AUTOBAHNBRÜCKENSPERRUNG – Großes Chaos in einem kleinen Land oder der Betrug an allen Generationen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ja, liebe Mitmenschen, so sind die Zusammenhänge verstehbar, wenn man die Hintergründe kennt. Fechinger_TalbrueckeDanke, Herr Professor !

Hier zu lesen:
http://www.flassbeck-economics.de/grosses-chaos-in-einem-kleinen-land-oder-der-betrug-an-allen-generationen/
Auszüge:

Im Saarland ist in der vergangenen Woche über Nacht eine Autobahnbrücke gesperrt worden, die täglich von rund 40 000 Autos benutzt wurde.
Die Brücke sei akut einsturzgefährdet, hörte man als Begründung von der Verkehrsministerin. Daraufhin brach, obwohl noch Ferienzeit ist, auf kleinen Umleitungsstrecken ein veritables Verkehrschaos aus, das wohl noch Monate anhalten wird, weil es bis zu einem Jahr dauern kann, die Brücke notdürftig zu flicken (hier ein Bericht dazu).

Was daran erstaunt, ist die Tatsache, dass kaum jemand kritische Fragen stellt. Man nimmt das wie ein Naturereignis hin und fordert die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren und geduldig auf das Ende der Bauarbeiten zu warten.
Niemand fragt, wieso in einem hochentwickelten Industrieland eine Brücke so akut einsturzgefährdet sein kann, dass sie von einer Stunde zur nächsten total gesperrt werden muss.
Kaum jemand fragt, wieso überhaupt die deutsche Infrastruktur in einem so maroden Zustand ist, dass so etwas (wie schon vor einiger Zeit bei der Schiersteiner Brücke in Wiesbaden) anscheinend zur Regel wird.
Es hat auch niemand den sofortigen Rücktritt der saarländischen Verkehrsministerin gefordert und schon gar niemand ist auf die Idee gekommen, dass das mit der absurden Politik des Bundesfinanzministers zu tun hat und dass der eigentlich zurücktreten müsste.

All diese Fragen werden nicht gestellt – und die von den Umleitungen betroffene Bevölkerung denkt nicht einmal im Traum daran, aus Protest gegen den Lärm und Dreck auf die Straße zu gehen. Wir kennen ja die Antwort auf all die Fragen genau und wissen, wie es zu dem „Naturereignis“ Brückensperrung kam:
Es ist einfach kein Geld da! Das Saarland ist arm, das weiß nun wirklich jeder, und der Bund muss sparen, weil wir sonst die zukünftigen Generationen mit unseren Schulden belasten.

Mit dieser Begründung kann man in Deutschland die Bevölkerung bei jedem Problem sofort stillstellen.
Man muss nur laut „Geld, Schulden und Generationengerechtigkeit“ rufen, sofort fällt die gesamte Bevölkerung in Duldungsstarre und lässt auch die schlimmsten Qualen wie in Trance über sich ergehen.

Es ist wirklich beeindruckend, wie man seit Jahrhunderten immer wieder 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung mit einer extrem primitiven Hausväterideologie von jedem Nachdenken abhalten kann. Und noch beeindruckender ist, dass es eine sogenannte Wissenschaft von der Wirtschaft gibt, die nichts anderes im Sinn hat, als mit allen Mitteln, die man sich nur vorstellen kann, dieses Täuschungsmanöver zu unterstützen.
Dass das selbst jetzt gelingt, in den Zeiten von Nullzinsen und wirklich ungewöhnlicher Maßnahmen der Zentralbanken, kann man allerdings mit „Täuschungsmanöver“ nicht mehr angemessen umschreiben. In Wirklichkeit ist es jetzt ein Betrugsmanöver, ein kollektiver Betrug der unwissenden Massen durch eine Phalanx von Medien, Wissenschaft und Politik. *)

Man muss ja nur eine ganz simple Rechnung aufmachen, um zu sehen, wie alle Generationen der Gesellschaft betrogen werden. Nehmen wir an, man hätte die Brücke im Saarland und alle anderen Brücken, die gefährlich sind, mit staatlichem Geld in einem großen Infrastrukturprogramm genau dann zu sanieren begonnen, als die de facto Nullzinspolitik (also zuerst Realzins Null und jetzt sogar Nominalzins Null) absehbar war, also 2011 spätestens.
Nehmen wir weiter an, der Staat hätte dazu 50 Milliarden Euro am Kapitalmarkt aufgenommen und bis heute vollständig ausgegeben.
Jenseits aller unmittelbaren Vorteile, die für die Volkswirtschaft dabei in Form von höheren Einkommen und mehr Jobs, größerer Verkehrssicherheit, geringerer ökologischer Belastungen durch Staus, weniger Stress usw. angefallen wären, hätte auch der Staat durch höhere Steuereinnahmen unmittelbar Vorteile gehabt. Dagegen wären seine Zinszahlungen durchweg nahe Null.

Nehmen wir weiter an, die Anleihen des Staates hätten eine Laufzeit von fünf Jahren gehabt. Also lässt der Staat sie auslaufen und nimmt sofort wieder in gleicher Höhe Anleihen mit der gleichen Laufzeit auf – nun sogar zu einem negativen Nominalzins. Dazu nimmt er wiederum 50 Milliarden über fünf Jahre auf.
Die Anleihesumme des Staates über die gesamten zehn Jahre gerechnet, ist damit auf 100 Mrd. gestiegen, da er die erste Anleihe nicht zurückgezahlt, sondern nur durch eine neue ersetzt hat. Die meisten derjenigen, die schon die erste Anleihe des Staates gezeichnet haben, werden auch die nächsten beiden zeichnen, weil es (für Versicherungen zum Beispiel) am Kapitalmarkt kaum Alternativen zu den staatlichen Anleihen in puncto Sicherheit gibt.

Nun kommt, das ist neu, noch der Effekt hinzu, dass die EZB den wichtigsten Haltern der Staatsanleihen, den Banken, einen erheblichen Teil der Staatsanleihen mit ihrem Programm zur Stimulierung der Konjunktur und der Inflation sofort wieder abkauft. In der Tat will sie in den nächsten Monaten in Höhe von 80 Milliarden Euro pro Monat solche Papiere kaufen, was nichts anderes heißt, als dass die EZB Geld (aus dem Nichts) schafft, um die Wirtschaft anzuregen.

