Über den Verlust des kritischen Verstandes bei Wissenschaftlern. Anmerkungen zu den für den 22. April geplanten „Märschen für Wissenschaft“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Auch ich als Wisssenschaftler fühlte mich zunächst angesprochen.
Albrecht Müller fragt nach, was hinter der wie am Reissbrett erschaffenen Initiative steckt:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=37873

Wir verdanken der Wissenschaft große hilfreiche Erkenntnisse; wir verdanken einem politisch korrupten Teil der Wissenschaft, der auch unter der Flagge der Wissenschaftlichkeit segelt, gravierende politische und gesellschaftliche Fehlentscheidungen. Deshalb kann man dem pauschalen Sich-auf-die-Schulter-Klopfen, das in den Erklärungen für den sogenannten „Science March Germany“ zum Ausdruck kommt, nur schwer folgen. Wir weisen zunächst auf die programmatische Erklärung dieses Wissenschaftsmarsches und auf die deutschen Unterstützer hin und stellen dann ein paar notwendige Fragen.
march for science germany

Hier ist der Link auf die Frontseite von March for Science Germany.

Und hier der Text des Aufrufs für den Marsch:

„Kritisches Denken und fundiertes Urteilen setzt voraus, dass es verlässliche Kriterien gibt, die es erlauben, die Wertigkeit von Informationen einzuordnen. Die gründliche Erforschung unserer Welt und die anschließende Einordnung der Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, ist die Aufgabe von Wissenschaft. Wenn jedoch wissenschaftlich fundierte Tatsachen geleugnet, relativiert oder lediglich „alternativen Fakten“ als gleichwertig gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen, wird jedem konstruktiven Dialog die Basis entzogen. Da aber der konstruktive Dialog eine elementare Grundlage unserer Demokratie ist, betrifft eine solche Entwicklung nicht nur Wissenschaftler/innen, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes.

Am 22. April 2017 werden deshalb weltweit Menschen auf die Straße gehen, um dafür zu demonstrieren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage des gesellschaftlichen Diskurses nicht verhandelbar sind.

Alle, denen die deutliche Unterscheidung von gesichertem Wissen und persönlicher Meinung nicht gleichgültig ist, sind eingeladen, sich an dieser weltweiten Demonstration für den Wert von Forschung und Wissenschaft zu beteiligen – nicht nur Wissenschaftler/innen!“

Kritische Anmerkungen zum Projekt March for Science (Marsch für die Wissenschaft) und ihrem Aufruf

  1. Wissenschaftler und Öffentlichkeit lassen sich gegen einen unbedeutenden Gegner mobilisieren und aufhetzen. Im Aufruf heißt es:

    „Die gründliche Erforschung unserer Welt und die anschließende Einordnung der Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, ist die Aufgabe von Wissenschaft. Wenn jedoch wissenschaftlich fundierte Tatsachen geleugnet, relativiert oder lediglich „alternativen Fakten“ als gleichwertig gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen, wird jedem konstruktiven Dialog die Basis entzogen.“

    Es wäre gut, es würde hier Ross und Reiter genannt. Wer ist denn gemeint mit den „Vertretern alternativer Fakten“? Die Initiatoren des Marsches übertreiben das Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnisse maßlos. Siehe das erwähnte Beispiel Klimawandel. Wer bestreitet das, wie viele Leute bestreiten das, welche bedeutenden Leute bestreiten in Deutschland den Klimawandel?

