attac-Experten suchen nach einer neuen linken Strategie für Europa

Über das Thema mache ich mir auch schon lange Gedanken. Für mich fängt alles damit an, die Vorherrschaft der neoliberalen Medien zu überwinden.
Solange linke EU-Kritiker automatisch in die rechte Ecke gestellt werden und die Mehrheit der Einwohner ihnen das abkauft, ohne ihre eigenen Benachteiligungen mit der neoliberalen Blockpolitik in Verbindung zu bringen, können Leute wie Juncker, Schäuble, Schulz und bald auch der designierte neue Bundesfinanzminister Scholz ihre Schäfchen, und dazu gehören große multinationale Banken und Konzerne, ins Trockene bringen.
Gute Übersicht hier:
http://www.blickpunkt-wiso.de/post/2160
Auszüge:

LogoMit unseren bisherigen Positionen und Strategien zur EU sind wir heute in der Defensive.
Die folgenden Thesen sind die Basis für die Suche nach neuen Strategien.

1. Die positiven Seiten der EU dürfen uns nicht davon abhalten, eine grundlegende Kritik an ihr zu üben.

Die EU hat viele positive Aspekte. Dazu gehören etwa die Freiheit, in andere EU-Länder zu reisen oder dort zu arbeiten, Transferleistungen in strukturschwache Regionen oder die Chemikalienverordnung REACH.
Doch diesen positiven Aspekten stehen viele problematische Bereiche der EU-Politik, wie die Handelspolitik, die neoliberale Wirtschafts- und Kürzungspolitik, die Flüchtlings- oder Militärpolitik, gegenüber.

Auch viele der genannten Vorzüge, etwa Reisefreiheit und Personenfreizügigkeit, haben ihre Schattenseiten. Der Wegfall der Kontrollen bedeutet noch lange nicht reale Bewegungsfreiheit. So erhalten EU-Bürger_innen in anderen Ländern nicht automatisch Sozialleistungen. Denn die Personenfreizügigkeit der EU gibt letztlich Arbeitnehmer_innen nur das Recht, in einem anderen EU-Land eine Beschäftigung anzunehmen.
Und sie führt dazu, dass im reicheren Teil der EU Löhne gedrückt und Sozialstandards ausgehöhlt werden.

Zudem sind die Reise- und Personenfreizügigkeit die ersten Freiheiten, die politisch eingeschränkt werden, etwa vor internationalen Protesten oder im Zuge der Flüchtlingsbewegung. Selbst mobilitätsfördernde EU-Projekte wie Erasmus-Austauschprogramme sind letztlich nur einer kleinen Gruppe von Menschen zugänglich.
Kapital, Waren und Dienstleistungen können sich hingegen völlig frei bewegen, ihre Freizügigkeit wird kaum eingeschränkt.

2. Neoliberale Wirtschaftspolitik ist der Kern der EU. Daher ist sie nicht in unserem Sinn reformierbar.

Der Kern der EU-Politik ist die neoliberale wirtschaftliche Integration. Das zeigen die Eckpfeiler der EU, etwa die Funktionsweise des Euro und der Binnenmarkt: Die vier Freiheiten sind so gestaltet, dass sie den Standortwettbewerb anheizen und Löhne und Sozialstandards sowie Steuern auf Profite und Vermögen unter Druck setzen.
Die Art und Weise, wie der Euro konstruiert ist, vertieft diesen Wettbewerb und lässt Zentrum und Peripherie auseinander driften.
  Zusätzlich wurde die neoliberale Budget- und Wirtschaftspolitik über 20 Jahre hindurch von Maastricht bis zum Fiskalpakt immer stärker rechtlich verankert. Dieser rigide Rahmen nagelt die Staaten auf eine neoliberale Politik fest.

Bisher haben wir diesen Fehlentwicklungen die Vision einer grundlegend anderen, neu begründeten EU entgegengehalten.
Doch seit der Unterwerfung Griechenlands ist das nicht mehr möglich. Erstmals stellte eine linke Regierung in der EU die neoliberale Grundausrichtung offen infrage. Die europäischen Eliten haben sich geschlossen gegen sie gestellt: die EU-Kommission, die die Austeritätspolitik vorantreiben wollte; die Regierungen, die keinen Millimeter von ihren Verarmungsauflagen abwichen; die Europäische Zentralbank, die den griechischen Banken den Geldhahn zudrehte, um die Regierung zu erpressen.

Im Vergleich dazu setzt die EU – Mitgliedsstaaten und Institutionen – den Übertretungen von rechts kaum etwas entgegen.
Als die Visegrád-Staaten ein gemeinsames Vorgehen in der Flüchtlingspolitik verhinderten, geschah nichts.
Im Vergleich der beiden Auseinandersetzungen zeigt sich der wahre Charakter der EU: Die politischen Eliten der EU sind eher bereit, die europäische Integration existenziell zu gefährden, als ihren neoliberalen Kern aufzugeben.
Angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse ist eine tiefgreifende progressive Reform der EU unmöglich.

3. Mehr Europa bedeutet heute immer mehr Neoliberalismus und ist daher abzulehnen.

Solange der neoliberale Kern der EU nicht infrage gestellt wird, vertieft jeder neue Integrationsschritt die problematische Ausrichtung.
2016 veröffentlichten Jean-Claude Juncker, Mario Draghi, Donald Tusk, Jeroem Dijsselbloem und Martin Schulz ihren Fünf-Präsidenten-Bericht zur Zukunft der EU. Um die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden, sollen das Recht der Parlamente, über das Budget zu entscheiden, weiter eingeschränkt und der Druck auf Löhne, Pensionen und Sozialleistungen erhöht werden.
Auch das Weißbuch der EU-Kommission aus dem Frühjahr 2017 bestätigt diesen Kurs. Die neoliberale Grundausrichtung auf mehr Handels- und Investitionsschutzabkommen, verschärften Standortwettbewerb und undemokratische Budgetregeln steht für die Eliten außer Frage.
Hinzu kommen gemeinsame Militärpolitik sowie strengere Migrations- und Grenzkontrollen.
Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion – oft als mehr Europa bezeichnet – ist eine Gefahr, keine Lösung.

4. Die Frage, ob ein Austritt aus EU und Euro sinnvoll ist, stellt sich in jedem Land anders.

Vom europäischen Standortwettbewerb profitieren in erster Linie Reiche und Konzerne, während die breite Bevölkerung verliert.
Das gilt prinzipiell in jedem Land, aber in manchen stärker als in anderen: Österreich zählt als Volkswirtschaft zu den Gewinnern von EU und Euro, auch wenn diese Gewinne höchst ungleich verteilt sind. Spanien oder Italien zählen insgesamt zu den Verlierern. Der Standortwettbewerb führte dazu, dass die lokale Industrie dort an Boden verlor oder ganz unterging.
Die negative Rolle der EU hat sich in der Krise noch verstärkt: In Griechenland und Portugal wurde der Sozialstaat gezielt von EU-Institutionen – als Teil der Troika – zerstört.

Aufgrund dieser Erfahrungen wird die Frage des Austritts bei Linken und sozialen Bewegungen in Südeuropa vermehrt diskutiert. Wenn es innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion keinen Spielraum für progressive Wirtschaftspolitik gibt, kann der Austritt ein notwendiger Schritt sein.
In Österreich und Deutschland ist diese Forderung hingegen vor allem von der Rechten besetzt. Unter den aktuellen Machtverhältnissen würde ein Austritt heute, ähnlich wie in Großbritannien, keine Spielräume für emanzipatorische Politik öffnen, sondern sie sogar weiter verengen. Ein solcher Bruch würde die rassistischen und autoritären Kräfte stärken, nicht Linke und soziale Bewegungen.
Daher halten wir bei aller Kritik an EU und Euro den Austritt Österreichs derzeit für keine sinnvolle Forderung.

