Die moderne Firma ist eine Diktatur

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Das haben meine Patienten schon lange so erlebt:
https://www.zeit.de/arbeit/2019-02/elizabeth-anderson-unternehmenskultur-egalitarismus-diktatur
Dort auch wichtige Kommentare.
Wir leben in einer Demokratie und verlassen sie jeden Tag, wenn wir ins Büro gehen: Die Philosophin Elizabeth Anderson prangert die Arbeitswelt als Tyrannei an.
Interview: Bernd Kramer 14. Februar 2019, 13:26 Uhr

Auszüge:
ZEIT ONLINE:
Frau Anderson, leben wir in einer Diktatur?

Elizabeth Anderson:
Die meisten Amerikaner leben unter der Diktatur ihrer Arbeitgeber. Denken Sie an die #MeToo-Bewegung, die gezeigt hat, wie verbreitet sexuelle Belästigung im Büro ist. Für mich ist das aber nur die Spitze des Eisberges. Arbeitnehmer erleben am Arbeitsplatz alle möglichen Arten willkürlicher und ihre Würde verletzender Behandlungen.
In Europa mögen Arbeitnehmer besser geschützt sein, aber auch da gibt es sehr verletzbare Gruppen, die leicht zum Opfer werden können, etwa Zeitarbeiter.
Die moderne Firma ist eine Diktatur, eine private Regierung einiger weniger, die nicht gewählt sind, über viele, die keine Mitsprache haben.

ZEIT ONLINE: Aber ein Unternehmen ist etwas anderes als ein Staat. Führt der Vergleich nicht in die Irre?

Anderson: Sicher gibt es Unterschiede. Arbeitgeber können ihre Angestellten ganz offensichtlich nicht wie der Staat ins Gefängnis werfen.
Nichtsdestotrotz: Wir müssen verstehen, dass jede Organisation, die die Aktivitäten ihrer Mitglieder zu koordinieren hat, dafür eine Form der Regierung braucht.
Diese Regierung hat wie jede Regierung eine Verfassung, die demokratisch sein kann oder eben autoritär. Die meisten Firmen tendieren zu einer autoritären Verfassung.

ZEIT ONLINE: Mitarbeiter können immerhin kündigen, wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden sind.

Anderson: Es ist definitiv einfacher, ein Unternehmen zu verlassen als ein Land. Aber das allein reicht nicht aus, um die Rechte der Mitglieder einer autoritären Organisation abzusichern.
Denken Sie an die folgende Situation: Vor dem Ende des Kommunismus gab es innerhalb des Ostblockes zwar die Reisefreiheit. Wer emigrieren wollte, hatte damit aber ausschließlich die Wahl zwischen anderen kommunistischen Diktaturen.
Bei Unternehmen ist es ähnlich. Es gibt in den USA nur sehr wenige wirklich demokratische Firmen, in denen Mitarbeiter das Sagen haben oder zumindest umfangreiche Mitsprache. Die realistischen Exit-Optionen für die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind andere Diktaturen.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir auf der Arbeit gewohnt sind, Dinge zu akzeptieren, die wir einem Staat niemals durchgehen lassen würden.

Anderson: Eine Firma hat selbstverständlich andere Anforderungen zu erfüllen als ein Staat. Die Arbeit der Angestellten muss so koordiniert werden, dass ein bestimmtes Produktionsergebnis oder eine bestimmte Dienstleistung erreicht wird.
Der Staat muss seine Bürger nicht für einen bestimmten Zweck koordinieren. Er muss im Wesentlichen die Freiheit der Bürger sicherstellen und dafür sorgen, dass sie einander nicht auf die Füße treten. Vieles läuft daher sehr indirekt.
Für das, was der Staat leistet, muss er nicht das Leben der Menschen acht Stunden am Tag engmaschig dominieren. Der Staat kann es sich also leisten, mit vergleichsweise sanften Eingriffen vorzugehen.

ZEIT ONLINE: Arbeitgeber nicht?

