Wie deutsche Bischöfe und katholische Laien die Entschädigung ihrer Missbrauchsopfer hintertreiben

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Einer meiner Patienten ist selbst Opfer – von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, von bürokratischer Verschwörung und parteiischen Gutachtern heute.
Hier wird es beschrieben:
https://www.fr.de/kultur/kirche-missbrauch-deutsche-bischoefe-katholische-laien-entschaedigung-opfern-hintertreiben-13284905.html
Auszüge:

Eckiger_TischDie katholische Kirche geht bei der Entschädigung von Missbrauchsopfern alles andere als seriös vor.
Kirchenrechtler Norbert Lüdecke klärt auf.

Der 2010 von der Bundesregierung einberufene Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ hatte in seinem Abschlussbericht die Einrichtung eines Hilfesystems gefordert.
Deutsche_Bischofskonferenz2011 führten die Deutsche Bischofskonferenz daraufhin beim Büro für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich die „Zentrale Koordinierungsstelle“ (ZKS) mit dem Verfahren für Leistungen in Anerkennung des Betroffenen zugefügten Leids ein. Die ZKS spricht seither auf Antrag und nach einer Plausibilitätsprüfung Empfehlungen an die Diözesen und Ordensgemeinschaften aus für materielle Leistungen zwischen 1000 Euro und 15.000 Euro.

267902142-zebra-happy-lack-nice-55jd99g1-e10a479ece0e.jpgKirche und Missbrauch: Kritik am Verfahren

Das Verfahren hat Kritik auf sich gezogen. Schon die vielfache kirchliche Sprechweise vom „Glauben Schenken“ zeigt Reste von Gönnerhaftigkeit.
Betroffene wissen zudem nicht, wer die Anträge sieht, wer über sie berät und die Empfehlungen beschließt, denn die ZKS-Mitglieder werden geheim gehalten – auf Nachfrage geben selbst Bischöfe und Missbrauchsbeauftragte an, sie nicht zu kennen.
Es heißt, dies geschehe „u. a.“ zum Schutz der Mitglieder und sei zum Teil auch von diesen selbst so gewünscht.

Was sie zu befürchten hätten und welche anderen Gründe es für die Geheimhaltung noch geben könnte, ist nicht nachvollziehbar.
Hinzu kommt: Die Höhe der Leistungen wird von vielen als unangemessen empfunden, und die Praxis ihrer Gewährung durch die Diözesen und Ordensgemeinschaften ist sehr unterschiedlich.
Ein gemeinsames verbindliches Vorgehen gibt es nicht. Transparenz und Unabhängigkeit sehen anders aus.

Kirch und Missbrauch: Experten empfehlen Wechsel zu Schmerzensgeld

Mitte 2019 beauftragte die Deutsche Bischofskonferenz eine Arbeitsgruppe, Grundsätze für eine Überarbeitung des Verfahrens vorzulegen. Von Betroffenenseite gehörte ihr Matthias Katsch als Sprecher und Geschäftsführer der Betroffenenorganisation „Eckiger Tisch“ an.
Als Ergebnis wurden von Bischof Stephan Ackermann (Trier) auf der Vollversammlung der Bischofskonferenz Ende September 2019 „Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Verfahrens zur Anerkennung des Leids“ vorgestellt.
Eine Empfehlung war, Schmerzensgeld oder eine Entschädigung zu zahlen als „Ausdruck einer Haltung kirchlicher Verantwortungsträger…, die individuelles oder institutionelles Versagen beim Umgang mit Tätern und Opfern anerkennt und Verantwortung für die Folgen von Schuld und Versagen übernimmt“.