Mit der neuen Anleihe hat der deutsche Staat nun wieder 50 Milliarden zur Verfügung, die er in andere Projekte (wie Bildungsarbeit oder ökologische Vorsorge) stecken kann. Diese Projekte werden quasi von der EZB dem Staat zu einem erheblichen Teil dadurch ermöglicht, dass sie ihm – auf dem Weg durch die Banken – frisches Geld gibt, das er für vernünftige Dinge ausgeben soll.
Die direkten „Kosten“ für den Staat auch aus seiner neuen Anleihe sind Null oder sogar leicht positiv, während die Erträge für die Gesellschaft klar positiv sind und auch die Erträge des Staates in Form von Steuern und geringeren Ausgaben für Arbeitslose und Sozialleistungen eindeutig positiv sind.

Man kann nun an die Zahl, über die wir reden, noch eine Null hängen, also 500 Milliarden für fünf Jahre anvisieren und am Ergebnis ändert sich nichts, außer, dass die positiven Effekte für alle größer werden. Jedenfalls gilt das immer, so lange es unterausgelastete Kapazitäten und Deflation gibt.
Das Einzige, was man negativ verbuchen kann, ist womöglich (aber selbst das ist nicht sicher wegen der oben erwähnten positiven Effekte auf die staatlichen Einnahmen und die Ausgaben und auf das gesamtwirtschaftliche Einkommenswachstum), dass in der Statistik, die üblicherweise für die Staatsschulden in Relation zur Größe der Volkswirtschaft aufgestellt wird, sich die Zahlen leicht verändern. Es könnte sein, dass nun bei dem Verhältnis Staatsschulden insgesamt zu Bruttoinlandsprodukt (also beim Vergleich der Bestandsgröße „die Schulden aller Zeiten“ mit der Stromgröße „gesamtwirtschaftliches Einkommen eines Jahres“) die Zahl von 70 Prozent auf 72 Prozent steigt. Welche Katastrophe?

Diese Statistik selbst ist aber von vorneherein unsinnig, weil man Schulden mit Vermögen vergleichen muss und nicht mit dem laufenden Einkommen.
Das Vermögen des Staates ist aber bei der Sanierung oder dem Neubau der Brücken mit Sicherheit gestiegen, so dass sich hier, also bei dem einzigen wirtschaftlich sinnvollen Vergleich, im – vollkommen unwahrscheinlichen – schlechtesten Fall nichts verändert hat, also Vermögen und Schulden im gleichen Maße gestiegen sind. Auch mehr Bildung und mehr ökologische Vorsorge erhöhen das gesellschaftliche Vermögen.
Im Normalfall wird sich das Verhältnis von Vermögen und Schulden durch die staatliche Aktivität klar verbessern, weil die gesamtwirtschaftlich positiven Effekte der staatlichen Investitionen auf jeden Fall das Vermögen der Gesellschaft insgesamt stärker erhöht haben als die Schulden.

So ist tatsächlich aus Nichts etwas Sinnvolles entstanden. Niemand hat verzichten müssen, um die Brücken zu sanieren, sondern insgesamt haben alle gewonnen. Nun muss sich die Gesellschaft nur noch eine Frage stellen: Wollen wir bewusst auf solche ketzerischen Gedanken verzichten, weil wir den Untergang des Abendlandes fürchten, wenn mehr Menschen verstehen, wie Volkswirtschaft wirklich funktioniert, und wollen wir folglich versuchen, die Menschen für die nächsten 500 Jahre weiterhin für dumm zu verkaufen?

Machen wir uns nichts vor, viele verstehen diese einfachen Zusammenhänge wirklich nicht, andere wollen sie nicht verstehen. Es gibt aber auch die Klasse derjenigen, die es verstehen, denen es aber unheimlich und äußerst gefährlich vorkommt, wenn man den Menschen sagt, aus Nichts könne etwas Positives und Produktives entstehen. Wer dem Volk nicht Blut, Schweiß und Tränen predigt, sondern dem Staat und dessen Macht über das Geld vertraut, ist in ihren Augen ein Verführer des Volkes, ein Luftikus, ein verantwortungsloser Geselle.
Diese Klasse von Staatskritikern hat nichts anderes im Sinn, als eine relativ einfach zu beantwortende volkswirtschaftliche Frage zu einer ideologischen Auseinandersetzung hochzustilisieren, bei der es scheinbar um Wohl und Wehe der Menschheit und ihrer moralischen Grundregeln geht. Sie bekämpfen die gesamtwirtschaftlichen Überlegungen nicht, weil sie diese an sich für falsch halten oder nicht verstehen, nein, sie bekämpfen sie, weil sie die Richtung für gefährlich halten, die Vorstellung nämlich, der Staat könne zu mächtig werden, in ihre Privilegien eingreifen und generell etwas tun, was den Privaten verwehrt ist.
Das ist die Art der Auseinandersetzung, die, jenseits der rein wissenschaftlichen Fragen, von denen, die einsichtig sind, viel offensiver geführt werden muss.

*: Siehe dazu https://josopon.wordpress.com/2019/10/23/lakaien-des-kapitals-journalisten-und-politiker-weltanschaulich-eng-miteinander-verbunden/

Jochen

Wie die EU-Sparpolitik ein Gesundheitssystem ruiniert: Griechenland als Exempel

Griechenland als Testlabor: Hier wird ausprobiert, was sich die Leute alles gefallen lassen – in einigen jahren soll es dann hier in Deutschland genauso zugehen.
Die dazu erforderlichen Gesetze zum Abbau der Parität von Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Beiträgen und der Einführung von einseitigen Zusatzbeiträgen zur Krankenversicherung wird von der schwarzroten Regierung gerade durchgewunken.
Auch hier droht dann eine ständige Abwärtsspirale aus Budgetkürzungen, Praxisschließungen und noch mehr „verdeckten“ Kosten.
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2014/mai/griechenland-als-exempel
Auszüge:

von David Stuckler und Sanjay Basu

Im April 2012 wurde in Griechenland ein Gesetz verabschiedet, das es dem Gesundheitsministerium ermöglicht, Bürger auf Geschlechtskrankheiten zu testen – auch ohne deren Einwilligung.
Das neue Gesetz war eine Reaktion auf Berichte von Krankenhäusern und Arztpraxen in ganz Griechenland, wonach die Zahl der HIV-Neuinfektionen allein zwischen Januar und Mai 2011 um 52 Prozent emporgeschnellt war. Einen derart drastischen Anstieg hatte es seit mehr als zehn Jahren in keinem westeuropäischen Land gegeben.[1]
Die Nachricht von der HIV-Epidemie in Griechenland machte international Schlagzeilen. Da die hart umkämpften griechischen Parlamentswahlen unmittelbar bevorstanden, sah sich der griechische Gesundheitsminister Andreas Loverdos gezwungen zu reagieren.
Das Ergebnis war eine Strategie, die historisch betrachtet in fast allen Ländern funktioniert hat, die mit der Epidemie einer sexuell übertragbaren Krankheit konfrontiert waren: Man schiebt die Schuld den Schwächsten in die Schuhe.[2]

Loverdos bezeichnete Prostituierte als „Bedrohung für die Gesellschaft“ und „Virenschleudern“ und erklärte feierlich, sie hinter Gitter zu bringen. Das Gesundheitsministerium spielte den griechischen Medien Fotos von HIV-positiven Prostituierten zu und brandmarkte die Frauen als „Todesfalle für Hunderte von Menschen“.[3]

Während in den heruntergekommeneren Vierteln Athens die Prostituiertenhatz bereits in vollem Gang war, umstellte die Polizei das vornehme Fünfsternehotel „Grande Bretagne“ am Syntagma-Platz, unweit des Parlamentsgebäudes. Die Polizisten schirmten die Hotelgäste nicht nur vor der Razzia ab, sondern auch vor der wachsenden Zahl der Wohnungslosen – Bettler, Junkies und Straßenkinder, die sich rings um den Platz in den Nischen vor aufgegebenen Geschäften oder auf U-Bahn-Gittern häuslich niedergelassen hatten.
Weil die Menschen aufgrund des rasanten Anstiegs der Zwangsräumungen und der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme nicht mehr wussten, wohin, war die Zahl der Wohnungslosen zwischen 2009 und 2011 um 25 Prozent nach oben geklettert.
Gleichzeitig hatte sich die Mordrate in Griechenland zwischen 2010 und 2011 verdoppelt; besonders rasant fiel der Anstieg im Zentrum von Athen aus – rund um das Hotel „Grande Bretagne“.
Zugleich nahmen die Polizisten die Hotelgäste vor den wütenden Demonstranten in Schutz, die vor dem Hotel ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Denn: Das „Grande Bretagne“ war eine inoffizielle Residenz der „Troika“ aus Europäischer Zentralbank, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds. Während sich die Verhandlungen über ein potentielles Rettungspaket hinzogen, kam es auf dem Syntagma-Platz zu Zusammenstößen mit der Athener Polizei. Deren Antwort auf die Forderungen nach mehr Demokratie bestand aus Tränengas, Polizeihunden und Wasserwerfern.

Die ausgesetzte Demokratie

Die Handlung dieser griechischen Tragödie ist ziemlich genau die Umkehrung der Ereignisse in Island. Dort hatten sich im März 2010 bei einer landesweiten Volksabstimmung – der ersten, seitdem sich das Land 1944 für die Unabhängigkeit von Dänemark ausgesprochen hatte – 93 Prozent der Isländer geweigert, für die Spielschulden der Banker geradezustehen.

Anders in Griechenland: Hier wurde auf Geheiß der Troika die Demokratie ausgesetzt. Die Ärmsten und Wehrlosesten mussten nun für die Fehler der Regierung und des Bankensektors haften.
Ihr Leben wurde durch eine schonungslose Dosis von Sparmaßnahmen bedroht, die alles in den Schatten stellte, was Europa seit den Lebensmittelrationierungen im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte.
So diente Griechenland unwissentlich als Versuchslabor für die Frage, wie Sparprogramme sich auf die Gesundheit auswirken.

Die Ursachen dieser Katastrophe liegen in einem regelrechten Tsunami aus finanziellen Fehlentscheidungen, Korruption und Steuerflucht sowie letztlich in einem Mangel an Demokratie.
Um zu verstehen, wie Griechenland in diesen Schlamassel hineingeraten ist, muss man mindestens vier Jahrzehnte zurückschauen. Als die Militärregierung, die 1967 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war, 1974 gestürzt wurde, war Griechenland eines der ärmsten Länder Europas. Nach der Rückkehr zur Demokratie wurden Tourismus, Schifffahrt und Landwirtschaft zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen. Die Touristen strömten in Scharen an die weißen Sandstrände griechischer Partyinseln wie Mykonos oder Santorin, und griechische Bauern lieferten Baumwolle, Obst, Gemüse und Olivenöl nach Europa. Insgesamt verzeichnete Griechenland in den 80er und 90er Jahren ein langsames, aber kontinuierliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich etwas weniger als 1,5 Prozent im Jahr.

2001: Wie der EU-Beitritt in Griechenland einen Wirtschaftsboom auslöste

Mit der Aufnahme Griechenlands in die Europäische Union im Januar 2001 setzte ein massiver Wirtschaftsboom ein.
Das aus der EU ins Land strömende Kapital löste einen Bauboom aus
; innerhalb von fünf Jahren stellten europäische Fonds für Infrastrukturprojekte 18 Mrd. Euro zur Verfügung.