5. Der Gegensatz Mehr EU oder zurück zum Nationalstaat ist falsch und führt uns in die Irre.

EU-Kritik wird von liberaler, konservativer und sozialdemokratischer Seite stets mit dem Vorwurf begegnet: Ihr wollt ja zurück zum Nationalstaat.
Doch erstens gibt es keine allgemeinen nationalstaatlichen oder europäischen Interessen. Es gibt Interessengegensätze verschiedener Klassen und gesellschaftlicher Gruppen, und damit verbunden unterschiedliche politische Ziele. Die allermeisten politischen Konflikte verlaufen heute nach dem Schema Wirtschaftliche und politische Eliten gegen die breite Bevölkerung – über Ländergrenzen hinweg.

Zweitens sind Nationalstaat und EU auf institutioneller Ebene und im politischen Prozess nicht trennbar. Wir müssen sie als ineinander verwachsene Blöcke begreifen.

Drittens fördert gerade die neoliberale Politik der EU den Nationalismus. Liberale und sozialdemokratische Eliten behaupten gerne, die EU würde uns vor FPÖ, AfD und Co. schützen.
Die Realität zeigt, dass die EU kein progressives Projekt gegen Nationalismus und Konservativismus ist. Gerade die EU-Austeritätspolitik, die Millionen Menschen in die Armut stürzt und berechtigte Existenzängste weckt, bereitet dem Aufstieg der Rechten den Boden.

6. Auch die Rechten stehen für neoliberale Politik – nur noch autoritärer.

Die Rechten sind bisher Hauptprofiteur der EU-Krise. Das liegt an der Schwäche der Linken und am Rechtsruck der sogenannten politischen Mitte. Seien es Obergrenzen fr Schutzsuchende, das Kopftuchverbot in Teilen des öffentlichen Dienstes oder die Ausweitung des Überwachungsstaates – die österreichische Regierung macht heute jene Politik, die noch vor einigen Jahren nur die extreme Rechte forderte.

Allen Rechten ist gemeinsam, dass sie ausgewählte Elemente des bisherigen Neoliberalismus eher vertiefen und noch autoritärer durchsetzen wollen. Die Rechten bauen an einem Europa, in dem Waren und Kapital weiterhin frei zirkulieren sollen, während die Grenzen für Menschen neu hochgezogen werden.

7. Für die Entwicklung der EU in den kommenden Jahren sind verschiedene Szenarien denkbar – und keines davon ist gut.

Wir sehen fünf Szenarien für die Zukunft der EU:

A. Weiterer Zerfall: Ob Frankreich, Deutschland oder Österreich: In vielen Ländern sind Parteien im Aufwind, die den EU- oder Euro-Austritt fordern. Kommen sie an die Regierung, ist ein weiterer Zerfall möglich.

B. Lähmung: Die Konflikte nehmen so stark zu, dass die Institutionen nicht mehr handlungsfähig sind. Eine solche Selbstlähmung könnte beispielsweise das Ende von TTIP bedeuten.

C. Durchwursteln: Es findet keine weitere Vertiefung statt. Immer mehr Länder brechen die Regeln und kommen damit durch. Das kann die Durchsetzbarkeit der neoliberalen Regeln aber nur abschwächen.

D. Taktische Zugeständnisse: Vor Wahlen könnte es etwa Ausnahmen von den Budgetregeln oder angekündigte Investitionspläne geben. Eine solche taktisch motivierte Lockerung ändert aber nichts an der Grundausrichtung der Eurozone. Auch die regelmäßigen Ankündigungen zur sozialen Union fallen in diese Kategorie.

E. Autoritäre Vertiefung: Seit dem Brexit-Votum predigen die Eliten Handlungsfähigkeit. Das heißt: Sie wollen den neoliberalen Kurs beibehalten, aber noch schneller und autoritärer durchsetzen. Die zwei wahrscheinlichsten Bereiche fr diese Vertiefung sind die Eurozone sowie die Militär- und Sicherheitspolitik, damit verbunden, die Flüchtlingspolitik.

All diese Szenarien sind schlecht. In jedem wandern die Regierungen weiter nach rechts und werden die Rechtsextremen gestärkt.

8. Aktuelle Initiativen wie DiEM25 oder Lexit greifen zu kurz.

Die Initiative DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025) des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis will die EU reformieren und demokratisieren. Ihre Ziele sind kurzfristig mehr Transparenz und Krisenbekämpfung, mittelfristig ein demokratischer Konvent. Sie knüpft an altere Diskurse über ein anderes Europa an und formuliert sie neu, teilweise radikaler.
Wir teilen die Grundideen von DiEM25, halten die Forderungen aber fr zu abstrakt. Sie sind kaum an real existierende Kämpfe gekoppelt und für viele Menschen wenig anschlussfähig. Menschen gehen vor allem im Rahmen konkreter Auseinandersetzungen für Transparenz und Demokratie auf die Straße, etwa im Kampf gegen Privatisierungen.

Einige Initiativen fordern einen Lexit, also einen linken Austritt aus dem Euro. ökonomisch spricht manches dafür, etwa die Möglichkeit, die neue Währung abzuwerten und eine eigenständige Geld- und Investitionspolitik zu betreiben.
Doch die Chancen werden tendenziell über- und die Risiken unterschätzt. In der Lexit-Debatte werden zudem häufig auch die unterschiedlichen ökonomischen und politischen Kontexte der Mitgliedsstaaten nicht reflektiert. Ein Austritt bedeutet in Spanien etwas anderes als in Österreich oder Finnland.

9. Wir brauchen Strategien, die uns handlungsfähig machen.

Wir müssen sowohl unsere Kritik an der EU, aber auch unsere Strategien für Veränderung auf neue Beine stellen. Es bringt uns nicht weiter, auf eine fundamentale Reform der EU zu hoffen, wenn die dafür nötigen Mehrheiten in der Realität in immer weitere Ferne rücken. Für die strategische Debatte stellen wir nachstehende Fragen in den Mittelpunkt:

  • Welche Spielräume gibt es innerhalb der bestehenden Strukturen, Prozesse und Institutionen, und für welche Bereiche müssen wir eigene Alternativen von unten aufbauen? 
  • Welche Themen eignen sich, um im Gefüge der EU sowie auf der Ebene der Mitgliedsstaaten Brüche zu erzeugen, die uns neue Handlungsspielräume eröffnen und emanzipatorische Politik möglich machen?
  • Wie können wir die Kräfteverhältnisse auf den verschiedenen Ebenen verändern und die nötige Macht aufbauen, so dass emanzipatorische Politik möglich wird?

Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen sind uns folgende Prinzipien wichtig:

  • Es gibt nicht die eine Strategie oder den einen Ansatz.
  • Wir müssen vieles ausprobieren und die Ergebnisse immer wieder prüfen: Was macht uns handlungsfähig? Wie erzeugen wir Brüche? Mit welchen Themen oder politischen Formen erreichen wir die Menschen?
  • Dabei müssen wir auf lokaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene gleichermaßen ansetzen, je nachdem, wo wir verankert sind und Handlungsmöglichkeiten sehen. Behalten wir stets im Blick, wie diese Ebenen zusammenhängen und wo wir wann die größte Wirkung erzielen können.

Mit dem von Attac herausgegebenen Buch Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist (Mandelbaum Verlag 2017, 272 S., 15 EUR) will die globalisierungskritische Organisation die falsche Debatte zwischen pro- und antieuropischen Kräften überwinden und neue Perspektiven eröffnen. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch.

Ralph Guth ist Politikwissenschaftler und studiert Rechtswissenschaften. Seit zwei Jahren ist er Vorstandsmitglied von Attac Österreich, wo er vor allem zur Krise, der EU und Konzernmacht aktiv ist.