Über eine Grundentschädigung in Höhe von 10.000 Euro hinaus sollten künftig entweder pauschal 300.000 Euro oder gestuft z. B. zwischen 40.000 Euro und 400.000 Euro gezahlt werden.
Ein entsprechender Fonds könne grundsätzlich auch aus Kirchensteuermitteln, solle aber vorrangig aus anderen kirchlichen Quellen finanziert werden, unter anderem aus Mitteln der Bischöflichen Stühle.
Dabei sollte „außer Streit stehen, dass der Einwand, es fehle an Geld, nicht überzeugen kann und die Glaubwürdigkeit aller Versuche, Verantwortung für die Folgen von Schuld und Versagen zu übernehmen, von vornherein in Frage stellt.“

Kirche und Missbrauch: Eindruck eines veritablen episkopalen Coups

Soweit die Vorgeschichte. Und nun folgt ein zum Teil auf Videos nachvollziehbares Szenario, das den Eindruck eines veritablen episkopalen Coups erwecken kann: Es beginnt mit kurzen Stellungnahmen vor der Presse am 25. September: Bischof Stephan Ackermann äußert sich wortreich, allerdings vor allem zur Vorgeschichte.
Den von Katsch zuvor betonten Wechsel von der Leidanerkennung zur Verantwortungsübernahme durch Entschädigungen würdigt der Bischof als wichtige „begriffliche Unterscheidung“, um dann im Folgenden die Ausdrücke „Entschädigung“ oder „Schmerzensgeld“ bis auf eine Ausnahme nicht über die Lippen zu bekommen.

Trotz der Warnung der Arbeitsgruppe und vor aller weiteren Befassung mit den Empfehlungen verkneift er sich den Hinweis nicht, alles müsse von Bistümern und Orden auch leistbar sein.
Auf die lange Bank geschoben werde jedoch nichts, die weiteren Fragen seien zügig zu klären.

Kirche und Entschädigungen: Scheindebatten über Kirchensteuer

Sprach’s und lässt dann am 10. November wissen, die Entschädigungsleistungen seien von der Solidargemeinschaft, also aus Kirchensteuermitteln aufzubringen. Davor hatte der Jesuitenpater Klaus Mertes zuvor bereits gewarnt.
Ackermann riskiert später sogar – ob absichtsvoll oder nicht und mit anschließender Entschuldigung – den provokanten Vergleich, für Andi Scheuers Autobahnen müssten ja auch alle zahlen.

Die vorhersehbare Reaktion tritt prompt ein: Statt das Entschädigungsverfahren zügig zu konzipieren, wird eine Kirchensteuerdebatte bei den Laien induziert, werden diese gegen die Missbrauchsbetroffenen ausgespielt.
Und die Laien machen reflexartig mit: Sofort warnt der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, vor der Empörung der Gläubigen und nutzt die Gelegenheit für den weitergehenden Hinweis, die Kirche habe nicht beliebige Mittel für Entschädigungen, die in Europa in dieser Höhe noch nie gezahlt worden seien.
Gleich danach legt die Vizepräsidentin Claudia Lücking-Michel auf der ZdK-Vollversammlung nach: Zu befürchten sei eine schwere Akzeptanzkrise der Kirchensteuer und eine weitere Austrittswelle. Auch sie fügt gleich hinzu, die Kirche müsse ihre vielfältigen Aufgaben schließlich weiterhin wahrnehmen können.

Für klerikale Missbrauchstäter gelten bis heute keine konkreten Sanktionen

Das ist eine interessante Güterabwägung: Nicht Kirchensteuermittel nur nachrangig einsetzen, wenn andere Ressourcen möglicherweise nicht ausreichen, sondern von vorneherein gar nicht, weil sonst das Kirchensteuersystem leiden könnte. Laien wissen, wie wichtig den katholischen Hierarchen die Kirchensteuer ist. Sie haben ja erlebt, wie die Bischöfe in seltener Einigkeit und bemerkenswert hartnäckiger Geheimdiplomatie der Römischen Kurie die Kompetenz abgerungen haben, den staatlich erklärten Kirchenaustritt gesetzlich zu sanktionieren: Seit 2012 zieht jeder „Kirchenaustritt“ – übrigens auch der von Missbrauchsopfern – kirchenrechtlich automatisch die fast völlige Entrechtung nach sich.
Gemessen an der Sanktionsdrohung, zählt er damit in der Kirche zu den sehr schweren Verfehlungen.
Für klerikale Missbrauchstäter gelten hingegen bis heute keine konkreten Sanktionen und schon gar nicht solche, die mit der Tat eintreten.