Die EU-Gelder stockte die griechische Regierung durch Kreditaufnahme noch ordentlich auf, um Großprojekte wie neue Häfen oder die Wettkampfstätten für die Sommerolympiade 2004 in Athen zu finanzieren. Man baute sogar ein großes Museum, um die griechische Forderung nach einer Rückführung der Parthenonskulpturen zu untermauern – mit 150 Mio. Euro eines der teuersten Kulturprojekte in ganz Europa.[4]

Dank einer Kombination aus EU-Geldern, Investitionen aus dem Ausland und niedrigen Steuer- und Zinssätzen lief die griechische Wirtschaft Mitte des letzten Jahrzehnts auf Hochtouren. Im Februar 2006 sagte der griechische Finanzminister George Alogoskoufis: „Wir haben die Chance, ein Wirtschaftswunder zu erwirken.“
Im Juni jenes Jahres erreichte das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts den Höchstwert von 7,6 Prozent. Zum Vergleich: Portugal und Spanien, die der EU unter vergleichbaren Ausgangsbedingungen beigetreten waren, verharrten bei einem Wirtschaftswachstum von weniger als zwei Prozent pro Jahr.[5]

Unter der Oberfläche jedoch lauerten große Probleme. Um die vielen Infrastrukturprojekte zu finanzieren, machte Griechenland jedes Jahr fünf Prozent Defizit – ohne die hohen Wachstumsraten wäre das ohnehin nicht möglich gewesen.
Dass die Staatsschulden immer weiter anwuchsen, lag aber nur zum Teil an den zu hohen Ausgaben: Um Unternehmen nach Griechenland zu locken, hatte die Regierung die Körperschaftsteuer von 40 Prozent im Jahr 2000 auf 25 Prozent 2007 gesenkt.
Auf einen Nenner gebracht war das, was in Griechenland stattfand, das genaue Gegenteil einer soliden Wirtschaftspolitik: Die Regierung gab in guten Zeiten zu viel aus, anstatt etwas für magere Jahre zurückzulegen.

2008: Der dreifache Schock – wie die Lehman-Pleite die griechische Finanzindustrie erfasste

Als 2008 die Banken in den USA ins Taumeln gerieten, erschütterten die Schockwellen auch die griechische Finanzindustrie. Im Gegensatz zu den Isländern mussten die Griechen jedoch nicht ein, sondern gleich drei finanzielle Erdbeben verkraften.

Zuerst kam der „Nachfrageschock“, ein Sinken der Nachfrage nach griechischen Gütern und Dienstleistungen, und das Erlahmen der Bautätigkeit.
Dann folgte der „Realitätsschock“, als aufgedeckt wurde, dass die griechischen Wirtschaftsdaten gefälscht worden waren.
Und schließlich wurde das Land von einer „Sparkrise“ erfasst – durch den Schock, den die auferlegten Sparmaßnahmen auslösten. Tatsächlich stellte sich bald nach Beginn der Krise heraus, dass die griechische Wirtschaft sehr viel weniger leistungsfähig war, als die Regierung behauptet hatte.
Schon in den Jahren vor der Krise hatte die EU-Statistikbehörde Eurostat wiederholt Zweifel an Berichten zur griechischen Wirtschaftslage angemeldet.
Die Investoren hatten die Alarmzeichen jedoch ignoriert
– bis die Lage Griechenlands im Zuge der Finanzkrise weltweit ins Zentrum des Blickfelds rückte.

Anfang 2010 wurde bekannt, dass die griechischen Staatsfinanzen in einem noch desolateren Zustand waren, als die Revisoren der EU befürchtet hatten. Wie Journalisten aufdeckten, hatten griechische Politiker der Investmentbank Goldman Sachs mehrere Millionen Dollar für das Einfädeln von Transaktionen bezahlt, die es Griechenland in den letzten zehn Jahren überhaupt erst ermöglicht hatten, die EU über den realen Schuldenstand des Landes zu täuschen.
Die Daten zur griechischen Schuldenlast waren manipuliert worden, um den Anschein zu erwecken, Griechenland erfülle die Kriterien für eine Aufnahme in die Währungsunion.
Goldman Sachs hatte die Spuren so gut verwischt, dass der Betrug selbst bei einer detaillierten Prüfung durch Revisoren der Europäischen Union nicht aufflog.

April 2010: Auf Ramschniveau herabgestuft, eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds

Tatsächlich war der griechische Schuldenstand zwischen 2007 und 2010 von 105 Prozent auf 143 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen.[6]
Als Anfang 2010 die Nachricht von der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage in Griechenland die Runde machte, brach Panik aus. Die Ratingagenturen stuften griechische Staatsanleihen im April 2010 auf „Ramschniveau“ herab. Potentielle Investoren, die in Griechenland Geschäftschancen hätten sehen und zur Erholung der griechischen Wirtschaft beitragen können, wurden dadurch abgeschreckt.

Aufgrund der Unsicherheiten begannen die Zinsen auf griechische Staatsanleihen rasant anzusteigen, von zwei Prozent im Jahr 2009 auf zehn Prozent 2010. Dadurch wurde es für Griechenland noch schwieriger, seine Schulden zurückzuzahlen – und die Europäische Gemeinschaft lehnte jede gemeinsame Haftung, die die Zinsen gesenkt hätte, ab.[7]

Dieser Realitätsschock traf Griechenland noch härter als der Nachfrageschock. Das Bruttoinlandsprodukt fiel 2010 um weitere 3,4 Prozent. Die Superreichen hatten ihre Schäfchen derweil längst ins Trockene gebracht, auf Bankkonten in Steuerparadiesen.
Die Leidtragenden waren die einfachen Leute: Die Arbeitslosenquote stieg von 7 Prozent im Mai 2008 auf 17 Prozent im Mai 2011. Bei jungen Leuten, die nach dem Schul- oder Studienabschluss auf der Suche nach ihrem ersten Job waren, wuchs sie sogar von 19 Prozent auf 40 Prozent. Für eine halbe Generation gut ausgebildeter junger Menschen endete der Aufbruch ins Erwachsenenleben in der Arbeitslosigkeit.[8]

Die griechische Gesellschaft stand jetzt am Rande des Abgrunds. Da das Land angesichts der ungewissen Lage die Rückzahlung seiner Schulden nicht garantieren konnte und es über seine Währung auf Gedeih und Verderb an die Eurozone gekettet war, blieben der griechischen Regierung wenig Möglichkeiten, um grundlegende staatliche Aufgaben wie Müllabfuhr oder Feuerwehr weiter zu finanzieren. Griechenland musste den Internationalen Währungsfonds um Hilfe bitten.