  2. Die Initiatoren des Marsches für die Wissenschaft tun so, als gäbe es „alternative Fakten“ und vorherrschende Lügen vor allem außerhalb der normalen Medien und der normalen Wissenschaft. Das stimmt nicht: Die Lüge zum Beispiel über die gravierenden Folgen des demographischen Wandels für die Altersvorsorge ist maßgeblich von sogenannten Wissenschaftlern, von Bevölkerungswissenschaftlern, verbreitet worden. Und von den ihnen hörigen Medien. Und diese Lügen hatten praktische, für Millionen Menschen gefährliche Folgen. Die gesetzliche Altersvorsorge wurde systematisch geschwächt, um der privaten Vorsorge ein neues Geschäftsfeld zu eröffnen – mit bitteren Folgen für alle Menschen, die auf die gesetzliche Altersvorsorge angewiesen sind. Die Wissenschaft hat hier eindeutig im Interesse der Finanzwirtschaft, der Versicherungswirtschaft und der Banken gearbeitet.Es waren Institute gegründet worden, die sich mit dem demographischen Wandel befassten und es wurden in Kombination mit den Medien viele Serien der Agitation veranstaltet – immer mit dem Segen der Wissenschaft. Wer so zerstörerisch gewirkt hat, der sollte sein Haupt mit Scham verhüllen.
  3. Die Wissenschaft war auf diesem Feld und ist es auf vielen anderen Feldern auch direkt mit privaten geschäftlichen Interessen von großen Unternehmen und ganzen Branchen verbunden. Es gab gemeinsame Institute von Professoren aus Universitäten mit der Wirtschaft, konkret zum Beispiel das MEA in Mannheim. Die Professoren Börsch-Supan und Raffelhüschen, Rürup und Sinn waren direkt mit privaten Interessen verbunden.
  4. Die Wissenschaft – im konkreten Fall einige der zuvor genannten – ließ sich in Kommissionen einspannen, die die Auflösung der Sozialstaatlichkeit und die Einführung der Agenda 2010 betrieben haben. Ich erinnere an die Rürup-Kommission.
  5. Auch andere Fehler und Schwächen der vorherrschenden Wissenschaft werden in diesem Aufruf nicht erwähnt bzw. implizit bestritten. Sie untertreiben die Fehler und die Schwächen der vorherrschenden Wissenschaft Die sogenannte Drittmittelforschung ist das Einfallstor der inneren Korruption der Wissenschaft. Kein Wort davon in diesem Aufruf.
    Stattdessen tut man so, als sei die Demokratie gefährdet, weil manche Menschen oder auch manche Medien wissenschaftliche Erkenntnisse bestreiten. Das ist in der Tat nicht gut und es dient der vernünftigen Entscheidungsfindung nicht, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse in der demokratischen Willensbildung keine Rolle mehr spielen. Aber das ist um vieles weniger schädlich als der übliche Missbrauch der Wissenschaft für private und geschäftliche Interessen.
  6. In dem Aufruf wird so getan, als seien Erkenntnisse der Wissenschaft von Bedeutung für politische Entscheidungen. Die aktuelle deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik ist ein Musterbeispiel dafür, dass Erkenntnisse der Wissenschaft keine Rolle spielen. Relevant ist die Dominanz bestimmter angeblicher Erkenntnisse.
    Also: zum Beispiel die Erkenntnis, dass niedrige Löhne und niedrige Lohnnebenkosten gut seien für die wirtschaftliche Entwicklung hat sich durchgesetzt und wurde durchgedrückt – in einer Symbiose der herrschenden neoliberalen Mehrheitsmeinung der Ökonomen mit dem Ehrgeiz von Politikern, die mit der Rolle als Exportweltmeister für sich Reklame machen wollten und wollen.
    Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass der Arbeitsmarkt anders funktioniert als der Kartoffelmarkt (Heiner Flassbeck) und damit kombiniert die wissenschaftliche Erkenntnis, dass man eine Währungsunion nur halten kann, wenn die Entwicklung der Lohnstückkosten einigermaßen im gleichen Maß abläuft, spielt für die demokratische Willensbildung und die praktische Politik keine Rolle. Da kann man doch als Veranstalter eines Marsches für die Wissenschaft im Jahre 2017 nicht des Wegs kommen und so tun, als gäbe es die Krisen in Griechenland, Frankreich, Italien und in vielen anderen Ländern Europas, die in die Hinterhand geraten sind, nicht.
  7. Die Mehrheitswissenschaft hat völlig verschlafen, dass es für eine Demokratie und eine Gesellschaft höchst problematisch ist, wenn man die Verteilung von Einkommen und Vermögen sich so auseinander entwickeln lässt, wie es in den letzten 30 Jahren geschehen ist. Für eine solche Wissenschaft kann man doch nicht auf die Straße gehen!
  8. Es gibt Wissenschaftler, die erkannt haben, wie gefährlich die Verringerung der Artenvielfalt werden wird. Es gibt Wissenschaftler, die erkannt haben, welche verheerenden Folgen der großflächige Einsatz von Pestiziden haben wird. Aber es gab auch die anderen Wissenschaftler, die sich für die großen Chemiekonzerne und deren Interessen einspannen ließen.
    Und diese haben bisher immer noch gesiegt und nicht die Wissenschaftler, die angeblich den demokratischen Prozess bestimmen und deshalb einen hilfreichen Beitrag für die Demokratie leisten.

