Reichtum verhält es sich wie Mist – auf einem großen Haufen stinkt er, fein verteilt leistet er hingegen gute Dienste.

B.Verelendung per Gesetz

https://www.jungewelt.de/2016/12-05/050.php

Die Teilprivatisierung der Rente unter SPD und Grünen hat das Problem der Altersarmut noch verschärft. Eine Lösung boten auch die jüngsten Beratungen der Bundesregierung nicht. Dabei gibt es eine Alternative: eine solidarische Bürgerversicherung für alle

Ältere bilden hierzulande seit geraumer Zeit die Bevölkerungsgruppe, deren Armutsrisiko stärker wächst als das jeder anderen. Vielerorts gehören Seniorinnen und Senioren, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen, wenn nicht gar Essensresten wühlen, beinahe zum »normalen« Stadtbild. Umfragen zeigen regelmäßig, dass ein Großteil der Befragten Angst vor Altersarmut hat.
Im bevorstehenden Bundestagswahlkampf dürfte die Rentenpolitik daher eine noch größere Rolle spielen als in der Vergangenheit, zumal CDU, CSU und SPD trotz monatelanger Beratungen keinen Konsens darüber erzielt haben, wie sie das Problem lösen wollen, von der Einleitung wirksamer Reformmaßnahmen ganz zu schweigen. Umso notwendiger ist es, über erfolgversprechende Gegenstrategien und alternative Handlungsmöglichkeiten nachzudenken.

Versicherungswirtschaft gefördert

CDU, CSU und SPD halten an dem von der rot-grünen Koalition mit der Rentenreform im Jahr 2001 institutionalisierten Drei-Säulen-Modell fest. Schon vor ihren zwei »Rentengipfeln« im November 2016 einigten sich die Regierungsparteien auf einen Ausbau der betrieblichen Alterssicherung als mittlerer Säule neben der gesetzlichen Rente als erster und der privaten Vorsorge (»Riester-Rente«) als dritter Säule. Zuletzt war die Riester-Reform wegen extrem niedriger Renditen vieler der ca. 250 Vorsorgeprodukte in Verruf geraten.

Den inhaltlichen Kern der großkoalitionären Rentenreform bildet das Betriebsrentenstärkungsgesetz, welches auf denselben Prämissen beruht wie das Altersvermögensgesetz und das Altersvermögensergänzungsgesetz, mit denen Walter Riester seinerzeit Parlamentsmehrheiten für eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge organisierte.
Der Gesetzesentwurf wurde von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) am 4. November vorgelegt. Wie beim privaten »Riestern« sollen die lohnabhängig Beschäftigten ab 2018 nicht bloß durch Steuernachlässe, sondern auch durch staatliche Zulagen dazu verleitet werden, Verträge mit Versicherungsunternehmen, Banken oder Finanzdienstleistern abzuschließen, diesmal jedoch über ihren Betrieb.

Damit hat Nahles dem Druck einflussreicher Lobbygruppen nachgegeben: Die deutschen Unternehmer wollen trotz erwarteter Kostensteigerungen vor allem Beitragssatzanhebungen der Rentenversicherung so lange wie möglich vermeiden. Denn niedrigere Beiträge ermöglichen höhere Gewinne. Und die Versicherungsbranche möchte neue Kunden für ihre Altersvorsorgeprodukte gewinnen.
Da sich Union und SPD auf eine Ausweitung der sogenannten Entgeltumwandlung (steuer- und sozialversicherungsfreie Umwandlung eine Teils des Bruttolohns für die betriebliche Altersvorsorge, wobei im Gegenzug die spätere Rentenzahlung aber einkommensteuerpflichtig ist) verständigten, haben beide Interessengruppen ihr Wunschziel erreicht.

Beschäftigte können fortan sieben Prozent statt bisher vier Prozent ihres Bruttoeinkommens steuerbefreit der betrieblichen Altersvorsorge zuführen. Gleichzeitig werden tarifgebundene Unternehmen aus der sogenannten Arbeitgeberhaftung für die betriebliche Altersvorsorge und die Garantiepflicht einer Mindestleistung entlassen.
Selbst wenn das Unternehmen aufgrund eines Tarifvertrages verpflichtet ist, einen »Sicherungsbeitrag« in Höhe von mindestens 15 Prozent des bei Entgeltumwandlung sozialabgabenfreien Lohn- bzw. Gehaltsanteils an die Versorgungseinrichtung zu zahlen, wird er durch die reine Beitragszusage gegenüber der früher üblichen Leistungszusage entlastet.

War die Riester-Rente wegen der Widerstände in den eigenen Reihen am Ende nicht obligatorisch, sondern optional, können Tarifverträge künftig eine betriebliche Altersvorsorge vorschreiben. Beschäftigte, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssen dies in einem »Opting-out-Modell« ausdrücklich erklären.
Durch einen neu geschaffenen und bis zur Hälfte des Regelbedarfs für Alleinstehende (2016: 202 Euro) reichenden Freibetrag in der Grundsicherung sollen mentale Hürden aus dem Weg geräumt werden, die vor allem Geringverdienende bisher davon abhielten, einen Riester-Vertrag abzuschließen oder betriebliche Altersvorsorge zu betreiben. So wird eine kapitalmarktabhängige Altersvorsorge, die bisher wenigstens freiwillig war, für Menschen mit niedrigem Einkommen attraktiver und nahezu verpflichtend gemacht, also ausgerechnet für eine Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige vorher höchst selten Riester-Verträge abschlossen, weil sie mit ihrem kargen Gehalt ohnehin kaum über die Runden kamen. Dies stellt ein weiteres Förderprogramm für Versicherungskonzerne, Banken und Finanzdienstleister dar.

Trotz des durch hohe Abschluss- und Verwaltungskosten, unrealistische Sterbetafeln (die eine zu hohe Lebenserwartung ansetzen), ungünstige Leitzinsentscheidungen der Europäischen Zentralbank und Finanzmarktrisiken zustande gekommenen Riester-Desasters kümmert sich die große Koalition nur um ein anderes Etikett.
Sie eröffnet der Versicherungsbranche ein weiteres lukratives Geschäftsfeld und beschert ihr erneut saftige Profite und Provisionen, ohne dafür zu sorgen, dass die Versicherten im Alter vor Armutsrisiken gefeit sind.

Es sind nicht etwa gute Argumente, sondern mächtige Interessen, die CDU, CSU und SPD veranlassen, auf eine kapitalmarktabhängige Altersvorsorge statt auf das bewährte Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung zu setzen. CDU, CSU und SPD wiederholen den Kardinalfehler der rot-grünen Koalition, diesen Teil des Sozialversicherungssystems zu demontieren und die Altersvorsorge stärker über Kapitalmärkte zu organisieren.
Stand damals die private Altersvorsorge im Mittelpunkt des Verwertungsinteresses der Versicherungswirtschaft, so ist es jetzt die betriebliche. Beide müssen Renditen für Anleger erbringen und sind für die, die solche Verträge unterschreiben, entsprechend risikoreich.

Viel Lärm um wenig

Andrea Nahles erörterte im Rahmen eines auf drei Sitzungen beschränkten »Regierungsdialogs Alterssicherung« unmittelbar vor den Koalitionsgipfeln zur Rente sowohl mit Vertretern der Tarifvertragsparteien wie der Versicherungswirtschaft und Wissenschaftlern mögliche Reformmaßnahmen. Spitzenpolitiker der Unionsparteien übernahmen dabei den Vorschlag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das gesetzliche Renteneintrittsalter an die allgemeine Lebenserwartung zu knüpfen, auf den die SPD jedoch nicht einging.
Ulrich Grillo
, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), hatte bereits im Oktober 2015 verkündet, dass ein Renteneintrittsalter von 85 Jahren angemessen sei, wenn die Menschen eines Tages durchschnittlich 100 Jahre alt würden. – Nur Arbeiten bis zum Tod käme die Rentenkasse noch billiger.

Abgesehen davon, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer und der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen – man denke nur an Dachdecker, Altenpflegerinnen und Straßenarbeiter – deutlich nach unten abweicht, was unberücksichtigt bliebe, wird schon jetzt mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre eine genau 100 Jahre alte Errungenschaft aufgegeben, was ein sozialer und kultureller Rückschritt sondergleichen ist: 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde das unter Bismarck geltende Renteneintrittsalter von 70 Jahren nämlich auf 65 Jahre herabgesetzt.
Und die um ein Vielfaches reichere Gesellschaft der Bundesrepublik soll es sich nicht leisten können, ihre Bürgerinnen und Bürger im selben Lebensalter wie das kriegführende Kaiserreich aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand zu entlassen? Natürlich werden die Rentnerinnen und Rentner heute in der Regel älter und beziehen daher auch über einen längeren Zeitraum eine Altersversorgung. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist jedoch die gegenwärtig und zukünftig erheblich höhere Arbeitsproduktivität und nicht der Rentenbezugszeitraum.