Im Mai 2010 bot der IWF Kredite an, die an die typischen Auflagen geknüpft waren: Privatisierung von Infrastruktur und staatlichen Unternehmen sowie Kürzungen bei den Sozialprogrammen. Willigte Griechenland ein, so sollte es im Rahmen eines auf drei Jahre angelegten Rettungsplans zur Reduzierung seiner Schulden vom IWF und der Europäischen Zentralbank Kredite in Höhe von 110 Mrd. Euro erhalten.
Die Gläubiger – unter anderem jene französischen und deutschen Banken, die an der Finanzierung der Immobilienblase mitgewirkt hatten – erklärten sich zu einem sogenannten „Haircut“ bereit, einem Verzicht auf die Hälfte ihrer Forderungen und einer Senkung der griechischen Kreditzinsen.[9]

Insgesamt sah der Plan des IWF innerhalb von drei Jahren Kürzungen in Höhe von 23 Mrd. Euro vor, etwa 10 Prozent der gesamten griechischen Wirtschaftsleistung, sowie den Verkauf staatlicher Unternehmen im Wert von 60 Mrd. Euro. Auf diese Weise sollte das griechische Defizit bis 2014 von 14 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts reduziert werden.
Die Hauptleidtragenden der Kreditvereinbarung mit der Troika würden die Staatsbediensteten sein: Sie mussten sich auf Massenentlassungen und Gehalts- und Pensionskürzungen einstellen.
Ein Sektor indes blieb von Einschnitten verschont: die Polizei. Zweitausend zusätzliche Polizisten wurden eingestellt und gezielt in der Kontrolle von Aufständen geschult. Polizei und Militär wurden mit Tränengas, Schutzausrüstung und Wasserwerfern ausgestattet.[10]

Die griechischen Demonstranten forderten, dass über die Vereinbarung in einem Volksentscheid abgestimmt wird, so wie es in Island geschehen war. Doch das erste Rettungspaket des IWF wurde noch im Mai 2010 verabschiedet, ohne dass das Volk befragt wurde.

Ärzte „im Untergrund“

Die Folgen waren dramatisch: Die ohnehin unzureichenden und durch die drastischen Sparmaßnahmen zusätzlich geschwächten griechischen Sozialsysteme waren auf die plötzliche Zunahme der Anzahl bedürftiger Menschen nicht vorbereitet. Doch wenn ein Gesundheitssystem zusammenbricht, springen bisweilen barmherzige Samariter in die Bresche.
Die „New York Times“ berichtete von einem griechischen Untergrundnetzwerk von Ärzten, die mit Hilfe von gespendeten Medikamenten und Verbandszeug Patienten behandelten, die aus der gesetzlichen Krankenversicherung herausgefallen waren.

Kostas Syrigos, Leiter der Onkologie im Sotiria-Krankenhaus im Zentrum Athens, beschrieb eine Patientin mit dem schlimmsten Brustkrebs, den er je gesehen habe. Aufgrund der von der Troika geforderten Gesundheitsreform hatte sie ein Jahr lang vergeblich auf ihre Behandlung gewartet. Als sie in die Untergrundambulanz kam, war der Tumor bereits durch die Haut gewuchert und nässte ihre Kleidung ein. Sie hatte entsetzliche Schmerzen und tupfte die eiternde Wunde mit Papierservietten ab.
„Ihr Anblick machte uns sprachlos“, erzählte Dr. Syrigos der Journalistin. „Alle hatten Tränen in den Augen. Ich kannte so etwas aus Lehrbüchern, hatte es aber noch nie gesehen, denn bis jetzt wurde in diesem Land jedem geholfen, der erkrankt war.“[11]

Das erklärte Ziel des Sparprogramms der Troika war, „das Gesundheitssystem zu modernisieren“.

Das klang, als sollten derartige Tragödien vermieden werden. Wer hätte etwas gegen die Modernisierung des Gesundheitssystems einzuwenden?
Dass das griechische System reformbedürftig war, war unter Gesundheitsexperten kein Geheimnis. Das Problem lag darin, dass der Plan der Troika nicht von Gesundheitsexperten, sondern von Ökonomen entworfen worden war, die weitestgehend darauf verzichtet hatten, fachmännischen Rat einzuholen.

Der „Sanierungsplan“ des IWF basierte auf völlig willkürlichen mathematischen Grundlagen. Das Ziel war, „die staatlichen Gesundheitsausgaben auf maximal sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen und dabei gleichzeitig die Versorgung aller Bürger sicherzustellen sowie die Qualität der Pflegeleistung zu verbessern“.
Wo die Idee zu diesem Sechs-Prozent-Ziel herkam, wurde nirgends erwähnt und blieb rätselhaft, denn alle anderen westlichen Länder geben sehr viel mehr aus, um grundlegende Gesundheitsdienste zu gewährleisten. In Deutschland zum Beispiel, das zu den ersten Befürwortern des Sparprogramms in Griechenland gehörte, liegen die Gesundheitsausgaben bei über zehn Prozent.

Der IWF drang auf die Umsetzung einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die auf den ersten Blick gut geeignet schienen, das Haushaltsdefizit zu begrenzen, in der Praxis aber dazu führten, dass viele Menschen den Zugang zu Gesundheitsleistungen verloren. So formulierte die Vereinbarung zwischen dem IWF und der griechischen Regierung das konkrete „Ziel, die staatlichen Ausgaben für ambulant verordnete Medikamente von 1,9 auf 1,33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken“.

Der IWF hatte den Kostenanstieg bei Medikamenten zwar richtig diagnostiziert. Nach dem EU-Beitritt Griechenlands 2001 waren die Ausgaben für Arzneimittel in schwindelerregende Höhen gestiegen.
Ein Grund dafür war die Korruption: So gab es zahlreiche Berichte, wonach Ärzten von Pharmafirmen große Summen überwiesen wurden, damit sie mehr Medikamente verschreiben.
Mit seinem Therapievorschlag machte der IWF jedoch alles nur noch schlimmer. Anstatt die Vermarktung und den Verkauf von Arzneimitteln strenger zu reglementieren, kürzte man die Budgets der Krankenhäuser. Schon bald gingen den ersten daher die Antibiotika aus. Die Warteschlangen wurden zuerst doppelt, dann dreimal so lang.
Viele Patienten fanden selbst in großen städtischen Krankenhäusern keinen Arzt. Und der Rückzug des Pharmaunternehmens Novo Nordisk, das für seine Produkte nach den von der Troika verfügten Preissenkungen keine angemessene Bezahlung mehr erzielen konnte, kostete nicht nur Arbeitsplätze, sondern 50 000 griechischen Diabetikern fehlte plötzlich das lebenswichtige Insulin.[12]

Umfragen kamen derweil zum Ergebnis, dass die Griechen sich immer kränker fühlten. 2009 lag die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihren Gesundheitszustand als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ beschrieben, 15 Prozent höher als zwei Jahre zuvor. Solche Selbsteinschätzungen korrelieren in aller Regel mit der Sterberate, weshalb sie häufig als Indikator für den Gesundheitszustand einer Gesellschaft herangezogen werden, wenn andere Daten nicht verfügbar sind.

