Sahra Wagenknecht: Warum wir eine neue Sammlungsbewegung brauchen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ausnahmsweise in der WELT bekommt sie Gelegenheit, sich zu erklären:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article178121522/Gastbeitrag-Warum-wir-eine-neue-Sammlungsbewegung-brauchen.html

Dazu auch noch ein Interview in der Rhein-Neckar-Zeitung, in dem sie ausführlicher auf die geplante Bewegung eingeht:

https://www.rnz.de/politik/hintergrund_artikel,-sahra-wagenknecht-im-rnz-interview-kein-grund-meine-position-zu-veraendern-_arid,364713.htm

Auszüge:

Die liberale Demokratie befindet sich in einer tiefen Krise. Äußeres Zeichen sind die Wahlsiege rechtsnationaler, offen illiberaler Kräfte – von Donald Trump über Victor Orbán bis zu Matteo Salvini.
Auch in Deutschland taumeln die ehemaligen Volksparteien von einer Wahlniederlage zur nächsten und erreichen gemeinsam gerade noch ein gutes Drittel aller Wahlberechtigten.

Die Ursache solcher Verschiebungen in der politischen Tektonik liegt auf der Hand: Es ist die Enttäuschung, Verärgerung, ja aufgestaute Wut erheblicher Teile der Bevölkerung über politische Entscheidungsträger, die seit vielen Jahren nicht mehr für sich in Anspruch nehmen können, im Auftrag oder auch nur im Interesse der Mehrheit zu handeln.

Die Diskrepanz zwischen Wählerwille und Regierungsbildung wurde in Deutschland nach der Wahl im September 2017 augenfällig. Obwohl Union und SPD vom Wahlvolk mit desaströsen Ergebnissen abgestraft wurden, merkelten sie genau da weiter, wo sie vor der Wahl aufgehört hatten. Aber auch Jamaika hätte – wie die Sondierungsergebnisse zeigen – nichts Wesentliches anders gemacht. So wie vorher schon Schwarz-Gelb und noch früher Rot-Grün unter Gerhard Schröder.

Wahlen sind nur noch eine Farce

Die einstigen Volksparteien, einschließlich ihrer liberalen und grünen Partner, sind mittlerweile so ununterscheidbar geworden, dass Wahlen zur Farce und demokratische Rechte substanzlos werden.
Alle genannten Parteien stehen für eine Globalisierung nach dem Gusto transnationaler Großunternehmen – als wäre das die einzige Möglichkeit, internationalen Austausch im Zeitalter der Digitalisierung und moderner Transportwege zu organisieren.

Sie alle predigen die vermeintliche Unfähigkeit des Nationalstaats, seine Bürger vor Dumpingkonkurrenz und dem Renditedruck internationaler Finanzinvestoren zu schützen.
Sie alle vertreten somit einen Wirtschaftsliberalismus, der die Warnungen der Freiburger Schule vor der Konzentration von Wirtschaftsmacht in den Wind geschrieben hat und deren fatale Folgen nicht nur für Innovation und Kundenorientierung, sondern auch für die Demokratie ignoriert.

Und sie alle haben diesem Uralt-Liberalismus, der aus der Zeit vor der Entstehung moderner Sozialstaaten stammt, die glitzernde Hülle linksliberaler Werte übergestreift, um ihm ein Image von Modernität, ja moralischer Integrität zu geben. Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.

Und es widerspricht sich ja nicht: Ehe für alle und sozialer Aufstieg für wenige, Frauenquote in Aufsichtsräten und Niedriglöhne dort, wo vor allem Frauen arbeiten, staatlich bezahlte Antidiskriminierungsbeauftragte und staatlich verursachte Zunahme von Kinderarmut in Einwandererfamilien.

Im Ergebnis dieses Policy Mix wurden einerseits die Rechte vormals ausgegrenzter und diskriminierter Minderheiten real gestärkt, andererseits wächst die Ungleichheit und schmilzt der Wohlstand der Mitte.
Das gilt nicht nur für Länder mit großen ökonomischen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit.

Auch in Deutschland haben die unteren 40 Prozent der Bevölkerung laut DIW heute weniger Kaufkraft als Ende der Neunzigerjahre. Der von der Agenda 2010 geschaffene Niedriglohnsektor und die Kürzung sozialer Leistungen, etwa bei Rente und Arbeitslosengeld, schlagen sich in dieser Zahl nieder.