Ein großer rentenpolitischer Wurf gelang der Bundesregierung im Spätherbst 2016 nicht. Vielmehr dokumentieren die Ergebnisse der beiden »Rentengipfel« letztlich ihre Kapitulation vor der Altersarmut. Außer der schrittweisen Verlängerung der Zurechnungszeit von 62 auf 65 Jahre für Erwerbsgeminderte, die übrigens erst im Jahr 2024 vollständig wirken und auch nur für Neurentnerinnen und -rentner gelten soll, ist nichts Substantielles beschlossen worden, um die Not der Menschen zu lindern, die mit ihrer Rente kaum über die Runden kommen.
Um den Schutz bei Erwerbsminderung grundlegend zu verbessern, müssten außerdem die Rentenabschläge gestrichen werden. Schließlich ist es für die Betroffenen keine freie Entscheidung, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.
Für eine krankheitsbedingte Frühverrentung darf in einem Sozialstaat, der diesen Namen verdient, niemand mit der Kürzung seiner ohnehin kargen Rente bestraft werden!

Die von Angela Merkel (CDU) schon bei ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin versprochene, nunmehr in fünf Trippelschritten erfolgende und erst zum 1. Juli 2025 abgeschlossene Angleichung der Rentenwerte in Ost- und Westdeutschland trägt zwar der Vereinigung von BRD und DDR endlich Rechnung. Aber der parallel dazu stattfindende Wegfall der als »Hochwertung« bezeichneten Umrechnung ostdeutscher Löhne benachteiligt gerade jene Beschäftigten im »Beitrittsgebiet«, die bis heute Opfer des dort nach der »Wende« eingeleiteten Lohndumpings sind.

Kein Rezept gegen Altersarmut

Wochenlang erweckte Andrea Nahles im Herbst 2016 den Eindruck, dass sie rechtzeitig ein rentenpolitisches Gesamtkonzept vorstellen würde, auf das sich die große Koalition verständigen könne. Denn genauso wie Merkel wollte die Ministerin das Thema aus dem bevorstehenden Wahlkampf möglichst heraushalten. Es blieb bis zum zweiten Rentengipfel bei vagen Andeutungen, wie es nach dem Jahr 2030 weitergehen soll.
Nahles, deren Ministerium im September 2016 der Öffentlichkeit alarmierende Zahlen über das 2045 auf 41,7 Prozent des Durchschnittseinkommens sinkende Rentenniveau präsentierte, sprach anfangs nur von einer »verlässlichen Haltelinie«, die sie für den genannten Zeitraum beim Nettorentenniveau vor Steuern markieren wolle, um massenhafte Altersarmut zu verhindern. Bald darauf war jedoch bloß noch von einer »doppelten Haltelinie« die Rede, weil sich offenbar die Unternehmerverbände mit ihren Warnungen vor Gefahren für den hiesigen Wirtschaftsstandort aufgrund explodierender »Lohnnebenkosten« (sprich: »Arbeitgeberbeiträgen« zur Rentenversicherung) bei der Arbeits- und Sozialministerin Gehör verschafft hatten.

Erst als der zweite Rentengipfel am 24. November 2016 keinen Durchbruch innerhalb der Koalition gebracht hatte, stellte Nahles der Öffentlichkeit am nächsten Morgen ihr »Gesamtkonzept zur Alterssicherung« vor, das die Blaupause für den sozialdemokratischen Bundestagswahlkampf bilden dürfte. Demnach soll das Sicherungsniveau vor Steuern, welches derzeit 48 Prozent beträgt, zwar weiter sinken, aber bei 46 Prozent stabilisiert werden und der Beitragssatz bis zum Jahr 2045 die Höhe von 25 Prozent nicht überschreiten. Nötig wäre jedoch die Rückkehr zum Rentenniveau der Jahrtausendwende, als es 53 Prozent betrug und den Lebensstandard von jahrzehntelang sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand noch weitgehend garantierte.
Ein höherer Beitragssatz wäre dann kein Problem, wenn die Unternehmer gezwungen würden, sich wieder paritätisch an der Finanzierung der gesetzlichen Rente zu beteiligen, was das Auslaufen der Riester-Förderung unter Bestandsschutz für die laufenden Verträge einschlösse.

Auch die von Nahles vorgeschlagene »gesetzliche Solidarrente«, die einen zehnprozentigen Zuschlag auf die regional unterschiedlich hohe Grundsicherung im Alter vorsieht (wenn 35 Beitragsjahre zu Buche schlagen, wobei Erziehungs- und Pflegezeiten ebenso berücksichtigt werden sollen wie bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit), wird aufgrund der niedrigen daraus resultierenden Gesamtsumme, die noch unter der EU-Armutsgrenze (60 Prozent des mittleren Einkommens) liegt, nur wenige Bezieherinnen und Bezieher aus der Armut herausführen.

Die rentenpolitische Quadratur des Kreises ist der Bundesarbeitsministerin – wie zu erwarten – nicht gelungen: Sie versucht erfolglos, mittels einer »doppelten Haltelinie« gleichzeitig die Steigerung des Beitragsniveaus und die Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente nach unten zu begrenzen.
Weder ist jedoch die Finanzierung durch einen »Demographiezuschuss des Bundes« gewährleistet, wie ihn Nahles fordert – selbst die Herstellung der sogenannten Renteneinheit über Steuermittel war zwischen CDU, CSU und SPD nicht gleich konsensfähig –, noch dürfte die Propaganda der Unternehmerverbände gegen höhere »Lohnnebenkosten« durch Beitragssatzsteigerungen nachlassen.

Solidarische Bürgerversicherung

Armut im Alter hat zwei Hauptursachen: die Deformation des Sozialstaates im allgemeinen und die der gesetzlichen Rentenversicherung im besonderen sowie die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Als Beispiele seien hierfür genannt: der Einbau sogenannter Dämpfungsfaktoren (»Riester-Treppe«, »Nachhaltigkeitsfaktor« und »Nachholfaktor«) in die Rentenanpassungsformel, die Anhebung der Regelaltersgrenze und die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge.
Dazu kommen die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- und Midijobs sowie die Liberalisierung der Leiharbeit.

Gegenstrategien müssen vor allem an den beiden Kardinalfehlern (Destabilisierung der Rentenversicherung und Deregulierung des Arbeitsmarktes) ansetzen. Die in Zukunft eher wachsende Altersarmut muss mit einer Rückbesinnung auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beantwortet werden.
Dazu gehören die Durchsetzung des früheren bestehenden sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisses (nicht nur für Männer) sowie eine Rückabwicklung der mit den Namen von Walter Riester (SPD) und Bert Rürup verbundenen Rentenreformen.
Zu rehabilitieren ist die Lohnersatzfunktion der gesetzlichen Rente, also das Lebensstandardsicherungsprinzip. Außerdem muss das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 65 Jahren bleiben und die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet werden, für Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher wieder (ausreichend hohe) Beiträge in die Rentenkasse einzuzahlen.

Den durch Deregulierungsmaßnahmen hervorgerufenen Veränderungen am Arbeitsmarkt, die eine Verschlechterung für jene Menschen darstellen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um leben zu können, oder die sie zu (Solo-)Selbständigen gemacht hat, denen es häufig nicht besser geht, sollte vorrangig durch eine Ausdehnung der Versicherungspflicht begegnet werden. Da abhängige und selbständige Arbeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen bzw. zu besonderen Bedingungen abgesichert werden (Beamte, Landwirte, Handwerker, Künstler und andere freie Berufe).

Eine solidarische Bürgerversicherung würde dem Rechnung tragen. »Solidarisch« meint, dass sie zwischen ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellen muss. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung – sind Beiträge zu erheben.
Dabei darf es weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Andererseits muss finanziell aufgefangen werden, wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann.
Nur im Falle fehlender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit der Versicherten hätte also der Staat die Aufgabe, Beiträge bedarfsbezogen zu »subventionieren«, also Mittel dafür aus dem allgemeinen Steueraufkommen zuzuschießen.

In die Bürgerversicherung wären sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner einbezogen. So würde die Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems verbreitert und der Kreis seiner Mitglieder im Sinne der Schaffung eines inklusiven Sozialstaates erweitert.
Eine solche Versicherung« bedeutete schließlich, dass gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau der Versicherung beteiligt.