Aber die Laien, die hier die Kirchensteuer verteidigen, sind ja mit den Bischöfen zurzeit auf dem „Synodalen Weg“ und zwar erklärtermaßen „in kirchlichem Sinn“, das heißt im klassischen Verständnis in jener Haltung, die Entscheidungen der kirchlichen Autorität grundsätzlich mehr zutraut als dem eigenen Urteil.
Claudia Lücking-Michel geht noch weiter: Bei der Frage der Entschädigung müsse eine Lösung gefunden werden, die auf Dauer von beiden Kirchen in Deutschland gemeinsam vertreten werden kann. Sie äußert dies im erklärten Wissen darum, dass die EKD sich gerade erst gegen eine Entschädigungslösung ausgesprochen hat.
Also auch katholisch: Entschädigung ade? Der Kölner Kardinal Rainer Woelki hatte erst unlängst den größer werdenden sozialethischen Dissens zu den evangelischen Gemeinschaften beklagt. Bahnt sich hier also eine neue ökumenische Annäherung an?

Kirche und Missbrauch: Katholische Bischöfe und die Übernahme von Verantwortung

Aus welchem Grund sollten sich katholische Bischöfe sonst für die Übernahme ihrer Verantwortung für Missbrauch in der Kirche daran orientieren, ob, wann und wie dasselbe in einer anderen kirchlichen Gemeinschaft geschieht?
Aber es geht noch weiter.

Auf derselben ZdK-Vollversammlung im November 2019 meldet sich der Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, zu Wort. Er ist seit 2016 Geistlicher Assistent des ZdK, das heißt er berät es in geistlichen und theologischen Fragen und hält in besonderer Weise den Kontakt zur Deutschen Bischofskonferenz.
Heße weitet den Horizont nochmals. Man müsse nicht nur ökumenisch abgestimmt vorgehen, sondern sich im Miteinander mit anderen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen verständigen. Gerechtigkeit sei hier nur gesamtgesellschaftlich zu erreichen: „Denn es kann ja nicht sein, dass irgendein Mensch, der betroffen ist, deswegen mehr bekommt, weil es im Kontext Kirche geschehen ist, und wenn es im Sportverein geschehen wäre, dann bekommt er halt weniger.“

Kirche und der Missbrauchsskandal: Sexualstraftäter in Seelsorge eingesetzt

Man braucht einen Moment, um sich klar zu machen, was der Erzbischof hier vertritt: Der ehemalige Personalchef des Erzbistums Köln, während dessen Amtszeit ein staatlich verurteilter Priester-Sexualstraftäter weiter in der Seelsorge eingesetzt war, bevor er erneut in ein Nachbarbistum abgeschoben wurde (diesmal nach Essen), stellt sich als „geistlicher“ Assistent vor das versammelte ZdK hin und erklärt: Gerecht sei es nur, wenn die Kirche Bedürftigen nicht mehr zukommen lasse als den kleinsten Nenner, auf den man sich gesamtgesellschaftlich einigen kann.

Da ist sie wieder, die Einebnung des kirchlichen Missbrauchsskandals in ein gesamtgesellschaftliches Problem: Sicher schlimm, aber die anderen sind ja genauso, wenn nicht sogar schlimmer.
Von Anfang an, seit es der katholischen Kirche schnell gelungen war, einen zunächst nach dem Vorbild anderer Länder angeregten eigenen Runden Tisch zur Aufarbeitung des Missbrauchs durch Kleriker und damit eine längerfristige Fokussierung auf den sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen zu verhindern, wird die institutionsspezifische Perspektive immer wieder weggeblendet oder durch Äußerungen wie die von Heße überblendet oder unterlaufen.