Anderson: Ihre Befugnisse über die Angestellten sind in der Regel weniger klar definiert und umfassender. Effiziente Arbeitsverträge sind unvollständig, sie spezifizieren nicht alles genau, was von einem Arbeitnehmer vielleicht einmal verlangt wird.
Während der Produktion können alle Arten von Eventualitäten auftreten, die nicht vorherzusehen sind und daher auch nicht im Detail im Arbeitsvertrag geregelt sind. Aber mit dieser Macht geht die Möglichkeit des Missbrauchs einher. Bosse können ihren Angestellten leicht alle möglichen Arten von Befehlen geben – selbst solche, die mit der eigentlichen Arbeit nicht mehr viel zu tun haben oder demütigend sind.

ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?

Anderson: In den Schlachtbetrieben in den USA arbeiten oft Immigranten, die kaum Englisch sprechen und einfach nur glücklich sind, einen Job zu haben. Eine sehr leicht ausbeutbare Gruppe. Einige Betriebe verboten den Schlachtarbeitern, während der Schichten die Toiletten zu benutzen. Die Arbeiter waren also gezwungen, in Windeln zum Dienst zu kommen. Das verletzt ihre Würde.

ZEIT ONLINE: Was Unternehmen dürfen, wird vom Staat reguliert – und der ist zumindest bei uns demokratisch. Sind diese Diktaturen damit nicht doch in irgendeiner Weise legitimiert?

Anderson: Es reicht nicht, dass wir Demokratie über der Unternehmensebene haben. Die staatlichen Behörden haben nur sehr begrenzte Kontrollmöglichkeiten in einem Land mit Tausenden und Abertausenden Firmen. Die Arbeitswelt ist so vielfältig und fragmentiert, dass die Arbeiterinnen innerhalb einer Firma eine Stimme brauchen. Zumindest in den USA ist das aber äußerst selten der Fall.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben: „Viele Geschäftsführer amerikanischer Firmen, die sich selbst für libertäre Individualisten halten, wären überrascht, sich als Diktatoren einer kleinen kommunistischen Regierung geschildert zu sehen.“ Wie kommt es, dass wir die Tyrannei am Arbeitsplatz übersehen? Warum reden wir, wie es in ihrem Buch heißt, so selten davon, wie die Bosse unser Leben beherrschen?

Anderson: Weil wir eine Idee freier Märkte bewahrt haben, die aus einer Zeit stammt, die mit der heutigen nicht zu vergleichen ist. Wir pflegen einen Liberalismus, der ein Überbleibsel einer früheren Ära ist und uns für die Gegenwart blind macht.
Für Adam Smith und andere Vordenker war der freie Markt ein Befreiungsprojekt, das sich gegen den Obrigkeitsstaat, Leibeigenschaft und das Monopol der Zünfte richtete. Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, wirtschaftlich selbstständig zu werden.
Sein eigener Boss zu sein – das war das Versprechen des freien Marktes, nicht Lohnarbeit. Abraham Lincoln sagte einmal, wer sein Leben lang ein abhängiger Arbeiter bleibt, der habe auch einen irgendwie defekten, einen abhängigen Charakter.
Amerika fußt auf dem Traum universeller Selbstständigkeit. Die Amerikaner sollten ein Volk kleiner Farmer, Handwerker und Gewerbetreibender sein.
Eine Angestelltenexistenz war in diesem Gründungsmythos eigentlich nie vorgesehen.

ZEIT ONLINE: Sie gehen sogar so weit zu sagen, der freie Markt war einmal eine linke Idee.

Anderson: Absolut. Eine Gesellschaft selbstständiger Kleinunternehmer ist das Idealbild einer Gesellschaft von Gleichen. Niemand hat einem Boss zu gehorchen.
Auf dem Markt begegnen sich alle auf Augenhöhe.

„Richtet man den Fokus nur auf den Moment, in dem der Arbeiter und der Arbeitgeber den Vertrag unterzeichnen, erscheint es wie ein Geschäft unter Freien und Gleichen.“

ZEIT ONLINE: Warum ist davon so wenig geblieben?

