Sahra Wagenknecht : „Viele Menschen wenden sich von der Linken ab“ – „Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zwei Aktuelle Interviews:

A. in der Saarbrücker Zeitung:

Sahra_Wagenknecht2017Viele Menschen wenden sich von der Linken ab

https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/inland/sahra-wagenknecht-viele-menschen-wenden-sich-von-der-linken-ab_aid-55800557
Auszüge:

Die ehemalige Linke-Fraktionschefin im Bundestag beklagt mangelndes Gespür ihrer Partei für Sorgen der unteren Mittelschicht.
Ein möglicher Regierungswechsel im Bund unter Einschluss der Linken hängt nach Überzeugung ihrer ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht von den Parteien im linken Spektrum selbst ab und nicht von der Personalaufstellung der Union.

Von Stefan Vetter

Frau Wagenknecht, sind die Chancen für eine künftige Bundesregierung ohne Unions-Beteiligung mit der Wahl Armin Laschets zum CDU-Chef besser oder schlechter geworden?

WAGENKNECHT Andere Mehrheiten hängen in erster Linie von der Glaubwürdigkeit der linken Parteien und ihrer Kandidaten ab und nicht davon, wer an der Spitze der CDU steht.
Die SPD hat leider die Chance verpasst, jemanden aufzustellen, der überzeugend für mehr sozialen Ausgleich und eine neue Politik werben kann.
Olaf Scholz steht für die Agenda 2020 und die große Koalition, und dadurch eben nicht für höhere Löhne, bessere Renten und einen starken Sozialstaat.

Wäre Ihnen ein CDU-Chef Friedrich Merz lieber gewesen?

WAGENKNECHT Nein. Wenn ein Lobbyist der US-Finanzwirtschaft die Chance auf das Kanzleramt bekommen hätte, wäre das natürlich nicht gut gewesen.

In den aktuellen Umfragen dümpelt die Linke nur zwischen sieben und neun Prozent. Das ist weniger als bei der letzten Bundestagswahl. Woran liegt das?

WAGENKNECHT Einerseits ist es natürlich so, dass die Regierungsparteien, vor allem die Union, in der Corona-Krise deutlich zugelegt haben. Das hat mit Ängsten zu tun und mit der Omnipräsenz der Regierungspolitiker.

armut auf rekordniveau

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Andererseits muss es uns zu denken geben, dass die Linke in der politischen Debatte kaum noch vorkommt und sich gerade die Menschen von uns abwenden, für die die Linke in erster Linie da sein sollte: Menschen in schlecht bezahlten Berufen oder solche, die jetzt um ihren Arbeitsplatz bangen.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

WAGENKNECHT Das hat mit der Ansprache zu tun und mit der Themenwahl. Das ist das Problem der linken Parteien in ganz Europa.
Sie sind immer stärker zu Parteien der Bessergebildeten und auch der Besserverdienenden geworden.

Wie meinen Sie das?

WAGENKNECHT Ich nenne ein aktuelles Beispiel: In Berlin hat der rot-rot-grüne Senat jetzt beschlossen, dass es eine Migrantenquote von 35 Prozent im öffentlichen Dienst geben soll.
Das geht an den Problemen der meisten Menschen, auch der ärmeren Migranten, völlig vorbei.
Wenn man wirklich etwas für mehr Chancengleichheit tun wollte, müsste man sehr viel mehr Geld in die Schulen der ärmeren Wohnbezirke investieren und sich darum kümmern, dass der Anteil nicht-deutsch sprechender Kinder in keiner Schule 15 Prozent übersteigt.
Stattdessen zu verlangen, dass man für eine Bewerbung im öffentlichen Dienst künftig seine Abstammung nachweisen soll, ist fragwürdig.

Parteichefin Katja Kipping hat erklärt, dass eine sozial-ökologische Wende nur mit einer starken Linken möglich sei. Soll sich die Linke künftig mehr um den Klimaschutz kümmern?

WAGENKNECHT Auch das ist ein Thema, bei dem es entscheidend auf das Wie ankommt. Wer den Grünen nachläuft, die es für verantwortungsvolle Klimapolitik halten, Sprit, Heizöl und Strom zu verteuern, aber E-Porsches und Teslas staatlich zu subventionieren, muss sich nicht wundern, wenn sich Geringverdiener und die untere Mittelschicht abwenden.
Da wird der Verweis aufs Klima eher zum Alibi für eine Umverteilung von unten nach oben.

Das alles klingt nicht gerade so, als ob Sie einen rot-rot-grünen Regierungswechsel nach der nächsten Bundestagswahl für realistisch halten.

WAGENKNECHT Wenn man sich Umfragen anschaut, dann wünscht sich eine Mehrheit der Bevölkerung mehr soziale Gerechtigkeit.
Sie wünscht sich, dass die Corona-Schulden von den wirklich Reichen und nicht vom Normalbürger bezahlt werden.
Es wäre ein großes Versagen von SPD und Linken, wenn es trotzdem am Ende Schwarz-Grün gibt und alles Wer meitergeht wie bisher.

B: Auf Watson:

„Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben. Fridays for Future fand an Gymnasien und Hochschulen statt, aber kaum an Real- und Berufsschulen“

https://www.watson.de/!709255752
Auszüge:

Die Linken-Politikerin spricht im watson-Interview über das Erbe der Ära Merkel, ihren Blick auf Fridays for Future – und darüber, warum diskriminierte Minderheiten aus ihrer Sicht wenig von Diversity und Frauenquoten haben.

Sebastian Heinrich

Im November 2019 lag Sahra Wagenknecht vor Angela Merkel. Ein paar Wochen, bevor die Welt zum ersten Mal von einem neuartigen Coronavirus hörte, war sie zumindest laut einer Umfrage des Instituts Insa Deutschlands beliebteste Politikerin, vor der Bundeskanzlerin. Wagenknecht ist seit fast drei Jahrzehnten auf der politischen Bühne: erst als Vertreterin der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS, einer Vorgängerpartei der Linken, später als Vizechefin der Linkspartei und als Fraktionschefin der Partei im Bundestag. Heute ist sie einfache Bundestagsabgeordnete, aber sie bleibt eine der kontroversesten Linken inDeutschland. Und eine der beliebtesten.

Watson hat mit Sahra Wagenknecht gesprochen. Über das Ende der Ära Merkel und über den neuen CDU-Vorsitzenden. Wagenknecht erklärt, warum sie die Klimaschutzbewegung bisher für ein Elitenprojekt hält – und weshalb sie zu ihrer Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik steht. Und sie fordert, jungen Menschen in der Corona-Krise stärker unter die Arme zu greifen.

watson: Frau Wagenknecht, 2021 geht mit der Kanzlerschaft Angela Merkels nach 16 Jahren eine Ära zu Ende. Wer heute 20 ist, erinnert sich an keine andere Bundeskanzlerin. Wie hat sich Deutschland seit 2005 verändert?

Sahra Wagenknecht: Deutschland ist noch tiefer gespalten, sozial und kulturell. Eine rechte Partei, die es vor Merkel gar nicht gab, ist heute stärkste Oppositionspartei im Bundestag. Und in der Corona-Krise haben sich die Probleme weiter verschärft: Diejenigen, die schon vorher wenig hatten, haben durch die Maßnahmen besonders viel verloren. Auf der anderen Seite ist die Zahl und der Reichtum der Milliardäre weiter gewachsen.

Angela Merkel ist aber nach wie vor in Deutschland enorm beliebt. Weltweit gilt sie als eine Art feministische Ikone. Gibt es auch etwas, das Ihnen an der Kanzlerin gefällt?

Sie macht zumindest nicht den Eindruck, dass sie am Tag nach ihrer Kanzlerschaft in den Aufsichtsrat eines Unternehmens wechseln würde. Sie wirkt persönlich bescheiden. Trotzdem hat sie mit ihrer Politik vor allem einflussreiche wirtschaftliche Interessengruppen bedient.​

coins-currency-investment-insurance-128867.jpegWen meinen Sie damit konkret?

Das aktuellste Beispiel sind die Corona-Hilfen. Kleine Selbstständige und Gewerbetreibende wurden weitgehend im Stich gelassen. Solo-Selbstständige, Freiberufler und Künstler, die seit Monaten nicht mehr arbeiten dürfen, bekommen bis heute keine echte Unterstützung, sondern werden auf Hartz IV verwiesen. Zugleich hat man großen Unternehmen viel Steuergeld hinterhergeworfen, obwohl sie gleichzeitig hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausgezahlt haben.

Sie kritisieren auch die Kurzarbeit. Die hat aber wohl Millionen Menschen vor der Arbeitslosigkeit bewahrt…

Ja, die Kurzarbeit ist sehr vernünftig, damit Beschäftigte ihren Job behalten, wenn das Unternehmen in Schwierigkeit gerät. Gerade im Niedriglohnbereich muss man das Kurzarbeitergeld allerdings aufstocken: Wer vorher in einem Restaurant gearbeitet hat, kann mit 60 oder 67 Prozent des Gehalts kaum überleben. Aber BMW oder VW, die 2020 hohe Dividenden ausgeschüttet haben, hätten mit dem Geld lieber ihre Beschäftigten weiter bezahlen sollen. Es ist fragwürdig, wenn solche Unternehmen Geld vom Staat bekommen.

Welchen Umgang mit der Coronakrise erwarten Sie nun vom frisch gewählten CDU-Chef Armin Laschet?

Armin Laschet hatte in dieser Frage bisher keine klare Linie. Aber letztlich wird die Corona-Politik ohnehin von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten gemacht. Armin Laschet wird da wohl auch in Zukunft keinen Widerspruch anmelden.

Im vergangenen Februar haben Sie in einem Interview gesagt, Friedrich Merz als Kanzler wäre für Deutschland „eine Katastrophe“. Wie erleichtert sind Sie, dass es anders gekommen ist?

Mit Friedrich Merz wäre ein offener Lobbyist der Finanzwirtschaft und des Vermögensverwalters Blackrock möglicherweise der nächste Kanzler Deutschlands geworden. Im Vergleich dazu ist Armin Laschet weniger problematisch. Aber natürlich hoffe ich, dass er die Union in die Opposition führen wird.

Wie blicken sie auf Fridays for Future, die 2019 in wenigen Monaten hunderttausende junger Menschen mobilisiert haben?

Der Klimawandel ist ein Menschheitsthema. Deshalb ist es wichtig, dass eine verantwortungsvolle Klimapolitik gesellschaftliche Akzeptanz findet. Indem große Teile der Klimabewegung sich auf die Forderung nach einer CO2-Steuer fokussiert haben, haben sie aber das Gegenteil erreicht. Wer Sprit, Strom und Öl verteuert, vertieft die soziale Spaltung, weil das die Ärmeren und die untere Mittelschicht besonders trifft, die einen größeren Anteil ihres Gehalts für Heizung, Strom und das Auto ausgeben müssen.

Das heißt, es benachteiligt die ländlichen Gebiete.

Klimapolitisch ist damit auch nichts gewonnen: Menschen im ländlichen Raum, wo kaum noch Züge und Busse fahren, werden weiter ihr Auto benutzen. Und in vielen ländlichen Gebieten gibt es auch keine Alternative zur Ölheizung.

Was wäre die bessere Lösung?

Wir sollten weniger darüber reden, wie wir konsumieren – und mehr darüber, dass wir anders produzieren müssen. Wir haben einen riesigen Verschleiß an Ressourcen dadurch, dass Unternehmen Produkte bewusst so konstruieren, dass sie nach Ablauf der Garantiefrist schnell kaputtgehen und sich nicht reparieren lassen. Das könnte man durch ordentliche Gesetze verhindern.

Das ist aber nur ein kleiner Teil des Problems.

So klein ist der nicht. Wir müssen außerdem über die Globalisierung reden: Die riesigen Containerschiffe, von denen vor Corona Jahr für Jahr mehr unterwegs waren, gehören zu den größten Dreckschleudern. Wer Menschen ein schlechtes Gewissen einredet, weil sie ein altes Dieselauto fahren – und gleichzeitig immer neue Freihandelsabkommen abschließt, ist ein Heuchler. Denn diese Abkommen sorgen dafür, dass immer mehr Produkte, die man hier produzieren und anbauen könnte, aus tausenden Kilometer Entfernung hierher transportiert werden: mit extrem hohen Emissionen.

Fridays for Future selbst verbindet inzwischen den Kampf gegen die Klimakrise mit Kapitalismuskritik, mit der Forderung nach mehr globaler Gerechtigkeit. Was halten sie davon?

Das ist natürlich richtig. Kapitalismus bedeutet, dass nach dem Kriterium gewirtschaftet wird, aus Geld mehr Geld mehr Geld zu machen. Dafür muss man immer mehr und möglichst billig produzieren. Raubbau an der Natur und exzessives Wachstum gehören zur DNA dieser Wirtschaftsweise. Das lässt sich schwer vereinbaren mit Klimaschutz und einer gesunden Umwelt.

Ist Ihnen Fridays for Future durch diesen kapitalismuskritischen Spin sympathischer geworden?