Elisabeth Klatzer ist politische Ökonomin und Vorstandsmitglied von Attac. Sie setzt sich für eine demokratische und sozial gerechte Transformation und feministische Alternativen in der Ökonomie ein.

Lisa Mittendrein ist Soziologin und Sozioökonomin. Sie arbeitet bei Attac zu Eurokrise, Finanzmärkten und Steuern.

Valentin Schwarz ist Historiker. Er arbeitet bei Attac zu Handelspolitik, Eurokrise und politischer Kommunikation.

Jochen

Europas bittere Medizin – Kannibalisierend aus der Krise

Featured Image -- 3933Guter Überblick, der einige Motive erklärt. Um von inneren Spannungen abzulenken, hat es schon immer gepasst, nach außen Krieg zu führen. Auch die Wirtschaft des deutschen Nationalsozialismus war ohne ständige Eroberungen und Raubzüge gegen die Industrie, die Banken und die wohlhabenden Bevölkerungsschichten der überfallenen Länder nicht denkbar.
Soll die EU dieses Prinzip wieder aufleben lassen, nachdem in den neuen Ländern Osteuropas nichts mehr zu holen ist ?

Neue Debatte

Die Europäische Union als Entwurf der führenden Nationalstaaten und deren wichtigsten Kapitalfraktionen ist an ihre Grenzen gestoßen.

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TTIP-Propaganda auf unsere Kosten – Will Sigmar Gabriel uns für dumm verkaufen?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Das bezahlen wir natürlich aus unseren Steuergeldern.
Und es machen sich sicher schon eine Menge SPD-Genossen Hoffnung auf die zahlreichen Verwaltungsposten, die so ein Abkommen mit sich bringt.
Mit ehrlicher Arbeit will von denen kaum jemand Geld verdienen.
Hier Jens Berger auf den NachDenkSeiten:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=25356

Dass Sigmar Gabriel ein großer Freund des Freihandelsabkommens TTIP ist, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass TTIP zwar bei den großen Konzernen dies- und jenseits des Atlantiks sehr beliebt ist, die Menschen das Abkommen jedoch mehrheitlich ablehnen. Das gilt auch für die Wähler der SPD und deren Parteibasis.
Anstatt ernsthaft auf die Kritik an TTIP einzugehen, wählt Gabriel jedoch lieber die Vorwärtsverteidigung. Nun trommelt er sogar schon in einem Gastartikel mit dem Titel „5 Gründe, warum TTIP gut für uns ist“ in der BILD mit Allgemeinplätzen und Verdrehungen für TTIP.
Offenbar hält Sigmar Gabriel „sein Volk“ für unterbelichtet. Anders ist seine skurrile PR-Offensive für Freihandelsabkommen kaum zu verstehen.
Von Jens Berger.

Wenn Sigmar Gabriel über TTIP spricht und schreibt, dann geht es streng genommen nie um TTIP. Wer nicht weiß, was TTIP ist oder welche Inhalte überhaupt im Rahmen der TTIP-Verträge verhandelt werden sollen, erfährt dies vom Wirtschaftsminister, Vizekanzler und SPD-Vorsitzenden auch nicht. Stattdessen wirft Gabriel in stetiger Regelmäßigkeit mit Allgemeinplätzen um sich und baut rhetorische Strohmänner, auf die er dann mit Vorliebe eindrischt. Beispiel gefällig?

Europa und die USA sind die größten Handelsräume der Welt. Und gerade Deutschland lebt vom Export – ein Viertel unserer Arbeitsplätze hängt davon ab!

Sigmar Gabriel in der BILD

Obgleich es überfällig wäre, die deutsche Exportfixierung einmal unter die Lupe zu nehmen, geht dieses „Argument“ doch ins Leere.
Deutschland ist bereits Exportüberschussweltmeister … ganz ohne TTIP. Und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass ein Scheitern der TTIP-Verhandlungen mittel- oder langfristig negative Auswirkungen auf die deutschen Exporte hätte.
Die USA sind übrigens auch nicht dumm. Wäre TTIP so konstruiert, dass nur deutsche Exporteure davon profitieren würden, würden die USA ein solches Vertragswerk sicher nicht unterzeichnen.

Auch dies ist jedoch noch nicht einmal der Kern der Kritik an TTIP. TTIP hat nur der Verpackung nach etwas mit dem Außenhandel zu tun.
Im Kern geht es darum, verschiedene Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards in der EU und der USA „anzupassen“ – also zu senken.
Über den Umweg von Freihandelsabkommen werden so vor allem nationale Gesetze außer Kraft gesetzt, die man in einem geordneten demokratischen Verfahren nur durch massiven Popularitätsverlust beim Wähler abschaffen könnte. Darauf geht Gabriel jedoch – wenn wundert es? – in keinem einzigen Satz ein. Stattdessen fokussiert er seien Vorwärtsverteidigung ausschließlich auf den Außenhandel und auch hier argumentiert er unlauter:

Es gibt viele Barrieren gerade für kleine und mittelständische Unternehmen. Zölle und Doppelregulierungen machen den Handel unnötig teuer. Allein die deutsche Autoindustrie muss jedes Jahr eine Milliarde Euro ausgeben, um Autos aus Deutschland in die USA exportieren zu können.

Sigmar Gabriel in der BILD

Eine Milliarde – das hört sich natürlich viel an. Ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass das Exportvolumen in diesem Segment fast 20 Mrd. Euro und die Zollgebühr gerade einmal 2,5% beträgt . Natürlich könnten die USA und die EU ihre Einfuhrzölle auch ganz ohne TTIP abschaffen.
Doch darum geht es nicht. Es geht darum, die „Doppelregulierungen“, wie Gabriel es nennt abzuschaffen. Die machen – laut Gabriels Zahlenbeispiel – noch einmal 2,5% des Preises aus, was aber auch nicht gerade existenzbedrohend viel ist.
Was sind diese „Doppelregulierungen“? Dazu zählen im konkreten Beispiel unterschiedliche Abgasnormen, Crashtest-Verfahren und technische Normen, wie beispielsweise die Farbe der Blinker. Auch dies ließe sich problemlos im Rahmen bilateraler oder internationaler Normenkommissionen aus dem Wege schaffen.

Warum also TTIP? Eins vorweg – Sigmar Gabriel hat nicht ohne Grund das Beispiel Autoindustrie vorgebracht. Dem deutschen Wähler ist wahrscheinlich herzlich egal, wenn in der EU künftig europäische Abgasnormen gelten, dafür in den USA die europäischen Crashtest-Normen und gelbe Blinker vorgeschrieben werden. Das sind Spiegelfechtereien, die nichts mit dem Thema zu tun haben.
Wie sieht es aber mit dem Zugang amerikanischer Finanzunternehmen auf bislang regulierten europäischen Sektoren, wie beispielsweise der öffentlichen Daseinsvorsorge aus? Wie sieht es mit den Sozial- und Arbeitsstandards aus, die ebenfalls eine „Doppelregulierung“ sind? Und vor allem, wie stellt sich der deutsche Wirtschaftsminister die Frage des Investitionsschutzes vor – dem Kernelement von TTIP?
Zu diesen Punkten gibt sich Gabriel wie üblich wortkarg.

Niemand muss Angst vor diesen Freihandelsabkommen haben: Sie werden nicht die Sozial-, Umwelt- oder Verbraucherschutzstandards in Deutschland oder in Europa absenken.

Sigmar Gabriel in der BILD

Es wäre schön, wenn Sigmar Gabriel für diese Aussage seine Hand ins Feuer legen würde. Er könnte ja – um Zweifler zu besänftigen – seine politische Zukunft davon abhängig machen. Warum sagt er nicht: „Wenn durch die Freihandelsabkommen die Sozial-, Umwelt oder Verbraucherschutzstandards in Deutschland oder Europa abgesenkt werden, trete ich mit sofortiger Wirkungen von allen meinen Ämtern zurück“.
Das werden wir aber nicht hören, da es sich bei diesem Satz um eine glatte Lüge handelt.

Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold hat im Internet eine kommentierte Version des TTIP-Mandats der EU veröffentlicht. Bereits in diesem als geheim eingestuften Dokument gibt es zahlreiche Punkte, die darauf hinweisen, dass TTIP keinesfalls die jeweils strengeren Standards anpeilt.
Ganz im Gegenteil. Aber das ist ja auch nur logisch. Wer „Barrieren“ abbauen will, hat schließlich nicht vor, strengere Standards einzuführen.

Außerdem kann Sigmar Gabriel überhaupt nicht wissen, was im Detail verhandelt wird. Wenn es erst einmal ernst wird, werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit neue transatlantische Institutionen, in denen auch die Lobbyisten der Verbände sitzen, die Einzelheiten aushandeln. Und da will Gabriel dem Volk erzählen, dass es in keinem Fall zu einer Absenkung der jetzigen Standards kommen wird? Das ist eine dummdreiste Täuschung der Öffentlichkeit.

Aber was soll man auch von einem Mann erwarten, der seinen Wählern noch nicht einmal reinen Wein einschenkt, wenn es um die Gründe für die geplanten Freihandelsabkommen geht. In Gabriels BILD-Artikel liest sich das folgendermaßen:

Selbst das starke Deutschland wird in ein paar Jahren gegenüber den neuen Riesen in der Welt – China, Indien, Lateinamerika – zu klein sein, um gehört zu werden. Unsere Kinder haben entweder eine europäische Stimme oder keine Stimme in der Welt. Doch selbst als Europäer alleine sind wir zu klein, denn der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung sinkt.
In China und Indien leben heute 2,6 Milliarden Menschen, 2050 werden es 3 Milliarden sein. In Deutschland schrumpfen wir dagegen von heute 80 Millionen auf dann 75 Millionen. Wenn wir also die Balance in der Welt halten wollen, brauchen wir Partner. Zuallererst die USA.

Sigmar Gabriel in der BILD

Und nun lesen Sie einmal, wie Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im Dezember 2012 die Entscheidung zum Fiskalpakt begründet hat:

Schauen Sie – wenn ich das einfach noch einmal sagen darf -: Die Welt hat 7 Milliarden Einwohner. Alle möchten in Wohlstand leben. Als Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag gesprochen hat, gab es auf der Welt 2,5 Milliarden Einwohner. Wir Europäer waren 500 Millionen. Wir Europäer sind heute noch 500 Millionen. Wir stellen inzwischen noch 8 bis 9 Prozent – genau: 8,7 Prozent – der Welteinwohnerschaft. Wir erarbeiten 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt. Wir haben ungefähr 50 Prozent der Sozialleistungen auf der Welt. Wenn wir für dieses Sozialmodell, für das wir alle bzw. mehr oder weniger alle in verschiedenen Variationen einstehen, wenn wir für die soziale Marktwirtschaft der Zukunft kämpfen wollen, dann müssen wir sehen: Wir werden ohne Wettbewerbsfähigkeit den Wohlstand unseres Landes und Europas nicht erreichen. Wettbewerbsfähigkeit ist kein Selbstzweck. Wettbewerbsfähigkeit sagt doch nicht anderes aus, als dass unsere Unternehmen in der Lage sind, auch außerhalb Deutschlands ihre Waren zu verkaufen: Autos von VW und anderen Automobilunternehmen, chemische Produkte und vieles andere mehr. Das bedeutet Wettbewerbsfähigkeit.

Angela Merkel am 29. Februar 2012 im Bundestag

Ideologisch passt offenbar zwischen die Kanzlerin und ihren Vize kein Blatt. Und das ist vor allem in diesem konkreten Punkt tragisch.
Die demografische Entwicklung in Deutschland, Europa und der Welt hat schließlich weder etwas mit TTIP, noch mit dem Fiskalpakt zu tun. Sowohl Gabriel als auch Merkel greifen zur Verteidigung komplett unsinniger und bürgerfeindlicher Gesetze auf abstrakte globale Entwicklungen hin, die wir ohnehin nicht beeinflussen können.
Eine unabwendbare globale Bedrohung wird an die Wand gemalt. Die Welt ändert sich und wir müssen darauf reagieren, sonst gehen wir unter – so die Botschaft. Darüber kann man ja diskutieren, wenn die konkreten Fragen, wie TTIP bei Gabriel oder der Fiskalpakt bei Merkel, denn wenigstens mit diesen globalen Entwicklungen im Zusammenhang stehen würden. Das tun sie aber nicht.
Und nicht nur das – bereits die immanente Logik dieses Bedrohungsszenario ist falsch.

Es ist nicht ersichtlich, was der wachsende Wohlstand mit der Größe der betroffenen Volkswirtschaft oder demografischen Entwicklungen zu tun haben soll. Für die Menschen ist es ziemlich egal, welchen Anteil das „Tortenstück“ der heimischen Volkswirtschaft am großen „Weltwirtschaftskuchen“ hat. Wenn Sie das nicht glauben, dann fragen Sie mal einen Luxemburger, einen Schweizer oder einen Dänen, deren Volkswirtschaften bekanntlich deutlich kleiner als die deutsche Volkswirtschaft sind.
Entscheidend ist doch, auf wie viele „Mitesser“ ein „Tortenstück“ sich verteilt. Alles andere ist lediglich eine abstrakte Definitionsfrage. Es erschließt sich auch nicht, was sich an dieser simplen Logik ändern sollte, wenn man nun das europäische und das amerikanische Tortenstück zusammen betrachtet.

Wenn Merkel und Gabriel es problematisch finden, dass Deutschland oder die EU relativ (und nicht absolut!) weniger Anteile an der Weltwirtschaft haben könnten, so zeigt sich, dass es ihnen nicht um die Menschen geht, sondern einzig und allein um die Frage der relativen Macht von Nationalstaaten und Regionen. Dies im Hinterkopf wird auch klar, warum Sigmar Gabriel in der BILD bei seiner Vorwärtsverteidigung des Freihandels sogar noch über TTIP hinausgeht:

Nur mit den USA und Russland zusammen wird es Europa auf Dauer schaffen, die wirtschaftliche und politische Balance in diesem neuen „asiatischen Jahrhundert“ zu halten.

Sigmar Gabriel in der BILD

Offenbar hat Gabriel seinen Zbigniew Brzeziński gelesen. In seinen jüngeren Werken malt Brzeziński nämlich exakt dieses Bild: Die USA und Europa sollten Russland als Kernstück Eurasiens dem asiatischen Block entreißen, um im kommenden Großkonflikt zwischen den transatlantischen Mächten und China die strategische Oberhand zu gewinnen.
Auch Brzeziński legt Wert darauf, dass dies im Idealfall nicht militärisch, sondern durch Handelspolitik erfolgen soll. Es ist schon erstaunlich.
Da übernimmt der Parteivorsitzende der SPD, deren Ostpolitik früher vor allem dafür bekannt war, Konflikte durch Annährung abzubauen, die strategischen Visionen eines transatlantischen Falken.

Über die geostrategischen Visionen des Vizekanzlers kann man sicherlich vortrefflich diskutieren. Das hat aber doch alles nichts mit einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA zu tun, dessen eigentlicher Zweck der Abbau von Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards ist. Oder doch?

Jochen

Märchenonkel Gabriel: Zu TTIP ein Schreiben an die Genossen voller Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen und Auslassungen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Thorsten Wolff hat genau hingeschaut und seine Hinweise bei Jens Berger auf den NachDenkSeiten eingestellt:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=24825
Dort findet sich auch das vollständige Schreiben.
Hier Auszüge:

Sigmar Gabriels Schreiben an die SPD-Mitglieder: Mit Halbwahrheiten zum Freihandelsabkommen?