Kirche und Missbrauch: Man hofft, jemand möge laut „How dare you?“ rufen

Schon der damalige Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, glaubte zu wissen: „Sexueller Missbrauch von Kindern ist kein spezifisches Problem der katholischen Kirche“.
Kollateral entlarvend zeigt dieses Gerechtigkeitsverständnis zudem, wie weit es her ist mit dem besonderen Profil des Sozialträgers katholische Kirche, das an anderer Stelle ja dazu dient, ein eigenes Arbeitsrecht zu rechtfertigen.
Als Beobachter von Heßes Wortmeldung hofft man, jemand möge laut „How dare you?“ rufen, stattdessen hört man Applaus im ZdK.
Noch am Rande der Versammlung sekundiert die Vizepräsidentin Karin Kortmann zudem mit dem Hinweis, ein kirchlicher Alleingang drohe Opfer erster und zweiter Klasse zu schaffen.
Soll das heißen: Da schaffen wir doch lieber alle gemeinsam nur Opfer dritter Klasse?

Worauf es hinausläuft, zeigen anschaulich zwei weitere Stellungnahmen: Der Diözesanrat der Katholiken im Bistum Rottenburg-Stuttgart beschließt: „… einen Alleingang der katholischen Kirche [darf es] nicht geben. Vielmehr muss in einem geregelten Verfahren eine zügige Abstimmung mit evangelischen Kirchen, staatlichen und kommunalen Einrichtungen, Vereinen, Verbänden usw. vorangehen“.
Und für den Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, wäre es zudem fatal, mit einem kirchlichen Alleingang „in diese alte Falle zu tappen“. Man müsse auch noch mit dem Justizministerium abstimmen, wie die Dinge zu regeln sind.
Welche Dinge? Wie man eigene Mittel verwendet? Sonst trägt man gegen jede auch nur vermutete staatliche Einmischung doch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht vor sich her.
Und welche Falle? In der katholischen Kirche Verantwortung zu übernehmen für tausendfachen Missbrauch und seine Vertuschung?

Kirche und Missbrauch: Fazit

Nichts gegen die Kritik daran, für Entschädigungen primär auf den Kirchensteuertopf zuzugreifen und damit nicht nur alle Gläubigen, sondern auch die katholischen Missbrauchsopfer selbst mit in Regress zu nehmen.
Aber alles gegen das, was hier passiert: Vordergründig gehen die Bischöfe auf die Kritik am geltenden Verfahren ein und beauftragen eine Arbeitsgruppe mit Änderungsvorschlägen.
Die zentrale Empfehlung von Entschädigungszahlungen schaffen sie anschließend bereits im Ansatz vom Tisch, indem sie eine Kirchensteuerdiskussion lostreten.

Statt mit gutem Beispiel voranzugehen, wollen sie auf andere Täterorganisationen warten, wohl wissend, dass damit eine Entschädigung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben ist.
Sollte es wirklich sein können, dass die Bischöfe kirchlich Betroffene erst und nur dann entschädigen wollen, wenn anderen auch außerhalb der Kirche Gerechtigkeit widerfahren ist?
Die fahrlässig untätigen oder vertuschenden Hierarchen haben schon bisher erfolgreich den Sand der Verjährung rieseln und Täter- wie Opferleben verstreichen lassen.
Sie führen die Verschleppung strategisch oder gedankenlos einfach fort und finden in den katholischen Funktionärslaien willige Helfer.

Und die Betroffenen? Sie erfahren erneut, was sie eigentlich wussten und doch manchmal immer noch nicht glauben wollen: wie trügerisch es ist, von verbal freundlicher Zugewandtheit eines katholischen Bischofs auf seine ehrliche Unterstützungsbereitschaft zu schließen.

Zur Person

Norbert Lüdecke, geb. 1959, ist Universitätsprofessor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Honorarprofessor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Goethe-Universität Frankfurt. (jf)

Jochen

Israelkritik unerwünscht: Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Vertreter palästinensischer und jüdischer Organisationen wollten in Bonn über „Israels rechte Freunde in Europa und in den USA“ informieren. Daraufhin starteten Pro-Israel-Aktivisten kurzerhand eine Kampagne zur Verhinderung dieser „antisemitischen“ Veranstaltung.
k leukefeldWie gut organisiert die Meinungsmache, politische Einflussnahme und Korruption seitens der Israel-Lobby zum Schaden der USA dort funktioniert, das haben bereits John J.Mearsheimer und Stephen M.Walt in ihrem gleichnamigen, sehr ausführlichen Buch bereits 2007 analysiert, ebenso Findley in seinem Buch „Die Israel-Lobby“.

paul findleydie israel lobby

Die gleichen Muster zeichnen sich, wie kaum anders zu erwarten, auch in Deutschland ab, inklusive der Faktenfälschung, Zensur und dem Verstoß gegen alle Regeln der Sozialwissenschaft und Publizistik in der Wikipedia, siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2018/09/08/wie-ein-antideutscher-fanatiker-in-wikipedia-seit-jahren-hetzartikel-unterbringt-die-linke-schadigt-und-warum-bish-er-niemand-ihn-bremst/.