Die Vermögensungleichheit ist wieder so hoch wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten. Die Unsicherheit wächst.
Und die Aufnahme Hunderttausender Zuwanderer, vor allen in den Jahren 2015 und 2016, hat akute Probleme wie den Mangel an Sozialwohnungen und Kita-Plätzen oder die hoffnungslose Überforderung von Schulen in sozialen Brennpunkten weiter verschärft.

Große Unternehmen regieren das Land

Auch wenn der Chef des Dax-Konzerns Daimler, Dieter Zetsche, damals jubelte, „genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land“, lässt sich kaum behaupten, dass diese Politik den Rückhalt gesellschaftlicher Mehrheiten besaß.

Vor einiger Zeit wurden von einem WDR-Filmteam Bürgerinnen und Bürger gefragt, wer ihrer Meinung nach in Deutschland die Macht hat.
Die wenigsten glaubten, dass die Macht bei den Politikern liegt oder gar bei den Wählern. Nahezu alle gingen davon aus, dass die Wirtschaft, insbesondere die großen Unternehmen, unser Land regieren.

Ob die großzügige Bankenrettung oder die Rückgratlosigkeit der Politik im Umgang mit den Abgasbetrügern (selbstverständlich wäre es möglich, Unternehmen per Gesetz zur Nachrüstung der Hardware zu verpflichten), ob der fahrlässige Verzicht auf den Schutz unserer Privatsphäre vor Facebook, Google und Co. (die EU-Datenschutzgrundverordnung quält Mittelständler und ficht die Datenkraken nicht an) oder die politische Untätigkeit angesichts des dreisten Steuerdumpings der Konzerne (das sich durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen auch ohne „europäische Lösung“ beenden ließe) – es gibt unzählige Beispiele, die die Befragten in ihrer Einschätzung bestätigen dürften.

Demokratie verlangt Wahlfreiheit, also die Möglichkeit, sich zwischen Regierungen mit grundsätzlich unterschiedlichen Programmen entscheiden zu können.
Wo die globalisierte Wirtschaft regiert und die Politik sich für machtlos erklärt, gibt es keine demokratische Gestaltung und folglich auch keine Alternativen mehr.

Dass sich gerade Ärmere und Abstiegsgefährdete von einer Fassadendemokratie abwenden, die ihnen täglich demonstriert, dass ihre Bedürfnisse kein Gewicht mehr haben, ist wenig erstaunlich.

Auch die Aggressivität, mit der progressive liberale Werte heute wieder in Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden, dürfte ihren wichtigsten Grund darin haben, dass die Betroffenen diese Werte schlicht als Teil eines politischen Pakets empfinden, dessen wirtschaftsliberale Komponente ihren Lebensstandard bedroht.

Leistungsgerechte Verteilung

Für sie sind Minderheitenrechte und Antidiskriminierungspolitik heuchlerische Facetten eines politischen Programms, das sich als edel, hilfreich, solidarisch und gut inszeniert, obschon seine Protagonisten ihrem Wunsch nach einem Leben in bescheidenem, halbwegs gesichertem Wohlstand seit jeher mit völliger Gleichgültigkeit, ja Verachtung begegnen.

Genau deshalb ist die Liaison von Linksliberalismus und Goldman-Sachs-Kapitalismus so gefährlich. Sie untergräbt nicht nur die Demokratie, sondern auch die Zustimmung zu liberalen Grundwerten.
Es ist dringend an der Zeit, dass der Unmut wieder eine progressive Stimme und letztlich auch die Macht bekommt, die Politik in unserem Land zu verändern.

Wir brauchen eine neue Sammlungsbewegung: zur Wiedergewinnung der Demokratie, für Fairness im Umgang untereinander, für eine leistungsgerechte Verteilung und für eine Politik der guten Nachbarschaft im Verhältnis zu anderen Ländern.

„Kein Grund, meine Position zu verändern“

Linken-Fraktionschefin sieht sich durch Parteitagsbeschluss nicht gebunden

Von Andreas Herholz, RNZ Berlin

Leipzig. Sahra Wagenknecht (48) ist Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Die gebürtige Ostdeutsche lebt im Saarland zusammen mit ihrem Mann Oskar Lafontaine.