Wenn sich junge Leute für eine andere Wirtschaftsordnung engagieren, ist mir das natürlich sympathisch. Aber Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben. Fridays for Future fand an Gymnasien und Hochschulen statt, aber kaum an Real- und Berufsschulen. Die meisten Jugendlichen kamen aus der gehobenen Mittelschicht. Heute haben Ärmere oft den Eindruck: Wenn die über Klima reden, dann steigen bei mir die Preise, dann wird mein Leben noch härter. Solche Ängste wurden von der Bewegung oft ziemlich kalt abgebügelt.

Ist das ein Vorwurf an die Jugendlichen in der Klimabewegung?

Den Jugendlichen werfe ich das nicht vor. Den Journalisten, die Fridays for Future unkritisch und euphorisch begleitet haben, dagegen schon. In der Klimadebatte wurde Klimaschutz überwiegend zu einer Frage des Lifestyles gemacht. Nach dem Motto: Wer sein Schnitzel bei Aldi kauft, wer einen Diesel statt eines teuren Elektroautos fährt, der macht sich schuldig. Das ist eine überhebliche Debatte, die der Akzeptanz des Klimathemas schadet.

Sie selbst haben 2018 versucht, mit „Aufstehen“ eine eigene politische Bewegung zu gründen. Sie waren damit aber deutlich weniger erfolgreich. Was hat Fridays for Future, was „Aufstehen“ nicht hat?

„Aufstehen“ hat ein ganz anderes Milieu angesprochen. Es ist schwer, die weniger wohlhabende Hälfte der Bevölkerung – Menschen, die nie die Chance hatten, ein Gymnasium oder eine Hochschule zu besuchen – auf die Straße zu bringen. Es wird überhaupt immer schwerer, diese Menschen politisch zu erreichen. Manche wählen aus Verzweiflung rechts, weil sie das Gefühl haben, alle anderen haben sie im Stich gelassen. An diese Menschen richtete sich „Aufstehen“. Und wir hatten ja immerhin in kurzer Zeit 170.000 Anmeldungen.

Woran hat es dann gehapert?

Viele wollten keine Bewegung, sondern eine neue Partei. Es gab da völlig gegensätzliche Erwartungen. Übrigens gibt es „Aufstehen“ auch heute noch. Die Bewegung wird gerade von couragierten jungen Leuten wieder aufgebaut. Siehe hier: https://aufstehen-basis.de/

Ein erklärtes Ziel von „Aufstehen“ war es ja, die politische Linke in Deutschland zusammenzuführen. Wenn man mit jungen linken Menschen in Deutschland spricht, bekommt man aber den Eindruck, dass viele davon ein Problem mit Ihnen persönlich haben, vor allem wegen ihrer Aussagen zur Flüchtlingspolitik. Wie sehr stört Sie das?

Die Rückmeldung hängt vermutlich davon ab, mit wem Sie reden. Also wenn ich an Universitäten aufgetreten bin, hatte ich immer übervolle Hörsäle. Ich habe im letzten Jahr einen eigenen Youtube-Kanal aufgebaut und mittlerweile haben meine Videos hunderttausende Clicks. Auch die dürften eher selten von Usern über 60 kommen. Es gibt Leute, die meinen, dass jeder, der hohe Zuwanderung kritisiert, ein halber Nazi ist. Meist sind das Leute, die in Wohnvierteln leben, wo die Flüchtlinge gar nicht hinkommen, und die auch keine Gefahr laufen, mit ihnen beruflich in Konkurrenz zu treten. Für mich ist ein solches Herangehen nicht links. Es hat dazu beigetragen, dass die linken Parteien heute von Geringverdienern und Nicht-Akademikern kaum noch gewählt werden.

Vielen der Millionen Menschen, die sich nach 2015 für Flüchtlinge engagiert haben, haben Sie mit Ihren Äußerungen aber wohl den Eindruck gegeben: Sahra Wagenknecht findet, dass diese Menschen gar nicht hier sein sollten.

Ich finde, dass Hilfe vor Ort unendlich viel wichtiger ist. Jeder Euro, der vor Ort ausgegeben wird, hilft hundert Mal so vielen Menschen. Die am meisten Bedürftigen schaffen es nie nach Europa. Wir haben dramatische Zustände in Lagern im Libanon. In Kenia gibt es ein riesiges Flüchtlingslager, auch in Jordanien. Da leben Menschen oft schon in der zweiten oder dritten Generation wie in einem Gefängnis: ohne jede Hoffnung und Perspektive. Die UN-Organisationen, die sich um sie kümmern, haben viel zu wenig Geld. Islamistische Terrorgruppen rekrutieren dort ihre Anhänger. Das wird hier in Deutschland alles ausgeblendet

Inwiefern?

Uns interessieren Flüchtlinge erst, wenn sie in Europa sind. Aber es sind die Bessergestellten, die das Geld für die Schlepper aufbringen können. Und es sind übrigens auch die Bessergebildeten, deren Qualifikationen in ihrer Heimat dann schmerzlich fehlen. Wenn man über Flüchtlinge redet, muss man auch über Kriege reden.

Was meinen Sie damit?

Es ist doch kein Zufall, dass die meisten Flüchtlinge, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, aus drei Ländern stammen: Syrien, Irak und Afghanistan. Drei Länder, in denen westliche Staaten ihre Kriege geführt und Kriegsparteien hochgerüstet haben. Und dann fühlen wir uns superedel, wenn wir von den vielen Millionen Menschen, die durch diese Kriege alles verloren haben, einige hier aufnehmen. Wir sollten lieber die Kriegseinsätze beenden und den Wiederaufbau vor Ort unterstützen.

Kriege und Rüstungsexporte kritisieren auch viele andere Menschen. Aber ein Vorwurf, der seit Ihren Äußerungen zur Flüchtlingspolitik immer wieder zu hören ist: Sie vertreten ähnliche Positionen wie die AfD.

Das ist ein besonders dummer Vorwurf. Mich interessiert, was richtig ist, und nicht, was die AfD sagt. Wenn es schneit und die AfD sagt, es schneit, werde ich auch in Zukunft nicht behaupten, dass die Sonne scheint.

Naja, aber wenn Sie nach den Übergriffen während der Kölner Silvesternacht und nach dem Terroranschlag von Berlin genauso wie AfD-Politiker Angela Merkel eine Mitschuld geben, dann finden das eben viele Menschen problematisch.

Und ich finde diese Art der Debatte problematisch. Wenn man Dinge von mir falsch findet, soll man das inhaltlich begründen, nicht damit, mich in eine schräge Nähe zur AfD zu rücken.

Was ist aus Ihrer Sicht die bessere Alternative für die Linke, um der teilweise offen rassistischen Rhetorik der AfD zu begegnen?

Sinnvolle Konzepte vorzulegen, statt die realen Probleme wegzureden. Es lässt sich doch nicht leugnen, dass Zuwanderer für Lohndrückerei missbraucht werden. Und natürlich gibt es auch Konkurrenz um Sozialwohnungen und generell um bezahlbaren Wohnraum. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Recht auf Asyl für Verfolgte unterstützt, aber ebenso für eine Begrenzung der Zuwanderung plädiert. Wer diese Menschen moralisch diffamiert und als Rassisten beschimpft, treibt sie nach rechts.

Corona wird auch 2020 noch lange bestimmen. Viele junge Menschen hat das Coronavirus zwar gesundheitlich nicht so oft getroffen – aber die Coronakrise dafür besonders heftig: Auszubildende, die Angst um ihre Zukunft haben, Studenten, die ihre Nebenjobs verlieren. Was müsste für junge Menschen jetzt am dringendsten getan werden?

Zum einen ist dramatisch, was jetzt an den Schulen passiert. Gerade Kinder aus ärmeren Familien leiden darunter, dass sie nicht mehr in die Klassen dürfen. Home-Schooling funktioniert eben nur, wenn Mama oder Papa entsprechende Unterstützung leisten. Wir brauchen Präsenzunterricht in kleinen Klassen und ordentliche Luftfilter in den Räumen. Im Gegenzug sollte man lieber Unternehmen verpflichten, alle Beschäftigten, bei denen das möglich ist, von zuhause arbeiten zu lassen.

Was ist mit den Studenten?

Studenten, die ihre Nebenjobs verloren haben, brauchen einen Corona-Bonus auf das BAföG, den sie nicht zurückzahlen müssen. Helfen würde auch mehr Unterstützung bei Mietzahlungen, gerade in Städten, wo selbst ein WG-Zimmer richtig teuer ist.

Mehrere Studien zeigen, dass junge Menschen psychisch besonders stark leiden unter der Isolation, den fehlenden sozialen Kontakten. Was soll aus Ihrer Sicht dagegen getan werden?

Man muss versuchen, Präsenzunterricht und Kontakte zuzulassen, wo immer es geht. Klar, unter Einhaltung der Abstandsregeln. Bei Kindern gibt es aus verschiedenen Ländern Studien, dass das Infektionsrisiko deutlich niedriger ist als bei Erwachsenen. Alle Schulen dichtzumachen, nur weil Kinder keine starke Lobby haben, ist eine fragwürdige Strategie. Zumal Kinder und Jugendliche selbst durch Corona kaum gefährdet sind. Die einzige Gefahr ist, dass sie das Virus an Risikogruppen weitergeben.

Wenige Monate vor der Bundestagswahl kommt ihre Partei, die Linke, kaum vom Fleck: In Umfragen pendeln sie zwischen sieben und zehn Prozent, Tendenz momentan eher fallend. Woran liegt das?

Wir sind mehr und mehr zu einer Akademikerpartei geworden, wie viele andere linke Parteien in Europa auch. Der Ökonom Thomas Piketty hat das in seinem jüngsten Buch mit Zahlen belegt. Unsere Parteiführung hat eine Themensetzung und Sprache, die sich vor allem an Studierende und akademisch Gebildete in den Großstädten richtet. Linke Parteien sind aber eigentlich dafür da, sich für die Benachteiligten einzusetzen: für die Menschen, die in harten und in der Regel wenig inspirierenden Jobs arbeiten, die um ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssen, so sie überhaupt welchen haben.

Das heißt, Sie wollen keine Akademiker mehr ansprechen?

Ich freue mich über jeden Gutverdiener, der uns aus sozialen Gründen wählt – aber wir sollten vor allem für die da sein, die sonst gar keine Lobby haben.

Ihre Hauptkritik an den Linken ist seit Längerem, kurz gesagt: Sie kümmere sich zu sehr um Gendersternchen und Klimaschutz – und zu wenig um Arbeitsbedingungen von Menschen mit niedrigen Löhnen und in prekären Bedingungen. Aber ist diese strikte Trennung überhaupt sinnvoll? Auch und gerade Menschen mit wenig Geld werden wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert und bedroht, die Klimakatastrophe betrifft gerade die Ärmsten besonders stark…

Die Frage ist ja nicht, ob man über Klimaschutz und Gleichberechtigung redet, sondern wie. Wenn man Klimapolitik zur Lifestyle-Frage macht und vieles verteuern will, dann muss man sich nicht wundern, dass sich die abwenden, für die das Leben schon in den letzten Jahren immer schwerer geworden ist. Und bei dem identitätspolitischen Rummel um Quoten und Diversity geht es immer nur um bessere Chancen für bereits Privilegierte. Ärmere Frauen oder Einwandererkinder haben heute viel weniger Perspektiven als vor 30 Jahren, die ganze Identitätspolitik nützt ihnen nichts.

Warum nicht?

Wo reden wir denn über Diversity oder über Frauenquoten? Nicht bei Pizzaauslieferern oder Reinigungskräften, da ist das alles sowieso übererfüllt, sondern bei Vorstandsposten in Unternehmen, bei gehobenen Stellen in der Verwaltung oder in den Medien. Um diese Posten konkurrieren Leute aus der gehobenen Mittelschicht. Damit Ärmere endlich wieder echte Aufstiegsmöglichkeiten haben, braucht es ganz andere Hebel.

Welche sind das Ihrer Meinung nach?

Bessere Bildung, höhere Löhne, sichere Arbeitsplätze, einen guten Sozialstaat. Das würde allen aus ärmeren Familien helfen, ganz gleich, ob sie zur Minderheit oder Mehrheit gehören. Das konstruierte Gegeneinander von Minderheit und Mehrheit zerstört sowieso nur die gegenseitige Solidarität.

Wie viel werden Sie persönlich zum Bundestagswahlkampf beitragen? Sie gehen ja selbst offen damit um, dass sie stark mit großen Teilen ihrer Partei fremdeln. Aber andererseits sind Sie eine der bekanntesten und beliebtesten Politikerinnen Deutschlands.

Ich bin Mitglied der Bundestagsfraktion und wenn der NRW-Landesverband das möchte, werde ich wieder über die NRW-Landesliste kandidieren. Ich fremdele ja nicht mit der ganzen Partei, sondern ich kritisiere Dinge, die meiner Überzeugung nach falsch laufen – und mit denen wir Wähler verlieren.

Sie werden also auf jeden Fall wieder für den Bundestag kandidieren? Sie hatten bisher immer gesagt, dass sie das von der Unterstützung ihres Landesverbands abhängig machen.