Unsere Freundin Karin Leukefeld, mir von zahlreichen Vorträgen in Augsburg bekannt, deckt hier eine „Verschwörung“ auf.
Es ist kein Wunder, dass sie das nicht in den deutschen Leim-Medien veröffentlichen kann, deshalb hier, und mit einigen wichtigen Verweisen:

https://deutsch.rt.com/meinung/84317-meinungsfreiheit-in-deutschland-in-gefahr/

Auszüge:

Referent ist der Wirtschaftsforscher Shir Hever, ein israelischer Staatsbürger jüdischen Glaubens, der in Deutschland lebt.
Veranstalter ist die Bonner Sektion der Palästinensischen Gemeinde Deutschland. Mitveranstalter sind unter anderen die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ und eine Bonner Gruppe, die die Kampagne „Boykott, Desinvestition, Sanktion“ (BDS) unterstützt.

Die 2007 in Berlin gegründete „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ gehört zu einer europäischen Föderation von 18 Organisationen in neun europäischen Ländern, die sich 2002 zusammenschlossen.
Die 2005 ursprünglich von der palästinensischen Zivilgesellschaft gegründete BDS-Kampagne orientiert sich an dem Vorbild der Anti-Apartheidbewegung in Südafrika.
Sie richtet sich gegen die israelische Besatzungspolitik und die Ungleichbehandlung der arabischen Israelis.

Unter dem Motto „Nein zum Judenhass – Nein zum BDS“ hatten die Internet-Portale „Ruhrbarone“, Honestly Concerned und eine bundesweite Twittergemeinde zum Protest gegen die Veranstaltung aufgerufen. Wochenlang hatten Aktivisten aus ganz Deutschland gegen die Veranstaltung der Palästinensischen Gemeinde Deutschland in Bonn getwittert, geschrieben und polemisiert. Veranstalter und Referent seien „Antisemiten, Neonazis und Islamisten“, die den Staat Israel zerstören wollten, behaupteten sie. Wer ihnen Räume zur Verfügung stelle, sei nicht besser.

Zwei Mal waren sie bei den Vermietern von Veranstaltungsräumen erfolgreich, die Stadt Bonn entfernte sogar die Veranstaltungsankündigung aus dem öffentlichen Terminkalender.
Würde es ein drittes Mal gelingen, den Vortrag zu stoppen?

Doch alles bleibt ruhig an diesem Abend, die Gegner der Veranstaltung scheinen müde geworden zu sein oder tauchen zumindest hier nicht auf. Als Shir Hever mit seinem Vortrag beginnt, erweist sich der Raum als zu klein. Die Türen zum Foyer werden weit geöffnet, Stühle und ein Lautsprecher aufgestellt, so dass viele weitere Zuhörer teilnehmen können.

Die Vorgeschichte

Anfang Januar hatte die Palästinensische Gemeinde in Bonn den Termin auf dem öffentlichen Veranstaltungsportal der Stadt Bonn angekündigt: „Israels rechte Freunde in Europa und den USA“ war das Thema, Referent war der Wirtschaftsforscher Shir Hever, promoviert an der Freien Universität Berlin.
Informiert werden sollte über „rechte evangelikale Christen“ in den USA, die großen Einfluss auf die US-Administration ausüben. Auch immer mehr rechte populistische Parteien in Europa üben heute den Schulterschluss mit der Regierung von Benjamin Netanjahu. Israel versuche Kritiker mit dem Vorwurf des Antisemitismus mundtot zu machen, doch weltweit nehme die Unterstützung der Palästinenser zu.