Verantwortlich: Jens Berger

Der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat sich jüngst per E-Mail an die Mitglieder seiner Partei gewandt. Thema seines Schreibens: Das derzeit verhandelte Freihandelsabkommen “TTIP” zwischen der Europäischen Union und den USA sowie das “CETA”-Abkommen mit Kanada.
Ziel seines Schreibens: Die SPD-Mitglieder zu beruhigen und auf Linie bringen.
Überzeugend sind Gabriels Argumente nicht. Auch, weil er so manches verschweigt und anderes herunterspielt. Eine Analyse von Thorsten Wolff.

Der Mitgliederbrief wurde am 28. Januar per E-Mail versandt. Wir kommentieren im Nachstehenden zunächst einzelne Passagen des Schreibens (in kursiv) und dokumentieren dieses anschließend nochmals komplett.

  1. Analyse zentraler Passagen des Mitgliederbriefs:

    Viele Bürgerinnen und Bürger, auch uns nahestehende Verbände und Organisationen, äußern teils heftige Kritik an diesen geplanten Freihandelsabkommen, sind verärgert über die mangelnde Transparenz der Verhandlungen und haben die Befürchtung, dass durch die Freihandelsabkommen bewährte europäische Standards etwa im Verbraucher- und Umweltschutz, bei den Arbeitnehmerrechten, in der Daseinsvorsorge und der Kultur ausgehöhlt werden könnten. Insbesondere auch die Frage des Investorenschutzes weckt großes Misstrauen.

    Freihandelsabkommen ja, aber nicht um jeden Preis.

    In den Gesprächen, die ich in unserer Partei führe, nehme ich Unbehagen und Unsicherheit wahr. Manchmal gibt es auch die Sorge, dass sich die SPD auf Bundesebene oder in der Bundesregierung bereits auf eine bedingungslose Zustimmung zu diesen geplanten Freihandelsabkommen festgelegt habe. Weil gerade das nicht stimmt, möchte ich Dich zu Beginn des neuen Jahres über den Stand der Verhandlungen auf europäischer Ebene, über meine Haltung als Vorsitzender der SPD und als Bundeswirtschaftsminister informieren.

    In den hier zitierten Absätzen macht Gabriel deutlich, worum es ihm geht: Die Menschen glauben zu machen, dass Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) gar nicht so schlimm seien, wie alle denken, und dass die SPD nicht um jeden Preis zustimmen werde. Hierzu beginnt er mit einer sachlichen, inhaltlich zutreffenden Hinführung zum Thema.
    Diese Passage ist taktisch durchaus klug formuliert: Gabriel schreibt von “heftige[r] Kritik”, er schreibt, die “Bürgerinnen und Bürger” seien “verärgert” und hätten eine “Befürchtung”. Damit weckt er die Erwartung, dass Kritik, Verärgerung und Befürchtung im Nachfolgenden widerlegt werden. Was er dann ja auch versucht.

    Früh und recht direkt spricht Gabriel auch das Hauptproblem der SPD im Allgemeinen und seiner Person im Besonderen an, nämlich mangelnde Glaubwürdigkeit.
    Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Partei (mindestens) in der Haltung zu internationalen Abkommen sind berechtigt. Man erinnere sich etwa an den europäischen “Fiskalpakt” 2011/2012, den die damals oppositionelle SPD hätte verhindern können, den sie aber nicht verhindert hat. Und das, obwohl sie monatelang so tat, als sei eine Ablehnung eine ernsthaft ins Auge gefasste Option. Am Ende aber siegte die Staatsräson, wollte sich die Partei nicht als einziger Akteur in Europa gegen diesen ausverhandelten internationalen Vertrag wenden.

    Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sich Gabriel und die SPD bei internationalen Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP anders verhalten.
    Denn genau das eben am Beispiel des “Fiskalpakts” geschilderte Verhalten hat Gabriel am 27. November 2014 im Bundestag, bezogen auf CETA, sogar schon angekündigt: “Es ist überhaupt kein Problem für mich, zu wiederholen, dass wir im Hinblick auf CETA am Ende vor der Frage stehen, ob unser Unwohlsein und die Kritik an dem ‘Schweizer Käse’ des Investitionsschutzes – der Gutachter hat es so bezeichnet; so schwach findet er es – dafür ausreichen, dass Deutschland als alleiniges Land in Europa den gesamten Prozess anhalten kann. Sie werden sich als grüne Fraktion fragen müssen, wie Sie als europäisch-orientierte Partei, die Sie ja sind, mit Ihrer Position umgehen, wenn der Rest Europas dieses Abkommen will. Ich sage Ihnen: Deutschland wird dem dann auch zustimmen. Das geht gar nicht anders.”

    Wenn Gabriel im Mitgliederbrief also behauptet, die SPD hätte sich noch nicht auf eine “bedingungslose Zustimmung” festgelegt, so sind an dieser Äußerung mindestens Zweifel angebracht.

    Der Abbau von Zöllen und anderen Handelsbarrieren liegt im natürlichen Interesse einer Exportnation wie der deutschen. Millionen Arbeitsplätze hängen in unserem Land vom Export und von möglichst freien Handelswegen ab. Deshalb hat sich die SPD mit CDU und CSU im Koalitionsvertrag auch darauf verständigt, das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) zu unterstützen und den Freihandel zu stärken. Dies gilt auch für das Abkommen mit Kanada (CETA).

    Der transatlantische Handel ist heute schon in hohem Maße “frei”. Zölle spielen kaum noch eine Rolle.
    Eine demgegenüber größere Rolle spielen die so genannten “nichttarifären Handelshemmnisse”, von Gabriel hier als “andere Handelsbarrieren” bezeichnet: Gemeint sind damit staatlich-öffentlichen Regularien und Verfahren, die von Unternehmen als “Hindernisse” im transatlantischen Handel empfunden werden können. BefürworterInnen von Freihandelsabkommen nennen als Beispiele gerne etwa (doppelte und unterschiedliche) Zulassungsverfahren und technische Vorschriften. Sie leiten daraus die Forderung ab, Verfahren und Vorschriften einander anzugleichen oder wechselseitig anzuerkennen.
    Sofern beide Seiten das gleiche Schutzniveau haben, ist dies halbwegs unproblematisch. Wenn das Schutzniveau allerdings unterschiedlich ist, besteht durchaus die Gefahr, dass Standards nach unten angeglichen (und damit abgesenkt) werden. Dass dies nicht passieren werde, wie Gabriel oben schreibt und wie auch andere immer wieder behaupten, kann man glauben oder auch nicht.

    Darüber hinaus werden oft sogar Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards schlechthin als Handelshemmnisse angesehen – meist mit der Begründung, diese seien unnötig und dienten alleine dem Zweck, ausländischen Unternehmen den Zugang zum Markt zu verwehren. Tatsächlich können sie den grenzüberschreitenden Handel von Waren und Dienstleistungen erschweren, weshalb die Forderung nach Absenkung dieser Standards zu einer Hauptforderung der Unternehmenslobby in Sachen TTIP geworden ist.
    Die Spielzeugproduzenten beider Kontinente etwa fordern, die höheren europäischen Standards bei Spielzeugen einer kritischen Prüfung anhand wissenschaftlich-objektiver Kriterien zu unterwerfen; umgekehrt wünschen die europäischen Rohmilchkäse-Produzenten einen Zugang zum US-Markt, der ihnen heute aus hygienischen Gründen versagt ist.

    Ähnliches bei Sozialstandards: So ist es in der Freihandelszone “Europäischer Binnenmarkt” heute beispielsweise nicht mehr möglich, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Tarifbindung vorzuschreiben, wenn die Tarifverträge nicht Gesetzescharakter haben (also allgemeinverbindlich sind). Der Grund: Die Einhaltung von Tarifverträgen ist für ausländische Unternehmen schwieriger umzusetzen als für inländische, insofern würden ausländische Unternehmen benachteiligt, wenn Tarifbindung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vorgeschrieben wird. So legen es jedenfalls die Freihandelslogiken nahe, die dem Europäischen Binnenmarkt wie auch klassischen Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) zu Grunde liegen.

    Die Gefahr der Absenkung von Standards durch Freihandelsabkommen ist also real. Über all das verliert Gabriel in seinem Mitgliederbrief allerdings kein Wort – von oberflächlichen Bekundungen abgesehen, dass er Standards nicht absenken wolle. Der Begriff der “anderen Handelsbarrieren” hätte da durchaus einige Anmerkungen verdient gehabt.

    Stattdessen bringt Gabriel das standortnationalistische Argument der Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ins Spiel. Eine Erklärung, weshalb eine weitere Liberalisierung des transatlantischen Handels notwendig und nützlich sein soll, bleibt er dabei allerdings ebenso schuldig wie eine ökonomische Erklärung für den behaupteten Zusammenhang zwischen Handelsliberalisierung und Arbeitsplätzen.
    Mehr als unbegründete Allgemeinplätze (“natürliche[s] Interesse”, “Millionen Arbeitsplätze hängen…”) hat er nicht zu bieten. Nicht zuletzt die zweifelhaften ökonomischen Studien über angebliche positive Effekte eines TTIP-Abkommens lassen Skepsis gegenüber seinen Ausführungen berechtigt erscheinen.
    Von der Fragwürdigkeit des von Gabriel gefeierten deutschen Exportwahns ganz abgesehen.

    Danach haben wir auf der Grundlage einer Vereinbarung mit dem DGB auf unserem Parteikonvent beschlossen, dass wir grundsätzlich die geplanten Freihandelsabkommen begrüßen – allerdings nicht um jeden Preis. Vor allem ist für SPD und DGB wichtig:

    Der Verweis auf das gemeinsame Papier seines Ministeriums (und indirekt der SPD) mit dem DGB soll den Eindruck erwecken, dass SPD und DGB in der Frage der Freihandelsabkommen gemeinsame Positionen vertreten. Allerdings bleibt Gabriels Bezug auf das Papier oberflächlich, selektiv und unvollständig, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Nur durch diese selektive und unvollständige Wiedergabe gelingt es Gabriel, den Eindruck gemeinsamer Positionen beider Organisationen zu wecken.

    • dass die Verhandlungen endlich transparent und für alle Bürgerinnen und Bürger Europas nachvollziehbar geführt werden,

    Das Thema der Transparenz ist in der Tat Bestandteil des Papiers, allerdings nur einer von vielen und gewiss nicht der wichtigste. Dass Gabriel gleich zu Beginn seiner Aufzählung von Inhalten des SPD-DGB-Papiers hierüber spricht, kann getrost als Ablenkungsmanöver gelten.

    • dass die geplanten Freihandelsabkommen keine sozialen, ökologischen oder kulturellen Standards gefährden dürfen, dass weitere Verbesserungen dieser Normen möglich sein müssen und dass die Entscheidungsfreiheit regionaler Körperschaften über die öffentliche Daseinsvorsorge unberührt bleibt,

    Wenn Gabriel schreibt, er wolle, dass “weitere Verbesserungen dieser Normen möglich sein müssen”, dann wirft er eine Nebelkerze. Denn in den allerwenigsten Fällen wird ein Freihandelsabkommen explizit vorschreiben, dass “Normen” nicht weiter “verbessert” werden dürfen. (Wobei sich im Einzelfall ohnehin die Frage stellt, was mit “Verbesserungen” gemeint ist.) Die realen Gefahren sehen anders aus:

    • Erstens besteht die Gefahr, dass Freihandelsabkommen Möglichkeiten der Regulierung einschränken, etwa der Regulierung von Finanzmärkten oder von Produktmärkten. Dies muss nicht explizit mit einem Verbot einhergehen, “Normen” zu “verbessern”.
    • Zweitens führen Freihandelsabkommen zu verstärkter Konkurrenz zwischen den Unternehmen der beteiligten Länder. Hier besteht die Gefahr, dass höhere Standards in einem Land zu Nachteilen gegenüber anderen Ländern führen. Um “Wettbewerbsfähigkeit” wiederzuerlangen, werden Staaten dann von sich aus Normen absenken oder zumindest nicht weiter erhöhen. Dies geschieht bei arbeits- und sozialrechtlichen Normen derzeit etwa in Südeuropa (in Griechenland jetzt nicht mehr), und es geschah vor 10-15 Jahren unter Rot-Grün in Deutschland. Das SPD-DGB-Papier spricht die Gefahr eines Dumping-Wettbewerbs in Punkt 3 durchaus offen an, Gabriel aber schweigt sich in seinem Mitgliederbrief darüber aus. Mehr noch: Im SPD-DGB-Papier wird sogar gefordert, dass Freihandelsabkommen dazu beitragen sollen, “Mitbestimmungsrechte, Arbeits-, Gesundheits- und Verbraucherschutz- sowie Sozial- und Umweltstandards zu verbessern”. Gabriel aber stellt es so dar, als müsse es laut SPD und DGB lediglich möglich bleiben, Normen weiter zu verbessern. Er bleibt damit weit hinter dem zurück, was tatsächlich in dem Papier steht.

    Was Gabriel darüber hinaus auch hätte schreiben können und vielleicht müssen: Im DGB-Kongress-Beschluss zu TTIP wird gefordert, dass Arbeits- und Sozialstandards international auf höchstem Niveau einander angeglichen werden müssen. Diese Positionierung geht sogar noch einen Schritt über die Formulierung im SPD-DGB-Papier hinaus. Spätestens hier wird deutlich: In der Frage der Erhaltung/Setzung von Standards gibt es zwischen Gabriel und Gewerkschaften deutliche Differenzen, deren Darstellung Gabriel nur umschiffen kann, indem er entscheidende Sachverhalte schlicht verschweigt.

    Eine weitere kurze Bemerkung: Wenig beruhigend klingt es auch, wenn Gabriel schreibt, dass die “Entscheidungsfreiheit regionaler Körperschaften über die öffentliche Daseinsvorsorge unberührt” bleiben müsse. Denn erstens ist diese Formulierung schwammig. Zweitens und vor allem aber findet öffentliche Daseinsvorsorge nicht nur auf regionaler Ebene statt, sondern auch auf Bundesebene.
    Gabriels Formulierung schließt damit insbesondere eine unwiderrufliche Liberalisierung des Bahnverkehrs durch Freihandelsabkommen nicht aus.

    • dass beide Vertragspartner sich verpflichten sollen, internationale Übereinkünfte und Normen in den Bereichen Umwelt, Arbeit und Verbraucherschutz zu beachten und umzusetzen – insbesondere die ILO-Kernarbeitsnormen, auf deren Einhaltung im Rahmen von EU-Handelsabkommen auch der Koalitionsvertrag verweist,

    Hier gilt, was eben schon angesprochen wurde: Zwar gibt es Passagen im SPD-DGB-Papier, die diese Formulierungen Gabriels rechtfertigen. Es gibt aber eben auch Passagen, in denen weitergehende Forderungen erhoben werden – und die bleibt Gabriel schuldig.

    • dass die europäischen oder nationalen demokratischen Willensbildungsprozesse und Entscheidungen in Parlamenten und Regierungen durch die Freihandelsabkommen weder direkt noch indirekt eingeschränkt werden dürfen,

    Das SPD-DGB-Positionspapier ist auch hier konkreter und weitergehender, als Gabriel es wiedergibt. Unter Punkt 8 heißt es dort: “Die Fähigkeit von Parlamenten und Regierungen, Gesetze und Regeln zum Schutz und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu erlassen, darf auch nicht durch die Schaffung eines ‘Regulierungsrates’ im Kontext regulatorischer Kooperation oder durch weitgehende Investitionsschutzvorschriften erschwert werden.”

    • Das SPD-DGB-Papier nennt explizit einen “Regulierungsrat” sowie “Investitionsschutzvorschriften” als Mechanismen, durch die die genannten demokratischen Entscheidungen erschwert werden. Gabriel verschweigt dies – denn wenn er sie nennen würde, müsste er sie ablehnen. Dann hätte er sie als rote Linien ebenso benannt, wie sie im SPD-DGB-Papier als rote Linien benannt sind. Das möchte er offenbar nicht.
    • Das SPD-DGB-Papier spricht davon, dass demokratische Entscheidungen nicht “erschwert” werden dürfen, Gabriel aber will sie lediglich nicht “einschränken”. Etwas zu “erschweren”, bedeutet nicht, etwas ganz oder teilweise unmöglich zu machen. Etwas “einzuschränken” aber bedeutet genau das. Man kann Handlungen “erschweren”, ohne sie im Wortsinne “einzuschränken”. Damit schwächt Gabriel einmal mehr die Aussage des SPD-DGB-Papiers ab. Dies ist keineswegs zu vernachlässigen.
      Ein Beispiel: Ein Regulierungsrat oder Investitionsschutzvorschriften können sehr wohl das Handeln von Parlamenten und Regierungen erschweren, etwa, wenn bestimmte Gesetze oder Vorhaben zunächst auf ihre Notwendigkeit und Angemessenheit geprüft werden müssen. Das bedeutet noch nicht, dass das Handeln auch tatsächlich eingeschränkt würde.
    • dass die Gleichbehandlung von inländischen und ausländischen Investitionen und Investoren durch die ganz normalen verfassungsmäßig verbrieften Rechte und den demokratischen Rechtsstaat gesichert werden und wir im Rahmen der Verträge keine Investor-Staat-Schiedsverfahren einführen wollen. Wir entwickeln rechtsstaatliche Alternativen zu den bislang geplanten Schiedsgerichten. z.B. die Berufung oberer Bundesrichter oder die Einrichtung eines echten zwischenstaatlichen Handelsgerichtshofs zur Entscheidung über Handelsstreitigkeiten.

    Hier widerspricht sich Gabriel wohl selbst. Im ersten Satz schreibt er, er wolle “im Rahmen der Verträge keine Investor-Staat-Schiedsverfahren” einführen. Im zweiten Satz aber möchte er “Alternativen zu den bislang geplanten Schiedsgerichten” entwickeln. Gabriel würde sich nur dann nicht widersprechen, wenn solche “Alternativen” außerhalb der Freihandelsverträge verankert würden. Von entsprechenden Verhandlungen und Plänen aber ist bislang nichts bekannt.
    Im Gegenteil: In CETA, das schon ausverhandelt ist, soll es Schiedsverfahren geben, die direkt in den Verträgen geregelt sind. Zumindest bezogen auf CETA spricht Gabriel damit die Unwahrheit. Und da TTIP sich an CETA orientieren dürfte, wohl auch für TTIP.

    Möglicherweise versucht Gabriel hier lediglich, so zu argumentieren, wie es auch die Europäische Kommission tut: Man kritisiert “alte” Investor-Staat-Schiedsverfahren und gibt als Ziel aus, in jüngeren Freihandelsabkommen “neue” und “bessere” Verfahren zu etablieren. (Sollte Gabriel so argumentieren wollen, so würden sich sein Satz 1 und sein Satz 2 allerdings nach wie vor widersprechen.) Diese “neuen” Verfahren sollen beispielsweise Berufungsmöglichkeiten und Transparenz vorsehen, auf klareren Formulierungen beruhen und bisherige Interessenkonflikte der handelnden Akteure beenden. Sie beheben also ein paar Schwächen der bisherigen Verfahren – ein paar jener Schwächen, deretwegen die Investor-Staat-Schiedsverfahren zu Recht immer wieder in der Kritik stehen.
    Allerdings wird auch mit diesen “besseren” Verfahren eine Gerichtsbarkeit außerhalb des Rechtsstaats etabliert, die undemokratisch und rechtsstaatlich fragwürdig ist.

    In jedem Fall tut Gabriel so, als sei diese Positionierung Bestandteil des SPD-DGB-Papiers. Dies ist sie aber nicht, denn dort heißt es unmissverständlich: “Investitionsschutzvorschriften sind in einem Abkommen zwischen den USA und der EU grundsätzlich nicht erforderlich und sollten nicht mit TTIP eingeführt werden. In jedem Fall sind Investor-Staat-Schiedsverfahren […] abzulehnen.” Einmal mehr gibt Gabriel Inhalte des Papiers unzutreffend, abgeschwächt und im eigenen Sinne wieder.

    Exakt auf dieser Linie versuchen die sozialdemokratischen Mitglieder der Bundesregierung und das SPD-geführte Bundeswirtschaftsministerium auf die Verhandlungen der Europäischen Kommission Einfluss zu nehmen. Außerdem haben wir einen nationalen Beirat zu den Verhandlungen auf europäischer Ebene eingerichtet, bei dem die Verbände und Organisationen von Wirtschaft, Gewerkschaften, Kultur, dem Umwelt- und Sozialbereich und dem Verbraucherschutz vertreten sind und regelmäßig informiert werden.

    Fragt sich, weshalb Gabriel hier einerseits die Europäische Kommission, andererseits die Zivilgesellschaft (über den genannten Beirat) als Zielobjekt sozialdemokratischer Einflussnahme/Information nennt. Offenbar beansprucht er für die Sozialdemokratie, eine dritte Position zu vertreten – einerseits etwas reflektierter als die Kommission, aber andererseits auch weniger freihandelskritisch als viele Akteure der Zivilgesellschaft.
    Immerhin macht er damit deutlich, dass die SPD nicht jene vertritt, die Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA ablehnen. Dies gilt umso mehr, als Gabriel die Akteure der Zivilgesellschaft in seinem Beirat lediglich “informieren” möchte, was umgekehrt bedeutet, dass er sich nicht auf deren Argumente einzulassen beabsichtigt. Genau dies haben einige Mitglieder des Beirats jüngst in einem Brandbrief kritisiert.

    Vor diesem Hintergrund habe ich bereits deutlich gemacht: Auch wenn der Teil zum Investorenschutz in CETA gegenüber vorherigen Abkommen erhebliche Fortschritte an Transparenz enthält, halte ich die Zeit noch nicht für reif, CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen.

    Gabriel schreibt hier explizit nicht, dass er CETA nicht zustimmen wird. Denn wenn “die Zeit noch nicht […] reif” ist, um “CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen”, so bedeutet dies, dass die Zeit irgendwann durchaus reif sein kann oder wird, um “CETA nach jetzigem Stand zuzustimmen”.
    Dies entspricht auch der Position, die Gabriel Ende November 2014 im Bundestag geäußert hat und die von Medien und Verbänden zu Recht als Umfallen gewertet wurde (die Rede ist oben schon zitiert).

    Unser Ziel ist, weitere Verbesserungen zu erreichen.

    Man mag Gabriel glauben, dass er sich bemüht, “Verbesserungen” zu erreichen. Wird die SPD aber gegen das Abkommen stimmen, wenn diese Verbesserungen nicht erreicht werden? Und genügen die Verbesserungen, die Gabriel anstrebt, damit das Abkommen akzeptabel wird? Die voranstehenden Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass beide Fragen mit “Nein” zu beantworten sind. Auch, weil Gabriel an keiner Stelle gewillt ist, rote Linien zu formulieren und auch, weil er die im SPD-DGB-Papier benannten roten Linien verschweigt oder abschwächt.

    Was wir nicht für richtig halten, ist der von manchen öffentlichen Kritikern der Freihandelsabkommen geforderte Abbruch der Verhandlungen.

    Gabriel scheint es wichtig zu sein, eine Nähe seiner eigenen Person und seiner Partei zu den Gewerkschaften zu suggerieren. Dies wird an mehreren Stellen des Mitgliederbriefs deutlich. Vermutlich deshalb verschweigt er, dass der von ihm abgelehnte, “von manchen öffentlichen Kritikern der Freihandelsabkommen geforderte Abbruch der Verhandlungen” auch von den Gewerkschaften gefordert wird. Der DGB-Kongress-Beschluss aus 2014 ist da schon im Titel eindeutig: “Freihandelsverhandlungen mit den USA aussetzen”.

    Denn letztlich geht es bei den Freihandelsabkommen um die Regeln der Globalisierung. Nach dem Scheitern weltweiter Handelsstandards in der Welthandelsorganisation (WTO) versuchen jetzt die großen Wirtschaftsräume die politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Standards im Welthandel zu beeinflussen. Die Verlagerung der Zentren der Weltwirtschaft nach Asien und China setzen Europa unter Druck. Während bei uns die Bevölkerung und das Wirtschaftswachstum abnehmen und die sozialen und ökologischen Standards hoch sind, ist es im Asien-Pazifik-Raum eher umgekehrt. Noch sind die USA und Europa die größten Handelsräume, aber man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass wir diese Stellung nicht auf Dauer haben werden. Die Standards des Welthandels – auch die ökologischen und sozialen – werden in Zukunft weit mehr durch die Asien-Pazifik-Region bestimmt werden als durch Europa oder Deutschland. Im Grunde stehen wir vor der Alternative: Schaffen wir Europäer es, die politischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Standards im Welthandel mit zu bestimmen, oder werden wir uns in absehbarer Zeit an die Standards anderer anpassen müssen?

    Wir setzen darauf, dass auch in den rasant wachsenden Schwellenländern und den neuen globalen Wirtschaftsmächten das Bedürfnis zunimmt, soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung zu bekämpfen. Europa hat mit seinen eigenen Standards dabei etwas anzubieten. Doch der Erfolg hängt davon ab, ob wir unseren politischen Einfluss aktiv zur Geltung bringen.

    In den eben zitierten Passagen erweckt Gabriel den Eindruck, dass Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP dazu dienten, soziale und ökologische Standards zu sichern und weltweit zu verbreiten. Dies ist eine oft vorgetragene Behauptung der FreihandelsbefürworterInnen, die aber nicht dadurch richtiger wird, dass man sie immer wieder wiederholt.
    Da in Freihandelsabkommen allenfalls Mindeststandards festgeschrieben werden, und auch die nur unzureichend und unverbindlich, können Freihandelsabkommen keine Standards systematisch sichern oder gar ausbauen. Im Gegenteil, sie gefährden sie aus den bekannten Gründen.
    Standards zu sichern, ist letztlich auch gar nicht die Aufgabe und gar nicht das Ziel solcher Abkommen. Das weiß Gabriel auch, weshalb er seine Ausführungen im Anschluss sogleich wieder relativiert:

    Als Sozialdemokraten wissen wir: Die Globalisierung und der Welthandel werden nicht von heute auf morgen Spielregeln entwickeln, die aus unserer Sicht wirklich sozial gerecht und ökologisch verantwortungsbewusst sind. So wie der soziale Fortschritt in Deutschland jahrzehntelang Schritt für Schritt und über viele Reformen hinweg erkämpft werden musste, wird es auch bei der demokratischen, sozialen und ökologischen Gestaltung der Globalisierung eines langen Atems bedürfen. Aber die Geschichte der SPD zeigt: Mut, Selbstbewusstsein und Optimismus lohnen sich. Und wegducken hat das Leben noch nie besser gemacht. Darum geht es auch jetzt wieder.

    Gabriel tut hier so, als seien soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene und auf globaler Ebene unabhängig voneinander, als existierten sie in Parallelwelten – denn während Globalisierung und Welthandel bei sozialen Standards hinterherhinkten, wie er schreibt, habe und behalte Deutschland seine Standards.
    Damit suggeriert Gabriel, dass Freihandelsabkommen und Globalisierung die sozialen Errungenschaften auf nationaler Ebene nicht gefährdeten. Diese Annahme ist falsch: Erstens können Freihandelsabkommen direkten Druck auf soziale Standards ausüben. Zweitens setzen niedrigere Standards in manchen Ländern diejenigen Länder unter Druck, die höhere Standards haben – denn Arbeitsrechte, Sozialleistungen und ähnliches kosten die Unternehmen Geld und sind damit Wettbewerbsnachteile. Es braucht vor diesem Hintergrund soziale Errungenschaften auf globaler Ebene gerade deshalb, weil andernfalls soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene unter Druck geraten.
    Damit aber muss die Reihenfolge umgekehrt werden: Nicht zuerst klassische Freihandelsabkommen und Globalisierung einführen in der Hoffnung, globale soziale Standards würden später folgen, sondern Höchststandards für alle beteiligten Länder vom Beginn an. Freihandelsabkommen, die dies nicht gewährleisten, sind abzulehnen.

    Davon abgesehen, sei auch auf die Geschichtsvergessenheit dieser Gabrielschen Formulierungen hingewiesen. Denn nicht nur durch “Reformen”, wie er schreibt, sondern auch und vor allem durch Revolutionen, Proteste und Streiks wurde der “soziale Fortschritt” in Deutschland erreicht. Er wurde erkämpft. Und zwar gegen die herrschenden Eliten. Proteste und Streiks aber scheinen für Gabriel im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr stattzufinden oder nicht mehr notwendig zu sein. Gabriel suggeriert, dass die in Nationalstaaten hart erkämpften sozialen Errungenschaften durch die Sozialdemokratie auf globaler Ebene in Freihandelsverträgen erreicht werden können und sollen. Das ist an Selbstüberschätzung kaum mehr zu überbieten. Das Gegenteil ist wohl eher wahr: Die SPD ist längst Teil der Eliten, und gegen diese SPD müssen soziale Errungenschaften – auch durch Proteste und Streiks – auf globaler Ebene erkämpft sowie auf nationaler Ebene verteidigt werden.

  2. Fazit Gabriel schreibt seinen SPD-Mitgliedern eine E-Mail, die von taktischer Wortwahl und unverbindlichen Inhalten geprägt ist.
    Sein Ziel ist es, Zustimmung zu Freihandelsabkommen – TTIP, CETA – zu gewinnen. Um dies zu erreichen und um sich an einigen Punkten zugleich nicht zu sehr festzulegen, lässt Gabriel manches weg, was er der Ehrlichkeit und Vollständigkeit halber hätte erwähnen müssen. Er arbeitet mit Halbwahrheiten, Allgemeinplätzen und Auslassungen.
    Im Ergebnis

    • spielt Gabriel die Gefahren herunter, die von Freihandelsabkommen ausgehen, und
    • suggeriert er eine Nähe zwischen sich, der SPD und den Gewerkschaften, die in dieser Frage bei Weitem nicht existiert.

Mein Fazit: Wer in der SPD sich noch als Sozialdemokrat versteht, soll bitte auf den Barrikaden gegen TTIP, TISA u.s.w. bleiben und das Gabriel und denen, die ihn bezahlen, unmissverständlich mitteilen!

Vergleiche dazu auch meine bisherigen Beiträge vom Dezember 2014:

https://josopon.wordpress.com/2014/12/04/transparenz-versus-ttip-nebelkerzen-der-eu-kommission-und-der-bundesregierung/

https://josopon.wordpress.com/2014/12/04/nochmal-zur-erinnerung-ttip-gefahrdet-hunderttausende-jobs/

Jochen