Nicht auf jeden Fall. Nur, wenn der NRW-Landesverband das möchte und unterstützt.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

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Jochen

Extrem wachsende Ungleichheit zerstört die Demokratie (Albrecht Müller)

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

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Aus den NachDenkSeiten: https://www.nachdenkseiten.de/?p=61257

Der französische Ökonom Thomas Piketty spricht von einem Ungleichheitsregime. Das ist zwar ein sperriger Begriff.
Aber es ist klar, was Piketty meint. Er beschreibt die Verschlechterung des Zustands so: Vor 10 Jahren hatten die Spitzenmilliardräe jeweils rund 30 Milliarden, 5 Jahre vorher ca. 5 Milliarden, heute haben sie jeweils rund 100 Milliarden.
Dieser Zuwachs kommt nicht von irgendwoher. Das Vermögen fehlt dem großen Rest*).  90% halten nur ca. 20% des gesamten Vermögens. Ein Prozent verfügt über etwa die Hälfte. Die Vermögensverteilung verbesserte sich zwischen 1900 und 1980. Dann gab es einen Bruch. Dieser markiert den Beginn der Herrschaft der neoliberalen Ideologie. Auf diesen himmelschreienden Zustand antwortet Piketty zum Beispiel mit dem Vorschlag, die Reichsten müssten bis zu 90% ihres Vermögens abgeben. Andere antworten mit der „Weder-links-noch-rechts-Therapie“? Wer will, kann das tun. Ich sehe das anders. Aber über die beiden Begriffe sollten wir nicht weiter streiten.

Piketty_Kapital_IdeologieIm schweizerischen Rundfunk SRF Kultur interviewte Yves Bossart am 30. Mrz fast eine Stunde lang den französischen Ökonomen und Autor. Anlass war sein neuestes Buch mit dem Titel Kapital und Ideologie. Das Thema der Sendung: Thomas Piketty: Ungleichheit zerstört die Demokratie. Es ist gut, dass dies auch ein so kundiger und prominenter Ökonom und politischer Mensch sagt.

Es lohnt sich, diese Sendung https://www.youtube.com/watch?v=8WderB3_kuA anzusehen, wenn man unsere Lage erkennen und Handlungsmöglichkeiten kennenlernen will. Es lohnt sich, auch wenn man nicht allem zustimmen kann, was Piketty sagt.

10 darauf bauende und anschlieende Beobachtungen zur Verteilungslage und zu den Konsequenzen:

  1. Die Verteilung von Vermögen und Einkommen ist skandalös schlecht. Sie ist jenseits jeder Verhältnismäßigkeit.
  2. Die Vermögensverteilung war im 19. Jahrhundert und bis 1914 noch schlimmer. Zwischen 1900 und 1980, insbesondere zwischen 1930 und 1980 wurde die Verteilung etwas gerechter, etwas weniger skandalös. Siehe die folgende Abbildung von SRF auf der Basis der Arbeiten von Piketty.
  3. Ungefähr 1980 kam der Bruch. Die Vermögensverteilung wurde schlechter, in Europa, in den USA noch markanter. Dort nähert sich der Zustand sogar schon wieder der Lage in der Zeit der Jahrhundertwende vom 19. in das 20. Jahrhundert.
  4. Die Ära um 1980 war die Zeit der Machtübernahme durch Reagan und Thatcher. In Deutschland ist diese Zeit verbunden mit dem Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl, auf der Ebene darunter bestimmt von Otto Graf Lambsdorff und Hans Tietmeyer und von der Deutschen Bundesbank. Festhalten sollte man um der historischen Genauigkeit Willen noch, dass die neoliberale Ideologie in Chile schon 1973 gesiegt hatte. Die Chicago-Schule siegte mithilfe des Diktators Pinochet. Ein Omen bis heute.
  5. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung ist eine wichtige Basis der Verschlimmerung der Vermögensverteilung. Die folgende Grafik aus dem neuen Buch von Piketty zeigt den Anteil des oberen 10 % der Einkommensbezieher am Nationaleinkommen. Die Veränderungen sind im Text unter der Abbildung beschrieben. Auch hier ist die Entwicklung in den USA noch schlechter als in Europa.
    Piketty weist im Interview etwa bei Minute 13:15 auf die konkrete aktuelle Situation hin. Hohe Vermögen erzielen aufgrund ihrer besseren Anlagemöglichkeiten einschlielich der Steuervermeidung 7, 8 oder gar 9 % Kapitalrendite real. Wer 5000€ anlegt, bekommt nichts.
  6. Der zweite wichtige Faktor für die Verschlechterung (oder Verbesserung) der Vermögensverteilung ist die Steuerpolitik. Die Verbesserung zwischen 1930 und 1980 ist von einer progressiven Einkommensteuer und wirksameren Erbschafts- und Vermögensteuern mitbewirkt worden.
    Die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer zum Beispiel lagen in der Phase der Verbesserung der Verhältnisse zwischen 1930 und 1980 in allen vier beobachteten Ländern deutlich über dem Satz von heute. In den USA bei 81 %, in Deutschland ber 50 %.
    Die progressive Einkommensbesteuerung erreichte in der Mitte des letzten Jahrhunderts ihren Hhepunkt. Bei uns nennt man diese Phase Wirtschaftswunder.
  7. Anders als die Verfechter der Ungleichheit mit ihrer sogenannten Trickle-Down-Theorie, auf Deutsch: Pferdeäpfeltheorie, erzählen, ist Ungleichheit nicht produktiv. **) Gesellschaften mit einer gerechteren Verteilung von Vermögen und Einkommen sind produktiver.
    Das zeige, so Piketty, die von ihm untersuchte Geschichte der Einkommens- und Vermögensverteilung. Zur Erläuterung: Die Pferdeäpfeltheorie heißt so, weil ihre Verfechter unterstellen: Wenn man die Pferde ordentlich füttere, dann bliebe auch noch für die Spatzen reichlich ber.
  8. Die Gefahren, die von einer maßlos ungleichen Verteilung der Vermögen und Einkommen für die Existenz und Lebensfähigkeit demokratischer Verhältnisse ausgehen, sind vielfältiger Art.
    Zum Beispiel: Superreiche bestimmen die Politik direkt. Sie betreiben gut ausgestattet Lobbyarbeit und sie machen Meinung. Ich erinnere an eine von fnf Beobachtungen, die am Anfang meines Buches Meinungsmache so formuliert ist:

    Wer über viel Geld und/oder publizistische Macht verfügt, kann die politischen Entscheidungen massiv beeinflussen.

    Die Richtigkeit dieser Feststellung können wir immer wieder beobachten. Piketty hat diese Gefahr nach meiner Einschätzung nicht richtig und nicht vollständig erkannt. Aber das mindert die Klarheit seiner Aussagen nicht.

  9. Ungleichheit ist ein soziales und ein großes politisches Problem. Es geht an die Substanz. Der Begriff Ungleichheitsregime kennzeichnet diese Gefahr recht gut. Sprechen wir also künftig bitte nicht von „Westlicher Wertegemeinschaft“, sondern von Ungleichheitsregime, wenn wir unsere so wunderbare Welt mit den sogenannten autokratischen oder totalitären Regimen vergleichen.
  10. Was heißt dies für die politische Programmatik des nächsten Jahrzehnts:
    Freiheit und Machtkontrolle verlangen den Kampf gegen Ungleichheit. Piketty bringt in seinem Buch wie auch in dem oben verlinkten Video einige Vorschläge zur Korrektur der Vermögensverteilung (etwa ab Minute 36:00): Stark progressive Steuern auf Einkommen, Vermgen und Erbschaften. Mitbestimmung. Eigentum neu denken. Eigentum auf Zeit.Das sind Vorschläge für ein Parteiprogramm, die zu besprechen sich lohnen.Wie man die praktische Politik zur Brechung des Ungleichheitsregimes dann in der Begriffswelt der politischen Geographie nennt, das mag jede und jeder selbst entscheiden.

Nachtrag: Jens Berger hat in seinem früheren Buch „Wem gehört Deutschland “ wichtige Erkenntnisse zum Thema, vor allem bezogen auf Deutschland, veröffentlicht; auch sein neues Buch Wer schützt die Welt vor den Finanzkonzernen enthält wichtige Daten und Gedanken zum Thema.

*:Siehe dazu auch https://josopon.wordpress.com/2019/05/05/die-grose-umverteilung-warum-haben-sich-aktienkurse-und-warenproduktion-entkoppelt/
Die dort beschriebenen Vorgehensweisen sollen jetzt unter dem Druck der Unternehmer und dem Schweigen der Gewerkschaften in der Corona-Krise erneut angewendet werden: Um die Arbeitskosten zu senken, bauten EU-Länder in den vergangenen Jahren Arbeitnehmerrechte ab. Sie schwächten den Kündigungsschutz, ersetzten Vollzeit- durch Teilzeitjobs, senkten Mindestlöhne und Arbeitslosenunterstützung.

**: Dazu Ulrich Schneider hier: https://josopon.wordpress.com/2017/02/16/wohlstand-fur-alle-mit-dem-leistungsbegriff-belugen-wir-uns-gleich-doppelt/
„Und es sind die Reichen, die ihren Reichtum begründen müssen, es sind die Topmanager, die sich – auch moralisch – zu rechtfertigen haben für ihre Supergehälter gegenüber ihren Arbeitern, die mit einem kleinen Bruchteil deren Gehalts nach Hause gehen müssen.
Es sind die Erben, die sich rechtfertigen müssen dafür, dass sie das Privileg des Erbes genießen, und dafür nicht einmal ernsthaft Steuern zahlen müssen.“

Nachtrag: Hier gibt es aktuelle Leserbriefe zum Artikel: https://www.nachdenkseiten.de/?p=61377
Aber ich freue mich besonders, wenn ihr HIER unten kommentiert !

Die Sonne scheint noch für lau ! Gruß von Langeoog !

Jochen

Die große Umverteilung – Warum haben sich Aktienkurse und Warenproduktion entkoppelt ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine so komplizierte Frage lässt sich nach einer empirischen Studie zweier US-Universitäten mit Daten der OECD beantworten.
Die Ergebnisse passen in Pikettys Theorie. Einfacher wird das hier erklärt:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1117935.finanzmarkt-die-grosse-umverteilung.html
Auszüge:

Die Börsen feiern Aufschwung. Die Aktienkurse steigen, weil Reichtum von Beschäftigten an die Finanzmärkte geflossen ist. Das dürfte der Grund für die nächste Krise sein.

Von Stephan Kaufmann

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Die Börse scheint in einer eigenen Welt zu leben. Die Aktienkurse steigen. Gleichzeitig droht ein weltweiter Handelskrieg, das Schicksal Großbritanniens ist ungeklärt, die globale Nachkriegsordnung zerfllt – und zudem mehren sich die Warnungen vor der nächsten Rezession.

Davon unberührt eilt die US-Börse von einem Rekord zum nächsten. Ihr jüngster Aufschwung mag den Zufällen der Spekulation geschuldet sein.
Der langfristige Anstieg der Aktienkurse aber hat einen handfesten Grund: die Umverteilung von den Beschäftigten zu den Aktionären.

Seit Jahresbeginn geht es mit den Kursen in Europa, Nordamerika und Asien bergauf. Dabei ist die Konjunkturentwicklung wacklig: Das Wirtschaftswachstum in Europa lässt nach. In den USA und China ist es stärker, lebt aber von staatlicher Konjunkturförderung und Niedrigzinsen.
Doch ist dies nur scheinbar ein Widerspruch. Denn die Kopplung der Aktienmärkte an die Wirtschaftsleistung ist seit Langem aufgehoben.
Die alte Regel, dass Börsen langfristig parallel zur Produktion der Unternehmen steigen und sie insofern abbilden, gilt nicht mehr.

Das belegt eine Studie der Universitten Berkeley und New York. Die US-Ökonomen untersuchten Aktienmärkte und Realwirtschaft seit 1959 – und gelangten zu einem Rätsel: Bis 1989 wuchs die Wertschöpfung der Unternehmen auerhalb des Finanzsektors kräftig und mit ihnen die Börsenkurse.
Seit 1990 jedoch laufen die Kurse der Wertschöpfung davon. Wie kann das sein?

Die Antwort: Es lag nicht an den niedrigen Zinsen und auch nicht daran, dass sich die Aktienmärkte schlicht von der Realwirtschaft entkoppelt hätten.
Wichtigster Grund war vielmehr, dass der produzierte Reichtum ab 1990 zwar nur mäßig stieg, größere Anteile davon jedoch an die Aktienmärkte gingen – zu Lasten der Arbeitnehmer.
Seit 30 Jahren erleben nicht nur die USA, sondern die ganze Gruppe der etablierten Industrieländer eine große Umverteilung von den Beschäftigten hin zu den Finanzmärkten.