Die Veranstalter verwiesen auf Forderungen, die durch das Völkerrecht, den Haager Gerichtshof und durch UN-Resolutionen untermauert werden: Siedlungsbau, Besatzung und die Belagerung Gazas müssten ein Ende haben. Mauern und Zäune müssten verschwinden, die arabisch-palä­stinensischen Bürger Israels sollten gleichberechtigt anerkannt werden, die palästinensischen Flüchtlinge hätten das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren.

Das Kölner FDP-Mitglied Marca Goldstein-Wolf startete mit Freunden eine Gegenkampagne auf Twitter und Facebook. Nicht das Thema der Veranstaltung störte sie, es waren die Unterstützergruppen, die in der Anzeige genannt waren.
Insbesondere ging es um die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ und eine Bonner Gruppe, die die Kampagne „Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen“ (BDS) unterstützt.

Die BDS-Kampagne wurde – wie gesagt – 2005 von der palästinensischen Zivilgesellschaft gestartet, um Israel dazu zu bringen, das Völkerrecht und die Menschenrechte der Palästinenser anzuerkennen. Vorbild ist der Internationale Boykott gegen den Apartheidstaat Südafrika, der 1994 zum Sturz der Apartheid-Regierung geführt hatte. Mehr als 170 palästinensische und Dutzende von israelischen Organisationen sowie auch viele Gruppen und Einzelpersonen weltweit unterstützen die Kampagne.

Marca Goldstein-Wolf allerdings sieht das – wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – als große Gefahr. „BDS ist ein ernstzunehmender Feind, der in verlogener Kritik an Israel Judenhass verpackt“, sagte sie der Jerusalem Post. „Wir müssen uns dem mit aller Macht und überall entgegenstellen.“ Besonders wichtig sei es, „die Bevölkerung über die Machenschaften dieser Anti-Semiten aufzuklären“, denn die BDS-Kampagne greife den jüdischen Staat an.

Unterstützung kam von Aras Nathan Keul, Mitglied im Vorstand der Deutsch-Israelischen Gemeinde und Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Keul twitterte an den Bonner Oberbürgermeister und behauptete, die Stadt Bonn werbe für eine Veranstaltung, bei der „mit antisemitischen Stereotypen zum Ende Israels aufgerufen wird“. Rückendeckung erhielt Keul von seinem Arbeitgeber Volker Beck. Er habe ebenfalls beim Bonner Oberbürgermeister gegen die Veranstaltung protestiert. Der Vorgang verstoße zudem gegen eine Entschließung des nordrhein-westfälischen Landtages, die im September 2018 auf Antrag der Partei Bündnis 90/Die Grünen verabschiedet worden war. Die Fraktionen von CDU, FDP, SPD und Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen verurteilen darin die BDS-Kampagne als „klar antisemitisch“ und fordern landeseigene Einrichtungen auf, der Kampagne kein Forum zu bieten. Bei Parteien, Kirchen, Gerichten, Medien bundesweit und im politischen Berlin ist die Gleichung „BDS = antisemitisch“ weithin anerkannt. Angesichts des massiven Twitter-Protestes löschte die Stadt Bonn den Veranstaltungseintrag. „Wir bedauern den Eintrag sehr und bitten um Entschuldigung dafür“, hieß es.

Meinungsfreiheit in Gefahr

In einem offenen Brief an den Oberbürgermeister forderten die Veranstalter diesen auf, sich eindeutig „für die Meinungsfreiheit und das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung“ zu positionieren.

Einen jüdischen Israeli wie Shir Hever als „Antisemiten“ zu diffamieren, sei „grotesk und mehr als bedenklich“. Verwiesen wurde auf ein Interview mit dem international bekannten Dirigenten Daniel Barenboim mit der Saarbrücker Zeitung, in dem dieser erklärte, warum er sich „schäme, Israeli zu sein“.