Auf der Webseite des AUfrufs wird empfohlen, Fragen zu stellen an sciencemarchgermany@gmail.com

Hier noch ein Leserbrief aus den heutigen NachDenkSeiten:

Sehr geehrter Herr Müller,

bezugnehmend auf Ihren gestrigen Beitrag über den „March For Science“ am 22.04. kann ich Ihnen zu Hundertprozent zustimmen!

Ich arbeite selbst an einem Forschungszentrum und bin umgeben von Personen, für die die Wissenschaft alles bedeutet. Vor einigen Wochen wurden auf einer internen Betriebsversammlung zwei Kampagnen vorgestellt und an die Leute herangetragen, wo bei mir alle Alarmglocken angingen. Die erste Kampagne war „Pulse of Europe“, wo ich sofort in die Runde entgegnete, dass es sich dabei um eine PR-Kampagne mit neoliberalen Interessen handelt. Die zweite war eben dieser „March For Science“, von der ich davor noch nichts gehört hatte, die mir aber unbewusst irgendwie Bauchschmerzen bereitete, vielleicht weil es so viele Ähnlichkeiten zu „Pulse of Europe“ gibt? Stammen am Ende sogar beide aus ein und derselben PR-Schmiede?

Als ich mir das Programm zum MOS ansah, verstärkte sich mein schlechtes Bauchgefühl, auch aufgrund der massiv vorangetriebenen Kampagne. Zumal die Initiatoren die Wissenschaft extrem hochheben, ja in einer Weise derart erhöhen, wie man das nur von Religionen und Sekten kennt. Sie werfen irgendwelchen Gegnern (die sie nie klar benennen) vor, mit alternativen Fakten hausieren zu gehen, ohne dass sie, wie Sie das in Ihrem Artikel taten, Ross und Reiter beim Namen nennen. Meinem Erachten nach soll diese Kampagne als Tiefenindoktrination wirken, genauso wie das Professor Mausfeld in seinem letzten Vortrag beim IPPNW dargestellt hat. Die Wissenschaft als Entität, die schon als Art Apotheose angesehen werden muss, soll nicht kritisiert werden, wobei sich dies wie bei einer Art Symbiose mit der herrschenden Meinung der Eliten deckt. Die Eliten und die ihnen hörigen Medien verlieren die Deutungshoheit gegenüber dem Volk, der Mehrheit der Menschen. Das was der Mainstream als Nachricht verkauft, soll die ganze und alleinige Wahrheit repräsentieren, jedes Abweichende ist Fake News, Populismus oder Verschwörungstheorie. Und genau in dieselbe Kerbe schlägt der „March For Science“, was meiner Meinung nach kein Zufall ist! Diese Initiative wirft anderen vor, mit Meinungen zu hantieren, alternative Fakten zu präsentieren und somit unwissenschaftlich zu sein. Doch dabei strotzt selbst das Programm des MOS vor Unwissenschaftlichkeit, dass einem wissenschaftlich interessierten Menschen nur noch die Haare zu Berge stehen!! Dazu einige kleine Beispiele. Basis ist dabei die folgende Crowdfunding-Seite.

Im Punkt „Worum geht es in diesem Projekt“ heißt es stark verallgemeinernd:

„Von der Leugnung des Klimawandels bis hin zu absurden Verschwörungstheorien (z.B. „Chemtrails“) – immer wieder kann man beobachten, dass wissenschaftlich erwiesene Tatsachen geleugnet, relativiert oder „alternativen Fakten“ als gleichberechtigt gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen.“

Interessant ist, dass hier der Begriff „Verschwörungstheorie“ verwendet wird, ein Klammerbegriff, dessen erstmalige Verwendung bekanntlich von der CIA kam. Das Auslassen solcher Informationen ist fahrlässig und man wird den Verdacht nicht los, dass man damit unbewusst jede Vorstellung an Verschwörung als pathologisch, als paranoid abstempeln will. Interessant ist auch, dass einer der Unterstützer des MOS, Ranga Yogeshwar sich nicht zu blöde war, in einer Sendung von „Quarks und Co“ alles was es zum Thema Verschwörungstheorie gibt, zu einem unappetitlichen Brei zu verrühren. Der Vollständigkeit halber soll gesagt werden, dass auch Yogeshwar in keinster Weise erwähnt hat, dass die Verwendung dieses perfiden Begriffes von der CIA stammt!!