Anderson: Die industrielle Revolution hat die Idee untergraben. Für Adam Smith als Vater des Wirtschaftsliberalismus war es noch unvorstellbar, dass es effizient sein könnte, bestimmte Waren im großen Stil und mit einer riesigen Armee abhängiger Arbeiter zu produzieren. Die Nadelfabrik, die er im Wohlstand der Nationen beschreibt, hat gerade einmal zehn Beschäftigte.
Mit der Industrialisierung konzentrierte sich die Produktion in Großunternehmen, die wirtschaftliche Selbstständigkeit wurde damit für viele unerreichbar.
Das hat sich allerdings nicht ausreichend in unseren politischen Diskursen abgebildet. Wir reden heute von freien Märkten wie zu Smiths Zeiten und übersehen dabei, was wirklich vor sich geht.
Die politische Rhetorik kennt immer nur zwei Alternativen: den freien Markt und die staatliche Kontrolle. Die Firma kommt kaum vor.
Dieses Bild verdeckt, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht dieser kleinen privaten Regierungen verbringen.

ZEIT ONLINE: Müssten Sie als Egalitaristin sich nicht über die aufkeimende Gig Economy freuen? Statt Mitarbeiter anzustellen, verlassen sichUnternehmen wie Uberoder Amazon Flex auf Freelancer.

Anderson: Die Gig Economy schafft in meinen Augen lediglich ein neues Prekariat.

ZEIT ONLINE: Aber immerhin eines aus lauter Selbstständigen.

Anderson: Rein formell sind diese Menschen vielleicht selbstständig. In Wahrheit sagt ihnen der Arbeitgeber aber oft sehr genau, wie sie ihren Job zu machen haben.

ZEIT ONLINE: Ein großer Teil der Solo-Selbstständigen wäre ja tatsächlich lieber angestellt. So diktatorisch kann die Unternehmenswelt offenbar nicht sein, wenn viele dafür so bereitwillig ihre Freiheit aufgeben.

Anderson: Ein Angestelltendasein hat selbstverständlich Vorzüge, weil der Arbeitgeber sich zum Beispiel an den Kosten für die Sozialversicherung beteiligt.
Wenn das Leben als Selbstständiger prekär ist, ist die Diktatur nun einmal die attraktivere Alternative. Trotzdem bleibt sie eine Diktatur.

ZEIT ONLINE: Vielleicht taugt die Selbstständigkeit schlicht nicht als das linke Ideal, an das Sie in Ihrem Buch erinnern wollen. Statt der Diktatur eines Chefs wären die Menschen dem Markt ausgeliefert, der ebenfalls willkürlich, ungerecht und unvorhersehbar sein kann – kurz: im Ergebnis auch ziemlich diktatorisch.

Anderson: Ich befürworte nicht blind die ursprüngliche vorindustrielle Vision freier Märkte. Sie hat zweifellos viele Fehler. Eine vollkommen unregulierte Marktwirtschaft würde auch für viele kleine Selbstständige eine prekäre Situation bedeuten.
Damit Kleinbauern durch eine Missernte nicht in den Ruin getrieben werden, bräuchte es eine Absicherung. Der Staat müsste in einer Gesellschaft der Selbstständigen für Sicherheit und einen stabilen wirtschaftlichen Rahmen sorgen.
Umgekehrt verdamme ich auch nicht grundsätzlich die Arbeit als Angestellter in einem Unternehmen. Viele Menschen arbeiten gerne mit Kollegen zusammen und wünschen sich stabile soziale Beziehungen, sie wollen nicht heute Aufträge für diesen und morgen für jenen machen.
Und es gibt viele gute Gründe, eine Volkswirtschaft in Unternehmen zu organisieren.

ZEIT ONLINE: Muss man es nicht einfach als Tausch betrachten? Menschen arbeiten bereitwillig unter der Kontrolle eines anderen, dafür sind sie geschützt gegen die ständigen Unwägbarkeiten und Launen des Marktes.

Anderson: Ja, aber wie weit geht dieser Tausch? Wie viel Macht muss einem Chef dafür zugebilligt werden?

ZEIT ONLINE: Ökonomisch geantwortet: Je mehr er mir bezahlt, desto mehr Macht darf mein Chef im Gegenzug über mich ausüben.

Anderson: Und warum beobachten wir dann das Gegenteil? Je mehr Macht Unternehmen über einen Mitarbeiter ausüben kann, desto schlechter ist im Prinzip auch die Bezahlung.
Die Machtposition des Arbeitgebers drückt beides: den Lohn und die Freiheit der Angestellten. In der Praxis gibt es kein Entweder-oder.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie die Tyrannei am Arbeitsplatz eindämmen wollen?