Diese Umverteilung spiegelt sich in vielen Indikatoren wider. So stieg allein in den vergangenen 20 Jahren der reale Pro-Kopf-Lohn in den großen Ökonomien – USA, Westeuropa, Japan – um etwa zehn Prozent, die Produktivität der Beschäftigten dagegen um fast ein Drittel.
Das bedeutet: Es schrumpfte der Anteil des Wohlstands, der an die Arbeitnehmer floss.
Das Wachstum der realen Löhne blieb deutlich hinter der Gesamtproduktivität zurück, so die Industrieländervereinigung OECD.

Steuern sinken

Bekannt ist dieses Phänomen als sinkende Lohnquote, also als sinkender Anteil der Entgelte für Beschäftigte am Nationaleinkommen.
Laut OECD fiel die Lohnquote von ihrem Hoch von über 65 Prozent in den Siebzigern auf zuletzt 56 Prozent. Dieser Trend sei in allen Branchen zu beobachten.

Die Gründe dafür sind bekannt: erstens die Globalisierung, also die Nutzung von Billiglohn-Standorten wie China und die damit verbundene verschärfte globale Konkurrenz der Arbeitnehmer.
Zweitens die Technologie: Die Verbilligung von Produktionstechnik schuf für die Unternehmen einen Anreiz, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, um Kosten zu senken. Beide Faktoren schwächten den Einfluss der Gewerkschaften.

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Ein dritter Faktor ist laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die Politik. Um die Arbeitskosten zu senken, bauten EU-Länder in den vergangenen Jahren Arbeitnehmerrechte ab. Sie schwächten den Kündigungsschutz, ersetzten Vollzeit- durch Teilzeitjobs, senkten Mindestlöhne und Arbeitslosenunterstützung. All dies hat den Druck auf die Arbeitnehmer erhöht und zum Rckgang der Lohnquote in Europa beigetragen, so Dilyana Dimova in einem Arbeitspapier des IWF.

Die verschärfte Konkurrenz der Standorte um Investoren hat zudem zu einem Steuersenkungswettlauf geführt. In den Industrieländern ist der Steuersatz für Unternehmensgewinne seit 1998 von 41 Prozent auf zuletzt 27 Prozent zurckgegangen.
Krass war die Entwicklung in den USA: So betrug der Anteil der Unternehmensteuern 1950 noch 50 Prozent der gesamten Unternehmensgewinne – vergangenes Jahr waren es nur noch zehn Prozent.

Was sind die Folgen? Sinkende Lohnanteile und Steuern bedeuten zum einen steigende Unternehmensgewinne. Die Kapitaleigner haben mehr, die Arbeitnehmer weniger. Das allein rechtfertigt steigende Börsenkurse.

Lohnzurückhaltung und Steuersenkungen wurden meist begründet mit dem Argument, höhere Gewinne wrden die Unternehmen zu mehr Investitionen und zur Schaffung von Jobs bewegen.*) Doch ist diese Rechnung nicht aufgegangen.
Die Umverteilung von Arbeit zu Kapital hat nicht die erwarteten Folgen für die Investitionen gehabt, stellt die OECD fest. Anstatt in neue Fabriken und Anlagen zu investieren, erhöhten die Unternehmen die Dividenden an die Aktionäre, kauften eigene Aktien zurück und legten den Rest an den Finanzmärkten an. Das treibt zusätzlich die Kurse nach oben.

Firmen werden Finanzanleger

Das erfreut die Finanzanleger – und überrascht viele Wirtschaftsexperten. Denn die Entwicklung widerspricht einigen Grundannahmen: Laut ökonomischem Modell leihen sich eigentlich die Unternehmen von den privaten Haushalten Geld und investieren es in Produktionsanlagen, erzielen Gewinne, von denen die privaten Haushalte in Form von Dividenden und Zinsen profitieren.
In der ökonomischen Realität jedoch horten die Unternehmen ihre Einnahmen, sie sind selbst zu Finanzanlegern geworden.
Ihre Ersparnisse – also was ihnen nach Ausgaben für Dividenden, Zinsen und Investitionen übrig bleibt – sind in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen, stellt Nils Redeker in einer Studie für die Universität Zürich fest.

Ergebnis ist die Zunahme der Ungleichheit. Denn von der Entwicklung profitieren Eigner von Betriebs- und Finanzvermögen – und die sind sehr ungleich verteilt.
Der OECD zufolge gehören in den Industrieländern den reichsten zehn Prozent der Haushalte 60 Prozent des gesamten Kapitals, in den USA sogar 70 Prozent. Die reichsten fünf Prozent der US-Amerikaner halten 75 Prozent des Aktienreichtums.
Die Kapitalgewinne fließen vor allem an diese kleine Gruppe. Der Rest – zumeist Lohnabhängige – fällt zurück.

Das System erzeugt sein Problem

Dies wiederum macht das gesamte System fragil. Denn aufgrund der Umverteilung zu Ungunsten der Lohnempfänger bleibt deren zahlungsfähige Nachfrage zurück, was die Unternehmen als Absatzschwierigkeiten und verschärfte Konkurrenz zu spüren bekommen.
In den USA treibt dies die Verschuldung der Haushalte in die Höhe, denn die Konsumenten ersetzen verlorenes Einkommen mit Kredit – ihre steigende Verschuldung war ein wesentlicher Grund für die Finanzkrise ab 2008.
Länder wie Deutschland dagegen ersetzen fehlende inländische Nachfrage durch vermehrten Export ins Ausland. Ergebnis sind die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands – ein wesentlicher Grund für die Eurokrise ab 2009.

In den Worten der OECD: Da der fallende Anteil der Löhne am Einkommen nicht durch vermehrte Investitionen kompensiert wird, sind Länder stärker auf Kredite und / oder Netto-Exporte angewiesen, um die Gesamtnachfrage aufrechtzuerhalten. Das könnte zu wirtschaftlicher Instabilität und globalen Ungleichgewichten beitragen.
So gräbt sich der Aufschwung der Unternehmensgewinne und der Börsen langsam selbst das Wasser ab. Denn der wachsende Reichtum der Kapitalseite beruht auf der relativen Verarmung der Arbeitnehmer.
Auf Dauer wird dies zur nächsten Krise führen, zu einer Entwertung von Finanz- und Unternehmensvermögen.
Der Kampf der mächtigen Standorte um die Frage, bei wem diese Entwertung stattfinden wird, läuft bereits: Es ist der sogenannte Handelskrieg, der die Börsen derzeit nervös macht. Zu Recht.

*) Das waren die Grundannahmen der New Labour Economy von Tony Blair, Gerhard Schröder und seinem Finanzminister Eichel. Schon damals wussten realistische Ökonomen wie der leider verstorbene Jörg Huffschmied und Heiner Flassbeck, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann.
Jochen

Vorsicht vor reichen Weltverbesserern – Sie können so großzügig wirken – bis man merkt, was sie uns eigentlich wirklich verkaufen.

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

 

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Anand Giridharadas

Mal einen wirklich guten Artikel bei Friedrich Ebert’s  gefunden:
https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/vorsicht-vor-reichen-weltverbesserern-2952/
Auszüge:

„Verändert die Welt“ ist seit langem schon der Ruf der Unterdrückten.

Aber in den letzten Jahren haben auch die Reichen den Wunsch nach Veränderung für sich vereinnahmt.

„Verändert die Welt. Verbessert die Lebensbedingungen. Erfindet etwas Neues”, heißt es demnach auch in den Einstellungsmaterialen der Unternehmensberatung McKinsey.
„Lehnt euch zurück, entspannt euch und verändert die Welt“, lesen wir in einem Tweet des Weltwirtschaftsforums, das die Konferenz von Davos veranstaltet.
Eine Anzeige von Morgan Stanley ruft uns zu: „Bringen wir das Kapital auf, um die Dinge zu bauen, die die Welt verändern.“
Möchte WalMart einen Software-Ingenieur einstellen, sucht das Unternehmen nach „dem Willen, die Welt zu verändern“.
Und Mark Zuckerberg schreibt auf Facebook: „Will man die Welt verändern, ist das Beste, was man heute tun kann, ein Unternehmen zu gründen.“

Dabei denkt man zunächst: Reiche, die etwas verändern wollen – wie großzügig!
Bis man dann bedenkt, dass Amerika nicht das wäre, was es ist, wenn wir der Art von Veränderung, die uns diese Gewinner verkauft haben, nicht auf dem Leim gegangen wären: nämlich falscher Veränderung.

Wir können tatsächlich echte Veränderung erreichen, aber dazu brauchen wir aggressive Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer.

Falsche Veränderung ist nicht schlecht, aber sie ist für Feiglinge. Es ist eine Art von Veränderung, die von den Mächtigen toleriert werden kann.
Mit dieser Veränderung sind die Schuhe, die Socken oder die Einkaufstasche gemeint, die du gekauft hast. Die Welt zu verändern,das haben dir auch diese fabelhaften Privatschulen versprochen – und nicht die gerecht finanzierten öffentlichen Schulen für alle.
Das Versprechen besteht in „Lean-In-Circles“ zur Ermächtigung von Frauen – und nicht in allgemein zugänglichen Vorschulen.
Es verheißt „Impact Investing“ als alternative Geldanlage – und nicht die Abschaffung des US-Steuerschlupflochs bei der Gewinnbeteiligung.

Natürlich stimmt es, dass die weltbewegenden Initiativen der Gewinner des Marktkapitalismus die Kranken heilen, die Armen bereichern und Leben retten.
Tatsächlich geben die amerikanischen Eliten etwas an die Gesellschaft zurück. Aber sogar damit versuchen sie meist, das System aufrecht zu erhalten, das viele der Probleme, die sie lösen wollen, erst verursacht hat – und ihre Hilfsbereitschaft ist Teil der Art, wie sie dies durchziehen. Also sind ihre guten Taten Komplizen eines größeren Schadens, auch wenn dieser kaum sichtbar ist.

Was von ihrer „Veränderung“ ausgenommen ist, ist unsere Wirtschaft, deren Profite nach oben fließen und bei den Gewinnern landen.
Das durchschnittliche Vorsteuereinkommen des obersten amerikanischen Prozents hat sich seit 1980 mehr als verdreifacht, das der obersten 0,001 Prozent sogar mehr als versiebenfacht.
Gleichzeitig stagnierte das Durchschnittseinkommen der unteren Einkommenshälfte der Amerikaner laut einem Artikel der Ökonomen Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman bei rund 16 000 Dollar.

Die US-amerikanischen Eliten monopolisieren zwar den Fortschritt, aber Monopole können gebrochen werden. Wir können tatsächlich echte Veränderung erreichen, aber dazu brauchen wir aggressive Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer. Wir müssen Einkommen umverteilen und die Ausbildung und Gesundheit erschwinglicher machen.
Aber solche Maßnahmen könnten die Gewinner teuer zu stehen kommen.
So haben sie ein starkes Interesse daran, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie innerhalb des Systems Hilfe leisten können – innerhalb dieses Systems, das für die Gewinner so nützlich ist.

Oder haben Michael E. Porter, Professor an der Harvard Business School, und sein Mitverfasser Mark R. Kramer etwa Recht, wenn sie sagen: „Unternehmen, die sich wie Unternehmen verhalten und nicht wie gemeinnützige Geldgeber, sind die mächtigste Kraft zur Bewältigung unserer drängenden Probleme“? Dann sollten wir die Unternehmen doch lieber nicht zu sehr einschränken, oder?

Dies ist die Art, wie die Gewinner von ihrer eigenen Wohltätigkeit profitieren: So können sie Veränderung umdefinieren und sie damit entschärfen.

Nehmen wir David Rubenstein, einen Mitgründer des Private-Equity-Unternehmens Carlyle Group. Er ist ein Milliardär, der, wie er es ausdrückt, „patriotische Philanthropie“ praktiziert.
Als im Jahr 2011 ein Erdbeben das Washington-Denkmal beschädigte und der Kongress nur die Hälfte der 15 Millionen Dollar Reparaturkosten finanzierte, steuerte Rubenstein den Rest bei.
„Die Regierung hat nicht mehr die Ressourcen, die sie einst hatte“, erklärte er. „Jetzt müssen die Privatleute einspringen.“

Trump ist das, was wir bekommen, wenn wir den Reichen vertrauen, das zu reparieren, zu dessen Zerstörung sie selbst beigetragen haben.

Und dieses Einspringen scheint ein Ausdruck von Großzügigkeit zu sein – bis man erfährt, warum die Regierung eigentlich so knapp bei Kasse ist: Ein Grund dafür ist Rubenstein selbst.
Er und seine Kollegen setzen seit langer Zeit ihren Einfluss dafür ein, das Steuerschlupfloch bei der Gewinnbeteiligung zu schützen, das für die Akteure im Private-Equity-Bereich enorm profitabel ist.
Würde dieses Schlupfloch gestopft, könnte dies der Regierung innerhalb von zehn Jahren 180 Milliarden Dollar einbringen – genug, um dieses Denkmal viele tausend Mal zu reparieren.

So läuft Rubenstein Gefahr, als Mann zu gelten, der Amerika aussaugt. Gutes zu tun gibt ihm hingegen ein nützliches Image als Patriot, der ehemalige Präsidenten interviewt und Vorträge über den dreizehnten Verfassungszusatz hält.