Das Fass dem Boden aber schlägt folgender Absatz aus, aus dem Punkt „Was sind die Ziele und wer ist die Zielgruppe“:

„Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der Lügen sich nicht mehr lohnen, weil die Menschen sie durchschauen. Wir wollen, dass der Populismus und seine so genannten „alternativen Fakten“ keine Chance haben.

Wir wollen in einer Demokratie leben, in der gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage von Entscheidungen sind – und nicht bloß gefühlte Wahrheiten.

Und wir wollen, dass alle sehen: Wir sind viele!“

Diese Worte könnten auch in einer religiösen Schrift stehen! Extrem verallgemeinernd, dann die Verwendung von Begriffen, hinter denen man alles verstecken kann. Was genau ist mit Populismus gemeint und wie kann der Populismus alternative Fakten haben? Man tut ja so als ob das eine Art Person, Personengruppe ist? Völlig unerwähnt bleibt auch, dass selbst die etablierten Medien und auch Politiker in unserem Land Lügen verbreiten ohne rot zu werden. Das krasseste Beispiel ist Thomas de Maiziere, der völlig schmerzfrei darüber sinniert, dass Spionagetätigkeiten in unserem Land nicht zulässig sind, wobei er freilich die türkischen Agenten meint, jedoch von der NSA und der CIA nicht ein einziges Mal erzählt!! Sind das die „alternativen Fakten“, der „Populismus“, den die Initiatoren des MOS meinen?

In dem folgenden Absatz „Wir wollen in einer Demokratie leben, in der gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage von Entscheidungen sind – und nicht bloß gefühlte Wahrheiten.“ kann man genau das ansetzen, was Sie in Hinblick auf die Wirtschaft und Politik dargelegt haben, dass diese Kampagne voll politischer Naivität strotzt und sie die verheerenden Einflüsse auch der Wissenschaft auf viele Staaten vor allem in Südeuropa komplett ignorieren und unerwähnt lassen!

Angesichts all dieser und vieler weiterer Umstände kann man nur besorgt in die Zukunft blicken, wie sich selbst so wissenschaftliche Institutionen für politische Zwecke instrumentalisieren lassen! Ich muss immer dabei an Orwells Buch „1984“, das dortige Wahrheitsministerium und das Newspeak denken. All das wird nun mit rasanter Geschwindigkeit in die Tat umgesetzt und irgendwann werden wir nicht mehr wissen, gegen wen wir eigentlich Krieg führen, gegen Eurasien oder doch gegen Ostasien?

„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“

Mit freundlichen Grüßen
T. M.

Jochen

Der zweifache Schock: Schulz soll Kanzlerkandidat und obendrein Parteivorsitzender werden.

Bisher konnte man sich nur sarkastisch damit auseinander setzen,z.B. hier: https://josopon.wordpress.com/2016/12/02/der-spd-kandidat-nennen-sie-die-art-des-politischen-notfalls-satire/ : „Der Daseinszweck der SPD besteht darin, in den Wahlbürgern vergebliche Hoffnung auf Veränderung zu wecken“

Hierzu gestern nun Albrecht Müller, ein echter Sozialdemokrat, auf den NachDenkSeiten:

Die gestern bekannt gewordenen Entscheidungen der SPD-Führung wurden in Medien und von den meisten interviewten Sozialdemokratinnen und

a mueller k

Sozialdemokraten

begrüßt. In meinem Umfeld war man eher schockiert. Es folgen

Fragen und Ergebnisse des Nachdenkens über diesen Vorgang. Das vorläufige Fazit: Martin Schulz wird uns leider keine Alternative zu Frau Merkel bringen. Albrecht Müller.

1. Wofür steht Schulz in der Sache? Wo sind Unterschiede zu Merkels Politik und ihren Linien erkennbar?

Schulz hat den neoliberalen Kurs mitgemacht. Es ist nicht bekannt, dass er sich gegen die Agenda 2010, den Aufbau eines Niedriglohnsektors und den wesentlich neoliberal bestimmten Lissabon Prozess der Europäischen Union gewehrt hat.