Anderson: Für Amerika wäre es an der Zeit, etwas von Ihnen in Deutschland zu lernen. Eine Form gemeinsamen Managements von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wie im deutschen Modell der Mitbestimmung halte ich für sehr sinnvoll.

ZEIT ONLINE: Der Anteil der Unternehmen mit einem Betriebsrat sinkt hierzulande aber, 2000 waren es 17, inzwischen sind es nur noch 9 Prozent.
Die Demokratie am Arbeitsplatz scheint eine ziemlich brüchige Sache zu sein, nicht nur in den USA.

Anderson: Ich glaube, aus der Geschichte des Egalitarismus kann man eine allgemeine Lehre ziehen: Die Bewegungen für mehr Gleichheiten kommen sehr oft nur in kleinen Schüben, die schnell wieder verebben. Es braucht eine Graswurzelbewegung, und deren Engagement aufrechtzuerhalten, kostet enorm viel Kraft und Mühe. Lässt die Aufmerksamkeit nach, haben Arbeitgeber es leicht, sich politisch zu organisieren und ihre Macht zurückzugewinnen.

Elizabeth Anderson: Elizabeth Anderson, Jahrgang 1959, ist Sozialphilosophin und lehrt an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Im Suhrkamp Verlag ist dieser Tage erschienen: "Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)".
Elizabeth Anderson, Jahrgang 1959, ist Sozialphilosophin und lehrt an der Universität von Michigan in Ann Arbor.
Im Suhrkamp Verlag ist dieser Tage erschienen: „Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)“. © privat

 

Jochen

Sozialismus auf Amerikanisch: Bernie Sanders und Wirtschaftspolitik für die Mittelschicht

Was in der EU und Deutschland so keine Entsprechung hat, bis auf J.Corbyn Großbritanniern – :Gute Übersicht hier:

http://www.flassbeck-economics.de/sozialismus-auf-amerikanisch-bernie-sanders-und-wirtschaftspolitik-fuer-die-mittelschicht/

BernieSandersAuszüge:

Amerika befindet sich im Wahlkampftrubel. Der neue Präsident wird zwar erst im November gewählt werden, aber der Wahlkampft ist bereits seit Monaten in Gang. Es geht in dieser Frühphase des politischen Wettbewerbs der Ideen zunächst um die Bestimmung der jeweiligen Spitzenkandidaten der beiden Parteien. Das geschieht in den sogenannten „primaries“ oder „caucuses“, Versammlungen, in denen die jeweiligen Parteianhänger der Republikaner und Demokraten in den einzelnen Bundestaaten ihre Präsidentschaftskandidaten bestimmen. Der Prozess begann am 1. Februar im Bundesstaat Iowa und wird sich bis Mitte Juni hinziehen (hier eine Übersicht).

Bei den Republikanern hat zurzeit der Immobilien- und Casino-Mogul Donald Trump die Nase vorn, der am 9. Februar im Bundesstaat New Hampshire einen deutlichen Sieg einfahren konnte. Bei den Demokraten dagegen hat der „einzige Sozialist im amerikanischen Kongress“, Bernie Sanders, Senator aus dem Bundestaat Vermont, einen Sieg mit rund 20 Prozentpunkten Abstand gegenüber Hillary Clinton errungen, die eigentlich innerhalb der Demokratischen Partei als haushoher Favorit ins Rennen gegangen war. Sie gilt aber auch weiterhin als Favorit. Noch viele Schlachten sind im weiten Land zu führen bis der Sieger, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, endlich ermittelt sein wird – um dann den eigentlichen Wettstreit um die Präsidentschaft führen zu dürfen. Doch die Popularität und das bisherige Abschneiden von Bernie Sanders überascht so manchen Beobachter. Noch vor wenigen Monaten hätte ihm das kaum jemand zugetraut. Sanders trat erst vor kurzer Zeit überhaupt wieder der Demokratischen Partei bei, um sich auf diesem Ticket als Präsident zu bewerben. Er war lange parteiunabhängig und galt für viele als so etwas wie ein unabhängiger sozialistischer Dinosaurier. Jetzt hat dieser einsame Sozialist die Einsamkeit verlassen, um Amerika zu verändern, genauer: um Fehlentwicklungen der letzten 40 Jahre umzukehren. Seine steigende Popularität unter liberalen Amerikanern deutet darauf hin, dass er mit diesem Wunsch vielleicht doch nicht ganz allein ist.