Das Unternehmen Walmart wird schon seit langem beschuldigt, seine Arbeitnehmer zu schlecht zu bezahlen.
Berühmt wurde der Fall, als der Einzelhandelsriese von der Verbraucherschutzorganisation Americans for Tax Fairness beschuldigt wurde, er koste die Steuerzahler jedes Jahr Milliarden von Dollar: Er bezahle „seinen Angestellten so wenig, dass viele von ihnen auf Lebensmittelmarken, Gesundheitszuschüsse und andere steuerfinanzierte Programme zurückgreifen müssen.“
Das Unternehmen wehrt sich gegen diese Kritik und beruft sich auf die Arbeitsplätze, die es schaffe, und die Steuern, die es zahle.

Als in der New York Times vor einigen Jahren eine Walmart-kritische Kolumne veröffentlicht wurde, stellte David Tovar, ein Sprecher des Unternehmens, eine redigierte Version des Textes in einen Unternehmensblog.
Neben einen Abschnitt darüber, wie die Erben der Walton-Familie durch halsabschneiderische Methoden mindestens 150 Milliarden Dollar Reichtum angehäuft haben, schrieb Tovar: „Möglicher Zusatz: Größte Unternehmensstiftung in Amerika. Gibt jedes Jahr über eine Milliarde Dollar an Cash oder Sachspenden.“

Das 150-Milliarden-Dollar-Vermögen oder die Tatsache, dass ein größerer Teil davon als Löhne hätte ausgezahlt werden können, leugnet Tovar nicht.
Statt dessen scheint er anzudeuten, diese Tatsachen könnten durch Wohltätigkeit ausgeglichen werden.

Vor einigen Jahren gründeten einige Unternehmer im kalifornischen Oakland eine Firma namens Even.
Ihr ursprünglicher Plan war, die stark schwankenden Einkommen der amerikanischen Arbeiterklasse zu stabilisieren – mit einer App. Diese sollte – für ein paar Dollar in der Woche – das Geld der Betreffenden, wenn sie genug davon hatten, in einen virtuellen Sparstrumpf stecken, und es dann in knappen Zeiten wieder zur Verfügung stellen.
„Wollen Sie sich so fühlen, als hätten Sie zum erstem Mal in ihrem Leben ein Sicherheitsnetz? Dann ist Even die Antwort“, behauptete das Unternehmen.

Diese Idee ist nicht nur deshalb zweifelhaft, weil sie lediglich ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Das Problem ist auch, dass sie unsere Vorstellung von Veränderung verwässert. Sie setzt eine App mit einem Sicherheitsnetz gleich.

Falsche Vorstellungen über Veränderung und ihre schlimmen Folgen haben den Weg für einen Präsidenten namens Donald Trump bereitet.
Er profitierte von dem Gefühl, das amerikanische System sei manipuliert und die etablierten Eliten nutzten es zu ihren Gunsten aus.
Und dann leitete er diese Wut auf perfide Weise auf diejenigen Amerikaner um, die am meisten darunter leiden.
Indem er von hohlen Ideen über falsche Veränderungen profitierte, wurde er, was er ist – ein reicher Mann, der sich selbst als besten Beschützer der Unterdrückten stilisiert, und der vorgibt, die Veränderungen, die er anstrebt, hätten nichts mit seinen eigenen Interessen zu tun.

Trump ist das, was wir bekommen, wenn wir den Reichen vertrauen, das zu reparieren, zu dessen Zerstörung sie selbst beigetragen haben.

2016 standen Trump und viele der Elite-Weltverbesserer, über die ich hier schreibe, politisch auf unterschiedlichen Seiten. Aber diese Eliten und der Präsident haben eines gemeinsam: den Glauben, wir sollten die Welt nicht selbst verändern, sondern dies ruhig ihnen überlassen. Sie stellen den amerikanischen Grundsatz der Selbstverwaltung in Frage.

Eine erfolgreiche Gesellschaft ist eine Fortschrittsmaschine, die Innovationen und vorteilhafte Entwicklungen in einen gemeinsamen Aufstieg verwandelt.
Aber die amerikanische Maschine ist kaputt. Die Innovationen fliegen uns nur so zu, aber der Fortschritt rinnt uns durch die Finger. Und dies können auch tausend weltverbessernde Initiativen nicht ändern.
Stattdessen müssen wir die grundlegenden Systeme reformieren, die es den Menschen ermöglichen, anständig zu leben – die Systeme, die entscheiden, auf welche Schulen unsere Kinder gehen, ob Politiker auf Sponsoren oder auf die Bürger hören, ob Menschen ihre Krankheiten behandeln lassen können und ob sie genug Geld verdienen (und dies verlässlich genug, um die Möglichkeit zu haben, Pläne zu machen und Kinder zu bekommen).

Viele Gewinner erkennen ihre Rolle, die sie bei der Unterstützung eines schlechten Systems spielen, sehr klar. Sie könnten davon überzeugt werden, dass das Problem an der Wurzel gepackt werden muss, um es gemeinschaftlich zu lösen. Dies allerdings bedeutet höhere Steuern, geringere Gewinne und weniger Häuser für sie.
Um die Welt zu verändern, reicht es nicht aus, etwas zurückzugeben. Es bedeutet auch, etwas aufzugeben.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

(c) The New York Times 2018

Anand Giridharadas arbeitet als politischer Analyst für NBC News und MSNBC und als Gastwissenschaftler am Arthur L. Carter Journalism Institute der New York University. Sein aktuellstes Buch „Winners Take All-The Elite Charade of Changing the World“ ist vor Kurzem erschienen.

Jochen

Gegen Jens Weidmann als neuen Präsidenten der Europäischen Zentralbank! Online-Petition

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es stellt sich immer mehr als Problem heraus, dass Wirtschaftskriminelle und korrupte Politiker im Wechselspiel politisch entscheidende Positionen besetzen. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt in der gesamten Europäischen Union.
Eine entsprechende Online-Petition gegen die geplante Kungelei kann hier unterzeichnet werden:
http://www.europa-neu-begruenden.de/wer-wird-neuer-praesident-der-europaeischen-zentralbank/
Auszüge aus dem hier einzusehenden Aufruf:

Für ein transparentes Besetzungsverfahren der EZB und eine Währungsunion als Grundstein eines solidarischen Europa

Im Februar 2018 geht durch die Presse, dass Bundesbankpräsident Jens Weidmann als Nachfolger des derzeitigen EZB-Präsidenten Mario Draghi eingesetzt werden soll – und dies mit Unterstützung der SPD.
Wir rufen alle, die Reformen der Europäischen Währungsunion im Sinne ökonomischer Stabilität, des Zusammenwachsens der Mitgliedsländer und sozialer Solidarität erreichen wollen, dazu auf, sich öffentlich und deutlich gegen die Berufung von
Jens Weidmann und für ein offenes und transparentes Berufungsverfahren auszusprechen.
Die europäische Krisenpolitik zeigt eine verheerende Bilanz: Massenarbeitslosigkeit, Verarmung, Deregulierung von Arbeitsverhältnissen, Schwächung von Tarifverträgen und Gewerkschaften, Abbau des öffentlichen Sektors in vielen Ländern.
Auch wenn die Rolle der EZB als Teil der „Troika“ in den sog. „Programmländern“ höchst problematisch war, hat sie einen entscheidenden Beitrag für die Beendigung der Krise geleistet, als Mario Draghi im Herbst 2012 seine „Whatever it takes“-Ankündigung machte.
Die entschlossenen geldpolitischen Maßnahmen seitdem haben die viel zu spät einsetzende Erholung erst möglich gemacht.
Ohne diese Entscheidungen wäre die gemeinsame Währung ohne Zweifel implodiert, mit massiven ökonomischen und sozialen Folgen.
Größter Bremsschuh für diese Politik war im EZB-Rat die Deutsche Bundesbank, vertreten durch Jens Weidmann. Er hat keinen Versuch unterlassen, die für die Rettung der Eurozone nötigen Maßnahmen zu verschleppen und zu schwächen, wenn sie denn nicht zu verhindern waren.
Bei der nächsten wirtschaftlichen Krise würden unter der EZB-Präsidentschaft Jens Weidmanns erhebliche Zweifel bestehen, ob entschlossen und schnell geldpolitische Gegenmaßnahmen ergriffen würden.
Wahrscheinlicher ist der Fingerzeig auf die krisengeschüttelten Länder, sie sollen den Gürtel enger schnallen und „ihre Hausaufgaben machen„.
Allein diese Tatsache, ‚eingepreist‘ von den Finanzmärkten, würde die Eurozone instabiler machen und die Finanzierung der Staatshaushalte erschweren. Sinnvolle, ja notwendige Reformen des Euroraums würden erschwert.
Sollte Deutschland, ausgerechnet mit Hilfe der SPD, Jens Weidmann in den Sessel des EZBPräsidenten heben, markiert das für die gerade der Krise entronnenen Mitgliedsländer einen schweren Rückschlag.
Die geldpolitische Ausrichtung von Jens Weidmann steht für ein rückwärtsgewandtes Europa der Austerität. Mit ihm an der Spitze der EZB würden die Spielräume für fortschrittliche Reformen von EU und Währungsunion und für fortschrittliche Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik in den Mitgliedstaaten beeinträchtigt und eingeengt.
Wir streiten für ein europäisches Deutschland und für eine Geldpolitik, die dem Ziel eines sozialen und solidarischen Europas dient.
Wir unterstützen den von Thomas Piketty und anderen prominenten Ökonomen lancierten Appell, die Personalentscheidungen der EZB nach transparenten Kriterien, mit Beteiligung des Europäischen Parlaments und der Öffentlichkeit und nicht im Geklüngel der Regierungschefs zu treffen.

Jochen

Rückkehr der »alten Schule« – Warum aufrechte Sozialdemokraten die herrschende Politik aufmischen können

Alban Werner zur Debatte um die Erneuerung der gesellschaftlichen Linken

Auszüge aus einem grundlegenden Artikel im Neuen Deutschland

http://www.neues-deutschland.de/artikel/990074.rueckkehr-der-alten-schule.html

.. . Der Eindruck vieler Leute in den industriekapitalistischen Ländern von professioneller Politik: Ein schmutziges, im Zweifel korruptes Geschäft, bei dem das Publikum schamlos angelogen wird von Eliten, die für ihren Wahl- und Wiederwahlerfolg noch ihre eigene Großmutter verkaufen würden. So machte sich Hoffnungslosigkeit und Zynismus breit insbesondere in denjenigen Bevölkerungsteilen, unter denen klassischerweise AnhängerInnen der politischen Linken im breiteren Sinne vermutet wurden: Lohnabhängige, vor allem ›Malocher‹ , Prekarisierte, Erwerbslose.

Man kann darüber streiten, ob Colin Crouchs Begriff der ›Postdemokratie‹ das beste Etikett ist, um diese Gegenwart zu charakterisieren. Aber man kommt nicht darum herum, dass die etablierte Politik im Vergleich zur Nachkriegszeit mit sehr viel dünnerer Unterstützungsgrundlage in der Bevölkerung operiert. Der französische Politologe Dominique Reynié argumentiert, dass es ein Kontinuum gibt zwischen Wahlenthaltung, der Abgabe ungültiger Stimmen und der Wahl von Parteien, die vom Mainstream als ›populistisch‹, ›extremistisch‹ oder aus anderen Gründen nicht politisch stubenrein angesehen werden. Bildet man die Summe dieser von Reynié ›wahlpolitischen Dissidenz‹ genannten Formen der Stimmabgabe, wird man feststellen, dass sie bei vielen Wahlgängen in der sog. westlichen Welt die gültigen Stimmen für die Regierungsparteien übertreffen!

Aus Erfahrung glaubwürdig: Die ›Old School‹ -Sozialdemokratie

Interessant ist nun, dass es seit einigen Jahren, verstärkt aber 2015 das Comeback eines Typus Politikers auf der Linken gibt, den man sich vor 10, 15 Jahren so kaum hätte vorstellen können: Die alters- und einstellungsmäßig ganz ›alte Schule‹ der Sozialdemokratie feiert derzeit eine triumphale Rückkehr auf der politischen Bühne, dies- und jenseits des Atlantiks. Dazu gehören Leute mit ganz unterschiedlichen Biographien wie der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio, der sozialistische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders aus Vermont, Bill Clintons ehemaliger Arbeitsminister Robert Reich, der neue Labour Party-Vorsitzende Jeremy Corbyn, aus der deutschen Sozialdemokratie die ›Nachdenkseiten‹-Gründer Albrecht Müller und Wolfgang Lieb, und vielleicht neuerdings die Politologin und ehemalige Bundespräsidentschafts-Bewerberin Gesine Schwan.

Aber wie kann es sein, dass ausgerechnet diese nicht mehr ganz taufrischen Exemplare (Bill de Blasio ist mit Jahrgang 1961 das Küken unter den Genannten) eine politische Euphorie entfachen, obwohl sie nicht wie Barack Obama, der künftige kanadische Premierminister Justin Trudeau, Alexis Tspiras oder Pablo Iglesias einen Newcomer-Bonus in Anspruch nehmen können?