  • Und seine Europapolitik? Er steht für das Europa, das in eine Krise geraten ist. Selbstgemacht von den handelnden Personen. Er hätte als Präsident des Europäischen Parlaments auf den Barrikaden stehen müssen, als demokratische Entscheidungen in Griechenland von Brüssel und von Berlin aus mit Füßen getreten wurden.
  • Er hat die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staats-Schuldenkrise mitgemacht.
  • Jetzt spricht Schulz viel von sozialer Gerechtigkeit, offenbar soll das ein Schwerpunkt werden. Er hätte als Präsident des europäischen Parlaments die Sozialstaatlichkeit Europas als etwas Besonderes, als einen kulturellen Schatz, hervorheben und pflegen müssen. Haben Sie davon etwas gemerkt?
  • Haben Sie irgendwann von Schulz irgendetwas gehört zu der entscheidenden Frage, wie wir in Europa dazu kommen können, dass alle Völker Europas am Produktionsprozess, auch am industriellen Produktionsprozess, teilhaben können? Ich kenne keine fordernde oder auch nur ermunternde Intervention des früheren Parlamentspräsidenten zugunsten einer Annäherung der Lohnstückkosten und der Wettbewerbsfähigkeiten in Europa und speziell im Euro Raum. Das mag ökonomisch-technisch klingen. Es wäre aber ein entscheidender Schritt zur Rettung der europäischen Einigung und eine Voraussetzung dafür, dass den Rechtsradikalen das Wasser abgegraben wird. Deshalb ist es wichtig.
  • Und dann eine entscheidende Frage: Sind von Schulz Impulse zu erwarten, die Deutschland und den Westen dazu bringen könnten, den neu entfachten und auch militärisch angereicherten Konflikt zwischen West und Ost einzufangen und abzubauen? Ich kenne von Schulz nur üble und dummdreiste Sprüche gegen Putin und die Russen – meist geäußert in Talkshows. Schulz ist weit entfernt von der genuin sozialdemokratischen Entspannungspolitik. Gabriel hätte ich nach seinen bisherigen Äußerungen eher zugetraut, diesen Faden wieder aufzunehmen. – Wenn Sie andere Erfahrungen haben, wir veröffentlichen sie und korrigieren damit diese kritische Einschätzung des neuen Kanzlerkandidaten der SPD

2. Chancen zum Wechsel? Sind die Wahlchancen mit Martin Schulz höher?

Als gestern die Entscheidung für Kanzlerkandidat und Parteivorsitz der SPD verkündet wurden, war des Öfteren und in Variation zu hören, mit Schulz seien die Chancen für die SPD und auch für einen Wechsel im Kanzleramt höher als mit Gabriel. In den Tagesthemen wurde sogar verlautbart, Gabriel selbst meine, Schulz habe bessere Chancen. Die Kommentatorin der ARD berichtete, Schulz sei viel beliebter. Da muss ich und viele meiner Freundinnen und Freunde eine Wahrnehmungspanne haben. Wir halten Schulz weder für beliebter noch für telegener und insgesamt nicht für attraktiver – nicht einmal attraktiver als Gabriel, obwohl dieser Vergleich schon eine Herausforderung ist.Die Frage danach, wie einer rüberkommt, mögen manche unserer Leserinnen und Leser für unwichtig und auch für unerlaubt halten. Das ist sogar verständlich, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass in einer Zeit der visuellen Wahrnehmung und Urteilsbildung danach, was man gesehen hat, auch diese Gesichtspunkte wichtig sind.

Zur Einschätzung der Wahlchancen sind möglicherweise ein paar Zahlen relevanter:

  • Bei der Bundestagswahl im Jahre 2013 erreichte die SPD 25,7 %. Nebenbei und hier nur nachrichtlich: die Linkspartei erreichte 8,6 % und die Grünen erreichten 8,4 %. Weil sowohl die AfD als auch die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten, hätte es zu einer Regierungsbildung von SPD, Linkspartei und Grünen gereicht. Die CDU/CSU hatte 41,5 % der Stimmen bekommen.
  • Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte die SPD 23 %. Damals war der laut Umfragen beliebte Bundesaußenminister Steinmeier der Kanzlerkandidat. Ist Martin Schulz attraktiver als Steinmeier, so viel attraktiver, dass er das Wahlergebnis von 23 % in Richtung 30 % und darüber reißen kann? Das überschreitet mein Vorstellungsvermögen.
  • In Umfragen, die zwischen dem 5. Januar und heute gemacht wurden, schwankt die SPD bei der Sonntagsfrage zwischen 20 und 22 %.Ich weiß, gegenüber Umfragen muss man kritisch sein. Die Ergebnisse sind allenfalls Anhaltspunkte. Da aber die echten Wahlergebnisse der letzten Zeit (2016) in Sachsen Anhalt und Baden-Württemberg mit 10,6 und 12,7 sogar noch deutlich unter den 20 % lagen – die Ausnahme war Rheinland-Pfalz mit 36,2 – , kann man eine gewisse Schlüssigkeit der neuerlichen Umfragen nicht von der Hand weisen.
  • Das letzte SPD-Ergebnis vor dem Eintritt in die Regierungsbildung lag bei 40,9 Prozentpunkten. Wie ich in einem früheren Beitrag für die NachDenkSeiten schon hinwies, fielen in die Zeit zwischen diesem Ergebnis und dem Absturz elf Jahre später auf 23 % (2009) gravierende politische Entscheidungen von führenden Sozialdemokraten, die eine Wählerin und einen Wähler nach dem andern von ihrer Partei wegtrieben: die Bereitschaft, die Bundeswehr in den ersten Kriegseinsatz und noch dazu außerhalb des NATO-Bereichs zu führen, und damit auch der Bruch der bisherigen Verteidigungsdoktrin, die Agenda 2010, Steuersenkungen für Unternehmen und Vielverdiener, der Aufbau eines Niedriglohnsektors mit prekären Arbeitsverhältnissen, und vor allem die Beschädigung der gesetzlichen Rentenversicherung und damit der wichtigsten Säule der Altersvorsorge usw..

Die daraus folgende naheliegende Frage: Ist von Martin Schulz zu erwarten, dass er die Entscheidungen, die aus der Sicht vieler Wählerinnen und Wähler Fehlentscheidungen waren, zu korrigieren bereit und fähig ist?

Führt er die SPD zurück auf den Pfad der Friedenspolitik und Verständigung zwischen West und Ost?

Ist er bereit, die Fehler der Agenda 2010 zu bedauern und die Sozialstaatlichkeit Europas zum großen Thema zu machen?

Wird er die Sozialministerin Nahles dazu bringen, ihre Kraft auf die Stärkung der Gesetzlichen Rente zu setzen und sie und öffentliches Geld nicht in staatlich geförderter betrieblicher Altersvorsorge zu verplempern?

Die Chancen, zumindest den Anteil der SPD bei den Bundestagswahlen 2017 zu erhöhen, würden steigen, wenn es Schulz gelänge, Wählerinnen und Wähler von den anderen Parteien abzuziehen.

  • Von der Union? Das wird schwer werden. Wer mit Merkel nicht zufrieden ist, geht eher zur AfD als zur SPD.
  • Von der AfD? Wie das gelingen könnte, sehe ich noch nicht.
  • Von der Linkspartei und von den Grünen? Bei den Grünen schlummern Potenziale, seit die SuperRealos Göring-Eckardt und Özdemir zum Spitzenduo bestimmt worden sind; bei der Linkspartei könnte etwas zu holen sein, wenn dort die offene Demontage der Spitzenkandidatin Wagenknecht durch die Co-Parteivorsitzende Kipping und ihre Anhänger einschließlich des Quasi-Parteiorgans Neues Deutschland weitergeht.

Aber ist Schulz die Person, die die linken Wählergruppen in den beiden genannten Parteien wieder an die SPD binden könnte? Eher ist das Gegenteil anzunehmen. Martin Schulz ist für diese Gruppen nicht sonderlich attraktiv.

Mit seiner Nominierung ist noch etwas anderes, für die SPD und für alle, die den Wechsel weg von Angela Merkel wollen, ziemlich Gefährliches näher gerückt: der Schritt zu Schwarz-Grün ist ausgesprochen leicht geworden, weil leicht zu begründen gegenüber den linksorientierten Anhängern der Grünen, wenn die Alternative „Merkel oder Schulz“ heißt. Wer will wegen Schulz von den Grünen zur SPD wechseln?

Das Zwischenergebnis der Erwägungen über steigende Chancen mit Schulz: eher nein. Diese Einschätzung wird noch wahrscheinlicher, weil auch Martin Schulz eine entscheidende Tat zur Verbesserung der Wahlchancen der SPD und einer potentiellen Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei nicht wird vollbringen können:

Schulz ist nicht der Typ, weder von der Person noch von den Inhalten her, die eine Volksbewegung zugunsten eines Wechsels in Gang bringen kann.