Noch viel krasser ist in der republikanischen Partei zu beobachten, dass sich die amerikanische Gesellschaft in beide Richtungen von der Mitte wegbewegt. Sowohl der frühere Präsident Bill Clinton als auch seine Ehefrau Hillary Clinton und auch der jetzige Präsident Barack Obama sind in der Mitte der Partei angesiedelt. Nach deutschen Maßstäben sind sie in meiner Wahrnehmung allesamt kaum links von Angela Merkel. Sanders dagegen ist Vertreter des linken Flügels der Demokraten. Aus Sicht der extrem Konservativen, welche die republikanische Partei heute beherrschen, wirkt es wohl so, als wolle sich damit schon wieder ein Satan, diesmal ein weißer Jude, um das Präsidentenamt bewerben.

In der Mitte der amerikanischen Gesellschaft scheint sich so einige Frustration angesammelt zu haben. Das ist eigentlich auch wenig verwunderlich, weil die Mittelschicht seit geraumer Zeit der klare Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklungen in Amerika ist. Gemehrt wird nicht mehr der Wohlstand der Nation, sondern in erster Linie Prunk und Vermögen der Mega-Reichen. Warum man rechts von der Mitte ausgerechnet bei einem Multi-Milliardär Segen sucht, dessen besondere Fähigkeit darin zu bestehen scheint, innerhalb von nur fünf Minuten fast den gesamten Rest der Menschheit, merkwürdiges „Englisch“ stammelnd, beleidigen zu können, das vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen. Zuflucht nach links sucht Amerika dagegen neuerdings bei einem „Sozialisten“ – oder zumindest bei einem, der von den Medien als solcher bezeichnet wird. Allerdings bezeichnet sich Bernie Sanders auch selbst als „demokratischer Sozialist“. Der Frust der schwindenden Mittelschicht – mit Drift nach links und rechts – ist dabei auch verbunden mit hochgradiger Frustration über das politische Establishment allgemein. Sowohl Trump als auch Sanders sind Ausdruck dieser Anti-Establishment Bewegung, während jemand wie Hillary Clinton natürlich auch als Sinnbild des Establishments angesehen wird. Sanders erfährt zwar zunehmenden Zuspruch innerhalb der Demokratischen Partei, aber insbesondere unter den „unabhängigen“ (parteilosen), die in Bundestaaten wie New Hampshire ebenfalls ihre Stimme zur Wahl des Spitzenkandidaten abgehen durften, hat Sanders die Favoritin Hillary Clinton klar ausstechen können.

Wofür steht dieser Bernie Sanders nun? Ich habe mir hierzu einmal sein Wahlkampfprogramm angeschaut, das auf seiner Webseite (hier) zu finden ist. Ich will mich hier auf einige seiner wirtschaftspolitischen Kernideen konzentrieren. Auf seiner Webseite findet man unter der Überschrift: Themen/Streitfragen folgende Einleitung:

„Das amerikanische Volk hat eine grundlegende Entscheidung zu treffen. Fahren wir einfach fort mit dem 40-jährigen Niedergang der Mittelschicht und der wachsenden Kluft zwischen den sehr Reichen und allen anderen, oder kämpfen wir für eine fortschrittliche wirtschaftspolitische Agenda, die Beschäftigung schafft, Löhne erhöht, die Umwelt schützt und ein Gesundheitswesen für alle bereit hält? Sind wir bereit dazu, uns der enormen wirtschaftlichen und politischen Macht der Milliardär-Klasse entgegenzustellen, oder sinken wir weiter in eine wirtschaftliche und politische Oligarchie? Dies sind die wichtigsten Fragen unserer Zeit, und die Antworten, die wir darauf geben, werden die Zukunft unseres Landes prägen.“ (“The American people must make a fundamental decision. Do we continue the 40-year decline of our middle class and the growing gap between the very rich and everyone else, or do we fight for a progressive economic agenda that creates jobs, raises wages, protects the environment and provides health care for all? Are we prepared to take on the enormous economic and political power of the billionaire class, or do we continue to slide into economic and political oligarchy? These are the most important questions of our time, and how we answer them will determine the future of our country.”)