Es gibt, so meine These, bei allen Genannten doch einige gemeinsame Eigenschaften, die das Publikum an ihnen erkennt oder zu erkennen glaubt, durch die sie sich von den altbekannten Figuren des politischen Spiels abgrenzen, die bei South Park mit so unappetitlichen Metaphern bedacht werden. Sie haben damit erstaunlichen Erfolg, vor allem bei der jüngeren Generation, die viele bereits für Politik verloren gegeben hatten.

Bernie Sanders füllt in den Vereinigten Staaten große Stadien mit regelmäßig über 20.000 ZuhörerInnen. Er sammelt so viele Kleinspenden, dass er anders als Hillary Clinton auf die demokratiepolitisch ohnehin fragwürdige grenzenlose Werbemaschinerie eines sog. ›Super PAC›‹ verzichten kann.

Robert Reich feiert Erfolge mit seinem Dokumentarfilm ›Inequality for all‹ , in dem er u.a. gestützt auf Material von Thomas Piketty aufzeigte, wie die Ungleichheit in den westlichen Gesellschaften und vor allen in den USA massiv zugenommen hat. Bei Facebook findet er für seine täglichen Kommentare zum politischen Geschehen etliche junge LeserInnen, die während seiner Amtszeit unter Bill Clinton noch Kinder oder noch gar nicht geboren waren.

Jeremy Corbyn, der fleischgewordene Alptraum der ›Dritter Weg‹-SozialdemokratInnen wie Tony Blair oder Gerhard Schröder, hat nicht nur mit riesigem Abstand die Wahl zum Vorsitzenden gewonnen, sondern es auch geschafft, binnen kürzester Zeit die Mitgliedschaft der Labour Party zu verdoppeln. Derartiges hätten ParteienforscherInnen bis vor Kurzem noch als irre Phantasie abgetan.

»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«

Was also haben diese neuen, alten Leitfiguren gemeinsam?

Aufrichtigkeit: Gerade weil die Genannten nicht ›grün hinter den Ohren‹, sondern alte politische Schlachtrösser sind, zeigt ihre Renitenz, dass eine politische Laufbahn nicht unvermeidlich in die rückgratlose Anpassung führen muss, über die sich South Park so ätzend mokiert. Die aufrechten alten SozialdemokratInnen gestehen sogar Fehler ein und üben Selbstkritik – anders als z.B. Hillary Clinton, die erst nach endlos erscheinender Zeit zugab, ihre Zustimmung zum Irak-Krieg sei ein Fehler gewesen. Jeremy Corbyn hingegen kündigte unmittelbar nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden an, sich im Namen der Labour Party für den Irak-Krieg entschuldigen zu wollen, obwohl er Tony Blairs Waffengang selber nie zugestimmt hatte. Robert Reich schweigt nicht über Defizite ›seiner‹ damaligen Regierung oder über mangelnde Glaubwürdigkeit von Hillary. Der 2013 verstorbene Old School-Sozialdemokrat Ottmar Schreiner blieb zwar nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines 1999 noch als SPD-Bundesgeschäftsführer im Amt und versuchte bis zur Selbstverleugnung noch zu retten, was an Rot-Grün zu retten war. Aber als Gerhard Schröder ihn dennoch zum Dank aus dem Amt entfernte, wurde er zum schärfsten und unermüdlichsten Gegner der Agenda 2010-Politik, gleichgültig mit welchen wenig schmeichelhaften Adjektiven ihn die Pressekommentare bedachten. An der ›alten Schule‹ wird also symbolhaft deutlich, dass Kompromisse aufgrund der real existierenden Kräfteverhältnisse nicht gleichbedeutend sein müssen mit karrieristischem Opportunismus.

Gesinnungsethik: Max Webers berühmte Schrift ›Politik als Beruf‹ ist über weite Strecken ein Lob des ›Verantwortungsethikers‹ und eine scharfe Kritik des ›Gesinnungsethikers‹ . Weber hatte dabei vor allem Linksradikale seiner Zeit vor Augen, die ohne Gespür für die Folgen ihres Tuns vom politischen Heilszustand träumten. Aber dennoch erkannte der Soziologe einen tatsächlichen, bewundernswerten Gesinnungsethiker an, und nannte Martin Luther als Beispiel: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Die aufrechten SozialdemokratInnen der ›alten Schule‹ haben ihre Positionen vertreten, auch als sie von nahezu allen Seiten bekämpft oder belächelt wurden und sie dadurch karrieremäßig Nachteile befürchten konnten. Ottmar Schreiner war zwei Mal vergeblich Kandidat für den Bundesvorsitz der Jusos, und zwar für die damals als verbandsintern ›rechts‹ geltenden ReformsozialistInnen. Schreiners Position blieb weitgehend gleich, doch die Partei rückte immer weiter nach rechts. Bernie Sanders kann von sich behaupten, als einer von ganz wenigen 1996 gegen das Verbot der Homosexuellen-Ehe (DOMA, Defense of Marriage Act) gestimmt zu haben, das mit 342 gegen 67 Stimmen im Repräsentantenhaus verabschiedet und von Bill Clinton unterzeichnet wurde – lange bevor die Demokratische Partei, Barack Obama und Hillary Clinton sich offen zur ›Ehe für alle‹ bekannten.

Kohärenz: Die SozialdemokratInnen der ›alten Schule‹ stehen nicht nur zu ihren Überzeugungen, sie geben sich auch sichtbar Mühe, keinen ideologischen Gemischtwarenladen zu vertreten. Dabei nehmen sie auch in Kauf, bei Teilen der linken Klientel auf Ablehnung zu stoßen. Das unterscheidet sie von manchen LinkspopulistInnen wie PODEMOS, die sich aus Rücksicht auf mögliche Rückschläge vor möglicherweise strittigen Positionen drücken. Bernie Sanders wurde jüngst in der Satire-Sendung ›Daily Show‹ dafür kritisiert, dass er als Grund für seine Ablehnung weitgehender Grenzöffnung der USA mal die negativen Folgen für die Einheimischen, mal für die MigrantInnen nannte. Dabei ist dies gar kein Widerspruch: Werden die Neuankömmlinge vor allem in Niedriglohnsektoren ohne realistische Hoffnung auf sozialen Aufstieg eingesetzt, sitzen sie selber in der Sackgasse und werden, ob sie wollen oder nicht, gegen die einheimischen Arbeitskräfte als industrielle Reservearmee eingesetzt. Robert Reich lehnt den Sozialismus ab, wie sein jüngstes Buch »Saving Capitalism: For the Many, Not the Few« (Den Kapitalismus retten: Für die Vielen, nicht die Wenigen) bereits im Titel erkennen lässt.

Loyalität: Sehr oft kann im politischen Betrieb beobachtet werden, dass nicht nur Inhalte, sondern auch Verbindungen zu früheren Verbündeten gekappt werden, wenn es nicht mehr opportun erscheint. Nach dessen Rücktritt als Parteivorsitzender und Finanzminister wurde Oskar Lafontaine von fast allen SPD-Spitzen und auch der Parteilinken gemieden. Nicht so bei Ottmar Schreiner, der sich weiterhin zu seinem Saarländer Kampfgefährten bekannte. Albrecht Müller kam dem Andenken an Willy Brandt zuhilfe, als dessen Wahlkampfmanager er gedient hatte, als 30 Jahre nach dem Ereignis der TV-Film »Im Schatten der Macht« die Hintergründe von Willy Brandts Rücktritt aufgerollt wurden.

Anstand: Weil sie glaubwürdig ihre Positionen vertreten können, sind die altgedienten SozialdemokratInnen auch nicht in der Verlegenheit, sich durch Angriffe auf ihre KonkurrentInnen ober- oder unterhalb der politischen Gürtellinie profilieren zu müssen. Jeremy Corbyn hat seine MitbewerberInnen um den Parteivorsitz nie direkt angegriffen, obwohl er selbst ordentlich Schelte abbekam. Nach seiner Wahl fand er für jede und jeden von ihnen lobende Worte, sogar für die Tony-Blair-Anhängerin Liz Kendall. Wolfgang Lieb kündigte kürzlich an, nicht mehr für die ›Nachdenkseiten‹ schreiben zu wollen, die er selbst mitbegründet hatte. »In meinem Verständnis sollen die NachDenkSeiten – wie uns der verstorbene Frank Schirrmacher lobte – ›im besten Sinne alteuropäische Diskurse‹ anstoßen, nicht aber den jeweiligen Diskurspartner mit auf die Person bezogener Aggressivität abstoßen, ihn nicht mit moralisch aufgeladenen Begriffen, wie etwa ›unterste Schublade‹ ,›von Agitation und Dummheit geprägt‹ herabsetzen«, begründete er seinen Abschied.

Eine Stimme der Vielen?

Es gibt neben den ideologischen aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten für den Erfolg dieser SozialdemokratInnen ›alter Schule‹. Der wichtigste besteht darin, dass sie alle als Voraussetzung ihres Erfolgs ein Publikum überzeugen mussten, das nicht mit der mittleren und oberen Funktionärsebene des klassischen sozialdemokratischen oder linksliberalen Parteiapparats zusammenfällt.

Die ›Nachdenkseiten‹ starteten Ende 2003, als die SPD ganz in das ideologische Universum der Agenda 2010 eingebunden war. Wer als Sozialdemokratin, als Gewerkschafter, Globalisierungskritiker oder anderer Linker eine glaubwürdige Adresse für Gegenworte suchte, fand sie nicht mehr im offiziellen Parteiorgan ›Vorwärts‹, aber immer häufiger bei diesem schnell wachsenden Blog, der der SPD-Leitungsebene schon oft ein schmerzhafter Stachel im Fleisch gewesen sein muss.

Bill de Blasio und Bernie Sanders kam bzw. kommt zugute, dass sie sich dem Primaries genannten Urwahl-System stellen müssen, um als Kandidat aufgestellt zu werden. Sanders mobilisiert dort und in sozialen Netzwerken überzeugtere AnhängerInnen als Hillary Clinton, auch wenn es am Wahltag vermutlich weniger sein werden. Die Wahl Jeremy Corbyns zum Labour-Vorsitzenden wurde ironischerweise möglich, weil unter seinem Vorgänger Ed Miliband die Partei ihre Urwahl für SympathisantInnen öffnete, um den Einfluss der traditionell mit einem ›Blockwahlrecht‹ zugedachten Gewerkschaften zu schwächen.

Allerdings ist auch die direktdemokratische Nominierung noch keine Erfolgsgarantie für fortschrittliche Inhalte oder linke KandidatInnen. So wurde auf Betreiben von Tony Blair die legendäre ›Clause IV‹ im Status der Labour-Partei (die die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien vorsah) per Mitgliederbefragung durch eine unverbindliche Formulierung abgelöst.

Wie Oliver Nachtwey in seinem hervorragenden Buch zur › Marktsozialdemokratie‹ argumentiert, kalkulierte Blair damit, dass zu diesem Zeitpunkt der etablierte Funktionärskörper mehr Widerstand gegen den ›New Labour‹-Kurswechsel leisten würde als die Mehrheit der ›einfachen‹ Mitglieder. Auch dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot für die aktuelle Legislaturperiode stimmte die SPD-Basis bekanntlich per Urabstimmung mit 75,96% zu. François Hollande, der mit beinahe deutscher Präzision fast jedes seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Wahlversprechen von 2012 einkassierte, wurde in einer basisdemokratischen Vorwahl vor den TraditionssozialdemokratInnen Martine Aubry und Arnaud Montebourg bestätigt.

Eine basisdemokratische Inthronisierung, durch massenhaftes Anklicken (wie bei Albrecht Müller, Wolfgang Lieb, Robert Reich) oder Ja-Stimmen (wie bei Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn) ist also zwar notwendig, aber nicht hinreichend für den Erfolg der Old School-SozialdemokratInnen. In jedem Fall muss hinter ihnen eine breite gesellschaftliche Bewegung stehen, die im Grunde nur auf eine glaubwürdige Leitfigur als ihr Symbol wartet, um loszumarschieren. Das schien sowohl in den USA der Fall zu sein, wo es bereits vor Bernie Sanders Wahlkampagne weit verbreitete Empörung über die immense soziale Ungleichheit, die Privatverschuldung der Mittelschichten sowie Organisierung für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns gab. Auch in Großbritannien konnten anhand des spektakulären Erfolgs der linkssozialdemokratisch-grünen Scottish National Party (SNP) bei den Unterhauswahlen schon das Bedürfnis nach einer politischen Kraft abgelesen werden, die der Sparpolitik der Tories deutlicher entgegentritt.