Erinnert wurde auch an eine Erklärung des Trierer Bischof Stephan Ackermann, der nach einem Bischofstreffen im Heiligen Land erklärt hatte:

„Die Bischöfe beklagen (…) Diskriminierung und Ausgrenzung von Christen und anderen Minderheiten in Israel“. Das trage zur „Erosion der Ideale von Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie bei.“

Der Oberbürgermeister wurde eingeladen, den Vortrag mit Shir Hever zu besuchen, um sich „selber ein Bild zu den Vorwürfen zu machen“. Doch der Oberbürgermeister kam nicht. Stattdessen schickte er an die Veranstalter einen Brief. Die Löschung des Veranstaltungseintrages auf dem städtischen Kalender sei nicht unter öffentlichem Druck erfolgt, betonte er. Aus Sicht der Stadt Bonn sei der Text „pauschal und einseitig“ israelfeindlich gewesen und „letztlich antisemitisch“. Das alles sei „ein toller erster Erfolg für Bonner Verhältnisse“ freute sich Malca Goldstein-Wolf auf Twitter. Sie hatte zu einer Gegendemonstration unter dem Motto „Nein zu Judenhass – Nein zum BDS“ aufgerufen. Aus Berlin wünschte der Bundestagsabgeordnete Volker Beck „Viel Glück“.

Aufklärung gegen Diffamierung

Die Veranstalter in Bonn ließen sich nicht einschüchtern. George Rashmawi vom Vorstand der Palästinensischen Gemeinde kritisierte, dass „die Vortragsgegner nicht auf Argumente (….) eingehen“. Es handele sich „um Verleumdung und Hetze mit dem einzigen Ziel, die Veranstaltung zu verhindern.“
Letztlich, so Rashmawi, gehe es nicht mehr nur um die Auseinandersetzung mit der Politik Israels, es gehe „grundsätzlich um die Meinungsfreiheit.“ Die Veranstaltung werde stattfinden.

Den Bonner Oberbürgermeister und die Öffentlichkeit informierten sie ausführlich über das Twitter-Netzwerk, das bundesweit um den Publizisten Henryk M. Broder und Benjamin Weinthal, einen Journalisten der Jerusalem Post, entstanden ist. Broder gilt seit langem als scharfer Kritiker von jedem, der es wagt, Israel zu kritisieren. Die von Juden in Deutschland gegründete „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ bezeichnete er als eine „Bande von Antisemiten“.

Weinthal sorgte mit dem Artikel „Proteste führen zur Absage einer BDS-Veranstaltung in Bonn“ für internationale Aufmerksamkeit. Als Mitarbeiter der „Stiftung für die Verteidigung der Demokratien“ in Washington, D.C. lebt er in Berlin und gilt als „Augen und Ohren der Stiftung in Europa“, wie es auf deren Webseite heißt.
Im Vorstand und Beirat der 2001 nach den Anschlägen in New York gegründeten Stiftung sind verschiedene hochrangige Mitarbeiter der US-Geheimdienste CIA und FBI vertreten.

Die mitveranstaltende „Bonner Jugendbewegung“ trug umfangreiches Material zusammen, recherchierte und veröffentlichte ihr aufklärerisches Hintergrundmaterial auf ihrem Internetportal.
Intensiv setzten sie sich mit Vorwurf auseinander, die BDS-Boykott-Kampagne der palästinensischen Zivilgesellschaft sei vergleichbar mit dem Aufruf der deutschen Nationalsozialisten „Kauft nicht bei Juden“ und folglich antisemitisch. Der Vergleich sei falsch, denn „der grundlegendste Unterschied zwischen dem Israelboykott von BDS und der ‚Kauft nicht bei Juden‘-Masche der Faschisten aber ist, dass sich Ersterer ausgehend von der Bevölkerung gegen einen kapitalistischen Nationalstaat richtet und … (Letzteres sich historisch) ausgehend von einem kapitalistischen Nationalstaat gegen die Bevölkerung … (und) eine unterdrückte Minderheit der Bevölkerung richtet(e)“, so die jungen Bonner.

Unter Verweis auf den israelischen Soziologen und Professor für Geschichte und Philosophie Moshe Zuckermann heißt es weiter: „Israelkritik, Antisemitismus und Antizionismus (sind) drei verschiedene Dinge.“ Diese Differenzierung sei die wichtigste Grundlage für eine Auseinandersetzung mit Israel und seiner Politik.