Der Aufruf zum Angriff auf die krasse Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen in Amerika ist Nummer eins auf Sanders Liste: „Da läuft etwas zutiefst falsch, wenn eine einzige Familie so viel Vermögen besitzt wie 130 Millionen Amerikaner zusammen. Die Wirklichkeit ist, dass Wall Street und die Milliardär-Klasse 40 Jahre lang die Spielregeln gebogen haben, um Vermögen und Einkommen zu Gunsten der reichsten und mächtigsten Leute dieses Landes umzuverteilen.“(„There is something profoundly wrong when one family owns more wealth than the bottom 130 million Americans. The reality is that for the past 40 years, Wall Street and the billionaire class has rigged the rules to redistribute wealth and income to the wealthiest and most powerful people of this country.”)

Unter den Maßnahmen findet man u.a. folgende geplante Initiativen:

Reiche und Unternehmen sollen ihren fairen Anteil an Steuern leisten. Die Steuerflucht der Großunternehmen ins Ausland soll beendet werden. Eine progressive Erbschaftssteuer sowie eine spezielle Steuer für „Wall Street Spekulanten“ soll eingeführt werden. Der Mindestlohn soll bis 2020 auf $15 angehoben werden. In den nächsten fünf Jahren sollen Infrastrukturinvestitionen in Höhe von $1 Billion durchgeführt werden. Bestimmte Außenhandelsabkommen sollen aufgehoben werden, weil sie amerikanische Jobs kosten und für Lohndruck nach unten sorgen. Benachteiligte junge Amerikaner sollen durch Arbeitsprogramme unterstützt werden. Das Sozialversicherungs- und Gesundheitswesen sollen in mehrfacher Hinsicht ausgeweitet werden. Gewerkschaften sollen gestärkt werden. Große Finanzinstitutionen sollen zerschlagen werden, um das „too big to fail“ Problem zu lösen.

Diese Positionen werden dann mit etwas mehr Details unterfüttert. Weibliche Wähler spricht Sanders vor allem dadurch an, dass er das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ betont und die schlechtere Bezahlung weiblicher Arbeitnehmer beständig zum Thema macht. Besonders unter jungen Wählern schneidet Sanders im Vergleich zu Hillary Clinton deutlich besser ab. Sein Programm betont das Ziel der Senkung von Studiengebühren und Studienkrediten. Das Studium an öffentlichen Colleges und Universitäten soll kostenlos werden. Studienkredite sollen billiger und Stipendien großzügiger werden. Zur Finanzierung ist hierfür die Steuer auf Wall Street Spekulanten vorgesehen.

Allgemein sind in Sanders Programm Steuererhöhungen vorgesehen, die speziell reiche und mega-reiche Bürger stärker belasten sollen. Dies soll insbesondere durch den Abbau heute geltender Steuerbegünstigungen geschehen, die ohnehin allein betuchten Steuerzahlern nützen. Das alles steht im frontalen Gegensatz zu den Plänen der republikanischen Mitstreiter um Donald Trump. Dort will man die ohnehin sehr niedrigen Steuern auf Erbschaften und Kapitalgewinne möglichst ganz abschaffen, was offensichtlich die „top 1 per cent“ nur noch reicher machen würde.

Ist Bernie Sanders schon deshalb ein Sozialist, weil er diese dumme Nummer nicht mehr mitmachen will? Lächerlich! Sanders steht für die wahren Interessen der amerikanischen Mittelschicht, will gesellschaftliche Fairness wieder herstellen. Das kann bestenfalls dann mit Sozialismus verwechselt werden, wenn man dem „trickle down“ Märchen aufgesessen ist, wonach der grenzenlose Reichtumszuwachs der Mega-Reichen irgendwie und irgendwann auch den Rest der Gesellschaft reich machen soll. Dass das nicht so ist, zeigt die Entwicklung der letzten 40 Jahre zwar allzu offensichtlich auf. Aber so mancher Geist ist nachhaltig verblendet worden. Eingelullt von der Massenverdummungsmaschinerie der Medien (kontrolliert von einigen Mega-Reichen), verwechseln viele Normalbürger ihren eigenen Interessen und die Ideale einer freien und fairen Gesellschaft mit den spezifischen Interessen der Milliardär-Klasse.