In Deutschland und Frankreich ist die Lage schwieriger, weil hier wie dort die Sozialdemokratie (mit) an der Regierung ist. Mit Sigmar Gabriel und François Hollande stehen aber in beiden Fällen an der Spitze schlechthin die Geschöpfe eines Parteiapparates, der mehr als jeder andere ein Interesse daran hat, dass ein Pendant zu Corbyn oder Sanders in seinem Revier gerade nicht entsteht. Hollande und Gabriel sind was Aufrichtigkeit, Gesinnung, Kohärenz und Loyalität angeht nahezu das genaue Gegenstück zum Typus › alte Schule‹ der Sozialdemokratie. Sie gehören zum Typus › Platzhirsch‹ in den Parteien, der im Grunde weder Gesinnungs-, noch Verantwortungsethiker ist, sondern schlicht über gar keine soziale Existenz mehr außerhalb der politischen Elitenzirkel verfügt und im Zweifel völlig austauschbar politische Inhalte vertritt. Beide haben in Personalunion alle Häutungen ihrer Partei nicht nur mitgemacht, sondern aktiv betrieben. Es ist insofern nur konsequent, dass unter Sigmar Gabriel Jeremy Corbyn bislang noch nicht zum diesjährigen Parteitag der SPD eingeladen wurde. Gabriel weiß genau, dass ein Beifallssturm für Corbyn dort gleichbedeutend wäre mit einer dicken Watsche für ihn, gleichgültig wie hoch seine eigene Wiederwahl ausfällt.

Das Neue muss geboren werden

Der tiefere Grund für den Erfolg der ›alten Schule‹ von SozialdemokratInnen ist nämlich, dass sie für ihre AnhängerInnen die Möglichkeit politischer Alternativen symbolisiert. Ein Griff in die Werkzeugkiste marxistischer Gesellschaftstheorie verdeutlicht, welche Kluft sich aufgebaut hat zwischen den eingefleischten AkteurInnen des politischen Betriebs und der breiteren Massen, vor allem den jüngeren Kohorten. Bekanntlich vollzieht sich nach marxistischer Ansicht menschheitsgeschichtlicher Fortschritt im Spannungsfeld von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Produktivkräfte sind, wie jüngst Ralf Krämer im Anschluss an Marx formulierte, »das Arbeitsvermögen selbst, sind die körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Qualifikationen der Menschen«. Im Kapitalismus unterliegen sie einem ständigen, oft unbemerkten Wandel. »Die Menschen verbessern ihre Werkzeuge, sie verfeinern die Arbeitsteilung und ihre Arbeitsfähigkeiten und geben diese verbesserte Technik und Qualifikationen an kommende Generationen weiter. Sie vergrößern den Umfang ihres Zusammenwirkens und effektivieren die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit«. Die Produktionsverhältnisse hingegen »umfassen Verhältnisse der Arbeitsteilung und Kooperation, der Planung und Leitung der Produktion, der Verteilung (Distribution) und des Austausches (Zirkulation) sowie beim Verbrauch (Konsumtion ) der Produkte. Wer übernimmt welche Arbeit oder ist davon freigestellt? An wen und wie werden die Produkte verteilt? (…) Arbeiten die Menschen im eigenen Haushalt, in kleineren oder in großen Betrieben? Sind die Arbeitenden selbständig, sind sie Sklaven oder Leibeigene oder lohnabhängig Beschäftigte? Sind sie spezialisiert ausgebildet und eingesetzt oder werden sie für wechselnde Tätigkeiten angelernt? Sind die Arbeitsbeziehungen hierarchisch oder eher von Eigenverantwortung oder von Mitbestimmung geprägt? (…)«.

Die Ironie unserer Gegenwart ist, dass sich Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte enorm verändert haben in den vergangenen Jahrzehnten, die Colin Crouch als Ausbrütungszeitraum der so genannten Postdemokratie charakterisiert. Die jüngeren Kohorten wachsen auf mit der Erfahrung, dass sie nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur Kommunikation im Format eines Mobiltelefons vorfinden, dass die kollektive Intelligenz des ›Schwarms‹ Probleme lösen und schon wenige kluge Köpfe Dinge in die Welt setzen können, die das Leben vieler Menschen merklich zum Besseren verändern.

Es wundert im Grunde kaum, wenn durch diese Brille betrachtet die real existierenden Politikbetriebe zu massiver Entfremdung führen, weil ihre sklerotische Selbstbezüglichkeit sich allzu gut gegen neue Möglichkeiten abschottet, die die heutigen Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte zutage gebracht haben. Selbst unter dem einstigen Hoffnungsträger Barack Obama wurden die hochmotivierten jungen AktivistInnen im Grunde nur bis zum Wahltag als kampagnenpolitisches Kanonenfutter gebraucht, wie ihm auch Michael Moore vorwarf. Als die Tea Party kurz nach Obamas erster Wahl erfolgreich begann, eine phänomenale rechte Gegenbewegung in Gang zu setzen, waren die jungen AnhängerInnen bereits nicht mehr gefragt.

Vielleicht noch mehr als die jüngeren LinkspopulistInnen von SYRIZA oder PODEMOS verkörpern die SozialdemokratInnen der › alten Schule‹ die Überwindung, oder zumindest tiefgreifende Reform des Politikbetriebs, weil sie als ›abtrünnige Insider‹ eben diesem Betrieb die symbolische Legitimation entziehen. Anders als bei Occupy Wall Street oder der Piraten-Partei müssen bei ihnen die schlummernden Möglichkeiten der gewandelten Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse für die solidarische Umgestaltung der Gesellschaft nicht an mangelnder Politikfähigkeit Schiffbruch erleiden. Die aufrechten SozialdemokratInnen diskreditieren das Veraltende zugleich mit ihrer altersweisen Glaubwürdigkeit und der Energie des Neuen, das sie in Gestalt junger AnhängerInnen mobilisieren.

 Wie weit diese Energie trägt, ist allerdings noch offen. Denn die HoffnungsträgerInnen füllen zwar eine große Lücke. Doch diese Lücke ist bislang nicht groß genug, als dass sie das politische Spiel insgesamt umwenden könnte. De Blasio, Sanders, Reich, Corbyn oder Müller haben bereits einige ›Mühen der Ebene‹ (Bertolt Brecht) schon hinter sich, vielen ihrer AnhängerInnen stehen sie allerdings noch bevor. Wie der US-amerikanische Linke Robert Kuttner betonte, konnte sich ein 67-jähriger wie Corbyn auch deswegen durchsetzen, weil nach zwei Jahrzehnten ›New Labour‹ eine ganze Generation linker Führungskader fehlte, der gründlichen Personalauslese von Blair & Co sei Dank. So habe es bei Labour nur die Wahl zwischen dem strammen Altlinken und den weniger glaubwürdigen oder rechtssozialdemokratischen Nachwuchskräften gegeben. In der SPD ist die Lage noch drückender, da die Sozialdemokratie zunächst etliche Landtagswahlen wegen der Agenda 2010-Politik verlor und sich dann jahrelang weigerte, mögliche rot-rot-grüne Mehrheiten zu realisieren, selbst wenn sie deswegen auf die Staatskanzlei und das Kanzleramt verzichten musste. So fehlen auf weiter Flur in Deutschland glaubwürdige und zugleich amtserfahrene linke SozialdemokratInnen, die Sigmar Gabriel mit einem linken Kurs ablösen könnten.Gut möglich, dass man in zwanzig Jahren, wenn die jetzige Führungsriege der SPD das Alter von Sanders, Reich, Corbyn & Co. erreicht hat, den Verzicht auf die rot-rot-grüne Option als den schwerwiegendsten Fehler der Sozialdemokratie bis in die künftige Gegenwart ansehen wird.

Die Reichen werden immer reicher, die Superreichen immer superreicher

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der NachDenkSeiten-Redakteur Jens Berger im Interview mit Patrick Schreiner [*] über die Themen Vermögensverteilung und Vermögensungleichheit: http://www.nachdenkseiten.de/?p=26159
Auszüge:

Sie haben sich in ihrem Buch „Wem gehört Deutschland?“ mit dem Thema Vermögensungleichheit befasst. Wie groß ist denn die Vermögensungleichheit, und wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt?

Jens Berger: Global und in Deutschland hat sich die Vermögensschere seit Beginn der 1990er Jahre massiv geöffnet. Egal welche Institute die Messungen vornehmen, die Ergebnisse sind immer die gleichen: Weltweit und insbesondere in Deutschland geht die Vermögensschere auf.
Die Reichen werden immer reicher, die Superreichen immer superreicher. Und spiegelbildlich nimmt die Zahl der Menschen ohne Vermögen und der überschuldeten Menschen zu.

Was sind die wichtigsten Gründe für diese Entwicklung?

Die wichtigsten Gründe lassen sich unter dem Schlagwort Neoliberalismus zusammenfassen. Zu verweisen ist insbesondere auf zurückliegende Senkungen der Steuern für Gutverdienende und für Vermögende, auf die Privatisierung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Unternehmen sowie auf die zunehmende Konzentration der Renditen auf einige wenige Menschen, die große Vermögen besitzen. Letztlich ist es eine Umverteilung von unten nach oben.

Wie trägt Privatisierung zur Vermögensungleichheit bei?

Nehmen wir als Beispiel die Privatisierung der Krankenhäuser. Privatisierte Krankenhäuser erwirtschaften rund acht Prozent Kapitalrendite pro Jahr.
Das heißt, dass die Besitzer dieser Krankenhäuser acht Prozent ihres Investments jedes Jahr entweder aus dem Konzern herausziehen oder reinvestieren, sprich zur Vergrößerung des Unternehmens verwenden.
Diese Renditen werden natürlich nur dadurch erzielt, dass Kosten eingespart werden. Nun sind Krankenhäuser sehr personalkostenintensiv, also wird dort vor allem am Personal gespart. Um das ein bisschen zuzuspitzen: Das, was die Krankenschwester oder der Assistenzarzt weniger bekommt, fließt als Rendite an die Investoren ab.
Und das ist symptomatisch für die meisten Privatisierungsprojekte. Die Einnahmen der privatisierten Unternehmen bezahlt die Masse des Volkes, vor allem wenn es um öffentliche Dienstleistungen geht, die Renditen hingegen kommen nur einer sehr kleinen Schicht der Investoren zugute.
Die Kostenersparnis über die Senkung von Löhnen verstärkt diesen Effekt noch.

Wer ist es denn, der Kapital besitzt?

Das ist, wenn man so möchte, eine Mischung aus „altem Geld“ und „neuem Geld“. „Altes Geld“ wird weiter vererbt von Generation zu Generation.
Das „neue Geld“ gehört den ganz wenigen Menschen, die den Aufstieg aus der Mittelschicht in die Oberschicht geschafft haben. Von ganz unten gibt es solche Aufstiege fast überhaupt nicht.
In Zahlen lässt sich das vielleicht präziser fassen. Das Vermögen der reichsten 80.000 Personen in Deutschland, also von einem Promille der Bevölkerung, ist 16 mal so groß ist wie das Vermögen der „unteren“ 40 Millionen Deutschen zusammen. Letztere sind immerhin die Hälfte der Bevölkerung.
Das oberste Prozent, das sind die reichsten 800.000 Personen im Land, hat zusammen so viel Vermögen wie der Rest der Bevölkerung.
Wenn sich angesichts dieser Ungleichverteilung die Kapitalrenditen permanent besser entwickeln als die Reallöhne, und das tun sie, soweit wie meine Daten zurückreichen, dann überrascht es nicht, dass die Vermögensschere aufgeht.

Gibt es heute noch Menschen, die als Tellerwäscher anfangen und als Millionär enden?

Ja, solche Beispiele gibt es in ganz, ganz wenigen Einzelfällen. Aber das ist absolut nicht die Regel.
Die Regel ist, dass Reichtum geerbt wird. Das zeigen übereinstimmend alle Studien dazu.

Nun hat man ja in den letzten Jahren und Jahrzehnten einiges unternommen, um auch der Arbeitnehmermittelschicht Vermögensaufbau zu ermöglichen.
So hat man vor Jahren die „Riesterrente“ eingeführt. Verbunden war das mit der Hoffnung, dass sich die Menschen durch sie staatlich gefördert ein Vermögen zur Alterssicherung aufbauen. Ein richtiger Gedanke?

Nein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wurde parallel zur Förderung der privaten Altersvorsorge die gesetzliche Rente reduziert. Auch wenn Ansprüche auf Versorgungsleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung keine Vermögen im klassischen Sinne darstellen, lassen sie sich im Kontext doch mit privaten Vermögen zur Alterssicherung vergleichen.
Tut man das, so wird deutlich, dass die „Riesterrente“ für große Bevölkerungsteile nur Nachteile bringt. Denn das, was sie durch die Senkung der gesetzlichen Rente weniger bekommen, wird noch nicht mal im Ansatz durch die Summe ausgeglichen, die sie durch private Altersvorsorge hinzubekommen. Mal ganz abgesehen davon, dass Riesterrenten-Vermögen am Kapitalmarkt angelegt werden und daher sehr viel unsicherer sind.
Nein, umgekehrt wird ein Schuh draus, und das ist mein zweiter Punkt: Von der privaten Altersvorsorge profitieren vor allen Dingen die Versicherungskonzerne.
Diese aber sind Unternehmen und gehören daher letzten Endes – direkt oder indirekt – immer Privatpersonen. Insofern haben bestimmte Privatpersonen von den Rentenreformen profitiert, nämlich die, denen die großen Versicherungskonzerne gehören.
Das sind die Aktionäre – die sich nur zu einem geringen Teil in der Mittelschicht und zu einem sehr großen Teil bei den Reichen und Superreichen finden.