Eine ständige Abwärtsspirale aus Budgetkürzungen, Praxisschließungen und noch mehr „verdeckten“ Kosten

Die Kombination aus Rezession und Sparmaßnahmen sorgte letztlich für eine ständige Abwärtsspirale aus Budgetkürzungen, Praxisschließungen und noch mehr „verdeckten“ Kosten.
Alten Menschen fiel es besonders schwer, sich an die Veränderungen eines Systems anzupassen, auf das sie sich ein Leben lang verlassen hatten. Insgesamt haben in der Zeit der Rezession und des Sparens nach unseren Schätzungen mindestens 60 000 Griechen über 65 Jahre auf notwendige medizinische Maßnahmen verzichtet.

Da zahlreiche Präventionsprogramme aufgrund der Sparmaßnahmen eingestellt wurden, breiteten sich Infektionskrankheiten rasant aus.
40 Jahre lang war in Griechenland die Ausbreitung von Krankheiten, die durch Mücken übertragen werden, durch das Sprühen von Insektiziden verhindert worden. Nachdem im Süden Griechenlands die Mittel für die Prävention gekürzt worden waren, kam es im August 2010 zu einer Ausbreitung des West-Nil-Virus, dem 62 Menschen zum Opfer fielen. Wenig später wurde zum ersten Mal seit 1970 ein Malariaausbruch registriert.
Das Europäische Zentrum für die Prävention und Eindämmung von Krankheiten empfahl allen, die in den Süden Griechenlands reisten, sich mit Malariamitteln, Mückenspray und einem Moskitonetz einzudecken. Bislang war diese besondere Warnung Reisenden in den Süden Afrikas oder in die asiatischen Tropen vorbehalten.

Doch nicht nur die körperliche, auch die seelische Gesundheit wurde massiv in Mitleidenschaft gezogen. Die Zahl der Selbstmorde stieg zwischen 2007 und 2009 um 20 Prozent. Die Anzahl der Menschen mit psychischen Problemen, die bei karitativen Organisationen Hilfe suchten, verdoppelte sich.
Und dabei dürfte es sich nur um die Spitze des Eisbergs handeln. Viele dürften ihre Probleme für sich behalten, weil psychisch Kranke in Griechenland nach wie vor stigmatisiert werden. So verweigert etwa die griechisch-orthodoxe Kirche Menschen, die sich selbst getötet haben, ein kirchliches Begräbnis.
Insofern überrascht es wenig, dass Griechenland im fraglichen Zeitraum auch einen Anstieg von „Verletzungen unbekannter Ursache“ verzeichnete, mit denen nach Ansicht vieler Ärzte Selbstmorde vertuscht werden sollten, um die Ehre der betroffenen Familien zu retten.[13]

Am überraschendsten jedoch dürfte die HIV-Epidemie im Herzen Athens gewesen sein – die erste in Europa seit Jahrzehnten. Der Großteil der neuen HIV-Fälle geht eindeutig auf das Konto infizierter Nadeln: Unter Drogenabhängigen hatte sich die Zahl der Neuinfektionen zwischen Januar und Oktober 2011 verzehnfacht.
„Ich habe auf den Straßen von Athen noch nie so viele Drogenabhängige gesehen“, erzählte uns eine Kollegin. Zahlen der Athener Polizei bestätigen ihren Eindruck: Der Heroinkonsum hatte zwischen 2010 und 2011 um 20 Prozent zugenommen, da immer mehr verzweifelte Menschen – vor allem junge – auf der Straße lebten und drogenabhängig wurden.[14]

Die Weltgesundheitsorganisation weiß durchaus, wie der Ausbreitung von HIV über infizierte Nadeln beizukommen ist. Ihrer Empfehlung nach sollten jedem Drogenabhängigen jährlich etwa 200 sterile Nadeln zur Verfügung gestellt werden.
Doch ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als griechische Epidemiologen vor einer HIV-Epidemie unter Drogenabhängigen warnten, wurde das Budget des Nadelaustauschprogramms in Griechenland zusammengestrichen. Mit der Konsequenz, dass für jeden Drogenabhängigen, Schätzungen des Hellenischen Zentrums zufolge, nur drei Nadeln vorgesehen waren.[15]

Vorbild Island: Die demokratische Alternative

Gewiss, die Optionen des griechischen Gesundheitsministeriums waren in dieser Lage begrenzt, war das Gesundheitsbudget doch um 40 Prozent gekürzt worden.
Es gab aber eine politische Alternative: nämlich die demokratische Option. Wie man die Bürger vor ausländischen Investoren schützen kann, die lautstark ihr Geld zurückverlangen, hatte Island vorgemacht.

Also beschloss Premierminister Papandreou im November 2011 – just zu dem Zeitpunkt, als die HIV-Epidemie bekannt wurde –, dem isländischen Beispiel zu folgen.
Er kündigte eine Volksabstimmung über das zweite Sparpaket des IWF und der Europäischen Zentralbank an. Für die Griechen war inzwischen unübersehbar, dass das Sparprogramm nicht die erhoffte Wirkung entfaltete. Trotz aller Haushaltskürzungen waren die Staatsschulden bis 2011 weiter angewachsen – auf nunmehr 165 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Doch unter dem Druck der Troika und europäischer Spitzenpolitiker, die rasche Rückzahlungen an die Investoren aus Deutschland und anderen Ländern forderten, sah Papandreou sich gezwungen, das Referendum abzusagen.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Europa am Südufer des Mittelmeers voll des Lobes für das Erwachen der arabischen Demokratie war und gleichzeitig am Nordufer des Mittelmeers, in Griechenland, der Wiege der Demokratie, eine demokratische Abstimmung hintertrieb.[16]

Die Konsequenzen für Griechenland waren gewaltig: Allein im Jahr 2009 sank das Gesundheitsbudget von 24 Mrd. auf 16 Mrd. Euro, und mit dem zweiten Sparpaket 2012 sollte es noch schlimmer kommen. Das erklärt auch, weshalb das griechische Gesundheitsministerium keine Reserven hatte, um den sich abzeichnenden HIV- und Malaria-Epidemien zu begegnen.