Die Veranstalter hatten Erfolg. Eine Woche später war ein neuer Raum gefunden.

Die Vermieter der alten Villa hatten sich nicht einschüchtern lassen und die Polizeipräsenz sollte vor möglichen Protesten schützen. Dicht gedrängt und im Foyer hatten die Menschen Platz genommen, mitten unter ihnen auch die ältere Dame.

Der Vortrag

Shir Hever begann mit dem Gedenken an Ahmad Abu Jamal aus Gaza, dessen Foto er zeigte. Der 30-Jährige war Ende Januar im Norden des Gazastreifens von israelischen Soldaten angeschossen und schwer verletzt worden. Nun war er gestorben. Der anhaltende Protest der Palästinenser im Gaza-Streifen gegen die israelische Belagerung – der „Große Marsch der Rückkehr“ – sei kein „Terrorismus“, wie es Israel darstelle. Der Protest sei ein Ausdruck von Hoffnung auf eine bessere Zukunft, so Hever.

Im Vortrag ging es um die engen Kontakte, die der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in aller Welt zu extrem rechten und populistischen Gruppen und Parteien aufnimmt, die teilweise offen antisemitisch und rassistisch auftreten. Ob Berlusconi oder neuerdings Salvini in Italien, Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in Holland, Heinz-Christian Strache in Österreich, Donald Trump in den USA, Andrzej Duda in Polen, Viktor Orbán in Ungarn oder jüngst Jair Bolsonaro in Brasilien, Netanjahu sucht den Schulterschluss mit ihnen. Beide Seiten profitierten von dem Kontakt.

Die extrem rechten und populistischen Parteien könnten Kritik an Rassismus oder Antisemitismus in ihrer Politik mit dem Hinweis zurückweisen, sie unterstützten Israel und hätten beste Kontakte zum israelischen Ministerpräsidenten. Sie wollten Waffen, Drohnen, Überwachungstechnologie und Know-How übernehmen und seien auch an israelischer Ausbildung in der Aufstandsbekämpfung interessiert. Die Mauer, die Israel als „Sicherheitszaun“ gegen die Palästinenser errichtet habe, sei ein „Exportschlager“.
Was Israel gegen die Palästinenser mache, wollten die rechten Populisten gegen Flüchtlinge in Europa, in Brasilien, in den USA machen. „Die Beziehung zu Israel legitimiert ihre Politik“, so Hever.

Netanjahu befürchte derweil eine zunehmende Isolierung auf der internationalen Bühne. Er wolle „neue Freunde“ in der Welt präsentieren, während die bisher befreundeten Regierungen und Parteien sich von ihm und seiner Politik abwendeten. Frühere israelische Regierungen hätten solche Beziehungen abgelehnt, doch für Netanjahu sei dies die Wahlkampfstrategie für die bevorstehenden Parlamentswahlen.

Für die Wahlen am 9. April in Israel sagte Shir Hever „einen Kampf zwischen den populistischen extrem Rechten und der Sicherheitselite, also den Generälen“ voraus. Die Generäle verlören ihren Einfluss auf die Öffentlichkeit, das solle gestoppt werden.
Der ehemalige Oberkommandierende der Israelischen Streitkräfte, Generalleutnant Benny Gantz trete zu den Wahlen an, um „die Macht wieder zurück in die Hände der alten Sicherheitselite zu bringen“, so Hever im Gespräch mit der Autorin.

Sollte das Korruptionsverfahren gegen Benjamin Netanjahu noch vor den Wahlen eröffnet werden, habe Benny Gantz vielleicht eine Chance, Ministerpräsident zu werden.
Dennoch werde er die Macht werde nicht erringen, denn „die Macht gehört heute der populistischen extremen Rechten. Dafür steht nicht nur Netanjahu, sondern auch Miri Regev, die Kulturministerin, Gilad Erdan, der Minister für Öffentliche Sicherheit und Strategische Angelegenheiten.“
Die genannten Politiker seien gefährliche extreme Populisten, betonte Hever und fügte dann hinzu: „Aber ehrlich gesagt sind die Generäle gefährlicher. Sie sagen vielleicht nicht viel, aber sie schießen viel.“