Dazu eine kurze Erläuterung: Wie man jeden Tag beobachten kann, ist die heutige Bundeskanzlerin Merkel bei den etablierten Medien voll etabliert. Sie wird fast nur gelobt, nie grundsätzlich kritisiert. Und diese Lobpreisungen gehen inzwischen auch von wichtigen Medienmachern aus, die man linksliberal oder kritisch oder fortschrittlich nennen könnte. Merkel wird nicht nur von den Springer-Medien und den Bertelsmann-Medien gestützt, auch von FAZ, Tagesspiegel, Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung und von vielen regionalen und Lokalzeitungen – von den privaten Sendern und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Hörfunk-Betrieben sowieso.

Der konkurrierende Kandidat Schulz wird also mit einer gut gebauten und immer wieder variierten Medienbarriere zu rechnen haben.

Er wird auf jeden Fall nicht auf eine messbare Unterstützung von Seiten der etablierten Medien zählen können, im Gegenteil, auch solche Medienmacher, die ihn heute noch einigermaßen freundlich behandeln, werden im Laufe des Wahlkampfes jede Scheu verlieren und Schulz massiv kritisieren, um ihrer Präferenz für Angela Merkel gerecht zu werden.

In dieser Situation bleibt gar nichts anderes übrig, als eine Volksbewegung und eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen und die Menschen zu mobilisieren, sie aufzuklären, sie zu ermuntern mitzumachen. Sanders und Corbyn haben das vorgemacht, genauso Podemos in Spanien.

Soll Martin Schulz den Aufbau dieser Volksbewegung und der notwendigen Gegenöffentlichkeit mithilfe von Menschen schaffen? Er wird es nicht im Ansatz schaffen. Wahrscheinlich wird er es gar nicht wollen. Und Schulz hat programmatisch und inhaltlich nichts zu bieten, was eine Volksbewegung motivieren und begeistern könnte.

Das wird dann der Hauptgrund dafür sein,

  • dass Schulz vermutlich – was die SPD betrifft – nicht annähernd an die 30 % (von unten) herankommt und
  • dass es für ein Bündnis von SPD, Grünen und Linkspartei – und auch für ein solches Bündnis einschließlich der FDP (falls diese überhaupt wollte) – nicht reicht.
  1. Hatte Sigmar Gabriel und die SPD eine andere Option?Nicht in den eigenen engeren Reihen der Mandatsträger. Das stimmt. Aber der bisher amtierende SPD-Vorsitzende Gabriel hatte Zeit genug, nach unkonventionellen Lösungen zu suchen. Darauf sind wir auf den NachDenkSeiten auch früher schon zu sprechen gekommen. Ungewöhnliche Situationen machen auch ungewöhnliche Lösungen möglich und nötig. Gabriel hätte unter SPD-Mitgliedern im Land und unter Führungspersonen auch außerhalb der SPD suchen können.Es hätte sogar nahegelegen, die Gelegenheit zu nutzen, um die Linke insgesamt wieder zusammenzubringen oder sich jedenfalls näher zu bringen Gabriel hätte vorschlagen können, die Spitzenkandidatin der Linken zur gemeinsamen Kanzlerkandidatin zu machen. Das hätte in seiner Partei einen kleinen Sturm der Entrüstung ausgelöst, aber viele Probleme gelöst. Und vor allem einen Schub für die Bundestagswahl 2017 ausgelöst, eine totale Politisierung, ein spannendes Match, die Aussicht auf eine Alternative.Aber das ist vergossene Milch. Nicht mehr zu retten.So wird Sigmar Gabriel als jener Vorsitzende der SPD in die Geschichte eingehen, der ihren Niedergang, der mit dem Jugoslawienkrieg und der Agenda 2010 begonnen hat, fortsetzte, nicht aufhielt und aus dieser ältesten Volkspartei eine 20 % Partei gemacht hat.Unabhängig von dieser Entwicklung der SPD bleibt die Frage, wo und wie der fortschrittliche Teil unserer Gesellschaft – zu dem sich die NachDenkSeiten zählen – die Akzente im kommenden Wahlkampf setzen wollen. Eine offene Frage, vorerst ohne Antwort.