Frau Wagenknecht, monatelang hat die Linke vor allem über den Kurs in der Flüchtlingspolitik gestritten. Auf dem Leipziger Parteitag gab es darüber offene Auseinandersetzungen. Kein bisschen Frieden in der Partei?

Viele an der Parteibasis haben die Grabenkämpfe satt. Inhaltliche Debatten dürfen nicht mit Diffamierungen verbunden werden. Wir brauchen eine sachliche Debatte über die Flüchtlingspolitik. Wenn mir und anderen aber Nähe zur AfD oder Rassismus vorgeworfen wird, ist das keine sachliche Diskussion. Das ist einfach unanständig.

Ist der Machtkampf jetzt entschieden, oder werden die innerparteilichen Auseinandersetzungen weitergehen?

Ich hoffe, dass jeder sich von jetzt an auf seine Aufgaben konzentriert. Die Fraktionsspitze ist ebenso gewählt wie die Parteispitze. Ich wünsche mir, dass man das gegenseitig akzeptiert. Die persönlichen Angriffe müssen beendet werden. Etwa, wenn der Eindruck erweckt wird, wer die Forderung „Offene Grenzen für alle“ nicht unterstützt, dem wäre Elend und Not auf der Welt gleichgültig. Da wird mit verletzenden Unterstellungen gearbeitet. Unter diese Art der Debatte muss ein Schlussstrich gezogen werden.

Parteichefin Katja Kipping fordert, dass das Votum des Parteitags für offene Grenzen jetzt akzeptiert und respektiert wird …

Ich sehe keinen Grund, wegen der Annahme des Leitantrages meine Position zu verändern. Die Forderung „Offene Grenzen für alle“ – also jeder, der will, kann nach Deutschland kommen – findet sich im Leitantrag nicht. Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen und Hilfe für Menschen, die vor Krieg und Not fliehen. Auch brauchen wir mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Das stellt niemand in der Partei in Frage.

Wir stehen zum Asylrecht und verteidigen es. Für Menschen, die verfolgt werden, muss es offene Grenzen geben. Aber offene Grenzen für alle sind weltfremd.

Der Kontrollverlust, den es im Herbst 2015 gab, hat dieses Land verändert, und zwar nicht zum Besseren. Das darf sich nicht wiederholen.

Aber der Parteitag hat sich mit der Zustimmung zum Leitantrag gegen eine striktere Begrenzung der Zuwanderung und für offene Grenzen ausgesprochen …

Nein. Es gibt unterschiedliche Meinungen über den Kurs in der Flüchtlingspolitik in der Partei. Aber damit kann man umgehen. Niemand sollte versuchen, die eigene Position allen anderen aufzuzwingen. Meine Position ist: Mehr Zuwanderung heißt immer auch mehr Konkurrenz um Jobs, vor allem im Niedriglohnsektor. Und natürlich auch eine stärkere Belastung der sozialen Infrastruktur.

Wir können Integration immer nur in einem bestimmten Rahmen bewältigen. Wir machen die Welt außerdem nicht gerechter, indem wir Migration fördern, im Gegenteil, das macht die armen Länder noch ärmer. Denn es ist immer die Mittelschicht, die abwandert, die Ärmsten sind dazu gar nicht in der Lage. Deshalb müssen wir vor Ort helfen.

Sie sprechen von einer großen Sehnsucht vieler Menschen nach mehr Schutz durch den Staat. Was meinen Sie konkret?

Die Politik hat die Menschen in Deutschland seit Jahren ihrer sozialen Sicherheit beraubt. Viele Menschen haben Angst vor sozialem Abstieg. Sie haben Angst vor Betriebsverlagerungen und Dumpingkonkurrenz. Aber Globalisierung ist kein Naturgesetz. Die Staaten können ihre Bürger vor einem entfesselten globalen Finanzkapitalismus schützen. Das Steuerdumping der Konzerne kann auch durch nationale Gesetze verhindert werden, etwa durch Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen erheben. Die Regierung kann dafür sorgen, dass es im Niedriglohnsektor nicht noch mehr Konkurrenz gibt.

Gute Löhne und soziale Sicherheit sind unverändert möglich, wenn die Politik die Rahmenbedingungen richtig gestaltet, statt die Wünsche der Konzernchefs umzusetzen.