Was wissen wir denn überhaupt über die Vermögensverteilung in Deutschland? Gibt es gute Statistiken, die uns zumindest Schätzungen ermöglichen?

Das ist die größte Überraschung, die auch ich als Buchautor beim Schreiben hatte: Nein, valide Zahlen gibt es nicht.
Grund dafür ist, dass etwa das Statistische Bundesamt, dessen Aufgabe das Erheben solcher Zahlen ja eigentlich wäre, gerade bei den Vermögen nichts erhebt.
Ähnlich bei den großen Einkommen, die natürlich eine der wichtigsten Quellen für Vermögen sind. Laut Statistischem Bundesamt werden Haushalte mit einem Netto-Einkommen von mehr als 18.000 Euro im Monat als statistische Ausreißer aus dem Datenpool herausgeschmissen.
Es ist natürlich klar, dass, wer Zahlen nicht erhebt, natürlich auch keine Daten zur Vermögensverteilung in Deutschland vorlegen kann. Ich habe deshalb zum einen auf Schätzdaten zurückgegriffen, zum anderen auf Daten aus Umfragen renommierter und seriöser Institute wie dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) oder der Deutschen Bundesbank.
Auch hier gibt es natürlich Ungenauigkeiten. So gibt es hier das Problem, dass die Befragten freiwillig mitmachen, gerade die Reichen aber ihre Vermögensverhältnisse nicht gerne offenlegen. Sie nehmen daher an Umfragen dazu schlicht nicht teil.
Bei beiden Studien, der des DIW und der der Bundesbank, gibt es deshalb keinen einzigen Haushalt, der über mehr als 60 Millionen Euro Vermögen verfügt. Diese Lücke in den Daten setzt sich also leider auch in diesen Studien fort.
Nun veröffentlicht die Zeitschrift „Manager-Magazin“ regelmäßig eine Top-500-Liste der reichsten Deutschen, beruhend auf Schätzungen. Man kann, was ich im Buch auch gemacht habe, einfach mal diese Liste zu den Daten des DIW oder der Bundesbank hinzuzählen. Dann kommt man auf ganz andere Zahlen als die, die das DIW und die Bundesbank ursprünglich veröffentlicht haben.

Also konzentriert sich offenbar ein Großteil des Vermögens auf einige wenige Leute an der Spitze. Nun gab es ja im letzten Bundestagswahlkampf von mindestens drei Parteien die Forderung, die Vermögenssteuer wieder zu aktivieren. Diese Forderung gibt es immer noch, auch wenn sie politisch vorerst nicht umgesetzt wird.
Insbesondere die Grünen haben wohl 2013 aufgrund ihrer steuerpolitischen Forderungen Stimmen eingebüßt – auch, weil interessierte Medien Ängste geschürt haben, dass schon Facharbeiter und die Mittelschicht dann stärker besteuert würden.
Was ist davon zu halten? Sie fordern in ihrem Buch ja auch eine Vermögenssteuer.

Das Erstaunliche an der ganzen Debatte ist in der Tat, dass Otto Normalbürger häufig denkt, er selbst sei von einer Vermögenssteuer betroffen.
Dafür gibt es wohl zwei Gründe – erstens sicherlich Kommunikationsfehler der Befürworter einer Vermögenssteuer, und zweitens eine Verdrehung der Argumente durch die, von denen Otto Normalbürger seine Informationen hat.
Entsprechende Medienberichte, gespickt mit Zitaten von Gegnern der Vermögenssteuer, gab es in der Tat viele. Sie schürten Angst. Ich meine aber, zu Unrecht.
Denn letztlich braucht es nur ausreichende Freibeträge, und die sehen alle vorliegenden Konzepte zur Vermögensteuer vor.
Es ist doch offensichtlich: Wenn man beispielsweise eine Klausel einführt, nach der selbstbewohntes Wohneigentum bis zum Wert von einer Million Euro komplett steuerfrei bleibt, dann würde eine Vermögenssteuer garantiert niemanden aus der Mittelschicht treffen.

Nun wird ja in Deutschland, anders als noch vor eineinhalb Jahren, nicht mehr gerne über Vermögensverteilung und Vermögenssteuer gesprochen.
Aber international scheint es ja eine gewisse Wende gegeben zu haben: Die OECD konstatiert, dass die Einkommensungleichheit das Wachstum hemmt, und der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hat ein erfolgreiches Buch über Vermögensungleichheit geschrieben. Kommt diese Debatte dadurch gerade auch wieder nach Deutschland zurück?

Das will ich hoffen. Dass die Diskussion international geführt wird, ist gut, denn die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen ist ja auch ein internationales und gesamtwirtschaftliches Phänomen. Einige Ökonomen haben das Problem erkannt. In Deutschland leider noch nicht im notwendigen Maße.
Ich hoffe aber, dass sich das in den nächsten Jahren ändern wird.

Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 1 (2015).

Jens Bergers Buch „Wem gehört Deutschland?“ ist vor wenigen Wochen pünktlich zur Reisesaison auch als Taschenbuch im Piper-Verlag erschienen und kostet in der Buchhandlung 9,99 Euro.

Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Hannover. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.

Jochen

Die „Zauberformel“ versagt – zunehmende Ungleichheit und ihre Wurzeln

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

flasbeck2013k

In Ergänzung meines Beitrags vom 14.9.2014 möchte ich auf den folgenden Beitrag von H.Flassbeck hinweisen:
http://www.flassbeck-economics.de/die-zunehmende-ungleichheit-und-ihre-wurzeln/
Auszüge:
Wer die Ungleichheit in Europa bekämpfen will, muss die Fehlfunktion des Arbeitsmarkts beheben. Flexibilisierung vergrößert die Ungleichheit nur.

Die große und zunehmende Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung ist zu einem brisanten politischen Thema geworden.
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von der einen oder anderen Partei Korrekturen gefordert werden, weil die Ungleichheit ökonomisch kontraproduktiv und sogar gefährlich für die Demokratie sei.

Erstaunlich ist, dass wenig über die Ursachen der Ungleichheit gesprochen wird. Für viele, und Thomas Piketty hat dieser Sicht ein voluminöses wissenschaftliches Mäntelchen umgehängt, ist die Ungleichheit quasi ein Naturgesetz.
coins-currency-investment-insurance-128867.jpegIm Kapitalismus ist das eben so, sagt man, da ist das Kapital so stark und so wichtig, dass es seine Einkommensverhältnisse dauernd zu Lasten der anderen, der Arbeit und des Staates, verbessern kann.

Das ist eine gefährliche und falsche Sichtweise. Sie basiert auf der neoklassischen Theorie, die vermutet, dass sich die Preise für die Produktionsfaktoren auf Märkten bilden, die letztlich zum Ausgleich neigen, wenn man nur die nötige „Flexibilität“ der Preise – und der Löhne natürlich – zulässt.
Zunehmende Ungleichheit ist aus dieser Sicht immer auch ein Ergebnis der für das Funktionieren der Märkte notwendigen Flexibilität. Deswegen kann es passieren, dass die gleichen Autoren, die Ungleichheit der Einkommensverteilung beklagen, auch mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt fordern.
Einige erwarten dann allerdings vom Staat, dass er die schlimmsten Folgen der „natürlichen“ Ungleichheit auf der Stufe der Sekundärverteilung, also mit dem Steuer- und Sozialsystem, etwas korrigiert.

Diese Sicht ist ganz grundlegend falsch, weil sie unterstellt, der Arbeitsmarkt funktioniere wie ein Kartoffelmarkt. Droht demnach Arbeitslosigkeit, muss man die Löhne senken, selbst wenn das die Ungleichheit vergrößert.
Genau so funktioniert das kapitalistische System aber nicht!
Im Gegenteil: Steigt, wie im Gefolge der Finanzkrise von 2008, die Arbeitslosigkeit, verschlechtert eine Lohnsenkung unmittelbar die wirtschaftliche Situation, führt zu weiter steigender Arbeitslosigkeit und vergrößert die Ungleichheit.

Die steigende Arbeitslosigkeit nach 2008 war Folge des Nachfrageausfalls, der durch die Finanzkrise ausgelöst worden ist, also durch das Zusammenbrechen spekulativer Investments und deren negative Folgen für die Einkommensentwicklung der Spekulanten.

Vertraut man in einer solchen Situation auf den „Marktmechanismus“ am Arbeitsmarkt, also auf den Druck, der von der höheren Arbeitslosigkeit auf die Lohnentwicklung ausgeht, verschlechtert man die Situation weiter. Weniger steigende oder gar sinkende Löhne verringern unmittelbar die Güternachfrage und führen zu neuer Arbeitslosigkeit.
Man destabilisiert das gesamte System und die Ungleichheit nimmt zu, wenn man auf die „normale“ Funktionsweise des Arbeitsmarktes (als Kartoffelmarkt) setzt.
Man konnte das in den letzten Jahren in Südeuropa in großer Klarheit beobachten. Lohnsenkung wurde von der Troika verordnet und durchgesetzt, herausgekommen ist extrem hohe Arbeitslosigkeit und mehr Ungleichheit.

Arbeitsmarktflexibilität aber war und ist das Rezept, das die Wirtschaftspolitik in fast allen Industrieländern seit den 70er Jahren immer wieder anwendet. „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ und noch mehr Macht für die Arbeitgeber ist die Zauberformel, mit der eine aus welchen Gründen auch immer entstandene Arbeitslosigkeit bekämpft wird.
Das hat nie funktioniert und schafft immer neue Arbeitslosigkeit, der dann nach dieser Lehre wieder mit Lohnkürzungen und einem Abbau sozialer Leistungen begegnet werden muss.

Die neoliberale Revolution, begonnen von Thatcher, Reagan und Kohl und fortgesetzt von Rot-Grün in Deutschland zu Beginn der 2000er Jahre, die sich die Rückkehr zum reinen Markt zum Ziel gesetzt hatte, ist unmittelbar verantwortlich für die entstandene und weiter entstehende Ungleichheit und zugleich für das Versagen der Industrieländer beim Abbau der Arbeitslosigkeit.
Dass Deutschland trotz einer Unterbeschäftigung von vier Millionen Personen etwas besser dasteht, hat nur mit der Europäischen Währungsunion zu tun und mit der Tatsache, dass Deutschland mit einer Strategie der Lohnsenkung in der Währungsunion einen Teil seiner Arbeitslosigkeit exportieren konnte.
Der gewaltige Überschuss der deutschen Exporte über die Importe ist der unmittelbare Beweis dafür.

Wer versucht, die Ungleichheit zu beseitigen, ohne die Fehlfunktion des Arbeitsmarktes zu analysieren, kommt keinen Schritt weiter.
Hätten die Lohnsenkungen (relativ und absolut) in den vergangenen 40 Jahren so gewirkt, wie das die neoklassische Theorie vermutet, wäre es auch nicht zu permanent zunehmender Ungleichheit gekommen. Sinkende Arbeitslosigkeit und die Rückkehr zur Vollbeschäftigung hätten in diesem Fall die Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt wieder zugunsten der Arbeitnehmerseite verschoben und wenigstens bei der Primäreinkommensverteilung (also bei der Verteilung über Lohnverhandlungen) eine Korrektur bewirkt.
Dass es nicht dazu gekommen ist, sollte für jeden vernünftigen Menschen Anlass sein, das gesamte Konzept des neoklassischen Arbeitsmarktes in Frage zu stellen.
Das aber passiert nicht, sondern man betrachtet die Ungleichheit unabhängig vom Arbeitsmarkt und läuft immer wieder in die gleiche Falle.

Solange zunehmende Ungleichheit als das Erfolgsrezept am Arbeitsmarkt gilt, ist der Kampf gegen die Ungleichheit nicht zu gewinnen.
Weil in Wirklichkeit immer neue Ungleichheit immer neue Arbeitslosigkeit generiert, muss man sich vollständig vom Konzept des Arbeitsmarktes als Kartoffelmarkt emanzipieren, um erfolgversprechende Ansätze verfolgen zu können.

Mindestvoraussetzung für jede erfolgversprechende Politik ist die Durchsetzung der Regel, dass die Arbeitnehmer immer voll am Ergebnis des Produktionsprozesses zu beteiligen sind, was heißt, dass sich in den Nominallöhnen der (trendmäßige) nationale Zuwachs der Produktivität und die europäische Zielinflationsrate niederschlagen.

Ist das gewährleistet, muss der Staat die Sekundärverteilung normalisieren. In Deutschland heißt das, dass die massiven Steuersenkungen zugunsten der Unternehmen, die zu Beginn des Jahrhunderts in Kraft traten, in Frage gestellt werden.
Die Erwartung an diese Steuersenkungen, dass sich nämlich die Investitionstätigkeit der Unternehmen verbessern und verstetigen würde, ist nicht eingetreten.
Nichts spricht dagegen, hier zurückzukehren zu einem Niveau, wie es zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders gegolten hat.

Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel “Die Zauberformel versagt” in der Frankfurter Rundschau vom 16. September 2014, S. 12.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen