Jürgen Kuczynski – Ein Jahrhundertleben

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine schöne Reminiszenz über den Wuppertaler in der jungen Welt, der mich nochmal dazu ermuntert hat, das Buch: „Gespräche mit meinem Urenkel“ in die Hand zu nehmen:
https://www.jungewelt.de/artikel/431948.ddr-%C3%B6konom-ein-jahrhundertleben.html
Auszüge:

Am 6. August 1997 starb Jürgen Kuczynski. Noch leben Schülerinnen und Schüler von ihm. Immer wieder, wenn sie sich treffen, tauschen sie sich über ihn aus. Es ist zu hoffen, dass sie es nicht dabei belassen, sondern Erinnerungen an ihn aufschreiben.
Ich selbst halte mich an diese meine Aufforderung und berichte im Folgenden u. a. auch von lehrreichen Begegnungen aus den 17 Jahren zwischen 1980 und 1997, in denen ich – wie viele andere ja auch – die Freude hatte, ihn persönlich zu kennen.
Wichtiger aber ist wohl, Tatsachen wieder hervorzuheben, die zwar früh bekannt waren, aber in der öffentlichen Wahrnehmung vergessen oder als nicht so wichtig wahrgenommen, ja verworfen wurden.

Das theoretische Fundament

Hierher gehört das theoretische Fundament von Jürgen Kuczynskis riesigem Werk »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«. 1926 bis 1929 arbeitete er in den USA für die Gewerkschaft American Federation of Labor (AFL). Auf der Überfahrt dorthin stellte der 22jährige Überlegungen zum Relativlohn an. Was war das?

Den Begriff des relativen Lohns hatte Karl Marx 1849 einmal im Vorübergehen erwähnt, sich aber dann nicht weiter damit befasst. Das ist kein Wunder, denn sein Hauptwerk heißt ja »Das Kapital« und nicht »Das Proletariat«. Letzteres spielt die zentrale Rolle in Marx’ politischen Schriften, aber nicht in seinen ökonomischen.
Das Proletariat ist Produkt des Kapitals, auch wenn es dieses durch seine Arbeit aus sich hervorbringt, ein klarer Fall von Dialektik.
Im Buch »Das Kapital« muss sich Marx den Kopf der Kapitalisten zerbrechen, und was diese, die Unternehmer, zu interessieren hat, ist die Rendite = der Profit. Als dessen Kern identifiziert Marx den Mehrwert, also den Teil des Werts der Ware, der nicht den Lohn- oder Gehaltsabhängigen, sondern den Kapitalisten zufließt. Teilt man ihn durch den Lohn, ergibt sich die Mehrwertrate.

Auf die sind die Unternehmer(innen) scharf. Was aber interessiert die Arbeiter(innen)? Antwort: der Reallohn, das, was sie sich für ihren Lohn kaufen können.
Der junge Jürgen Kuczynski fragte darüber hinaus noch nach etwas anderem: eben nach dem Relativlohn und seiner Rate. Die ergibt sich, wenn wir den Lohn über den Bruchstrich, in den Zähler, setzen, und darunter, in den Nenner, den Gewinn. Dann wird wieder dividiert. Heraus kommt das Umgekehrte der Mehrwertrate, eine Lohnrate, die er anders nannte, nämlich den Relativlohn.

Jürgen Kuczynski stellte also gleichsam das Kapital und dessen Analyse, das Buch »Das Kapital« von Karl Marx, vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf, wie man will, jedenfalls vom Mehrwert auf den Relativlohn.
Die uns geläufigere Lohnquote ist etwas anderes: Sie ist der Anteil von Löhnen und Gehältern am gesamten Volkseinkommen.

Vorstehendes kennen wir aus den »Kapital«-Lesekreisen, sozusagen der Klippschule. Es wird hier wiederholt, weil es heute wohl nicht mehr so häufig gelernt wird.
Dann muss auf Altbekanntes neu geblickt werden – wie jetzt auch wieder auf die Erkenntnisse des Jürgen Kuczynski in Zeiten wachsender Ungleichheit, in denen die Verbraucher(innen), in der Mehrheit Lohn- und Gehaltsabhängige, die Profite von Erdgas- und -ölimporteuren per Umlage stützen müssen und gleichzeitig die Gewinne der Energieunternehmen durch die Decke gehen.

Mit seinen Überlegungen zum Relativlohn hatte Jürgen Kuczynski das Thema seines wissenschaftlichen Lebens gefunden: »Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus«, und zwar im Verhältnis zum Reichtum der Kapitalistenklasse. Dies war ein gewaltiges Programm, das ihn in den nächsten viereinhalb Jahrzehnten beschäftigen sollte. Am Ende standen die 40 Bände seines Werks über die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus.

Politik

Sofort nach seinem Beitritt zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1930 wurde er Redakteur der Roten Fahne, ihres Zentralorgans.
Ab 1933 war er im Widerstand, und zwar mit den Mitteln eines Statistikers und Sozialwissenschaftlers. Er sammelte Daten über die Lage der breiten Volksmassen im Reich, und seine Berichte fanden den Weg zu einem TASS-Korrespondenten, zur sowjetischen Botschaft oder zur Handelsvertretung der UdSSR.

In der Emigration (seit 1936) gründete Jürgen Kuczynski 1943 den »Initiativausschuss für die Einheit der deutschen Emigration«. Er war in der Leitung der KPD im britischen Exil und arbeitete für den Deutschen Freiheitssender 29,8.
Im Krieg war er in US-amerikanischer Uniform als Statistiker bei der Auswertung der Folgen der Bombenangriffe beschäftigt.

Das ist seit langem bekannt. Undeutlicher blieb in der Überlieferung eine Aktivität, mit der Jürgen Kuczynski nachgerade an der ganz großen Politik beteiligt war:
Er brachte seine Schwester Ursula, die für den sowjetischen Geheimdienst arbeitete, mit dem Physiker Klaus Fuchs zusammen. Dieser war im US-amerikanischen Manhattan Project an der Entwicklung der US-amerikanischen Atombombe beteiligt. Sie wurde dessen Führungsoffizierin.
Ihr übergab Fuchs seine Informationen über die US-amerikanische Atombombe, wodurch das Kernwaffenmonopol der Vereinigten Staaten gebrochen wurde.
Näheres findet sich in einem 2020 erschienenen Buch, dessen deutsche Übersetzung für Oktober 2022 angekündigt ist¹ und das in diesem Punkt über ihre eigene Darstellung mit dem Titel »Sonjas Rapport«, die sie 1977 unter ihrem Schriftstellerinnennamen Ruth Werner veröffentlichte, hinausgeht.

Nachdem Jürgen Kuczynski als Oberstleutnant der US-Armee 1945 nach Deutschland zurückgekehrt und im selben Jahr in die sowjetische Besatzungszone hinübergewechselt war, bekleidete er dort bzw. in der 1949 gegründeten DDR höhere politische Funktionen. Nach der Vereinigung von KPD und SPD im Osten zur SED 1946 gehörte er dieser an.
Noch 1945 war er Präsident der Zentralverwaltung für Finanzen geworden. Das endete im gleichen Jahr mit seiner Berufung zum Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität.
Ab Juni 1947 stand er an der Spitze der »Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion«, aus der später die »Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft« hervorging. 1950 verlor er dieses Amt als Fernwirkung einer antisemitischen Welle in der UdSSR.
Aber im selben Jahr wurde er in die Volkskammer gewählt.

Einen Knick erfuhr sowohl seine Hochschul- als auch seine politische Laufbahn 1956/1957. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU hatte Jürgen Kuczynski versucht, Irrtümer zu korrigieren und auch in der Geschichtswissenschaft eingefahrene Ansichten zu lockern. Eine seiner Publikationen hatte mit seinem Spezialgebiet, den Volksmassen, zu tun. Er äußerte die Ansicht, dass die SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag am 4. August 1914, als sie den Kriegskrediten zustimmte, sich nicht im Widerspruch zur Mehrheit der Mitglieder befand, diese seien vielmehr selbst vom nationalistischen Taumel ebenso gepackt gewesen wie die Bürger und Kleinbürger. Er billigte dies nicht.
Denn er war mittlerweile nicht nur Marxist, sondern auch Leninist und der Ansicht, Aufgabe der Leitung einer Partei sei nicht, hinter ihrer Basis herzulaufen, sondern sie zu führen und rechtzeitig zu erziehen, damit so etwas nicht passieren könne. Zugleich musste er doch konstatieren, dass es anders war, als es die parteioffizielle These vom Verrat an der Basis bisher propagiert hatte.

Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn 1956 war es mit dem Tauwetter vorbei, und Jürgen Kuczynski wurde Ziel einer Kampagne, an der sich auch Historiker der jüngeren Generation beteiligten. Er sollte aus der Liste der Mitglieder der SED gestrichen werden. Das wäre für ihn schlimmer gewesen als ein Ausschluss, denn er wäre dann so behandelt worden, als sei er nie Mitglied gewesen.

Eine Zeitzeugin berichtete Jahrzehnte später mündlich folgendes aus einer Sitzung einer Parteigruppe: Ein Angriff nach dem anderen sei dort gegen ihn vorgetragen worden. Er wurde zu Stellungnahme und Selbstkritik aufgefordert. Schließlich erhob er sich von seinem Platz und ging nach vorn, in der Hand ein Blatt Papier. Es war ein Brief aus dem Kieler Weltwirtschaftsinstitut und enthielt das Angebot an ihn, dorthin überzuwechseln. Man kenne seine Arbeiten und würde sich freuen, wenn er sie im Westen fortsetzen werde. Jürgen Kuczynski las das vor, teilte mit, dass er dieser Einladung nicht folgen würde, ging an seinen Platz zurück und setzte sich wieder.

Letztlich hatte er in der Krise von 1956/1957 Glück im Unglück. Aus der Mitgliederliste der SED wurde er nicht gestrichen. Es kam zu einem Arrangement, wonach er keine Vorlesungen mehr hielt und sich darauf konzentrierte, seine Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, von der es ja schon umfangreiche Einzelbände als Vorstudien gab, niederzuschreiben.
Er vermutete, man habe ihn damit nicht nur frei-, sondern auch stillstellen wollen, denn man habe angenommen, mit dieser Arbeit werde er zu seinen Lebzeiten nicht fertig werden. Was seine Kontrahenten nicht wussten, war: Er hatte seine Stoffsammlungen schon so weit vorangetrieben, dass er die 40 Bände bis 1972 abschließen konnte. Allerdings bedauerte er, dass er keinen unmittelbaren Kontakt zur heranwachsenden Generation der Studierenden mehr haben konnte.

Wirkungen im Westen

In der Öffentlichkeit blieb Jürgen Kuczynski dennoch präsent, und zwar in Ost und West. Internationales Ansehen hatten das von ihm geleitete Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und dessen Jahrbuch.
1964 trat er im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Gutachter der Nebenklage auf und belegte die Zusammenarbeit zwischen IG Farben und der SS. Er erhielt Einladungen zu Vorträgen und Gedankenaustausch in der Bundesrepublik sowie in anderen Ländern und konnte diesen folgen, insbesondere nach seiner Emeritierung.
In den Bibliotheken der BRD und insbesondere in deren historischen Seminaren beobachteten die Studierenden, wie die Regale, in denen seine »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« stand, sich im Laufe der Jahre Band um Band füllten.
Sehr populär wurden die fünf, dann sechs Bände der »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« *)

Ergebnisse seiner überbordenden Produktivität drangen schon vor 1989 auch in das Kapillarsystem des intellektuellen Alltags in der Bundesrepublik ein.
Hierfür ein Beispiel: 1974 berichtete der Spiegel amüsiert, wie die CDU Wahlkampf zu machen versuchte, indem sie ihn als Gottseibeiuns präsentierte.
Springers Welt hatte kurz vorher enthüllt, dass in Materialien für den Sozialkundeunterricht, die das Hessische Kultusministerium den Lehrerinnen und Lehrern an die Hand gab, auch Quellen enthalten waren, die Jürgen Kuczynski in seiner »Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus« erstmals veröffentlicht hatte. Es handelte sich um Originaltexte zur Situation von Kindern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Allerdings hatten die Beamten des Kultusministeriums verschwiegen, wo sie zuvor gedruckt worden waren. Deshalb angegriffen, verteidigten sie sich so: »Es sollte verhindert werden, dass die Diffamierung des Fundorts der Quellen von vornherein die Diskussion um ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit blockiert.«²
Die hessische CDU, die sich im Landtagswahlkampf 1974 befand, machte daraus einen Fall von kommunistischer Unterwanderung und verlor.

Verwunderungen über J. K.

1976 lud das Institut für wissenschaftliche Politik in Marburg Jürgen Kuczynski zu einem Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstags von Wolfgang Abendroth ein.
Da war er verhindert.
1979 gab es einen Riesenkrach unter den Historikern der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik. Sein Gegenstand war ein Buch »Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung«, verfasst von Lehrenden und Lernenden an der Marburger Universität.³
Man warf uns, den Herausgebern, Einseitigkeit der Kritik am Verhalten von SPD und Gewerkschaften zu Beginn des Ersten Weltkriegs und am Ende der Weimarer Republik vor. Fast die gesamte einschlägige Historikerzunft stand gegen uns. Wir suchten Verbündete und wandten uns an Jürgen Kuczynski mit der Bitte um eine Stellungnahme.
Er lehnte ab und begründete dies so: Wenn ausgerechnet ein Historiker der DDR uns verteidige, gerieten wir letztlich noch mehr unter Beschuss.

Dass unsere Bitte ungeschickt, ja sogar taktlos war, hätten wir bei etwas mehr Sachkenntnis selber merken müssen: 1956/57 hatte Jürgen Kuczynski ja seinerseits Schwierigkeiten bekommen, weil er die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 anders erklärt hatte als die offizielle Geschichtsschreibung der DDR.
Wenn er sich uns nun angeschlossen hätte, konnte es sein, dass man seine Arbeit von damals gegen uns und ihn selbst in Stellung brachte.

Immerhin waren wir nun in Kontakt und luden ihn zu einem Vortrag nach Marburg ein. Dieser erste Besuch im Juni 1980 war für mich voller Überraschungen.
Mit großer Schärfe urteilte er über die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Nein, hier werde Parteilichkeit über die Wahrheit gestellt, und das gehe überhaupt nicht.

Nach seinem Vortrag in einem überfüllten Hörsaal über die »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« sprach sich herum, dass zur gleichen Stunde im selben Gebäude der Universität der Dichter Erich Fried eine Lesung hatte. Für Jürgen Kuczynski gab es kein Halten mehr. Er eilte durchs Haus, bis er ihn gefunden hatte. Die beiden begrüßten sich sehr herzlich. Sie kannten sich aus der britischen Emigration.
1977 war Rudolf Bahro verhaftet und 1978 in der DDR zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Erich Fried hatte sich an einer Solidaritätsbewegung für ihn beteiligt und sich scharf von der DDR distanziert. Die Bahro- und die Biermann-Frage waren damals Themen einer unerbittlichen Fraktionierung zwischen Kommunisten, Nichtkommunisten und Antikommunisten in der westdeutschen Linken. Dass man danach wieder unbefangen miteinander reden könne, schien ausgeschlossen. Jetzt aber große Freundlichkeit.

Ich lernte an diesem Abend bei Jürgen Kuczynski eine imponierende Art von Souveränität kennen. Er wusste, wohin er gehörte und wem seine Solidarität galt, auch in den vielfältigen Fraktionskämpfen der damaligen Zeit. Zugleich war er Mitglied einer wissenschaftlichen und zivilisierten Ökumene, einer Linken im darüberhinausgehenden Sinn, für die das tagespolitische Hin und Her nur eine Abfolge von Episoden war. Nach diesem ersten Besuch in Marburg 1980 kam Jürgen Kuczynski immer wieder nach Marburg, zuletzt 1992.

Aus seinen Äußerungen bei diesen Besuchen ließen sich Wandlungen in der DDR und in seiner Haltung zu ihnen erfahren. 1983 führten wir in seinem Haus in Berlin-Weißensee ein Interview mit ihm, das ein Jahr später als Buch erschien.⁴
Gleich zu Anfang sagte er, in seiner Jugend sei er sicher gewesen, dass der Sozialismus zwangsläufig kommen werde. Heute wisse er, dass dies lediglich ein Glaube gewesen sei. An dessen Stelle sei nun lediglich Hoffnung getreten, aber keine wissenschaftlich errechenbare Unvermeidlichkeit mehr.
Wörtlich sagte er, dass er »bis zum Zweiten Weltkrieg, bis ich begriff, was ein Nuklearkrieg bedeutet, nicht optimistisch war, sondern sicher war, dass der Sozialismus siegen wird. Kein Mensch ist optimistisch in bezug darauf, ob sich das Fallgesetz durchsetzt, und ebensowenig war ich optimistisch in bezug darauf, dass der Sozialismus, trotz großer Schwierigkeiten und gelegentlich auch Niederlagen, siegen wird und für die Menschheit ein, wie es der Dichter Erich Weinert einmal ausdrückte, zweites Kapitel der Weltgeschichte beginnen wird (…) Heute habe ich nun Optimismus, d. h. nicht mehr die Gewissheit, dass ein Gesetz sich durchsetzt, sondern die ganz starke Hoffnung, dass die Menschheit in Frieden überleben und sich weiterentwickeln wird.«

gorbatschow

Gorbatschow

Ab 1985 setzte er große Erwartungen in die Politik Michail Gorbatschows. Wenn er in dieser Zeit an die Lahn kam, konnte es geschehen, dass er vorab darum bat, die deutsche Ausgabe einer so­wjetischen Zeitschrift zu besorgen, die wieder einmal nicht in der DDR ausgeliefert worden war.
Im Juni 1989 stellte er in Marburg sein Buch »Das Jahr 1903« vor – über das letzte Jahr vor seiner Geburt also, vor 1904. Das war originell und ließ schließen, dass er nebenbei zeigen wollte, wie ein Lebenskreis sich schloss. Ebenfalls 1989, gleichsam zu seinem 85. Geburtstag, veröffentlichte er das Buch »Alte Gelehrte« – eine Lobpreisung des Alters. Alles sah nach einem goldenen Lebensabend aus.

Es kam anders. Während er in Marburg war, Anfang Juni 1989, wurden die Proteste am Tiananmen-Platz in Beijing niedergeschlagen. Jürgen Kuczynski war kaum vom Radio wegzubekommen. In der Universität hielt er auch einen Vortrag über die wirtschaftliche Lage in der DDR. Ich sehe ihn noch auf dem Podium im Hörsaal sitzen und höre ihn sagen: »So kann es nicht weitergehen.«
Verblüfft stellte er fest, dass ihm nach Abschluss seines Buchs über das Jahr 1903 kein Thema für ein neues mehr einfiel. Das war ihm noch nie passiert. Der Stoff schien ihm ausgegangen. Das änderte sich innerhalb weniger Monate. Mit dem Ende der DDR hatte er mehr zu analysieren und zu schreiben, als ihm lieb war.