In die Bürgerversicherung sollte eine armutsfeste und bedarfsdeckende Mindestrente integriert sein, deren Niveau die heutige Grundsicherung deutlich übersteigt. Eine an den Gesetzen des Marktes orientierte Rente sichert ein Alter in Würde gerade nicht. Wenn in Zukunft, wie allenthalben prognostiziert, hierzulande mehr Menschen ein Lebensabend in Armut droht, muss das Solidaritäts- gegenüber dem Äquivalenzprinzip an Bedeutung gewinnen.
Dazu wäre die Auf-, zumindest jedoch eine starke Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze notwendig, ohne dass Spitzenverdienern viel höhere Renten als den übrigen Versicherten gezahlt werden müssten. Eine stark degressive Ausgestaltung der Leistungskurve entspräche eher dem bewährten Modus bei Dienst- und Sachleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Dort erhält der Abteilungsleiter trotz seines höheren Beitrages schließlich auch nicht mehr Grippetabletten, wenn er krank ist, als eine Sekretärin mit demselben Krankheitsbild. Außerdem müssten nicht bloß (Solo-)Selbstständige in die zur Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickelnde Rentenversicherung einbezogen werden, wie Andrea Nahles fordert, sondern auch Beamte, Abgeordnete, Ministerinnen und Minister sowie Kanzlerinnen und Kanzler.

Literatur

– Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012

– Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl. Wiesbaden 2014

– Butterwegge, Christoph: Armut, Köln 2016

Ich vermute, dass die mit den Entscheidungen befassten Funktionäre der SPD wie schon andere für ihren Lobby-Kotau bald fürstlich belohnt werden. Schließlich sind dort noch viele gut dosierte Pöstchen zu vergeben.

Jochen

Die Rente wird Wahlkampfthema…

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Die voraussehbare massive Altersarmut hat zu der zynischen Empfehlung geführt, die Geringverdiener sollten halt lieber heute hungern und frieren und in private oder betriebliche Abzockerfirmen einzahlen, damit der Staat für sie im Rentenalter das Auszahlen der Sozialhilfe ersparen kann.
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – zu deren „Botschaftern“ ausgerechnet der Profiteur und Maschmeyer-Kumpel Rürup und andere Absahnerchefs zählen – macht in der Süddeutschen eine Kampagne auf, um Junge gegen Alte aufzuhetzen.
http://www.nachdenkseiten.de/?p=35597

Darin wird vorausschauend die Kapitalassistentin und Weisswäscherin Nahles unter Druck gesetzt
– ausgerechnet mit dem Slogan „Rente muss gerecht bleiben“.
Eine kritische Stimme erhebt Matthias Birkwald von der Linken:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1030397.die-rente-wird-wahlkampfthema.html

Damit der Slogan „Rente muss gerecht bleiben“ nicht von der INSM fürs Internet vereinnahmt wird, hat Sahra Wagenknecht schnell diesen als Web-Adresse eingetragen:

www.rentemussgerechtbleiben.de

LINKE-Sozialpolitiker Matthias W. Birkwald im Interview über notwendige Reformen, die Zukunft der Riester-Verträge und betriebliche Vorsorge

Was ist aus Ihrer Sicht heute das größere Problem – die Demografie oder der hohe Anteil an armen Alleineinziehenden?
Ich warne davor, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. 40 Prozent der alleinerziehenden Mütter beziehen Leistungen nach Hartz IV, das stimmt.
Aber in keiner gesellschaftlichen Gruppe nimmt die Armut so rasant zu wie bei denen, die ihren 65. Geburtstag hinter sich haben.
Deshalb muss man sowohl etwas für die Alleinerziehenden und gegen die Kinderarmut tun als auch gegen die auf uns zu kommende große Welle neuer Altersarmut.
Das Rentenniveau könnte bis 2045 auf bis zu 41,6 Prozent sinken, wie es die Bundesarbeitsministerin jetzt prognostiziert hat. Das darf auf keinen Fall passieren.

Wird die Rente ein Wahlkampfthema? Die Koalitionsparteien eiern bei der Frage herum.
Ja.

Zufrieden mit dem Konzept der IG Metall?
Mit sehr vielem kann die LINKE zufrieden sein. Beispielsweise damit, die Rente nach Mindestentgeltpunkten wieder einzuführen. Das würde Menschen, die lange Jahre zu geringen Verdiensten beschäftigt waren, eine höhere Rente bringen. 88 Prozent derer, die davon profitieren würden, sind Frauen.
Mir persönlich geht das Konzept an anderer Stelle aber nicht weit genug. Wir brauchen dringend eine verbindliche Zahl, auf die das Rentenniveau wieder angehoben werden soll. Die fehlt leider.

Und wie hoch wäre das?
Das Rentenniveau muss zunächst stabilisiert und danach wieder auf lebensstandardsichernde 53 Prozent angehoben werden.

Ich höre es schon: Viel zu teuer …
Das würde durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit 3022 Euro brutto 33 Euro mehr im Monat kosten. Die Zahlung von vier Prozent vom Brutto in einen Riester-Vertrag könnte dann wegfallen – durchschnittlich 108 Euro plus steuerliche Zulagen. Macht unterm Strich 75 Euro mehr im Monat.
Auf der anderen Seite kämen 130 Euro mehr Rente im Monat für diejenigen raus, die 45 Jahre zum Durchschnittsverdienst gearbeitet haben.

Und wie soll das gehen? Es gibt sehr viele Riester-Verträge, die noch lange laufen.
Unser Vorschlag ist, dass Menschen ihr Geld für einen kleinen Beitrag von den Versicherungsunternehmen zurückbekommen und dann kostenfrei auf ihr persönliches Rentenkonto bei der gesetzlichen Rentenversicherung einzahlen können.

Die IG Metall will auch die Betriebsrenten stärken.
Wir haben nichts gegen Betriebsrenten, die zu 100 Prozent vom Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin finanziert werden. Das ist betriebliche Altersversorgung. Auch 50 Prozent kann man noch akzeptieren.
Aber heute wird den Beschäftigten doch oft gesagt: Wandele einen Teil deines Entgeltes um, zahl in die Betriebsrente ein, und wir legen das für dich bei einer Versicherungsgesellschaft an. Dann sprechen wir aber von einer betrieblichen Altersvorsorge. Bei Auszahlung muss dann der doppelte Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag bezahlt werden und das aus eigenem Geld Ersparte muss auch noch versteuert werden.
Die Menschen haben im Ergebnis weniger in der Tasche, senken ihre eigene gesetzliche Rente und die von allen anderen.

Also: Vorsicht bei der Verbreiterung der Betriebsrenten.

Zur Person

Matthias W. Birkwald ist Bundestagsabgeordneter der LINKEN aus Köln und rentenpolitischer Sprecher der Fraktion. Mit nd-Redakteur Jörg Meyer sprach er am Rande der Sozialstaatskongresses der IG Metall in Berlin über betriebliche Altersvorsorge und die rentenpolitischen Vorstellungen der Linkspartei

Jochen

Das AfD-Programm entschlüsselt von David Schraven, aktualisiert von n-tv

In Ergänzung meines vorherigen Beitrages eine sehr empfehlenswerte Analyse hier:

https://correctiv.org/blog/2016/03/14/das-afd-programm-entschluesselt/.

David_SchravenHubertus Volmer  von n-tv.de hat das aktualisierte Programm bewertet, s.u.

Nur zum Thema Genitalverstümmelung von kleinen Jungen und Mädchen im Namen einer auch wie auch immer gearteten Religion habe ich als Arzt eine klare Meinung, die zufällig mit der der AfD übereinstimmt.

Auszüge:

Was die AfD wirklich will:

1. Sozialversicherungen zerschlagen

Die AfD schreibt in ihrem Programmentwurf unter Punkt VI. „Soziale Sicherheit“ auf Seite 34, wie sie sich den Aufbau der Sozialversicherungen vorstellt. Unter einer „Rückbesinnung auf bewährte Tugenden“ soll die Arbeitslosenversicherung privatisiert werden. Die Familie soll den Staat als Sicherungsträger in weiten Teilen ersetzen. Staatliche Unfallversicherungen sollen abgeschafft werden, so wie wir sie bis jetzt kannten. Wörtlich heißt es in dem Entwurf des Grundsatzprogramms: „Die AfD hält die gesetzliche Unfallversicherung für Arbeitnehmer nicht mehr für zeitgemäß.“ Stattdessen sollen sich die Arbeitnehmer freiwillig für eine Teilnahme an der Unfallversicherung entscheiden.

Das bedeutet, die bisherige Arbeitslosen- und Unfallversicherung sollen als Solidarsystem nach dem Willen der AfD zerschlagen werden. Gerade Geringverdiener würden darunter leiden, weil sie sich die privaten Versicherungen nicht leisten können.