Sie werfen der Parteispitze vor, die Linke zu schwächen und kritisieren, dass die Partei nicht dir richtigen Milieus anspricht. Was läuft aus Ihrer Sicht falsch?

Die Linke ist gegründet worden, um denen eine Stimme zu geben, die unter sozialen Kürzungen und rücksichtslosem Renditedruck zu leiden haben. Das sind nicht nur die Ärmeren, das ist auch die Mittelschicht, die bei den anderen Parteien schon lange keine Lobby mehr hat. Wir haben zwar bei der letzten Bundestagswahl eine halbe Million Stimmen dazugewonnen. Aber gerade in ärmeren Stadtteilen im Westen wie im Osten haben wir teilweise massiv verloren. Da kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Wenn Arbeitslose und Geringverdiener das Gefühl bekommen, die Linke ist nicht mehr für sie da, treiben wir sie in die Arme der AfD. Dann sind wir mitverantwortlich für das Erstarken der Rechten. Das wäre grob fahrlässig. Diejenigen, die jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen, müssen spüren, dass wir an ihrer Seite stehen.

Gemeinsam mit Ihrem Mann Oskar Lafontaine und prominenten Unterstützern wollen Sie eine neue linke Sammlungsbewegung gründen. Parteifreunde werfen ihnen vor, die Linkspartei zu spalten. Was ist das Ziel des neuen Projektes?

Es geht doch nicht darum, die Linke zu spalten oder zu schwächen. Es geht nicht um eine Alternative zur Linken, sondern um ein breiteres Bündnis. Die Linke liegt stabil bei 10 bis 11 Prozent. Damit sind wir aber weit davon entfernt, die Politik in diesem Land verändern zu können, weil wir keine Partner haben. Es ist der Linken leider nur begrenzt gelungen, die Millionen Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, die sich von der SPD in den letzten Jahren abgewandt haben.

Die Sammlungsbewegung ist ein überparteiliches Projekt, mit dem wir diese Menschen wieder erreichen wollen. Wir brauchen einen neuen Aufbruch, wenn wir die Politik in unserem Land verändern wollen. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, gibt es Beispiele dafür, dass ein solches Vorhaben erfolgreich sein kann. Und ich freue mich, dass unsere Idee schon jetzt, obwohl sie offiziell noch gar nicht gestartet wurde, unglaublich viel Resonanz erfährt.

Aus der Sammlungsbewegung soll am Ende keine Partei werden?

Nein. Wir sind sehr froh, dass auch linke SPD-Mitglieder zu den Initiatoren unserer Bewegung gehören. Sie würden sich definitiv nicht beteiligen, wenn es auf eine konkurrierende Partei hinausliefe. Ich bin auch überzeugt: Viele Menschen finden sich in Parteien nicht mehr wieder. Es ist die Zeit der Bewegungen. Eine starke Bewegung kann und wird auch die Parteien verändern.

Der G7-Gipfel endet mit einem historischen Debakel ohne gemeinsame Erklärung. Wie bewerten Sie das Ergebnis des Treffens?

Es ist offenkundig, was Trump für eine Agenda hat. Er vertritt kompromisslos die Interessen der amerikanischen Wirtschaft und ist dafür auch bereit, immer wieder Absprachen zu brechen. Darüber kann man lamentieren, besser wäre es, wenn die europäischen Länder endlich beginnen, souverän und selbstbewusst die Interessen der in Europa lebenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und dabei möglichst geeint auftreten.

Der Ruf wird lauter, Russland wieder an den Verhandlungstisch zu holen. Ist es dafür nicht noch zu früh?

Worauf wollen wir noch warten? Eine Verbesserung des Verhältnisses zu Russland ist im ureigenen Interesse Europas. Als Signal sollten die unsinnigen Sanktionen aufgehoben werden. Sie schaden nicht nur der russischen Wirtschaft, sondern auch der europäischen, vor allem deutschen Unternehmen. Ja, der Bruch des Völkerrechts ist kein Kavaliersdelikt.

Aber man sollte nicht einäugig sein. Nicht nur der Anschluss der Krim an Russland widersprach dem Völkerrecht. Der Irakkrieg oder die Aufrüstung islamistischer Terrorgruppen in Syrien waren ungleich gravierendere Völkerrechtsbrüche. Wenn wir die Probleme der Welt lösen wollen, brauchen wir Russland mit am Tisch.

Wie lässt sich ein Handelskrieg mit den USA noch abwenden?

Die Sprache, die Trump versteht, ist die Drohung harter Gegenmaßnahmen. Wenn Trump ernsthaft mit Gegenmaßnahmen rechnen muss, die die US-Wirtschaft hart treffen würden, wird er sich überlegen, ob er diesen Weg weitergehen will.

Anmerkung: Dass dieser wichtige Beitrag ausgerechnet den Untertitel sieht sich durch Parteitagsbeschluss nicht gebunden“ trägt, auf den im weiteren Text kaum eingegangen wird bzw. der den Sinn von Sahras Aussage entstellt, ist wieder eine Meisterleistung, an der Goebbels seine Freude hätte. Wieder geht es vor allem darum, Differenzen in der Linken zu beleuchten, um vom emanzipatorischen Impuls abzulenken.

Jochen

Flüchtlinge willkommen – als Spielball der Ausbeutung und auf Kosten der Armen!

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Flüchtlinge und ALG2-Empfänger sollen gegeneinander ausgespielt werden.
Da freut sich der perspektivlose Langzeitarbeitslose, dass es unter ihm noch welche gibt, auf die er treten kann.
Leider gehört auch das zu den weit verbreiteten menschlichen Verhaltensweisen.
Und das lässt sich noch dazu in die Produktion und Profitmaximierung einbinden:
http://www.heise.de/tp/artikel/46/46072/

Sahra Wagenknecht Wagenknecht2015-09hat dazu heute auch im Bundestag Stellung bezogen, s. weiter unten. 

Es ist schon unglaublich, wie sich das miteinander verzahnt !

Auszüge:

Twister (Bettina Hammer) 23.09.2015

Damit Asylbewerber möglichst schnell in den ökonomischen Verwertungskreislauf eingefügt werden können, sollen Mindestlohn und ALG II aufgeweicht werden

Die Beziehung zwischen der Unternehmensberatung McKinsey und der Bundesagentur für Arbeit ist schon länger recht eng.
Bereits 2012 durfte Frank-Jürgen Weise, Chef der BA, sich für McKinsey lobend über das deutsche Jobwunder äußern[1].
In einem längeren Aufsatz beweihräucherte sich der BA-Chef quasi selbst und sprach davon, wie die BA von einem aufgeblasenen zaudernden Etwas (bloated laggard) zum schlanken, besten Dienstleister (lean, best-in-class provider service) geworden sei.

Zu einer Zeit, als sich die Empfänger von ALG II eher fatalistisch in ihr Schicksal fügten (auch wenn dies falsche Bescheide und dergleichen mehr bedeutete), wurde die Agenda 2012 sowie der Umbau einer Behörde für Hilfesuchende zur Agentur für Kunden noch einmal von der BA selbst gefeiert. Für die weiteren Jahre, so schrieb Weise damals, müsse dafür gesorgt werden, dass der Arbeitsmarkt auf „plötzliche, dramatische Schocks“ reagieren könne. Die ansteigende Wankelmütigkeit des Marktes müsse so ausgeglichen werden.

Bereits 2005 hatte sich McKinsey über einen Auftrag der BA freuen können, der dem Unternehmen ca. 20 Millionen einbrachte (was der Rechnungshof rügte).
Dass nunmehr erneut die BA und McKinsey Hand in Hand agieren[2], ist daher mindestens bemerkenswert.

Frank-Jürgen Weise, weiterhin Chef der BA, ist nun zusätzlich Chef des Bundesamtes für Migration. Dies allerdings ist verwunderlich, bedenkt man, dass die Aufgaben des Chefs der BA nicht wirklich weniger geworden sind. Weise hat bereits angekündigt, dass die Aufgaben der beiden Ämter miteinander eng verzahnt werden sollen.
Und hier trifft man erneut auf McKinsey: Die Unternehmensberatung soll helfen, die Asylverfahren zu beschleunigen[3].
Beruhigend wird angemerkt, dass dies zunächst unentgeltlich geschehen soll – doch gerade der Hinweis, dass ein Unternehmen wie McKinsey, das seit langem eng mit der BA zusammen agiert, nun plötzlich auf Gelder verzichtet, wirft Fragen auf.

Einen Sinn ergibt diese Ankündigung, wenn man sie im Zusammenhang mit den derzeitigen Meldungen des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V. (IfO) sieht. Das Institut unter der Präsidentenschaft von Hans-Werner Sinn plädiert derzeit dafür, dass der Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro für „Flüchtlinge“ abgesenkt werden soll[4], damit diese „Low Performer“ trotz mangelnder Produktivität möglichst schnell in den Arbeitskreislauf eingegliedert werden können.

Gleichzeitig plädiert es auch gegen eine Anhebung der Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger.
Ein solche Anhebung, so heißt es, sei abzulehnen, weil diese die Arbeitsbereitschaft der Einwanderer verringern könnte:

„Eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze in der gegenwärtigen Situation ist mit Nachdruck abzulehnen, weil dies die Anreize der Immigranten, Arbeit aufzunehmen, verringern und zu zusätzlichen fiskalischen Lasten führen würde.“

Die Asylmigranten sind vom Problem zur willkommenen Spielfigur im großen Spiel um Profit geworden

Die gesamte Pressemitteilung liest sich wie eine Forderung, die Migranten möglichst schnell und egal zu welchem Preis als günstige Arbeitskräfte einzusetzen.
Dabei ist auch der soziale Friede innerhalb der Bevölkerung für das IfO offensichtlich entweder Fremdwort oder aber schlichtweg ein zu ignorierender Faktor.

Dieser soziale Frieden ist bereits seit langem in Gefahr und seit Beginn der Flüchtlingskrise zeigt[5] sich besonders deutlich, dass Bevölkerungsgruppen gegen andere agieren, auch wenn beide letztendlich ökonomisch gesehen bereits ganz unten angelangt sind: Ossis aus den Plattenbauten sind gegen Asylanten, Geringverdiener wenden sich gegen ALG II-Empfänger, ALG II-Empfänger sehen sich alleingelassen.

Eine Meldung darüber, dass die geplante Erhöhung von 5 Euro monatlich für die ALG II-Empfänger wegen der Flüchtlingsproblematik ausfällt, wäre eine Botschaft, die diese Gräben weiter verbreitern und die derzeit angespannte Situation weiter eskalieren lassen würde. Davon abgesehen ist es eher unwahrscheinlich, dass die Menschen, die jetzt als „Flüchtlingsproblem“ zusammenfasst werden – nämlich Einwanderer über das Asylrecht und Kriegsflüchtlinge -, von einer nicht stattfindenden Erhöhung von 5 Euro monatlich abschrecken lassen würden.

Die Logik, die das IfO hier anwendet, ist nicht nur kaum nachvollziehbar, sie ist auch menschenverachtend, wenn sie darauf setzt, dass denen, die ohnehin schon mit einem soziokulturellen Existenzminum auskommen müssen, jegliche Erhöhung dieses Minimums verweigert wird, um andere Menschen vor einer Flucht vor der Armut abzuschrecken – es handelt sich hier eher um einen Versuch, den Asylbewerberansturm zu nutzen, um der ärmsten Bevölkerungsschicht eine Verbesserung ihrer Lage zu verweigern.

Bei einer Absenkung des Mindestlohns für Asylmigranten müssten ergänzende ALG II-Gelder gezahlt werden, die sich aus Steuergeldern speisen. Bedenkt man, dass diejenigen, die am Existenzminimum leben, kaum die Möglichkeit haben, von Steuerschlupflöchern etc. zu profitieren, sondern (unter anderem über die Mehrwertsteuer) am Einkommen gemessen prozentual hoch belastet werden, dann zahlen das letztendlich die Verlierer dieser Lohnabwärtsspirale.

Die Asylmigranten sind vom Problem zur willkommenen Spielfigur im großen Spiel um Profit geworden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verbrämt das (anders als andere Medien) nicht, wenn sie die bisherigen Errungenschaften des Arbeitsschutzes wie Mindestlohn, Hürden für Zeitarbeit und Werksverträge als Unzugänglichkeiten für den Arbeitsmarkt bezeichnet[6], die Flüchtlingen schaden. Heike Göbel schreibt dort offen:

Es ist zur fixen Idee von Schwarz-Rot geworden, dass Arbeit allein nicht genügt, sondern dass es ‚gute Arbeit‘ sein muss. Die Standards legt die Politik fest, in immer irrwitzigeren Höhen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte dieser Wahn ein Ende haben?

Es wird weiter zum Sturm auf den Sozialstaat geblasen – und die Ökonomen und Vertreter der „Arbeit um jeden Preis“-Dogmen haben sich Flüchtlinge als neues Spielzeug in ihrem Spiel um Macht, Profit und Rendite auserkoren.

Linksfraktionsvize Sahra Wagenknecht hat der Bundesregierung vorgeworfen, die Integration von Flüchtlingen auf Kosten von Sozialschwachen in Deutschland zu finanzieren:

„Denn nicht die Wohlhabenden, sondern vor allem die Ärmeren werden betroffen sein, wenn zur Finanzierung von Integration andere Budgets gekürzt werden. Nicht die Wohlhabenden, sondern die Ärmeren wohnen in den Wohngebieten, in denen auch die Flüchtlinge nach Wohnungen suchen werden, und es ist keine irrationale, sondern eine sehr realistische Angst, dass dann dort die Mieten weiter steigen.

Seit Jahren werden in diesem Land kaum noch Sozialwohnungen gebaut. Viele Gemeinden haben ihren Wohnungsbestand privaten Renditejägern überlassen. Öffentliche Investitionen in guten und erschwinglichen Wohnraum sind seit Jahren überfällig. Mit jedem ankommenden Flüchtling wird das dringlicher.

Und natürlich sind es auch nicht Spitzenverdiener, sondern diejenigen im ohnehin viel zu großen Niedriglohnsektor, die es zu spüren bekommen werden, wenn Unternehmen Flüchtlinge für Lohndumping missbrauchen. Auch das könnten Sie verhindern: durch Erhöhung des Mindestlohns und Abschaffung der Ausnahmen, durch Verbot von sachgrundloser Befristung, Leiharbeit und dem Missbrauch von Werkverträgen.

Es ist die Verantwortung der Politik, dafür Sorge zu tragen, dass die Integration nicht zu einer neuen Welle von Lohndumping und Sozialabbau führt. Denn wer das zulässt, nährt genau die Ängste und Ressentiments, die rechten Hasspredigern den Boden bereiten. Ist ihnen Ihre schwarze Null wirklich so heilig, dass sie dafür in Kauf nehmen, braune Nullen beim Stimmenfang zu unterstützen? Ich finde das unerträglich.

Zumal sie ja noch nicht mal Schulden machen müssten. Ohne ihre absurde Steuerpolitik, ohne all die Steuergeschenke für die oberen Zehntausend, ohne Ihre Untätigkeit bei der Verhinderung von Steuerflucht hätten Bund, Länder und Kommunen heute ganz andere Spielräume.

Die wirklich teuren Flüchtlinge, das sind nicht die, die vor Krieg und Terror fliehen. Die wirklich teuren, das sind die Steuerflüchtlinge, das sind die Konzerne und reichsten Familien, die mit tausend Tricks die öffentliche Hand in Deutschland jedes Jahr um bis zu 100 Milliarden Euro prellen.

Sorgen Sie für eine ordentliche Besteuerung der großen Vermögen und machen Sie die Grenzen dicht für Steuerflüchtlinge, statt die Kosten für die Integration ausgerechnet auf den Teil der Bevölkerung abzuwälzen, der durch ihre Politik schon in den letzten Jahren ständig an Wohlstand verloren hat.

Nur wenn das Gefühl, es geht bei uns gerecht zu, sich wieder einstellt, nur dann werden „wir es schaffen“, die Integration zu leisten und die Willkommenskultur zu erhalten.“[7]

Anhang – Links

[1] http://www.mckinsey.com/insights/public_sector/behind_the_german_jobs_miracle

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/46/46058/

[3] http://www.fr-online.de/flucht-und-zuwanderung/bamf-holt-unternehmensberatung-mckinsey-soll-fluechtlingsamt-beraten,24931854,31865664.html

[4] http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/presse/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen-Archiv/2015/Q3/pm-20150920_sd18_fluechtlinge.html

[5] http://www.heise.de/tp/artikel/45/45889/

[6] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/kommentar-fluechtlinge-fuer-die-rente-13816239.html

[7] http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2194.die-wirklich-teuren-fluechtlinge-sind-die-steuerfluechtlinge.html

Jochen