Speziell für Immigranten waren bereits in den Jahren 2009 und 2010 ein Drittel der Gesundheitsleistungen weggekürzt worden. Durch das zweite Sparpaket wurden die entsprechenden Programme völlig ausgehöhlt und konnten mit der Nachfrage in keiner Weise mehr Schritt halten.
Diese Nachfrage kam aber inzwischen nicht primär von den Einwanderern, für die die Programme ursprünglich gedacht waren, sondern von Seiten der Griechen.
Laut einer Schätzung der Hilfsorganisation Médecins du Monde (die eigentlich vorrangig in Entwicklungsländern aktiv ist) ist der Anteil der Griechen, die sich in den von ihr betriebenen „Straßenkliniken“ behandeln ließen, von 3 Prozent vor der Krise auf nunmehr 30 Prozent angestiegen.
Eine weitere internationale Organisation, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen), die normalerweise in Flüchtlingslagern in kriegsgeplagten Regionen tätig ist, startete in Griechenland ein Nothilfeprogramm.

Aus gutem Grund: Im Juli 2012 beschrieb Dr. Samuel R. Friedman, Leiter der Abteilung HIV/Aids des National Development and Research Institute in New York, die Lage in Griechenland als alarmierend: Die griechische Regierung schaffe ein „Epizentrum für die Ausbreitung des [HIV-]Virus in Griechenland und darüber hinaus.“
Und auch der Bericht von Dr. Marc Sprenger, Direktor des Europäischen Zentrums für die Eindämmung und Prävention von Krankheiten, nach einer zweitägigen Rundreise zu griechischen Krankenhäusern und Ambulanzen sorgte international für Schlagzeilen. „Ich habe Einrichtungen gesehen, wo die finanzielle Ausstattung nicht einmal für grundlegende Dinge wie Handschuhe, Kittel und alkoholgetränkte Tupfer ausreicht.“
Sprengers Urteil war vernichtend: „Dass die Lage im Hinblick auf antibiotikaresistente Infektionen in Griechenland sehr ernst ist, war uns bereits bekannt. Nach meinem Besuch in Krankenhäusern vor Ort bin ich nunmehr überzeugt, dass es in diesem Kampf fünf vor zwölf ist.“[17]

Das belegen auch die Zahlen: Demnach hatte zwischen 2008 und 2010 beziehungsweise 2011 (dem jeweils letzten Jahr, für das Zahlen vorlagen) die Kindersterblichkeit um 40 Prozent und die Zahl der unbehandelt gebliebenen Erkrankungen um 47 Prozent zugenommen.
Doch da das Gesundheitsministerium seinerseits vermied, verschiedene Standard-Gesundheitsdaten zu erheben und öffentlich zugänglich zu machen, sprangen zusehends investigative Journalisten in die Bresche.
Sie berichteten von Drogenabhängigen, die sich bewusst mit HIV infizieren, um staatliche Hilfen in Höhe von 700 Euro pro Monat zu erhalten, von Eltern, die ihre Kinder aussetzen, weil sie nicht genug Geld haben, für sie zu sorgen, und über die Tatsache, dass es zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Fälle von Müttern gebe, die ihre Kinder mit HIV infiziert hätten, weil die routinemäßige Untersuchung von Schwangeren auf HIV ausgesetzt worden sei.[18]

Und Journalisten deckten noch einen weiteren Angriff auf die Gesundheit griechischer Bürger auf: Die Regierung ließ die Kriterien für den Bezug von Sozialhilfe und Erwerbsunfähigkeitsrenten so umschreiben, dass immer weniger Griechen bezugsberechtigt waren – laut Gesundheitsminister eine Maßnahme gegen „Sozialbetrug“.

Sparen zu Lasten der griechischen Bürger

Faktisch belasteten die Sparbemühungen in Griechenland eindeutig jene, die den eigentlichen Reichtum des Landes ausmachen: die griechischen Bürger.
Der radikale Umbau des Gesundheitssystems, so George Patoulis, Vorsitzender der Medizinischen Vereinigung Athens, habe zu einem einzigen Chaos geführt.
Keiner habe mehr den Durchblick, welche Patienten Anspruch auf welche Leistungen hätten. Aufgrund der Zahlungsrückstände der Sozialkassen traten 2012 sogar die Apotheker in einen zweitägigen Streik und drohten, viele von ihnen müssten wegen der Einschnitte schließen.
Die griechische Regierung jedoch ignorierte das zunehmende Elend einfach und setzte ihre Attacken auf die Gesundheit der griechischen Bevölkerung mit unverminderter Härte fort. Während die Erhebung und Analyse von Gesundheitsdaten offensichtlich keinerlei Priorität hatte, forderte die Troika immer neue Sparmaßnahmen.
Ende November 2012 stimmten der IWF und seine europäischen Partner schließlich dem dritten griechischen Sparpaket zu – das im Gesundheitsbereich die Kürzung von weiteren zwei Mrd. Euro vorsah.

Für die Sparanstrengungen erhielt Griechenland im Gegenzug 28 Mrd. an Notkrediten – trotzdem stiegen die Staatsschulden weiter an und erreichten 2012 ein Rekordniveau von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Warum die vielen Milliarden weder die erhoffte Konjunkturbelebung brachten noch den Schuldenstand eindämmten, schien unbegreiflich.
Doch wie Nachforschungen der „New York Times“ ergaben, schleusten der IWF und die Europäische Zentralbank das Geld auf dem Umweg über Griechenland direkt nach Großbritannien, Frankreich, die USA und Deutschland – auf die Konten jener Gläubiger, die die griechische Investitionsblase mitverursacht hatten. Die mobilisierten staatlichen Mittel dienten also nicht dazu, Griechenland zu helfen, sondern das unklug investierte Geld der globalen Bankenelite zu retten.