Die AfD versucht den Angriff auf das Sozialwesen zu vertuschen. Es wird im Programmentwurf viel davon geredet, dass Familien besser geschützt werden sollen. Und es wird häufig von der Freiheit gesprochen, nach der jeder das Recht hat, für sich selbst zu sorgen. Die AfD schreibt:

„Wir erkennen dabei, dass das Umlagesystem Halt in schwierigen Zeiten geben kann, gleichzeitig aber auch die Selbständigkeit des Bürgers untergräbt und bewährte familiäre Strukturen unterlaufen kann. Wir  wollen daher eine Reform der sozialen Sicherungssysteme.“

In der Realität verbirgt sich hinter der „Reform” aber nur die Freiheit der Wohlhabenden und Reichen. Für alle anderen bedeutet die Reform nicht weniger als die Zerschlagung von zwei wichtigen Sozialversicherungen. Ihnen würde ein höheres Risiko als bisher drohen, in Armut zu fallen.

2. Alkoholiker und psychisch Kranke in Lager stecken

In ihrem Programmentwurf schreibt die AfD unter dem Punkt „Opferschutz statt Täterschutz“ auf Seite 46 wörtlich:

„Nicht therapierbare Alkohol- und drogenabhängige sowie psychisch kranke Täter, von denen erhebliche Gefahren für die Allgemeinheit ausgehen, sind nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung unterzubringen.“

Diesen Satz muss man übersetzen, um ihn zu verstehen.

Bisher werden Menschen, die jemanden angreifen oder verletzen, weil sie geistig krank sind, nicht in Strafverfahren zu Haftstrafen verurteilt. Sie werden stattdessen in Kliniken eingewiesen, wo versucht wird, sie zu behandeln. Das passiert auch bei schweren Gewalttaten. Die Idee dahinter ist es, nicht mehr wie im Mittelalter Kranke in Kerker zu werfen, in denen sie vor sich hin vegetieren, sondern ihnen zu helfen, damit von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht.

Geistig kranke Menschen gelten in unserer Welt deshalb nicht als Straftäter, solange sie nicht verurteilt sind. Sie sind nach dem Strafgesetzbuch „schuldunfähig“, wenn sie das Unrecht ihrer Tat wegen ihrer Krankheit nicht verstehen oder einsehen können.

Die AfD will dieses System zerschlagen. Kranke, egal ob sie alkohol- oder drogenabhängig oder psychisch krank sind, sollen weggeschlossen werden, wenn sie jemanden verletzt oder angegriffen haben. Die AfD sieht in ihnen nur „Täter“ – auch wenn sie das vor dem Gesetz heute nicht sind.

Die AfD sagt, die Kranken sollen in „Sicherungsverwahrung“.

Was verbirgt sich hinter dem Wort Sicherheitsverwahrung? Was für Einrichtungen sind damit gemeint? Bisher werden Menschen in Sicherungsverwahrung in regulären Justizvollzugsanstalten untergebracht, in Gefängnissen. Kranke werden dort nicht eingeschlossen, weil es für sie dort keine Betreuung gibt. In den Gefängnissen sind nur verurteilte Straftäter.

In geschlossene Psychiatrien sollen die Kranken aber nach dem Willen der AfD auch nicht kommen. Wohin dann? Folgt man der Logik der rechtspopulistischen Partei, müssen neue Einrichtungen geschaffen werden.

Wie sollen wir diese Verwahranstalten nennen? Was ist ein passender Begriff? In meinen Augen ist das Wort „Lager“ bezeichnend.

Die Nationalsozialisten hatten gerade in der Anfangsphase ihrer Herrschaft neben den Gefängnissen und anderen staatlichen Haftanstalten weitere Einrichtungen geschaffen, in denen sie unter anderem „Asoziale“ und Andersdenkende inhaftierten.

Als „Asoziale“ galten damals unter anderem nicht therapierbare alkohol- und drogenabhängige sowie psychisch kranke Menschen.

Diese Einrichtungen nannten die Nationalsozialisten „Lager“.

3. Alleinerziehende ausgrenzen

Die AfD schreibt in ihrem Programmentwurf über Alleinerziehende auf Seite 41:

„Wer unverschuldet in diese Situation geraten ist, verdient selbstverständlich unser Mitgefühl und die Unterstützung der Solidargemeinschaft. Eine staatliche Finanzierung des selbstgewählten Lebensmodells ,Alleinerziehend’ lehnen wir jedoch ab. Wir wenden uns entschieden gegen Versuche von Organisationen, Medien und Politik, Alleinerziehende als normalen, fortschrittlichen oder gar erstrebenswerten Lebensentwurf zu propagieren. Der Staat sollte stattdessen das Zusammenleben von Vater, Mutter und Kindern durch finanzielle Hilfen und Beratung in Krisensituationen stärken“

Auch diesen Absatz muss man erläutern. Wer wird „unverschuldet alleinerziehend”? Das können nur Frauen und Männer sein, deren Partner gestorben ist. Alle anderen wählen das Lebensmodell „Alleinerziehend“ mehr oder weniger freiwillig. Frauen kriegen Kinder, ohne zu heiraten. Frauen entscheiden sich gegen eine Abtreibung und für das Kind, auch wenn sie den Vater nicht mögen. Frauen und Männer trennen sich von ihrem Partner – oder werden von ihm verlassen.

All diese Alleinerziehenden sollen nach dem Willen der AfD nicht mehr als „normal“ dargestellt werden. Weder von der Kirche, von Vereinen, noch von Medien oder der Politik. Für mich heißt das: Sie sollen gesellschaftlich ausgegrenzt werden.

Und: Die AfD lehnt staatliche Förderungen für diese Frauen und Männer ab. Sie sollen im Vergleich zu heute benachteiligt werden gegenüber klassischen Familien. Das bedeutet: Sie sollen finanziell ausgegrenzt werden.

4. Kinder ab 12 Jahren in Haft bringen

Die AfD setzt sich für härtere Strafen ein. Sie schreibt auf Seite 12 ihres Programmentwurfes:

„Auf volljährige Täter ist das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden, das Strafmündigkeitsalter auf zwölf Jahre zu senken. Wir sind dafür, das Anordnen der Untersuchungshaft schon dann möglich zu machen, wenn der dringende Tatverdacht eines Verbrechens im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB besteht.“

Auch das ist erklärungsbedürftig. Bisher sind Kinder in Deutschland erst von 14 Jahren an strafmündig. Bei Jüngeren geht der Gesetzgeber davon aus, dass sie nicht vollständig überblicken können, was sie tun. Wenn sie zum Beispiel ein Auto zerkratzen, kann man sie ausschimpfen, aber nicht in Haft nehmen. Wenn Eltern ihre Aufsichtspflicht grob fahrlässig verletzen, kann man diese haftbar machen.

Für die Übergangszeit vom Kind zum Erwachsenen gibt es in Deutschland ein spezielles Jugendstrafrecht. Es gilt für Kinder und Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren. Dieses Strafrecht kennt eigene Strafen, die meist milder sind. Den Jugendlichen soll nicht das ganze Leben für Blödsinn, den sie mit 16 Jahren machen, ruiniert werden. Ihnen soll stattdessen mit einem Denkzettel klargemacht werden, dass sie sich an die Normen der Gesellschaft halten müssen. Je nach Entwicklungsstand der Jugendlichen kann das Jugendstrafrecht bis zum Alter von 21Jahren angewendet werden.

Wenn die AfD nun das Jugend-Strafrecht auf Jugendliche bis 18 reduzieren will, dann heißt dass: Heranwachsende im Alter von 18, 19 und 20 Jahren werden direkt nach dem allgemeinen Strafrecht zu härteren Strafen verurteilt, egal, wie ihr Entwicklungsstand ist.

Aber die AfD geht noch weiter, sie will in Zukunft Untersuchungshaft – also die Haft vor dem Urteil – schon bei einem dringenden Tatverdacht ermöglichen.

Bisher kann ein Mensch in Deutschland nur in Haft geschickt werden, wenn er als Straftäter verurteilt ist. Untersuchungshaft kann nur bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr oder bei dem dringenden Verdacht auf besonders schweren Straftaten verhängt werden.

Die AfD will das Prinzip der Unschuldsvermutung aufweichen. Untersuchungshaft soll nach ihrem Willen bei allen Straftaten möglich sein, bei denen in Deutschland eine Mindeststrafe von einem Jahr droht. Das kann räuberischer Diebstahl, sexuelle Nötigung, Geldfälschung – aber auch Landesverrat sein.

Zusammengefasst kann man sagen: Die AfD will viel mehr und auch jüngere Menschen in Haft bringen.  

5. Arbeitslosen-Versicherung privatisieren

In ihrem Programm unter Punkt VI. „Soziale Sicherheit“ Absatz 1.  „ALG maßgeschneidert“ schreibt die AfD auf Seite 35:

„Wir wollen das Arbeitslosengeld I privatisieren.“ Jeder soll für sich selbst sorgen oder dessen Familie. Die Arbeiter sollen aber auch ganz auf Arbeitslosenversicherung verzichten können, „zugunsten des schnelleren Aufbaus von Ersparnissen.“

Die Konsequenz aus der Abschaffung der bisherigen Arbeitslosenversicherung, ist die grundsätzliche Abkehr vom Solidarprinzip. Denn die Versicherungen wollen Risiken kalkulieren. Das heißt, ein gut verdienender Ingenieur mit Hochschulabschluss, der ein geringeres Risiko hat, arbeitslos zu werden, zahlt wenig. Dagegen müsste eine geringbeschäftigte Verkäuferin bei Karstadt in einem privatisierten System im Verhältnis zu ihrem Gehalt einen sehr hohen Beitrag bezahlen. Sie hat ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Da die Versicherung freiwillig wäre, würden sich gerade viele Geringverdiener die Absicherung sparen, um mehr zum Leben zu haben. Die sofortige Not von Menschen, die aus welchem Grund auch immer arbeitslos geworden sind, wäre die Folge. Sie würden direkt in Sozialhilfe fallen, die von der AfD „aktivierende Grundsicherung“ genannt wird. Hier würde nur ein Mindestbetrag vom Staat gedeckt, der einen großen Abstand zum untersten Einkommen haben soll.

6. Hunderttausende Soldaten einziehen

Die AfD schreibt auf Seite 26 ihres Programmentwurfes, dass sie den Wehrdienst wieder einführen, also jeden Mann wieder zur Grundausbildung in die Bundeswehr einziehen will – bis auf wenige Ausnahmen aus Gewissensgründen.

Alle „männlichen deutschen Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 28 Jahren“ sollen demnach „wieder einen Grundwehrdienst“ leisten. Frauen sollen gleichfalls eingezogen werden. Sie sollen aber nur eine „allgemeine Dienstpflicht“ haben. „Frauen sollen die Möglichkeit haben, freiwillig in den Streitkräften zu dienen.“ Ansonsten sollen sie zu anderen Arbeitsdiensten herangezogen werden.

Als die Wehrpflicht noch durchgesetzt wurde, waren in West-Deutschland zeitweise über 400.000 Soldaten ständig in ihren Kasernen und Standorten unter Waffen.

Die AfD schreibt weiter auf Seite 26: „Im Ergebnis benötigt Deutschland Streitkräfte, deren Führung, Stärke und Ausrüstung an den Herausforderungen künftiger Konflikte orientiert ist.

Übersetzt heißt das, die Bundeswehr soll zusammen mit der NATO an der Peripherie eingesetzt werden können. Weltweit soll sie unter UN-Mandat kämpfen können – aber nur, wenn das deutschen Sicherheitsinteressen dient. Das kann man auf Seite 25 nachlesen.

7. Für mehr CO2-Ausstoß sorgen

Dem Klimawandel gibt die AfD in ihrem Programmentwurf ab Seite 14 Platz. Sie leugnet die menschengemachte globale Erwärmung und schreibt: „Das Klima wandelt sich, solange die Erde existiert. Die Klimaschutzpolitik beruht auf untauglichen Computer-Modellen des IPCC („Weltklimarat“). Kohlendioxid (CO2) ist kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil allen Lebens.

Weiter heißt es: „Wir leben heute in einer Warmzeit mit Temperaturen ähnlich der mittelalterlichen und der römischen Warmzeit. Die IPCC-Computermodelle können diese Klimaänderungen nicht erklären.“

Deshalb scheint die AfD nichts gegen einen höheren CO2-Ausstoß zu haben: „IPCC und deutsche Regierung unterschlagen jedoch die positive Wirkung des CO2 auf das Pflanzenwachstum und damit auf die Welternährung. Je mehr es davon in der Atmosphäre gibt, umso kräftiger fällt das Pflanzenwachstum aus.“

Folgerichtig will die AfD „Das Stigmatisieren des CO2 als Schadstoff (…) beenden.“

Klimaschutzprogramme sollen beendet, das Erneuerbare Energie Gesetz (EEG) abgeschafft und Windräder möglichst verboten werden: „Windkraftanlagen zerstören das Bild unserer Kulturlandschaften und sind für Vögel eine tödliche Gefahr.

Die AfD sagt, sie will Schluss machen mit „Plänen zur Dekarbonisierung“ und „CO2-Emissionen wollen wir finanziell nicht belasten“. Das bedeutet: Kohlekraftwerke sollen weiter laufen, die bereits beschlossenen Reduzierungen aufgegeben werden. Es würde damit in den nächsten 20 Jahren mehr CO2 ausgestoßen, als bislang geplant, wenn es nach dem Willen der AfD gehen würde.

8. Reiche geringer besteuern

Die AfD schreibt auf Seite 30 ihres Programmentwurfes: „Analog zur Schuldenbremse wollen wir eine verbindliche Steuer- und Abgabenbremse im Grundgesetz, um die maximale Summe der Belastung auf einen bestimmten Prozentsatz im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt festzuschreiben.“ Zudem will die AfD Steuern abschaffen, die besonders Reiche und besonders Wohlhabende belasten. Auf Seite 30 steht in Zeile 32: „Die Alternative für Deutschland will die Erbschaftsteuer ersatzlos abschaffen.“ Außerdem soll die Gewerbesteuer, die vor allem Betriebe und Unternehmer zahlen müssen, abgeschafft werden.

9. Staatlich kontrolliertes Fernsehen

Eines der Hauptthemen der AfD sind die als „Lügenpresse” geschmähten Medien, die angeblich gesteuert seien und Merkel-Propaganda betreiben. Vor allem der öffentlich-rechtliche Rundfunk, wie ARD und ZDF, ist für AfD eine Zielscheibe. Dieser wird nicht von der Regierung beaufsichtigt, sondern von Rundfunkräten, die von gesellschaftlichen Gruppen dominiert werden: von Kirchen bis zu Sportverbänden. Zwar haben viele der Mitglieder im Rundfunkrat eine politische Bindung, der Regierung direkt untergeordnet sind sie jedoch nicht.

Umso kurioser sind die Positionen der AfD im geplanten Grundsatzprogramm dazu. Die Rechtspopulisten wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen (sie nennen es verharmlosend „privatisieren”). Über die nicht sonderlich beliebte Gebühreneinzugszentrale (GEZ) schreibt die AfD in ihrem Entwurf: „Der Beitragsservice wird ersatzlos abgeschafft.

An die Stelle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollen dann zwei steuerfinanzierte und damit zu 100 Prozent vom Staat abhängige TV- und Radiosender ersetzen. Die AfD will den Einfluss der Politik auf das Fernsehen und die Nachrichten also stärken, statt schwächen.

Die Partei schreibt dazu scheinbar neutral auf Seite 55: „Die staatliche Informationsversorgung wird durch einen steuerfinanzierten Rundfunk mit zwei Rundfunksendern und zwei Fernsehsendern geleistet.

10. Gegen Muslime und Juden hetzen

Die AfD will traditionelle Rituale von Juden und Muslimen verbieten lassen: Das Schächten und das Beschneiden.

Die AfD begründet die angestrebten Verbote der religiösen Rituale mit Tierschutz.

Doch wenn es der AfD wirklich beim Schächtungsverbot um den Tierschutz ginge, würde sie sich gegen die Methoden der industriellen Massentierhaltung und Massentierschlachtungen wenden und nicht gegen Ausnahmen aus dem Tierschutzgesetz, die speziell für religiöse Zwecke gelten, damit Fleisch „halal“ (Islam) oder „koscher“ (Judentum) wird.

Die AfD schreibt auf Seite 54 des Programmentwurfes: „Die AfD lehnt das betäubungslose Schächten von Tieren ab als unvereinbar mit dem Staatsziel Tierschutz. Sie befürwortet hingegen das auch von Muslimen und Juden akzeptierte Schächten mit vorheriger Elektrokurzzeitbetäubung und fordert, die Ausnahmeregelung für Religionsgemeinschaften in § 4a (2) Abs. 2 TierSchG zu streichen.

Das angestrebte Verbot bezieht sich allein auf streng religiöse jüdische und muslimische Riten.

Zur Beschneidung schreibt die AfD auf Seite 54: „Sie verstößt gegen die Menschenwürde, missachtet die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung und widerspricht dem ärztlichen Prinzip ‚primum non nocere’. Sie verletzt das Kindeswohl, dem das Elternrecht untergeordnet ist, und verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz der Geschlechter, denn die weibliche Genitalbeschneidung ist verboten.

Seit Jahrhunderten greifen Antisemiten die Beschneidung als religiöses Symbol an. An einer ernsthaften Debatte über Vor- und Nachteile der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen liegt ihnen nicht.*)

Zusammengefasst:

Die AfD ist eine radikale Partei, die versucht, mit Hetze gegen Ausländer, Flüchtlinge, Muslime und Juden Wählerstimmen zu fangen, um eine Politik in Deutschland durchzusetzen, die unser Land radikal verändern soll.  

Sie ist gegen die Rechte von Frauen.

Sie ist gegen die gesetzliche soziale Absicherung von einfachen Beschäftigten.

Sie stigmatisiert Alleinerziehende.

Sie steht mit ihrer Klimapolitik für die Zerstörung der Natur.

Jeder, der nicht männlich, weiß und wohlhabend ist, bekommt wahrscheinlich ein Problem, wenn die AfD an die Macht kommen sollte.

* Soweit, so gut, Nur noch mein Kommentar zur Beschneidung:

Ich kenne auch keine jüdische oder muslimische Religionsgemeinschaft, die die Genitalverstümmelung von Jungen ernsthaft debattieren will. Es gibt nämlich aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht KEIN EINZIGES ARGUMENT DAFÜR !

Siehe meinen Beitrag hier: https://josopon.wordpress.com/2015/06/13/es-gibt-noch-hoffnung-erfolgreiche-penistransplantation-nach-trauma-durch-beschneidungsritual/

AfD macht Programmentwurf öffentlich

Von Hubertus Volmer

Wer den aktuellen Programmentwurf der AfD liest, fühlt sich an den Konservatismus der US-Republikaner erinnert. Der Staat ist darin Problem und Lösung zugleich.

Auf ihrem Parteitag am 30. April in Stuttgart will die AfD sich ein Grundsatzprogramm geben – das erste in der Geschichte der Partei. Nachdem in den vergangenen Tagen bereits Versionen des Programms lanciert oder geleakt wurden, hat die AfD nun einen Entwurf veröffentlicht – mit dem Hinweis, dass dies noch nicht das endgültige Programm ist.

Auf knapp 80 Seiten entwirft die AfD eine Politik, die konservativ ist mit Blick auf Familie und Nation, skeptisch mit Blick auf die Rolle des Staates, abweisend gegenüber Muslimen. Insgesamt ist dem Text anzumerken, dass die AfD mit dem heutigen Deutschland unzufrieden ist – besser gefällt ihr Deutschland, wie es (zumindest in der Erinnerung der AfD) früher war.

„Wir sind Liberale und Konservative“, lautet der erste Satz der Präambel. Die AfD zeichnet sich darin als Partei, die die „selbstherrliche Willkür“ der „politischen Führung“ nicht länger hinnehmen will. Dieser Anspruch wird mit viel Pathos unterlegt: „Entschlossen stellen wir uns den Kräften des alten und neuen Totalitarismus entgegen und verweigern uns dem Weg in die Knechtschaft.“

Gegen das „politische Kartell“

Im Kapitel über Demokratie und Grundwerte schreibt die AfD, die Machtverteilung in Deutschland entspreche nicht mehr den Grundsätzen der Gewaltenteilung. Als Bedrohung der „unantastbaren Volkssouveränität“ werden die EU-Verträge und die anderen Parteien dargestellt. „Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien.“ Das klingt leicht verschwörungstheoretisch: „Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat.“

Konkret fordert die AfD Volksabstimmungen nach dem Vorbild der Schweiz, eine Trennung von Amt und Mandat, eine Reform der Parteienfinanzierung und ein Verbot von Firmenspenden an Parteien. Die Amtszeit des Bundeskanzlers soll auf zwei Legislaturperioden beschränkt werden, Abgeordnete sollen maximal vier Legislaturperioden im Parlament sitzen.

Austritt aus dem Euro

Die EU soll aus Sicht der AfD in eine „Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten“ umgewandelt werden. Die Türkei soll dieser Gemeinschaft nicht beitreten, eine gemeinsame Außenpolitik soll es nicht geben.

Die AfD fordert ein Ende der Eurorettungspolitik und „bei mangelnder Einsicht der Partnerstaaten“ einen Austritt aus dem Euro. Etwas später heißt es deutlicher: „Ein Austritt Deutschlands aus der Währungsunion ist aus nationalem und europäischem Interesse unausweichlich.“

Strafmündig schon ab zwölf

Das Kapitel über die innere Sicherheit und die Justiz steht im Spannungsfeld eines starken Staats, der die Bürger schützt, und eines schwachen Staats, der sie in Ruhe lässt. Die Strafmündigkeit soll auf zwölf Jahre gesenkt werden. Psychisch kranke Täter sollen nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden.

In einem Nebensatz fordert die AfD, dass im Staatsangehörigkeitsrecht wieder ausschließlich das Abstammungsprinzip gilt. Das Waffenrecht soll „nicht verschärft“ werden. Auch dahinter steht eine skeptische Distanz zum Staat: „Ein strengeres Waffenrecht wäre ein weiterer Schritt in die Kriminalisierung unbescholtener Bürger und in den umfassenden Überwachungs- und Bevormundungsstaat.“ Die von dem nordrhein-westfälischen AfD-Vorsitzenden Marcus Pretzell geforderte Liberalisierung des Waffenrechts schimmert durch den Konjunktiv dieses Satzes durch.

Kein Nato-Austritt

Aus Sicht der AfD „ist Deutschland zunehmend auf den Schutz und die Unterstützung von Bündnispartnern, besonders der USA, angewiesen“. Ziel der Partei ist es, „zu allen Staaten gute Beziehungen zu entwickeln und zu pflegen“. Russland wird nur kurz erwähnt: „Das Verhältnis zu Russland ist für Deutschland, Europa und die Nato von maßgeblicher Bedeutung, denn Sicherheit in und für Europa kann ohne Russlands Einbindung nicht gelingen.“

Einen Nato-Austritt fordert die AfD nicht, aber die Organisation soll sich auf ihre „Aufgabe als Verteidigungsbündnis“ beschränken. Die Wehrpflicht soll wieder eingesetzt werden, damit sich „die Bevölkerung mit ‚ihren Soldaten‘ und ‚ihrer Bundeswehr‘ identifiziert“.

Arbeitslosengeld I wird doch nicht privatisiert

Der Staat soll sich nach dem Willen der AfD auf vier Bereiche konzentrieren: innere und äußere Sicherheit, Justiz, auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung. Dass die Sozialpolitik hier fehlt, ist kein Zufall. „Wir wollen prüfen, inwieweit vorhandene staatliche Einrichtungen durch private oder andere Organisationsformen ersetzt werden können“, heißt es in dem Programmentwurf.

Die Bundesagentur für Arbeit soll aufgelöst werden, ihre Aufgaben sollen den kommunalen Jobcentern übertragen werden. Der Mindestlohn soll erhalten bleiben; er schütze Niedriglohnempfänger „vor dem durch die derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck“. Das Thema ist in der AfD nicht unumstritten: AfD-Vizechef Jörg Meuthen etwa ist gegen den Mindestlohn. Er wolle „für eine Sozialpolitik kämpfen, die sich darauf konzentriert, die wirklich Bedürftigen zu fördern“, sagte Meuthen kürzlich. Mit einem anderen Punkt dürfte er zufriedener sein: Das Arbeitslosengeld II will die AfD zugunsten einer „aktivierenden Grundsicherung“ abschaffen, die an die Idee eines Grundeinkommens angelehnt ist: Wer nichts oder wenig verdient, erhält die volle Grundsicherung, wer viel verdient, muss stattdessen Einkommensteuer zahlen. Das Arbeitslosengeld I, das in einem früheren Entwurf noch „privatisiert“ werden sollte, wird in der aktuellen Programmversion nicht mehr erwähnt.

Mehr Geld für mehr Kinder

Ebenfalls gestrichen wurde die Forderung, zu der schuldhaften Ehescheidung zurückzukehren, die es seit den siebziger Jahren nicht mehr gibt; angesichts der privaten Verhältnisse von AfD-Chefin Frauke Petry hätte eine solche Forderung auch ein wenig albern gewirkt.