Jedoch nicht alle. Sanders ruft auf seiner Webseite zu Wahlkampfspenden mit den Worten „Dies ist deine Bewegung“ auf. Anders als die anderen Kandidaten, finanziert er seinen Wahlkampf aus Kleinspenden. Eine Gefolgschaft von immerhin drei Millionen Personen hat er aufzuweisen. Wahlkampf in Amerika ist lang und extrem teuer – und nicht öffentlich finanziert. Allgemein bauen die Kandidaten auf Spenden von Unternehmen und Reichen. Ein höchstes Gerichtsurteil von vor einigen Jahren hat hierzu fast alle Beschränkungen beseitigt. Demokratie ist damit schamlos käuflich und für die Mega-Reichen ist Einfluss auf die politische Macht geradezu billig. Wie in der von extremer Ungleichheit geprägten Wirtschaft gilt damit auch in der Politik: „one dollar, one vote“ statt „one person, one vote“. Trump gewinnt Anhänger mit der Behauptung, er sei nicht käuflich, weil er seinen eigenen Wahlkampf selbst finanziert. Sanders hat selber nur geringes Vermögen. Er setzt auf Spenden von Normalbürgern.

Es mag zunächst verwundern, dass man auf Sanders Webseite zum Thema Haushaltsdefizite und öffentliche Schulden nichts findet. Auch öffentlich spricht er sich nicht für höhere Defizite aus. Gleichwohl hat er sich mit Stephanie Kelton als ökonomische Beraterin eine Vertreterin der „Modern Money Theory“ (MMT) ins Lager geholt. Natürlich wäre es bei all der öffentlichen Hysterie zu diesem Thema politisch unklug, hieraus ein Wahlkampfthema machen zu wollen. Das machen die Konservativen ja ohnehin bis zum Erbrechen – als Erpressungsmittel zum Schrumpfen des Staates (immer mit Ausnahme des Ressorts zur Führung sinnloser Kriege) und für weitere Steuererleichterungen für die angeblich steuerüberbelasteten Mega-Reichen. Aber auch ökonomisch ist hier kein Widerspruch. Haushaltsdefizite sind auch aus MMT Sicht kein wirtschaftspolitisches Ziel. Vielmehr sind sie im hohen Maße endogen, vom Wirtschaftsverlauf bestimmt. Die hohen Defizite seit 2009 waren Reflex der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Haushaltsdefizite zur Zielgröße an sich zu machen, kann eigentlich nur Schaden anrichten; wie in der Eurozone nur zu gut zu sehen ist. Wer dagegen produktive Staatsausgaben erhöht und die Steuerbelastung zu Lasten der Reichen und zu Gunsten der Mittelschicht verschiebt, kann Defizite auch durch mehr Wachstum und Beschäftigung senken. Der „balanced budget multiplier“ war selbst dem Mainstream nicht immer unbekannt. Die Vernunft dieser Überlegungen übersieht nur, wer sie übersehen will oder mittels neoliberaler Ideologie blind gemacht wurde.

Sanders will übrigens umweltfreundliches Wachstum in Amerika. Er unterstützt das Pariser Klimaabkommen. Die republikanischen Kandidaten dagegen wollen allesamt daraus aussteigen. Amerikas Kohleindustrie hat viel Kohle. Überhaupt sprudeln die Spenden der fossilen Energie-, Finanz- und Pharmaindustrien in die Taschen ihrer politischen Interessenvertreter, damit sich auch an den klar zu beobachtenden gravierenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bloß nichts ändern wird. Sanders ruft hier die Mahnung des republikanischen Präsidenten Abraham Lincoln in Erinnerung: „beschließen und sicherstellen, dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von dieser Welt verschwinden möge“ („resolve … that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth”).

Die republikanische Partei hat einige sehr weise Präsidenten hervorgebracht – aber das ist sehr lange her.

Amerika wird im November den nächsten „Führer der freien Welt“ wählen. Es geht dabei um Amerikas Mittelschicht und um eine freie und faire Gesellschaft. Aber auch um vieles mehr. Die immer mehr gespaltene amerikanische Gesellschaft hat dabei tatsächlich in vielfacher Hinsicht eine grundlegende Entscheidung zu treffen. Vielerlei Entwicklungen in Amerika – und natürlich auch und besonders in Europa! – stimmen mich zunehmend sorgenvoll. Kollektiver Wahnsinn scheint immer mehr um sich zu greifen. Bernie Sanders wirkt da wie ein seltener Hoffnungsstrahl. Insbesondere auch, weil der 74-Jährige speziell unter jungen Amerikanern wachsende Popularität genießt.

Andrea Nahles (wieder mal) auf dem Holzweg mit der Rentenkürzung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Beitragskürzungen heute bedeutet Altersarmut morgen !
Die großartigen Versprechungen, Senkungen der „Lohnnebenkosten“ würden zu mehr Investitionen der Unternehmen in Arbeitsplätze führen, haben sich schon vor 10 jahren als falsch erwiesen. Damals war Nahles schon in der Politik und mit dem Buckeln vor Müntefering und Eichel beschäftigt.
Für sie hat sich der Kotau gelohnt, aber nicht für die SPD. UNd darüber kann sie die Proletarier auch nicht mehr hinweg täuschen.
SPD unter 20%, oh weh !
Hier meldet sich Holger Balodis zu Wort:

„Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – sang Andrea Nahles zur Politik von Angela Merkel im Deutschen Bundestag. Bevor sie Ministerin wurde.
Nun beherrscht sie die besungene Kunst ebenso meisterhaft.
Sie regt eine Senkung der Rentenbeiträge an. Um der Wirtschaft neuen Schub zu geben.
Und damit die Arbeitnehmer mehr Geld in der Tasche haben. Natürlich um noch mehr privat vorzusorgen. Ein Stück aus dem Tollhaus!
Seit den Riester-Reformen ist die Deutsche Rentenversicherung nicht mehr dazu da, den Rentnern eine menschenwürdige und armutsvermeidende Rente zu zahlen, sondern um die Beiträge möglichst niedrig zu halten.
Wenn das aber wirklich das neue Ziel dieser ehrwürdigen Sozialversicherung ist, dann könnte man sie gleich komplett abschaffen. Dann wäre der Beitragssatz null. Mission erreicht.

Wollen wir aber eine gesetzliche Rente, die Sinn macht, dann müssen die Beiträge so verwendet werden, um ihre wirklichen Aufgaben zu erfüllen:

Das bereits dramatisch gefallene Rentenniveau wieder zu erhöhen. Die Armutsrenten der Geringverdiener auf ein Maß zu heben, wie es in anderen westeuropäischen Ländern längst Standard ist. Eine Lösung für die Millionen Frauen zu finden, die in Teilzeit oder gar nur in Mini-Jobs arbeiten.
Diese Aufgaben erfordern Mut und Geld. Sie funktionieren aber nicht mit sinkenden Rentenbeiträgen.
Und sie funktionieren nicht, wenn man die Rentenkassen für Prestigeprojekte wie die Mütterrente und die Rente mit 63 plündert.

Und alle Jungen müssen wissen: Wenn heute die Beiträge sinken und deshalb der von Rot-Grün initiierte Rentenkahlschlag nicht korrigiert werden kann, dann trifft sie das am Ende am eigenen Leibe. Denn der künftige Rentenwert in 20 oder 30 Jahren baut auf dem heutigen auf.

Die Kürzungen von heute wirken später in Form von Armutsrenten erbarmungslos nach.
Manchmal hilft ja ein Blick auf die Vergangenheit. Was in der zweiten Hälfte des vergangen Jahrhunderts funktionierte, gilt auch heute: Die Jungen brauchen keine Senkung des Rentenbeitrags, sondern angemessene Lohnerhöhungen.
Das sichert Kaufkraft und auskömmliche Renten. Auch in Zukunft.

Dieser Newsletter ist urheberrechtlich geschützt. Eine Veröffentlichung des Textes ist jedoch unter Quellenangabe Holger Balodis oder www.vorsorgeluege.de erlaubt.
Gerne stehen wir für vertiefende Interviews und als Referenten zur Verfügung.
Mehr Informationen und eine Übersicht über alle bisher erschienen Newsletter finden Sie auf
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Holger Balodis
Dagmar Hühne
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Jochen