Wie schon nach den Krisen in Ostasien und Island gab der IWF 2012 im Nachhinein zu, die negativen Auswirkungen der Sparprogramme unterschätzt zu haben.
Eines der wichtigsten Argumente für den Sparkurs war der vom IWF angenommene Staatsausgabenmultiplikator gewesen – ein statistisch ermittelter Wert, der angibt, wie viel Wirtschaftswachstum mit einem Euro Staatsausgaben generiert werden kann. Der IWF hatte diesen Multiplikator auf 0,5 geschätzt. Das hätte bedeutet, dass sich die Konjunktur umso besser erholt, je größer die Einschnitte in den Staatshaushalt ausfallen.
Tatsächlich erwiesen sich die wirtschaftlichen Folgen der Sparmaßnahmen jedoch als sehr viel negativer als vom IWF vermutet. Am Ende musste der IWF eingestehen, dass er mit seinen Schätzungen falsch gelegen hatte. Im Februar 2012 beauftragte er seine Volkswirte, die Multiplikatoren neu zu schätzen. Diese kamen zu dem gleichen Ergebnis wie wir: Der Staatsausgabenmultiplikator war größer als 1.
Die angeblichen „Hilfen“ lösten daher eine Abwärtsspirale aus Arbeitsplatzverlusten, weniger Geld für den Konsum und einem Vertrauensverlust bei den Investoren in ganz Europa aus – und schufen letztlich die Grundlage für ein Gesundheitsdesaster.[19]

Sparen an der falschen Stelle: Der Gesundheitssektor als Wachstumssektor

Der Fehler lag jedoch nicht nur im Sparkurs an sich, sondern vor allem darin, dass an der denkbar falschen Stelle gespart wurde. Staatliche Mittel, die in das Gesundheitssystem investiert werden, tragen sehr viel schneller Früchte als in anderen Bereichen.
Tatsächlich gehört der Gesundheitssektor zu den wenigen Branchen, die in Europa und Nordamerika trotz der Krise gewachsen sind. Investitionen im Gesundheitsbereich schaffen neue Arbeitsplätze (für Krankenpfleger, Ärzte und Laboranten), bringen die technologische Entwicklung voran (durch Laborforschung und Innovationen) und kurbeln die Wirtschaft somit sehr viel stärker an als staatliche Investitionen in fast allen anderen Bereichen.

Griechenland gerade auf diesem Gebiet harte Opfer abzuverlangen, war jedoch letztlich weniger eine wirtschaftliche als eine politische Strategie.
Es war eine Warnung an die anderen europäischen Länder, ja an die ganze Welt: Spielt nach den Regeln der Banker, sonst ergeht es euch schlecht.
Die deutsche Bundeskanzlerin bezeichnete das griechische Rettungspaket als Lektion für das übrige Europa: „Diese Länder sehen jetzt, dass der Weg, den Griechenland mit dem IWF eingeschlagen hat, kein leichter ist. Sie werden daher alles unternehmen, damit es ihnen nicht genauso ergeht.“[20]

Wie die griechische Tragödie gezeigt hat, können Sparprogramme eine strauchelnde Volkswirtschaft nicht vor dem Absturz bewahren.
Im Gegenteil: Sie sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Es gibt jedoch andere Wege als Sparprogramme. Ungeachtet ihrer Forderungen, dass Griechenland seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber deutschen Investoren umgehend nachkommen muss, erkannten selbst einige deutsche Politiker, wie töricht Kürzungen der Sozialausgaben aus wirtschaftlicher Sicht sind.
Deutschland selbst legte 2009 ein 50 Mrd. Euro schweres Konjunkturprogramm auf. Auf dem Weltgesundheitsgipfel 2012 in Berlin lobte der damalige deutsche Gesundheitsminister Daniel Bahr die Ergebnisse und argumentierte, Investitionen in die sozialen Sicherungssysteme seien unerlässlich, um das Wirtschaftswachstum in Gang zu bringen.[21]

Doch während Europa Banken rettete, die die Finanzmärkte in die größte Krise seit der Großen Depression gesteuert hatten, bestrafte es die griechischen Bürger, als seien sie für die Bilanzfälschungen und die wirtschaftliche Strategie ihrer Regierung verantwortlich.
Der Ökonom James Galbraith bezeichnete den Umgang mit dem griechischen Volk sogar als eine Form der „Kollektivstrafe“. Eine solche Bestrafung ist in Europa ohne Beispiel. Selbst Deutschland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz der Verursachung unermesslichen Leides, im Rahmen des Marshallplans von umfangreichen Investitionen profitiert, die das Wirtschaftswunder überhaupt erst ermöglichten.[22]

Da überrascht es nicht, dass die Griechen heute verzweifelt und wütend sind. Zu besonders heftigen Ausschreitungen kam es anlässlich des Griechenlandbesuchs von Angela Merkel im Oktober 2012. Die 6000 zu ihrem Schutz mobilisierten Polizisten gingen mit Pfefferspray und Blendgranaten gegen Demonstranten vor, die Steine warfen, Nazifahnen verbrannten, „Kein viertes Reich!“ skandierten und Transparente mit Aufschriften trugen wie „Merkel raus, Griechenland ist keine Kolonie“, „Das ist nicht die EU, sondern Sklaverei“ oder „Sie machen uns das Leben zur Hölle“.
Der Widerspruch, dass ausgerechnet Deutschland in Griechenland auf dem rigiden Sparkurs beharrt, obwohl es nach 1945 von den USA und dem übrigen Europa selbst „gerettet“ wurde, ist den Griechen nicht entgangen.[23]

Keine Frage: Die Griechen sind nicht nur die Opfer von Fehlern, die andere gemacht haben. Viele Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt, Steuern hinterzogen und ihre Bilanzen gefälscht.
Doch erst das Krisenmanagement der griechischen Regierung hat dafür gesorgt, dass aus einer schlechten wirtschaftlichen Lage ein Gesundheitsdesaster wurde.
Während es den Isländern heute gesundheitlich ähnlich gut geht wie den Amerikanern zu Zeiten des „New Deal“, gleicht der Gesundheitszustand der Griechen heute zunehmend dem der Russen – nach der neoliberalen Schocktherapie und Massenprivatisierung in den 90er Jahren.

* Der Beitrag basiert auf dem jüngst im Verlag Wagenbach erschienenen Buch der Autoren: „Sparprogramme töten. Die Ökonomisierung der Gesundheit“.