Auch ohne schuldhafte Scheidung besteht das Programm der AfD im Kapitel über Familie und Kinder in Kritik am Zeitgeist und in der Forderung nach Rückkehr in die Vergangenheit. Abgelehnt werden Krippen, Ganztagsschulen, Jugendämter und Familiengerichte, „Gender Mainstreaming und die generelle Betonung der Individualität“.

Zu der Zwischenüberschrift „Kinder statt Inder“, die die CDU an ihre Vergangenheit erinnert hätte, konnte sich die AfD nicht durchringen – stattdessen steht dort „Mehr Kinder statt Masseneinwanderung“. Vor allem Mehrkindfamilien sollen mit Förderprogrammen vom Staat unterstützt werden. Beklagt wird, dass die Geburtenrate unter Migranten höher ist als in Deutschland insgesamt (1,8 zu 1,4). Eine „Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene“ soll die Zahl der Abtreibungen senken.

Islam gehört nicht zu Deutschland, Muslime auch nicht so richtig

„Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, schreibt die AfD. Der dann folgende Satz klingt so, als gehörten auch die Muslime nicht so richtig zu Deutschland: „In seiner Ausbreitung und in der Präsenz einer ständig wachsenden Zahl von Muslimen sieht die AfD eine große Herausforderung für unseren Staat.“ Der Hinweis, dass viele Muslime „akzeptierte Mitglieder unserer Gesellschaft“ sind, fehlt allerdings nicht.

Den Bau von Minaretten lehnt die AfD ab, Vollverschleierung soll verboten werden, Kopftücher sollen im öffentlichen Dienst verboten werden. Einen bekenntnisorientierten Islamunterricht soll es an deutschen Schulen nicht geben.

Angst um unsere Kinder

In der Bildungspolitik will die AfD die „Gender-Forschung“ abschaffen, die alten Abschlüsse Diplom und Magister wieder einführen, das gegliederte Schulsystem beibehalten und „Leistungsbereitschaft und Disziplin“ stärken. Häufig werde an deutschen Schulen „nicht die Bildung einer eigenen Meinung gefördert“, beklagt die AfD, „sondern die unkritische Übernahme ideologischer Vorgaben“. Natürlich denkt die AfD dabei vor allem an „die einseitige Hervorhebung der Homo- und Transsexualität im Unterricht“. Das gipfelt in dem Satz: „Unsere Kinder dürfen in der Schule nicht zum Spielball der sexuellen Neigungen einer lauten Minderheit werden.“

Das wird man doch noch sagen dürfen

Für Differenzierungen ist im Kapitel zu Einwanderung, Integration und Asyl kein Platz: Mit Sprachverboten solle „vom völligen Versagen der Asyl- und Einwanderungspolitik der vergangenen Jahre durch die herrschenden Parteien“ abgelenkt werden, behauptet die Partei. „Die AfD fordert daher das selbstverständliche Recht auf freie Rede für freie Bürger wieder ein.“

„Echte Flüchtlinge will auch die AfD schützen, solange die Fluchtursache im Heimatland andauert“, heißt es. Alle anderen, „irreguläre Migranten“ in der Sprache der AfD, „können keinen Flüchtlingsschutz beanspruchen“. Wer Flüchtling und wer irregulär ist, soll in Aufnahmeeinrichtungen in „sicheren Drittstaaten“ entschieden werden.

Einwanderung lehnt die AfD nicht kategorisch ab. Aufgrund der demografischen Entwicklung werde „auch in Zukunft voraussichtlich eine Lücke bleiben, die durch eine vorausschauende Einwanderungspolitik zumindest teilweise geschlossen werden sollte“. Eine Minderheit der Programmkommission hat allerdings einen Alternativvorschlag: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Nur „Spitzenkräfte“ sollen nach Deutschland kommen dürfen. Für welche Variante sich die AfD entscheidet, muss die Partei in Stuttgart klären.

Partei der Klimaleugner

In der Wirtschaftspolitik setzt die AfD auf die Marktwirtschaft. Freihandelsabkommen wie TTIP werden allerdings abgelehnt, „wenn diese intransparent … sind und unzulässig in nationales Recht eingreifen“. Das Steuerrecht soll „drastisch“ reformiert, die Erbschaftsteuer abgeschafft werden, was Reiche bevorteilen würde. Den Austausch von Steuerdaten will die AfD beenden, das Steuergeheimnis wiederherstellen. „Der Bürger darf nicht zum gläsernen Untertanen werden.“ Wie die Steuerhinterziehung bekämpft werden soll, schreibt die AfD nicht. Bargeld will sie erhalten, das Gold der Bundesbank soll „ausschließlich im deutschen Inland“ gelagert werden.

Den menschengemachten Klimawandel gibt es laut AfD nicht. Kohlendioxid sei „kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil allen Lebens“, seit 18 Jahren habe es keinen Anstieg der globalen Mitteltemperatur gegeben. Mit diesem Programm wird die AfD zum politischen Arm der deutschen Klimaleugnerszene. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz lehnt die AfD ab, die Laufzeiten der Kernkraftwerke will sie verlängern, über „die wirtschaftlichen und politischen Vorteile des Fracking im Vergleich zu den realen Risiken“ soll die Bevölkerung informiert werden.

Fazit: Mit ihrem Programmentwurf präsentiert sich die AfD als Partei der Verlustängste und der Freiheit. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist das Gefühl einer Bedrohung – durch den Islam, durch die Europäische Union, durch das Kartell der „Altparteien“ (ein Wort, das AfD-Politiker häufig benutzen, das sich aber im Programmentwurf nicht findet), durch „Gender Mainstreaming“, Klimawandel und vieles mehr. Ihr Programm ist konservativ und wirtschaftsliberal, es enthält zahlreiche Punkte, die man auch bei anderen Parteien findet. In der Sozialpolitik setzt die AfD auf einen schwachen, in der inneren Sicherheit auf einen starken Staat – der aber unbescholtene Bürger nicht kontrollieren soll. In diesem Widerspruch erinnert die AfD an die US-Republikaner, bei denen es Leute gibt, die den Geheimdiensten mehr Macht geben wollen, und andere, die das Gegenteil fordern.

Schon häufig ist bemerkt worden, dass die AfD an die Grünen in ihrer Frühzeit erinnern. Das Gefühl der Bedrohung ist sicherlich eine Parallele. Was für die Grünen in den achtziger Jahren Aufrüstung und Umweltzerstörung waren, ist für die AfD heute der Verlust dessen, was sie „deutsche kulturelle Identität“ nennen. Als die Grünen in den achtziger Jahren erstmals in den Bundestag einzogen, hielten die anderen Parteien sie für Spinner. Was sagt diese Parallele über die AfD aus? Nichts. Im Moment ist sie eine radikale Partei rechts der CDU, aber keine rechtsradikale Partei – trotz ihres völkischen Flügels um Björn Höcke. Wie die Partei sich entwickelt, wird entscheidend davon abhängen, wie viel Einfluss sie Leuten wie Höcke einräumt.

Quelle: n-tv.de

Knute für Alte und Kranke – Nahles‘ Arbeitsentwurf für Sanktionen gegen Wehrlose: einfach ein paar Jahre eher wegsterben !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es ist wirklich empörend.
Aber von denen, die am Ende betroffen sein werden, werden sich die meisten nicht trauen, sich öffentlich zu empören.
Nein, sie werden sich schämen und einfach ein paar Jahre eher wegsterben. Und die Sozialkassen entlasten.
Das geschieht in Vorgriff auf die große Welle der Altersarmut.
Gut, dass es die große Koalition gibt, für die, die dann noch übrig bleiben.
Näheres in der jungen Welt:
http://www.jungewelt.de/2015/04-28/003.php

Arbeitsentwurf: Bundesregierung will geplante Hartz-IV-Verschärfungen teilweise auf die Sozialhilfe übertragen

Susan Bonath

Strafsanktionen bis auf null Unterstützung, Arbeits- und Ortsanwesenheitspflicht: Die Zusammenlegung der einstigen Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe 2005 hat nicht nur den vom Grundgesetz geforderten Schutz der Menschenwürde in die Bedeutungslosigkeit verbannt, sondern ein Dauerchaos produziert.
Hinter verschlossenen Türen bastelt die Bundesregierung deshalb an einer umfassenden Hartz-IV-Reform. Durchgewunken wird diese wohl im Sommer.
Man will das Zweite Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Verwaltung »vereinfachen«, wird es aber, wie nach außen gedrungene Dokumente belegen, für »erwerbsfähige« Leistungsbezieher teils drastisch verschärfen.
Nun wurde bekannt: Kranke, Behinderte und Rentner, die Grundsicherung nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) beziehen, müssen mit ähnlichen Einschnitten rechnen.

Das geht aus einem »Arbeitsentwurf« des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) für ein »Gesetz zur Änderung des SGB XII« vom Februar hervor, den der Sozialrechtler Harald Thomé jetzt zugespielt bekam und veröffentlicht hat. Das Papier listet Vorschläge für Änderungen und Erweiterungen zahlreicher Passagen des Gesetzes auf.
Danach sollen einige der bei Hartz IV geplanten Neuregelungen, vor allem beim »Verfahrensrecht«, auf »dauerhaft Erwerbsgeminderte« übertragen werden. Behörden sollen schneller Zahlungen einstellen oder kürzen können und »Vermögen« und Einkünfte strenger anrechnen. Die »Angemessenheit« für eine Unterkunft soll stärker reglementiert werden.
Hier solle »das Hartz-IV-Sonderrecht auf das SGB XII übertragen werden«, konstatiert Thomé.
Dieser Plan der Regierenden müsse »umfassend kritisiert und gestoppt« werden, ruft er zum Protest.

Erwerbsgeminderte erhalten grundsätzlich dieselben Sätze wie Hartz-IV-Bezieher. Alleinstehende bekommen monatlich 399 Euro, Lebenspartner je 360 Euro. Dazu wird die »angemessene« Miete erstattet.
Auch bei den Wohnbedingungen für bedürftige Kranke, Behinderte oder Rentner ist es ähnlich: Obergrenzen für die Miete bestimmen die Kommunen. Vielerorts liegen diese weit unter der Wohngeldtabelle.
Ist die Bleibe zu teuer, wird auch Grundsicherungsbeziehern auferlegt, innerhalb von sechs Monaten umzuziehen. Danach werden ihnen nur noch die »angemessenen« Kosten erstattet, den Rest müssen sie zuzahlen.
Wie bei der Hartz-IV-Reform will das Arbeitsministerium die Vorgabe ausbauen, dass jeder Umzug von der Behörde explizit genehmigt werden muss. Die könnte das verweigern, wenn die neue Wohnung teurer als die alte ist oder wenn sie nicht selbst zum Umzug aufgefordert hat. Auf Grundsicherung Angewiesene müssen damit rechnen, in einer zwar billigen, aber mangelhaften Wohnung bleiben zu müssen.
Selbst wenn das Amt den Umzug verlangt: Mietkautionen oder Genossenschaftsanteile soll es weiterhin nur als Darlehen übernehmen. Das müssen Betroffene dann in Raten abstottern.

Zudem will das BMAS die Sozialämter berechtigen, schneller Leistungen einzustellen, etwa, wenn der Betroffene innerhalb einer »angemessenen« Frist verlangte Unterlagen nicht vollständig eingereicht hat – und das ganze ohne Bescheid.
Dazu heißt es in dem vorgeschlagenen Anhang an den Paragraphen 44: »Zur Vermeidung einer rechtswidrigen Leistungsgewährung kann der (…) zuständige Träger die Zahlung (…) ohne Aufhebung des Bewilligungsbescheides ganz oder teilweise vorläufig einstellen, wenn er Kenntnis von leistungserheblichen Tatsachen erhält, die eine künftige Verringerung oder einen Wegfall der bewilligten Leistung nach sich ziehen.«
Außerdem soll auch für Erwerbsunfähige die »sofortige Vollziehbarkeit« amtlicher Entscheidungen gelten. Im Klartext: Wie bei Hartz IV seit Beginn praktiziert, sollen Widersprüche und Klagen gegen Verwaltungsakte keine aufschiebende Wirkung entfalten.
Trotz unsicherer Rechtslage wird also sanktioniert, bis das Gericht entscheidet. Selbst bei Eilanträgen kann dies mehrere Monate dauern.
Konkretisiert werden soll weiterhin, dass einmalige Einkünfte, wie Guthaben bei Gaslieferanten, im Folgemonat abgezogen werden. Dazu zählen auch »Zuwendungen«, die als Sachleistung – zum Beispiel ein kostenfreies Mittagessen – erbracht werden.

Bereits jetzt wird bei der Grundsicherung vorhandenes »Vermögen« weit strenger angerechnet als bei Hartz IV. So muss jemand, der letzteres beantragt, nicht komplett alles aufbrauchen, bevor er Hilfe erhält. 150 Euro pro Lebensjahr darf er für die Altersvorsorge angespart haben. Bei einem 45jährigen sind das 6.750 Euro, ein 60jähriger darf 9.000 Euro oder Vermögensgegenstände in diesem Wert behalten.
Beantragt jemand Grundsicherung, muss er zuvor jegliche Ansparbeträge über 1.600 Euro für den Lebensunterhalt ausgeben. Über 60jährigen werden 2.600 Euro gewährt.

Ebenso haben Grundsicherungsbezieher keinen Anspruch auf Freibeträge. Das gilt nicht nur für Rente und Kindergeld, sondern auch für Erwerbseinkommen.
Der Grundfreibetrag von 100 Euro, wie bei Hartz IV, gilt hier nicht. Zudem kann die Behörde Klienten, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, regelmäßig zur Überprüfung ihrer Arbeitsfähigkeit bei einem amtsärztlichen Dienst verpflichten. Ist diese nach dessen Attest noch teilweise (unter drei Stunden täglich) vorhanden, darf das Amt die Leistungsbezieher unter Androhung von Kürzungen in Maßnahmen oder »zumutbare« Arbeit zwingen.
Im Paragraphen 39 a des SGB XII heißt es dazu: »Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Verpflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit (…) ab, vermindert sich die Regelbedarfsstufe um bis zu 25 Prozent.« Bei wiederholten »Vergehen« können die Sanktionen summiert werden.
Das heißt: Auch Behinderte dürfen bis auf null sanktioniert werden, wenn sie nicht spuren. Daran soll auch mit der geplanten Novelle nicht gerüttelt werden.

Ausgegrenzt und verhöhnt

Kapitalismus produziert Armut. Wer durchs Raster fällt, weil er krank, behindert, mittellos, Migrant oder schlicht vom Pech verfolgt ist, landet unten: in Leiharbeit, Minijobs, Erwerbslosigkeit, in einer schäbigen Wohnung, im Asylheim, manchmal auf der Straße.
Hartz IV oder Sozialhilfe lauern mit Stapeln von Antragsformularen. Wer da nicht durchblickt, bekommt nichts. Am Ende wartet die Altersarmut.

Was die sogenannte Elite von Betroffenen hält, tut dem Volk zum Beispiel Bild-Berichterstatter Dirk Hoeren kund. In steter Regelmäßigkeit zieht der Mann in dem Springer-Blatt über ausgesuchte Gruppen her. »Warnte« er im vergangenen Jahr vor allem vor »Bulgaren, Rumänen und Polen«, die in Deutschland »Stütze abgreifen« wollten, machte er in diesem Februar Front gegen »Hartz-IV-Griechen«.
Nur eine Woche später schlug er auf »EU-Ausländer« ein, für die Hartz IV der »Haupteinwanderungsgrund« sei.
Im April wollte er »alle Faulen aufs Sozialamt« schicken. Er meinte damit die eine Million im Jahr 2014 Sanktionierten, die das Sozialrecht wohl als »reine Stützeveranstaltung« begriffen und »Behördentermine und Jobs verpennen«. Bereits im Vorjahr forderte er für jene »keine Stütze für null Bock«.

Dass derlei Hetze in einem öffentlich vertriebenen Blatt – und Bildist nicht das einzige – straffrei publiziert werden darf, ist das eine.
Der größere Skandal: Über sieben Millionen Menschen sind auf existenzsichernde Sozialleistungen angewiesen. Viele davon sind nicht einmal arbeitsfähig.
Rentner und Behinderte müssen oft ein Leben lang von den kläglichen Mitteln ihr Dasein fristen. Selbst bei ihnen wird die Daumenschraube angezogen: Spuren oder Hungern.
Bei 18- bis 25jährigen geht das ruckzuck. Schon einem verpassten Termin kann die Totalsanktion folgen – gesetzlich legitimiert. Betroffene können »wählen«:
Drei Monate lang betteln oder stehlen, verachtet von gut Betuchten wie Niedriglöhnern und manchen Journalisten.

»Fördern und fordern« nennt das die Bundesregierung. So wolle man »die Motivation steigern«, erklärte der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, 2011 in einem »Grußwort« an das Arbeitsministerium und EU-Politiker.
Das ist nichts anderes als zynische Verhöhnung aller Abgehängten, Mittellosen, Alten, Kranken, Behinderten durch selbsternannte »Leistungsträger« unserer »Wertegemeinschaft«. (sb)

Jochen