Nach 1989

Kuczynski_UrenkelIn seinem 1977 geschriebenen, aber erst 1983 veröffentlichten Buch »Dialog mit meinem Urenkel« hatte Jürgen Kuczynski 1977 zu wissen gemeint, was die DDR war: eine im Ganzen gute Sache mit 1.000 Fehlern. 1996, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte er einen Nachfolgeband. Sein Titel: »Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel«. Hier kam er zu dem Ergebnis, die DDR sei ein missglückter Staat mit 1.000 großen Leistungen im kleinen gewesen. Sich selbst warf er Blindheit vor.
In seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ist er, so scheint es, nicht mehr fertig geworden. Man könnte auch sagen: Das war ja nicht sein wissenschaftliches Spezialgebiet, sondern der Kapitalismus, und dieses Thema beherrschte er. Hier hatte er einen Vorteil vor denjenigen seiner Kolleginnen und Kollegen, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren waren, irgendwann nach 1945 gleichsam in den Sozialismus der DDR hineingewachsen waren, nichts anderes kannten und denen alternativlos eine Welt zusammenbrach.
41 Jahre, von 1904 bis 1945, hatte er im Kapitalismus gelebt, 44 Jahre, von 1945 bis 1989, erst in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR. Es folgten knapp acht Jahre, von 1989 bis 1997 in einem Landstrich, der in den Kapitalismus zurückgekehrt war. Da kannte er sich aus wie vor 1945, und er nahm eine Arbeit wieder auf, die er ja auch in der DDR nie aufgegeben hatte.
Im Institut für Wirtschaftsgeschichte hatte er den Kapitalismus bearbeitet, für die sozialistische Wirtschaft waren andere zuständig gewesen und hatten gute Arbeit geleistet, vor allem sein 36 Jahre jüngerer Kollege Jörg Roesler. Jürgen Kuczynski aber wurde wieder, was er am Anfang der 30er Jahre gewesen war: ein scharf analysierender Zeitgenosse des aktuellen Kapitalismus und ein politischer Journalist.
Er war sich nicht zu fein, auch für kleinste sozialistische Blätter, wie sie teils – arg geschrumpft – weiter bestanden, teils neu gegründet wurden, zu schreiben. Das kannte er von seiner Zeit bei der Roten Fahne.

Nur wenige Jahre hatte sein Publikum sich von ihm abgewandt. War man ihm bis 1989 für seine Kritik an Fehlentwicklungen in der DDR dankbar gewesen, so warfen ihm diejenigen, die sich bis dahin an ihm aufgerichtet oder auch nur hinter ihm versteckt hatten, nun vor, nicht unverblümt genug gewesen zu sein und in seiner Eigenschaft als – wie es hieß – »linientreuer Dissident« sogar auf diesem Umweg Loyalität erzeugt zu haben.
Das ging auch anderen so, Volker Braun, Stephan Hermlin und Christa Wolf.

Nach einiger Zeit legte sich das. Auf Jürgen Kuczynski wurde wieder gehört, weil er seinen zunächst so euphorischen ostdeutschen Landsleuten in der früheren DDR zeigen konnte, was das für eine Gesellschaft war, in die sie nun hineingekommen waren. Und auch im Westen steckte er vielen ein Licht auf.
Thema seines letzten Vortrags in Marburg 1992 war die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland. Für einige besonders groteske Beispiele von Deindustrialisierung und Abwicklung hatte er einen Ausruf parat, der in jenen Jahren bei ihm häufig wurde: »sagenhaft«.
Nach dem Vortrag sagte er zu mir: »Das ist eine interessante Zeit. Viel zu aufregend zum Sterben.«

Als er fünf Jahre später dann doch starb, lagen auf seinem Schreibtisch drei fertig geschriebene Artikel, von drei verschiedenen sozialistischen Blättern bestellt und ihnen zugesagt, einer davon für die junge Welt. Sie mussten nur noch in Umschläge gesteckt und versandt werden, und sie erschienen in den nächsten Tagen und Wochen.

Marguerite Kuczynski starb am 15. Januar 1998. Sie und Jürgen Kuczynski hatten den René-Kuczynski-Preis für hervorragende Arbeiten auf dem Gebiet der internationalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte gestiftet.
Seit 1996 wird er wieder verliehen. Über das eigene Leben des Namensgebers und der Stiftenden hinaus soll so dazu beigetragen werden, dass ihr Werk fortgesetzt wird. Am 2. September 2015 wurde in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung in Weißensee ein Jürgen-Kuczynski-Park eingeweiht.

Es tut sich also etwas. Einiges wird wohl noch hinzukommen. Seine Korrespondenz und sein Nachlass sind bislang unerschlossen.

Anmerkungen

1 Ben Macintyre: Agent Sonya. The True Story of WW2’s Most Extraordinary Spy. Penguin Books, Dublin 2020

2 https://www.spiegel.de/politik/thema-familie-a-0bf46de6-0002-0001-0000-000041784630

3 Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Köln 1977

4 Ein Gespräch mit Jürgen Kuczynski über Arbeiterklasse, Alltag, Geschichte, Kultur und vor allem über Krieg und Frieden. Marburg 1984

*: Das Werk habe ich, es steht interessantes zum 30jährigen Krieg und der Umgebung von Nördlingen drin.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Sahra Wagenknecht zur Annexion der DDR: „Man hätte die industrielle Substanz erhalten müssen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sahra_Wagenknecht2017Nachtrag v. 2.10.2020: In der jungen Welt ist ein lesenswerter, sehr kritischer Kommentar aus marxistischer Sicht zu diesem Interview erschienen, siehe unten.
Zu diesem Thema habe ich hier schon einiges gebloggt, erst gestern: https://josopon.wordpress.com/2020/09/30/die-deutsche-einheit-ein-kapitalistisches-ubernahmeprojekt/
sowie hier: https://josopon.wordpress.com/2020/01/13/ostdeutschland-und-die-treuhand-eine-geschichte-einer-annexion-die-den-deutschen-wohl-nicht-zugemutet-werden-sollte/
https://josopon.wordpress.com/2020/07/10/sahra-wagenknecht-im-interview-immer-tiefere-spaltung/ und https://josopon.wordpress.com/2017/10/03/the-dark-side-of-the-wende-was-sich-seit-1990-fur-die-ostdeutschen-verschlechtert-hat/
Sahra Wagenknecht haut in die gleiche Kerbe. Hier Auszüge:

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Tobias Armbrüster

Vor 30 Jahren sind die ostdeutschen Bundesländer der Bundesrepublik beigetreten. Eine Politikerin, die damals noch angehende Studentin war, ist Sahra Wagenknecht.
In den vergangenen drei Jahrzehnten war sie eine der prägnantesten, teilweise eine der umstrittensten Politikerinnen aus den neuen Bundesländern.
Sie hatte in der Linkspartei mehrere Spitzenämter inne. Zuletzt war sie Fraktionschefin im Bundestag.

Tobias Armbrüster: Frau Wagenknecht, wir reden über den 3. Oktober 1990. Wo waren Sie an diesem Tag? Erinnern Sie sich noch?

Wagenknecht: Ja, im Zug. Ich hatte ja damals endlich mein Studium beginnen können und ich habe in Jena studiert, und an dem Tag bin ich nach Jena gefahren.

Armbrüster: War das für Sie eine glückliche Zeit?

Wagenknecht: Ja, es war für mich ambivalent. Auf der einen Seite hatte ich einen wirklich großen persönlichen Vorteil. Ich konnte endlich studieren, was in der DDR für mich nicht möglich war.
Auf der anderen Seite war ich natürlich schon irgendwo auch gespalten, weil ich zu denen gehörte, die sich eigentlich erhofft hatten, dass die DDR einen eigenständigen Weg in dem Sinne geht, dass sie sich reformiert, dass sie eine attraktive Gesellschaft wird, und das hatte sich natürlich mit dem 3. Oktober erledigt, diese Hoffnung.

Armbrüster: Wie haben Sie sich das damals vorgestellt, einen eigenständigen Weg gehen als DDR?

Wagenknecht: Ich hatte auf Reformen in der DDR gehofft. Ich meine, man muss ja sehen: Ich bin ja zu einer Zeit geboren, da stand die Mauer.
Ich kannte die alte Bundesrepublik überhaupt nicht und der Rahmen meines Denkens war damals die DDR.
Das war das Land, in dem ich aufgewachsen war, und deswegen war für mich tatsächlich die Idee, dass man die Gesellschaft dort so verändert, dass man auch keine Mauer mehr braucht, weil die Menschen gerne da leben wollen, weil man ein sozial gerechtes System hat, weil die Wirtschaft funktioniert, statt einer zentralistischen Planung zu unterliegen, dass es Mitbestimmung, Redefreiheit, Demokratie gibt. Das war damals eigentlich die Vorstellung, die ich hatte.

Armbrüster: Es wäre im Grunde alles so gewesen wie in Westdeutschland auch?

Wagenknecht: Nein, nicht genauso, weil ich natürlich schon gehofft habe, dass man eine Wirtschaft aufbauen kann, ohne dass sie auf Ausbeutung und auf großen sozialen Unterschieden beruht. Ich wollte schon eine Wirtschaft, die marktförmig ist, in der es Wettbewerb gibt. Das war völlig klar, dass man das braucht.
pexels-photo-259027.jpegAber es heißt ja nicht automatisch, dass deswegen große Aktienpakete vererbt werden und dass ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft im Grunde sehr reich damit werden kann, von der Arbeit anderer zu leben.
Das wollte ich nicht. Insoweit gab es da schon auch Unterschiede.

Armbrüster: Wie würden Sie das denn heute betrachten? Waren das naive Träumereien?

Wagenknecht: Ja, in der weltpolitischen Konstellation war es wahrscheinlich naiv, weil die Dynamik einfach eine andere war. Ich meine, es gab ja damals viele.
Es gab ja auch im Westen, selbst in anderen Ländern Europas durchaus Leute, die eigentlich darauf gesetzt hatten, dass es nicht so schnell eine Wiedervereinigung gibt.
Zum Beispiel auch in Frankreich hatte man ja eher etwas Sorge, dass Deutschland dann zu groß und zu stark wird.
Es gab ja durchaus auch Stimmen, die einen anderen Weg befürworteten. Aber in der DDR-Bevölkerung selbst war natürlich der Druck sehr, sehr groß.
Man hat die Kaufhäuser gesehen, man wollte die D-Mark, und mit der D-Mark war das im Grunde gelaufen.
Mit einer gemeinsamen Währung zwei Staaten aufrechtzuerhalten, wäre unter den damaligen Bedingungen meines Erachtens ökonomisch überhaupt nicht möglich gewesen.

Armbrüster: Ist es nicht etwas einfach zu sagen, die Leute wollten die D-Mark? Wollten sie nicht lieber eigentlich ein Leben in Wohlstand oder ein unbeschwertes Leben, und das wurde ihnen im Westen vorgelebt?

Wagenknecht: Sie wollten die D-Mark, damit sie sich viele von den Dingen leisten können, die sie vorher einfach nur immer im Westfernsehen gesehen haben, und das war ja auch völlig verständlich.
Das Problem war, dass man ihnen suggeriert hat und ihnen weißgemacht hat: Wenn es eine Eins-zu-eins-Währungsumstellung gibt, dann bekommen sie den westdeutschen Lebensstandard, aber ihre Arbeitsplätze bleiben erhalten.
Und das konnte nicht funktionieren und hat auch nicht funktioniert.
Das heißt, die negativen Seiten, Arbeitslosigkeit, dass viele auch aus ihrer beruflichen Biografie völlig herausgeworfen wurden und auch nie wieder reinkamen – das war ja schon ein Teil der Generation damals der 40-, 50-Jährigen –, das haben natürlich auch viele gar nicht so erwartet und das hat Helmut Kohl*) natürlich auch nicht irgendwie angedeutet, sondern er hat blühende Landschaften versprochen.

Armbrüster: Die blühenden Landschaften kamen nicht sofort. Tatsächlich hat Deutschland, vor allen Dingen Ostdeutschland, einige Jahre, Jahrzehnte lang einen ziemlichen Abstieg erlebt.
Aber zurzeit sehen wir ja eigentlich tatsächlich, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angeglichen haben. Kann man dann heute, 30 Jahre später sagen, es war doch ein Erfolg?

Wagenknecht: Das kommt ein bisschen darauf an, wo man im Osten wohnt und welche berufliche Laufbahn man hinter sich hat. Es gibt natürlich Städte wie Leipzig oder Jena oder andere, wo es wirklich wirtschaftlich relativ gut aussieht.
pexels-photo-1043558.jpegAber es gibt auch Regionen, wo tatsächlich die Arbeitslosigkeit immens ist, im ganzen Wirtschaftsaufschwung auch nicht zurückgegangen ist, wo die Leute sich berechtigt abgehängt fühlen, wo eigentlich jeder weggeht, der qualifiziert ist, wo auch überwiegend dann Ältere leben, und das sind Regionen, wo die Menschen sich natürlich entwertet und auch nicht von der Allgemeinheit irgendwie in ihren Bedürfnissen beachtet fühlen. Es gibt beides!

Armbrüster: Was würden Sie dann sagen, was ist da schiefgelaufen in den letzten 30 Jahren?

Wagenknecht: Ich denke, man hätte am Anfang viel mehr tun müssen, die industrielle Substanz zu erhalten.
Natürlich war ein Teil der Betriebe marode, aber es gab auch Betriebe, die durchaus überlebensfähig waren, die auch vorher schon zum Beispiel nach Westdeutschland geliefert haben.
Und es war ja ein Problem, als dann die Supermärkte quasi an die großen Ketten des Westens angeschlossen wurden: Die gesamten Produkte verschwanden ja von einem Tag zum nächsten – auch die, die die Leute noch gekauft hätten.

Auch durch diese radikale Umstellung eins zu eins – das war natürlich ein absoluter Schock für die ostdeutsche Industrie. Das war eine solche Deindustrialisierung, die im Osten durchgezogen wurde; das hätte man natürlich abfedern können und meines Erachtens auch abfedern müssen.
Das wäre insgesamt sogar dann billiger gewesen, als diese hohe Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Da wären andere Weichenstellungen meines Erachtens sinnvoll gewesen und in vielen Regionen haben wir das bis heute nicht ausgeglichen.

Armbrüster: Aber, Frau Wagenknecht, entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche. Kann man denn wirklich diese Stellschrauben, diese Abläufe bei der Wiedervereinigung vor 30 Jahren, kann man die tatsächlich dafür verantwortlich machen, dass heute, 30 Jahre später, in einigen Regionen es immer noch nicht so ist, wie es sein sollte?

Wagenknecht: Nein, sie sind nicht allein verantwortlich. In 30 Jahren hätte man noch viel tun können, um das wiederum auszugleichen. Das ist natürlich richtig. Es gab ja auch Regionen, denen ging es schlecht, und da haben sich trotzdem irgendwann wieder Betriebe angesiedelt und es ist besser gelaufen.
Aber wir haben ja in Deutschland insgesamt das Problem – das ist ja kein Ostproblem –, dass wir viel zu wenig Industriepolitik haben und dass es Regionen gibt, in Ost wie West, die man völlig alleine lässt.
Da ist nichts und wenn man politisch nicht wirklich sich darum bemüht, entsteht da auch nichts, und man nimmt eigentlich in Kauf, dass da die Infrastruktur verrottet, dass die Ärzte weggehen, dass keine Busse mehr fahren, und am Ende sieht es dann in so einer Region wirklich erbärmlich aus und da kann ja von alleine auch nichts mehr entstehen. Da gibt es auch kein Funknetz, meistens, das richtig funktioniert, kein schnelles Internet, und das sind ja alles Dinge, um die sich die öffentliche Hand kümmern müsste. Das kann man ja nicht einfach dem Markt überlassen. Der Markt richtet das eben nicht!

Armbrüster: Gibt es denn nach wie vor eine typische ostdeutsche Mentalität?

Wagenknecht: Ich glaube nicht. Es gibt sicherlich bei den Älteren – da gehöre ich ja sogar auch schon dazu –, die in der DDR vielleicht noch aufgewachsen sind, da noch irgendwie Lebenserinnerungen haben, gewisse Prägungen, die sich von denen, die das nicht erlebt haben, unterscheiden.
Aber ich glaube nicht, dass es noch eine Mentalität gibt. Dafür gibt es einfach viel zu viele Erlebnisse in den letzten 30 Jahren, die man dann gemeinsam hat.
Viele Menschen sind ja auch von Ost nach West gezogen, andere umgekehrt. Es gibt viele Ehen, wo das zusammengegangen ist. Ich glaube, dass diese Ost-West-Spaltung insgesamt natürlich auch sehr an Bedeutung verliert.
Es gibt sie noch, es gibt sie auch noch in der Lohnhöhe, es gibt sie in dem Ausmaß beispielsweise auch des Niedriglohnsektors. Da gibt es schon noch deutliche Unterschiede. Aber mental, denke ich, baut sich das immer mehr ab.

Armbrüster: Wie erklären Sie sich es dann, dass es in so vielen Bereichen immer noch so große Unterschiede gibt? Sie haben einige erwähnt.
Ihre Partei hat in dieser Woche ein anderes wichtiges Merkmal herausgefunden, dass es in ganz Berlin in allen Berliner Ministerien nur insgesamt vier Top-Positionen gibt, die von Ostdeutschen, von gebürtigen Ostdeutschen besetzt sind.
Wie erklären Sie sich so was?

Wagenknecht: Ja, es war natürlich schon eine Übernahme. Es war ja kein Zusammenschluss, sondern es war ein Anschluss, und der Anschluss hat bedeutet, dass die Eliten aus dem Westen kamen, und das hat man schon sehr, sehr lange auch beibehalten. Das ist ja etwas, was man in der Soziologie untersuchen kann. Eliten reproduzieren sich selbst.
Ich habe das ja zum Beispiel an der Universität erlebt. Man hat damals in Jena im Grunde fast alle Professoren rausgeworfen, und zwar nicht nur die irgendwie verblendeten Ideologen. Da waren wirklich sehr gute Professoren, die Hegel, Kant und so etwas gelehrt haben. Die sind alle rausgeflogen. Es wurde nur westdeutsches Personal eingestellt und die haben dann teilweise auch wiederum so agiert.
Die ersten, die da waren, die kannten ja niemanden im Osten, also haben sie ihre Kollegen aus dem Westen nachgeholt. So ist das in den Betrieben vielfach passiert, so ist das in den politischen Organisationen passiert, und dadurch ist es ja tatsächlich so. Es gibt ja diese Zahl. Ich glaube, 1,4 Prozent aller Führungsfunktionen in Deutschland sind mit Ostdeutschen besetzt.

Armbrüster: Oder, Frau Wagenknecht – entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch mal unterbreche. Das klingt vielleicht tatsächlich provokant, aber man hört so einen Satz oder so eine Bemerkung ja immer wieder: Könnte es vielleicht auch sein, dass die Ostdeutschen einfach zu wenig selbstbewusst aufgetreten sind in dieser Zeit oder dass sie sich irgendwie eingerichtet haben in einer Ecke, wo sie sagen, sie werden sowieso unterstützt?
Wie gesagt: Jetzt nicht meine Meinung, sondern das ist eine Bemerkung, die man immer wieder hört.

Wagenknecht: Nein. Ich glaube, so pauschal ist das natürlich Unsinn. Es gibt im Osten genauso viele Selbstbewusste wie im Westen und umgekehrt gibt es auch genauso viele, die sich vielleicht lieber einrichten.
Das Problem war ja einfach: Das gesamte Leben, die gesamte Art, wie sie ihr Leben gestaltet haben, alles war völlig im Umbruch. Und die, die das in der Hand hatten, das waren natürlich überwiegend Leute, die aus dem Westen kamen.
Da hatten sie kaum eine Chance, in Führungspositionen vorzudringen. Das ist ja nicht eine Frage des Selbstbewusstseins, sondern das war ja die Frage, wer hat damals wirklich den ganzen Prozess gemanagt.

Natürlich hätte man versuchen können, das stärker zu balancieren, auch dieses Belehrende, was ja teilweise doch immer wieder auch mitkam. Wenn man das etwas zurückgehalten hätte, wäre das, glaube ich, für das Gefühl von Einheit und Vereinigung wesentlich besser gewesen. Aber heutzutage spielt auch das meines Erachtens nicht mehr so die zentrale Rolle.
In den Jahren nach der Wiedervereinigung war das schon ein ganz wichtiger Aspekt. Viele Ostdeutsche fühlten sich bevormundet und belehrt und auch von oben herab behandelt – dadurch, dass man ihnen immer wieder sagen wollte, wie sie jetzt zu denken haben und so weiter. Das wird wahrscheinlich heute in der Form nicht mehr so wahrgenommen, aber das war lange Zeit wirklich ein Problem.

Armbrüster: Dann sagen Sie uns noch: Ist dieser kommende Samstag, der 3. Oktober 2020, ist das für Sie ein Tag zum Feiern?

Wagenknecht: Mein persönliches Leben möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie das gelaufen wäre.
Ich hätte natürlich weder meinen Mann kennengelernt noch viele andere Dinge tun können, und insoweit ist es sicherlich auf jeden Fall eine gute Sache, dass Deutschland nicht mehr geteilt ist.
Aber ich denke, wir haben heute, wenn wir über den 3. Oktober und über Einheit reden, auch über die Spaltungen zu reden, die heute ganz tief sind und die sich verstärken, soziale und kulturelle, die unser Land durchziehen, und insoweit finde ich, ein einiges Land sind wir heute eher weniger als vor zehn oder 15 Jahren. Aber das hat mit Ost-West nicht mehr so viel zu tun.

*: Siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2017/06/17/warum-es-mir-schwer-fallt-helmut-kohl-nachzutrauern/

Kommentar aus der jungen Welt:

https://www.jungewelt.de/artikel/387442.wendegewinnerin-des-tages-sahra-wagenknecht.html

Wendegewinnerin des Tages: Sahra Wagenknecht

Von Sebastian Carlens

Es ist nicht verboten, dümmer zu werden, als man früher war. Menschen ändern Meinungen, manches vergessen sie, anderes fällt ihnen irgendwann neu ein. So weit, so normal. Nicht normal ist, die eigene Geschichte anhand späterer Erkenntnisse umzuschreiben – so, als hätte man nie was anderes gedacht als das, was einem aktuell in den Ganglien rumort.

Sahra Wagenknecht hat 30 Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass sie zu den Opfern der DDR gehört (Studienverbot!). Wenn sie dem Deutschlandfunk jetzt erzählt, dass sie 1989, im Alter von 20 Jahren und noch zu DDR-Zeiten, bereits »eine Wirtschaft, die marktförmig ist, in der es Wettbewerb gibt«, erträumt hätte, dann ist sie heute dümmer als die Wagenknecht von 1992. Die hatte damals differenzierte Analysen (ganz ohne Verlangen nach dem Markt) zur DDR-Geschichte abgeliefert: Sie fand einen »blühenden Sozialismus«, zu dessen Entwicklung das Land »auf dem besten Wege« war.

Seit Wagenknecht den bräsigen Ludwig Erhard zum Säulenheiligen erhoben hat, hängt sie dem Glauben an, man könne Kapitalismus (sprich »Reichtum«) ohne Zwang zur Profitmaximierung (sprich »Gier«) haben. Das, was sie – wie sie heute glaubt – vor über 30 Jahren in der DDR zu bekommen gehofft hatte, wäre solch ein Wunderding: Markt ohne Kapital.

Wenn die Wagenknecht von heute auch noch findet, dass es keine »ostdeutsche Mentalität« mehr gäbe, dass es dafür »viel zu viele Erlebnisse in den letzten 30 Jahren« gegeben habe, dann hat sie, wenn sie von sich spricht, sicher recht: Sie ist mental, finanziell und mit dem Wohnsitz im Westen gelandet. Es sei doch »eine gute Sache, dass Deutschland nicht mehr geteilt ist«, findet Wagenknecht 2020. Die von 1992 sah das ganz anders, die von 1989 vermutlich auch.

Wenn es ein Recht auf Verdummung gibt, dann gibt es zum Glück noch eins: Das nämlich, diesen Weg nicht mitgehen zu müssen.

Über Kommentare hier  auf meinem Blog  würde ich mich freuen.
Jochen

Die Deutsche Einheit – ein kapitalistisches Übernahmeprojekt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

MausfeldEndlich hat sich Kollege Mausfeld diesem Thema zugewendet und hat dazu mit Daniela Dahn eine exzellente Mitstreiterin gefunden:
https://www.heise.de/tp/features/Die-Einheit-ein-kapitalistisches-Uebernahmeprojekt-4914128.html
Dort finden sich auch lesenswerte Kommentare.

Das Thema habe ich hier auch schon mehrmals bearbeitet:daniela dahn

https://josopon.wordpress.com/2020/01/13/ostdeutschland-und-die-treuhand-eine-geschichte-einer-annexion-die-den-deutschen-wohl-nicht-zugemutet-werden-sollte/
https://josopon.wordpress.com/2017/10/03/the-dark-side-of-the-wende-was-sich-seit-1990-fur-die-ostdeutschen-verschlechtert-hat/
https://josopon.wordpress.com/2017/06/17/warum-es-mir-schwer-fallt-helmut-kohl-nachzutrauern/

https://josopon.wordpress.com/2014/12/30/zum-jahresabschluss-eine-erinnerung-wie-horst-kohler-und-thilo-sarrazin-den-ddr-anschlus-ausbruteten/

Auszüge
1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte, da es einzigartige Chancen bot – die aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner blockiert und verspielt wurden

1989 hat das Volk sich selbst zum Sprechen ermächtigt und seine Stimme gegen die Zentren der Macht politisch wirksam werden lassen.
Es hat den alten Hirten die Gefolgschaft aufgekündigt und sich neue gesucht, die seine Vertreibung ins Paradies, so das treffende Bild von Daniela Dahn, organisierten.
Das Paradies der kapitalistischen Warenwelt, der grenzenlosen Reise- und Redefreiheit, der individuellen Bedürfnisbefriedigung, der bunten Medienvielfalt und der unerschöpflichen Zerstreuungs- und Unterhaltungsindustrie.
Keine Frage, nach den Kriterien des westlichen Vorbilds ist der Lebensstandard für eine Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland gestiegen – und mehr noch, das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltungen.

Für den Sieger war dies ein überwältigender Sieg, und da die Geschichte bekanntlich von den Siegern geschrieben wird, kann es keinen Zweifel geben, wer der Sieger des historischen Augenblicks ist.
Es ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung und mit ihr die Lebensformen und Annehmlichkeiten des Konsums, die sie ermöglicht.

Bleibt noch die Frage, wer eigentlich die Verlierer der Ereignisse von 1989 sind. Über den Hauptverlierer gibt es wohl ebenfalls keinen Zweifel, es ist der real existierende Sozialismus, er hatte schon früh gezeigt, dass er bereit ist, seine emanzipatorischen Versprechen zu verraten und zu missbrauchen. Auch hat er in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.
1989 hat das Volk sein Veränderungsbedürfnis klar artikuliert und sich für einen besseren, demokratisch reformierten Sozialismus ausgesprochen.

„Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus“, schreibt Daniela Dahn in ihrer Abrechnung mit der Einheit Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute.
Das ist eine Pflichtlektüre für alle, die die Hintergründe der sogenannten Wiedervereinigung besser verstehen wollen und zugleich mehr erfahren wollen über die Persönlichkeit des Wiedervereinigers, der Bundesrepublik.

Nach einem zunächst verheißungsvollen Aufbruch oppositioneller Gruppen in der DDR, die einen Demokratisierungsdruck aufzubauen suchten, der auch auf den Westen übergreifen sollte, wurde jedoch die friedliche Revolution, die keine war, regelrecht aufgekauft. Der Kapitalismus hat bekanntlich einen großen Magen. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt.
Die historische Chance auf eine gesamtdeutsche Verfassung, die, wie es in Paragraph 146 des Grundgesetzes heißt, „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, also die Chance einer wirklichen Demokratisierung in beiden Teilen, wurde in rigoroser Siegermentalität blockiert.

In diesen Siegesstunden bewies der Kapitalismus noch einmal, dass ihm kein ideologisches System an illusionserzeugender Kraft gleichkommt.
Keine andere autoritäre Herrschaftsform verfügt über so ausgefeilte Mittel, Menschen zu einer freiwilligen Knechtschaft zu verführen. Dazu gehören insbesondere Mittel zur Spaltung der Gesellschaft und zur Zersetzung von Dissens.
All diese Mittel konnten 1989 höchst wirksam zur Anwendung gebracht werden, dazu noch mit singulären Renditen für die Kapitalbesitzer.

Die Stimmen einer demokratischen Revolution verhallten und der kapitalistische Weg war frei zu einer – in Daniela Dahns prägnanter Formulierung – feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen.
Auch das war Demokratie, nur eben kapitalistische Demokratie, über die noch zu sprechen sein wird. Sieger und Verlierer lassen sich also leicht identifizieren, wenn man nur bereit ist, die Perspektive auf die historische bipolare Systemkonkurrenz von real existierendem US-Kapitalismus und real existierendem Kommunismus zu verengen.
Doch genau eine solche Perspektivenverengung blockiert ein tiefergehendes Verständnis, denn tatsächlich geht es um sehr viel mehr als um eine solche Alternative.

Wir sollten daher auf der Suche nach den Verlierern nicht an der Oberfläche der offiziellen Rahmengeschichte bleiben, denn die Sieger stehen hier berechtigterweise in dem Ruf, in globalem Maßstab Verlierer zu produzieren.
Auf materieller Ebene ist der Kapitalismus schon seiner Funktionslogik nach darauf angelegt, Verlierer geradezu im Überfluss zu produzieren.
Wie dies ganz konkret funktioniert, hat die ostdeutsche Bevölkerung nach 1990 in einem von den westdeutschen Eliten veranstalteten Crash-Kurs lernen können.
Zu den verordneten Lerneinheiten gehörte die systematische Zerstörung der ostdeutschen Volkswirtschaft, die Privatisierung ihres Volkseigentums, bei der achtzig Prozent des von der Treuhand verwalteten, ehemals ostdeutschen Produktionsvermögens an westdeutsche und nur sechs Prozent an DDR-Bürger fielen, sowie ein Verlust von mindestens 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.

Aus Sicht der Verlierer haben diese gesellschaftlichen Verwüstungen übrigens rein gar nichts mit der Funktionslogik des Kapitalismus zu tun, sondern sind, wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, jüngst feststellte, schlicht eine Konsequenz daraus, „dass die Ostdeutschen das Pech hatten, vierzig Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben“.

Ein erfolgreiches Verbrechen zeichnet sich bekanntlich gerade dadurch aus, dass es dem Täter gelingt, den Opfern die Überzeugung zu vermitteln, dass sie ihr Schicksal verdient hätten.
Zu den traumatischen Lerneinheiten gehörte auch die Erfahrung, dass Korruption nicht einfach zu den Auswüchsen des Kapitalismus zählt, sondern dass sie Teil seiner natürlichen Funktionsweise ist.

Es waren wahrlich paradiesische Zeiten für westdeutsches Kapital, in dem sich die Funktionslogik des Kapitalismus ungehemmt offenbaren konnte.
Dennoch müssen wir bei der Suche nach den Verlierern von 1989 noch tiefer unter die Oberfläche dringen, denn es geht um mehr, es geht um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz.
Der folgenschwerste Verlust betrifft die zivilisatorische Leitidee von Demokratie, einer der bedeutendsten zivilisatorischen Schutzbalken gegen das rohe Recht des Stärkeren.

Nachdem die Bemühungen um eine wirkliche Demokratisierung innerhalb der DDR an den machtpolitischen Realitäten zerschellt waren, erhielten die Neubürger einen weiteren Crash-Kurs im Fach „Kapitalistische Demokratie“.
Daher konnten nun diejenigen, die sich das Wort Demokratie nicht durch eine pervertierte Verwendung enteignen lassen wollten, selbst erfahren, wie weit die demokratische Leitidee und die Realität der kapitalistischen Demokratie auseinanderliegen. Diese Diskrepanz ist eigentlich nicht überraschend, denn es gehört gerade zum Wesensmerkmal einer kapitalistischen Demokratie, dass sie keine ist.
Der Widerspruch ist so offenkundig, dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen lässt.

In ihrem Wesenskern und in ihrer Funktionslogik sind Demokratie und real existierender Kapitalismus in fundamentaler Weise unverträglich miteinander.
Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit.
Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter die Machtverhältnisse, die eine Minderheit von Besitzenden über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt.

Der Kapitalismus ist darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen.
Daher kann er sich auch niemals eine demokratische Legitimation aus sich selbst heraus verschaffen, das ist eine Binsenwahrheit der politischen Wissenschaft.
Schon Aristoteles lehnte die Demokratie ab, weil sie die Möglichkeit beinhaltet, dass die Armen, weil sie die Mehrheit bilden, das Vermögen der Reichen unter sich teilten, was Aristoteles als Unrecht ansah.

Dass Kapitalismus und Demokratie in fundamentaler Weise unverträglich miteinander sind, ist also seit ihren historischen Anfängen bekannt, so dass es danach nur noch darum ging, wie sich geeignete Mittel finden lassen, mit denen sich dieses Spannungsverhältnis so lindern oder verdecken lässt, dass eine Herrschaft der Besitzenden nicht gefährdet ist. Seit je haben also die Besitzenden großen Aufwand betrieben, solche Mittel zu schaffen.

Ohne eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch eine geeignete Form der Indoktrination würde in einer kapitalistischen Demokratie rasch offenkundig, dass es sich in Wahrheit gar nicht um eine Demokratie handelt.
Historisch gingen daher die Entwicklung kapitalistischer Demokratien und die Entwicklung immer wirksamerer Techniken der Indoktrination Hand in Hand. Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde und wird in den USA und auch bei uns, mit hohem finanziellem Aufwand und unter massiver Beteiligung der Sozialwissenschaften und auch der Psychologie, ein breites Arsenal von Techniken der Meinungs- und Affektmanipulation entwickelt.

Die riesigen Fortschritte, die in hundert Jahren intensiver systematischer Erforschung von Manipulationstechniken erreicht wurden, lassen sich besser ermessen, wenn man sich die Fortschritte vor Augen führt, die in diesem Zeitraum in der Entwicklung der Unterhaltungstechnologie erreicht wurden.
Der Entwicklungsabstand vom alten Stummfilm-Kino über den 3D-Digitalfilm bis zu einem Virtual-Reality-Setting lässt vielleicht erahnen, wie groß der Entwicklungsabstand von traditioneller Propaganda zu modernen Indoktrinationstechniken ist. (Rainer Mausfeld)

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1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles scheint gesagt. Die Tabus überdauern.
Die Essayistin Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie in ihrem neuen Buch „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung ins Visier mit einem Blick auf bislang unterschätzte Zusammenhänge.
Daniela Dahn untersucht, wie in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert.
Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie.
Die gemeinschaftlichen Analysen werden in einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie.

Über Kommentare hier auf meinem Blog  würde ich mich freuen.
Jochen

The dark side of the »Wende«: Was sich seit 1990 für die Ostdeutschen verschlechtert hat und was die sächsische Linke dazu sagt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

https://www.jungewelt.de/artikel/319309.the-dark-side-of-the-wende.html
Von Matthias Krauß

Erneut kommt der Jahrestag des Anschlusses heran und erneut ist das Publikum der Wiederholung der Jubelorgie von 1990 ausgesetzt, dem Tanz mit Sekt und Böllern und Deutschlandfahnen. Übrigens: Nicht einer der an jenem Tage vor 27 Jahren frenetisch feiernden Ostdeutschen hatte auch nur die Spur einer Ahnung davon, was ihn tatsächlich erwarten würde. Der Journalismus in Deutschland ist bei dem Thema auf Erfolgspropaganda fixiert. Was sich seit 1990 jedoch für die Ostdeutschen verschlechtert hat, ist weniger im Fokus. Die Aufzählung lohnt also. Übrigens ist die Liste der Verschlechterungen in etwa so lang wie die der Verbesserungen. Denn vielfach ergeben sie sich auseinander.

Abriss_Stralsund2008Auch mit günstigen Mieten für die Mehrheit der Bevölkerung ist es seit dem Anschluss der DDR vorbei (Abriss von DDR-Plattenbauten in Stralsund seit April 2008)

Der DDR-Bürger lebte in einem Land, das Frieden hielt und dessen Politik Friedenspolitik war. Nun ist er Bürger eines deutschen Staates, der Krieg führt. Es mag Menschen geben, denen das gleichgültig ist. Es gibt aber auch Menschen, für die ist das die Frage aller Fragen. *)

Die DDR hat flächendeckend wirtschaftliche Entwicklung in vormals vernachlässigte Regionen getragen. In unvorstellbarem Maße hat sich der Fortschritt aus diesen Regionen nach 1990 wieder zurückgezogen. Ostdeutschland bildet immer mehr das Bild einer Drittwelt-Struktur aus: überbordende Megazentren zwischen riesigen toten Zonen. Die UNO warnt ausdrücklich vor einer solchen Entwicklung.

Durch die politische Wende verloren rund drei Millionen Menschen ihre Arbeit, die Sozialstruktur Ostdeutschlands erlitt Schläge, von denen sie sich bis heute nicht erholt hat. Auf die Einkehr von Demokratie und Freiheit im bürgerlichen Sinne reagierten die Ostdeutschen mit einem Gebärstreik, für den es in der Geschichte kein Beispiel gibt. In den zehn Jahren nach 1989 wurden in Ostdeutschland mindestens anderthalb Millionen Kinder weniger geboren als in den zehn Jahren davor. Hinzu kam, dass Hunderttausende junge Menschen den Osten auf der Suche nach Arbeit verließen.
Das Resultat war Überalterung, der Osten Deutschlands wurde in die Rolle gezwungen, Reservoir für Arbeitskräfte, ewiges Transfergebiet und Altersheim der Nation zu sein.
In den ländlichen Regionen gab es zu DDR-Zeiten Arbeitsplätze, Bus- und Eisenbahnanschlüsse, Verkaufs- und Poststellen, Dorfkneipen, Gemeindezentren, Bibliotheken, Jugendklubs und Kindergärten – alles Dinge, die es heute großen- oder sogar größtenteils nicht mehr gibt.
Der flächendeckende Schutz durch die Feuerwehr ist nicht mehr gewährleistet, denn es gibt vielerorts schlicht die Wehren nicht mehr.

Im Falle der finanziellen Bedürftigkeit – die es auch in der DDR gab, wenn auch in ungleich geringerem Maße als heute – wurde das Kindergeld erhöht. Heute wird es gestrichen (in Beamtendeutsch heißt das: mit dem Hartz-IV-Satz »verrechnet«.) Dass die Beamten, die hier verrechnen, für ihre Kinder noch Extra-Kindergeld beziehen (Familienzuschlag) rundet das Bild in angenehmer Weise ab.

Zu DDR-Zeiten gingen Frauen mit 60 Jahren in Rente, heute müssen sie arbeiten, bis sie 67 sind. Den 477 DDR-Mark, die ein ostdeutscher Durchschnittsrentner 1988 in der DDR erhielt, stehen 830 Euro gegenüber, die heute in Ostdeutschland als Durchschnittsrente angegeben werden. Wenn der heutige Rentner Wohnung und Essen bezahlt hat, ist seine Rente praktisch aufgebraucht. Wenn der DDR-Rentner Wohnung und Essen bezahlt hatte, verfügte er noch über die Hälfte bis zwei Drittel seiner Bezüge. Sein finanzieller Spielraum war deutlich größer.

Ab 1981 erhielten in der DDR alle Studierenden ein Stipendium unabhängig vom Einkommen der Eltern, das ihnen die Befriedigung der Grundbedürfnisse gestattete. Kein Bafög kann das ersetzen. Damals bekamen Schüler der 11. und 12. Klasse monatlich ein Geld von Staat, das dem Lehrlingsentgelt entsprach. Dies wurde mit Einzug des bundesdeutschen Rechts gestrichen.

Die Zeitung Die Welt verkündete zehn Jahre nach der Wende, der durchschnittliche Intelligenzquotient ostdeutscher Kinder sei von 102 (über dem europäischen Durchschnitt) auf 95 (westdeutsches Niveau) abgefallen. Das war dem Einzug bundesdeutscher Pädagogik geschuldet, wonach in den Kindergärten kein Erziehungsprogramm das Gehirn der Kinder anregte, sondern derzufolge sie in bloßen Aufbewahrungsanstalten einer liebevollen Verblödung ausgesetzt waren.
Pisa-Sieger wie Finnland hatten sich bei ihrem Schulsystem von der in der DDR entwickelten Polytechnischen Oberschule inspirieren lassen – Ostdeutschland bekam nach der »Wende« als Sondergeschenk die westdeutsche Beamtenschule übergeholfen mit all ihren Geschwüren.

Die DDR hatte es jungen Frauen ermöglicht, den Streitkräften beizutreten. Diese Frauen erhielten 1990 als erste einen Tritt und flogen aus der Armee, die erst zehn Jahre später Frauen zuließ. Wehrmachtsdeserteure waren zu DDR-Zeiten rehabilitiert – nach 1990 wurden sie wieder Vorbestrafte. Die Verfolgung von Homosexuellen auf der Grundlage des Strafrechtsparagraphen 175 erfolgte in der DDR seit 1957 nicht mehr. 1988 wurde dort der Paragraph gestrichen. Die vergrößerte BRD brauchte dafür bis 1994.

In der DDR war das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat durchgesetzt, auch und gerade in der Schule. Hier feierte nach 1990 der Atavismus ebenfalls seine Triumphe.

Ist zu erwarten, dass die deutsche Aufarbeitungsindustrie sich diesen Dingen einmal zuwendet? Man wird die Hoffnung begraben müssen.
Denn das würde ihrem propagandistischen Auftrag zuwiderlaufen.

Hintergrund:Westfernsehen

Zu den großen Vorteilen der DDR gehörte, dass ihre Bürger bis 1990 gebührenfrei Westfernsehen empfangen konnten. Also kostenlos, wenngleich nicht risikofrei. Es lässt sich aber genau datieren, wann in der DDR der Westfunk gewissermaßen freigegeben worden ist. Am 28. Mai 1973 sprach Generalsekretär Erich Honecker auf einer Sitzung seines Zentralkomitees beiläufig vom Westfernsehen, dass »ja bei uns jeder beliebig ein- und ausschalten kann«. Das war der Dammbruch. Und irgendwann fiel auch innerhalb der Partei der Satz vom DDR-Bürger als dem »bestinformierten Menschen der Welt«.

Kann man heute sachlich diskutieren, was an dieser Bemerkung sogar richtig war? Während man den meisten Westdeutschen ihre drei öffentlichen Programme zur Ansicht überließ, waren es in weiten Teilen der DDR fünf Sender. Zu den Westprogrammen gesellte sich DDR-1 und DDR-2. Wie man es auch dreht und wendet, es sind zwei mehr, das Informationsangebot war reicher.
Von den Radiostationen ganz zu schweigen. Wenn wir im heimatlichen Hennigsdorf, das nördlich von Berlin in einer Mauerbucht lag, auf das Dach unseres Plattenwohnblocks gestiegen sind, dann haben wir jene Sendeanlagen mit bloßem Auge gesehen, die uns mit Westprogrammen belieferten. Die haben wir also »mit ’nem nassen Schnürsenkel empfangen«, wie es damals hieß. Weil der allabendliche Westempfang natürlich bezogen auf die Lebensqualität ein wesentlicher Vorteil war, verengte sich das »Tal der Ahnungslosen«, d. h. die Landstriche ohne Westempfangsmöglichkeit, im Laufe der Jahre zwangsläufig weiter. Anfang der 80er kam die Partei- und Staatsführung nicht umhin, in der ersten sozialistischen verkabelten Stadt auf deutschem Boden, Eisenhüttenstadt, das Westangebot ins Kabel einzuspeisen. Sonst wären Stahlwerker und Walzer knapp geworden in den deutschen Ostgebieten. Die Tage, als FDJ-Bergsteigertrupps auf Hausdächern westgewandte TV-Antennen einfach absägten (Aktion »Ochsenkopf«) lagen ein Jahrzehnt zurück. Unser Klassenlehrer riskierte nichts, als er offen vor der Klasse zusammenfasste: »Nicht alles, was bei uns kommt, ist gut. Und nicht alles, was im Westen kommt, ist schlecht«.

Die DDR-Bürger hatten in all den Jahrzehnten nicht allein zwei Sender mehr, es waren darüber hinaus Programme, die den Westsendern widersprachen. Prinzipiell widersprachen. Politisch, kulturell, wirtschaftlich, geistig, weltanschaulich widersprachen. Das ist eine hervorragende Situation für den Endempfänger, für den Kunden vor dem Bildschirm.
Und wer dieses interessante Gerangel und Tauziehen auf den Frequenzen bewusst erlebt hat, der kann das heutige Angebot, diesen Einheitsbrei, nicht mit Vielseitigkeit verwechseln. (mkr)

*) Wichtige Anmerkung aus pazifistischer Sicht: Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 waren auch DDR-Soldaten beteiligt. So ganz friedlich ging es da auch nicht zu. Dazu gehört auch die reguläre Ausbildung von Kindern an Kriegsspielzeug bei den jungen Pionieren und die Verknüpfung von Jugendarbeit und Militär in der Gesellschaft für Sport und Technik.

Zum Wüten der Treuhand auch hier: https://josopon.wordpress.com/2014/12/30/zum-jahresabschluss-eine-erinnerung-wie-horst-kohler-und-thilo-sarrazin-den-ddr-anschlus-ausbruteten/

LINKE: Einheit ist noch längst nicht vollbracht

27 Jahre nach der Wiedervereinigung bestehen sowohl die wirtschaftlichen als auch sozialen Untwerschiede zwischen Ost und West fort

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065598.linke-einheit-ist-noch-laengst-nicht-vollbracht.html

Dresden. Die sächsische Linkspartei hat sich zum Tag der Deutschen Einheit für eine Enquetekommission des Bundestages zur Treuhand ausgesprochen. Sie soll das Agieren der Treuhandanstalt und Unrecht aufarbeiten, teilten die LINKEN mit. Parteichef Rico Gebhardt forderte vor allem die SPD auf, dieses Anliegen zu unterstützen. Die Treuhandanstalt war nach der Wende damit befasst, die volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren. Dabei kam es auch zu Betrugsfällen.

»Die damalige Deindustrialisierung Ostdeutschlands hat massenhaft Erwerbsbiografien unterbrochen und oft genug abgebrochen. Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut waren und sind die Folge«, erklärte Gebhardt.

27 Jahre nach der Wiedervereinigung gebe es weder wirtschaftlich noch sozial eine deutsche Einheit. Die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer liege hinter den westdeutschen Ländern, und auch bei Löhnen und Renten ist nicht absehbar, wann Ost und West gleichziehen.

Jochen

„Das Opfer wird gebeten, die Schuld des Täters auf sich zu nehmen“ – Ein Kommentar von Yanis Varoufakis

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

http://www.neues-deutschland.de/artikel/978365.ein-karthagischer-frieden.html
Auszüge:

»Ein Karthagischer Frieden«

Die Erklärung des Eurogipfels von Montag im Wortlaut – kommentiert von Yanis Varoufakis

»Lesen und weinen«, sagt Yanis Varoufakis zur Erklärung des Eurogipfels vom vergangenen Montag. Er hat die Vereinbarung kommentiert – eine Vereinbarung, die nach Meinung des früheren Finanzministers als die »Kapitulationsurkunde Griechenlands« in die Geschichte eingehen wird.
Varoufakis_mVaroufakis hat die von ihm kommentierte Version der Gipfel-Vereinbarung zuerst in seinem Blog veröffentlicht. Hier gibt es nun eine deutsche Fassung. David Bebnowski hat die Übersetzung besorgt.
Der Text der im Original siebenseitigen Gipfel-Vereinbarung ist unverändert, kursiv in eckigen Klammern die Anmerkungen, Kommentare und Einordnungen von Varoufakis. tos

SN 4070/15
EUROSUMMIT
Erklärung des Euro-Gipfels
Brüssel, den 12. Juli 2015

Der Eurogipfel betont, dass als Voraussetzung für eine mögliche künftige Vereinbarung über ein neues ESM-Programm

[d.h. einen neuen Verlängerungs-und Verschleierungs-Kredit]

das Vertrauen in die griechische Regierung unbedingt wiederhergestellt werden muss.

[d.h. die griechische Regierung muss neue strikte Austeritätsmaßnahmen umsetzen, die sich gegen
die schwächsten der Bevölkerung richten, die bereits furchtbar
gelitten haben]

In diesem Zusammenhang ist die Eigenverantwortung der griechischen Regierung von ausschlaggebender Bedeutung, und auf politische Verpflichtungen sollte eine erfolgreiche Umsetzung folgen.

[d.h. die SYRIZA-Regierung muss erklären, dass sie zur Logik der Troika überläuft]

Von einem Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebiets, der um eine Finanzhilfe durch den ESM ersucht, wird erwartet, dass er, wann immer dies möglich ist, ein ähnliches Ersuchen an den IWF richtet. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass die Euro-Gruppe einem neuen ESM-Programm zustimmt. Griechenland wird daher fortgesetzte Unterstützung durch den IWF (Überwachung und Finanzierung) ab März 2016 beantragen.

[d.h. Berlin glaubt weiterhin, dass man eigenen europäischen »Rettungsaktionen« nicht trauen kann]

Angesichts der Notwendigkeit, das Vertrauen in Griechenland wiederherzustellen, begrüßt der Euro-Gipfel die Zusage der griechischen Regierung, unverzüglich die Rechtsvorschriften für ein erstes Maßnahmenpaket zu erlassen.

[d.h. Griechenland muss sich selbst fiskalischem Waterboarding unterwerfen, noch bevor irgendeine Finanzierung angeboten wird]

Diese Maßnahmen, die mit den Institutionen im Vorhinein vollständig abzustimmen sind, umfassen:

Bis zum 15. Juli die Straffung des Mehrwertsteuersystems

[d.h. die Mehrwertsteuer regressiver zu machen (was bedeutet, dass Personen mit zunehmenden Einkommen einen geringeren prozentualen Anteil ihres Einkommens als Steuer zahlen), und durch Erhöhung zu noch mehr Steuerhinterziehung zu ermutigen]

und die Ausweitung der Steuerbemessungsgrundlage, um die Einnahmen zu erhöhen;

[d.h. einen heftigen Schlag gegen die einzige griechische Industrie auszuteilen, die derzeit wächst, den Tourismus]

sofortige Maßnahmen zur Verbesserung der langfristigen Tragfähigkeit des Rentensystems als Teil eines umfassenden Programms zur Rentenreform

[d.h. die niedrigsten der niedrigen Renten weiter zu senken, während ignoriert wird, dass der Rückgang des Kapitals in den Rentenfonds auf die 2012 von der  Troika eingeführten Privatisierungen und die negativen Effekte der geringen Beschäftigung und von Schwarzarbeit zurückgeht]

die Sicherstellung der vollen rechtlichen Unabhängigkeit des griechischen statistischen Amtes ELSTAT

[d.h. die Troika verlangt die vollständige Kontrolle über die Berechnungsgrundlagen des griechischen Haushalt mit dem Ziel, den Umfang der Austeritätsmaßnahmen komplett selbst zu kontrollieren]

die vollständige Umsetzung der maßgeblichen Bestimmungen des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, indem insbesondere dafür gesorgt wird, dass der Fiskalrat vor Fertigstellung der Vereinbarung seine Tätigkeit aufnehmen kann und indem bei Abweichungen von ehrgeizigen Primärüberschusszielen nach Konsultation des Fiskalrates und vorbehaltlich der vorherigen Zustimmung der Institutionen quasi-automatische Ausgabenkürzungen eingeführt werden

[d.h. die griechische Regierung, die weiß, dass die Haushaltsziele wegen der auferlegten Austerität niemals erreicht werden, muss sich schon jetzt zu neuen, automatischen
Kürzungsmaßnahmen verpflichten]

bis zum 22. Juli:

die Annahme der Zivilprozessordnung, wobei es sich um eine grundlegende Revision der Verfahren und Regelungen für das Zivilrechtssystem handelt, die eine Beschleunigung der Gerichtsverfahren und Kostensenkungen in erheblichem Maße ermöglicht

[d.h. Zwangsvollstreckung, Zwangsräumung und damit Zerstörung tausender Haushalte und Geschäfte, die nicht in der Lage sind, ihre Kredite abzuzahlen]

die Umsetzung der Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten mit Unterstützung der Europäischen Kommission.

Erst im Anschluss an die rechtliche Umsetzung der ersten vier der oben genannten Maßnahmen sowie an die Billigung aller in diesem Dokument enthaltenen Verpflichtungen durch das griechische Parlament, überprüft durch die Institutionen und die Euro-Gruppe, kann unverzüglich der Beschluss gefasst werden, die Institutionen mit der Aushandlung einer Vereinbarung zu beauftragen.

[d.h. die SYRIZA-Regierung wird dazu gedemütigt, erst einmal selbst scharfe Austerität durchzusetzen, damit sie dann weitere schädliche Kredite beantragen darf, deren Folgen zu bekämpfen SYRIZA ihre internationale Bekanntheit verdankt]

Dieser Beschluss würde unter dem Vorbehalt gefasst, dass die nationalen Verfahren abgeschlossen sind und die Voraussetzungen nach Artikel 13 des ESM-Vertrags auf der Grundlage der in Artikel 13 Absatz 1 genannten Bewertung erfüllt sind.

Damit sie die Grundlage für einen erfolgreichen Abschluss der Vereinbarung bilden können, müssen die von Griechenland vorgeschlagenen Reformmaßnahmen erheblich ausgeweitet werden, um der deutlichen Verschlechterung der Wirtschafts- und Haushaltslage des Landes im vergangenen Jahr Rechnung zu tragen.

[d.h. die SYRIZA-Regierung muss die Lüge akzeptieren, dass sie und nicht die Erstickungstaktiken der Kreditgeber die scharfe ökonomische Verschlechterung der vergangenen sechs Monate zu verantworten hatdas Opfer wird gebeten die Schuld an Stelle des Täters auf sich zu nehmen]

Die griechische Regierung muss sich förmlich dazu verpflichten, ihre Vorschläge in einer Reihe von Bereichen, die von den Institutionen benannt wurden, nachzubessern,

[d.h. sie noch rückschrittlicher und unmenschlicher zu machen]

und diese mit einem ausreichend klaren Zeitplan für den Erlass von Rechtsvorschriften und deren Umsetzung einschließlich Strukturindikatoren, Etappenzielen und quantitativen Benchmarks unterlegen, so dass Klarheit über die mittelfristige Ausrichtung der Politik besteht. Insbesondere müssen im Einvernehmen mit den Institutionen folgende Maßnahmen ergriffen werden:

Durchführung ehrgeiziger Reformen des Rentensystems

[d.h. Kürzungen]

und Festlegung politischer Maßnahmen, um die Auswirkungen des Urteils des Verfassungsgerichts zu der Rentenreform von 2012 auf den Haushalt vollständig auszugleichen

[d.h. die Gerichtsurteile zugunsten der Rentenbezieher zu übergehen]

und die Klausel über ein Nulldefizit

[d.h. Kürzung der Rentenzuschüssederen Beibehaltung SYRIZA in den vergangenen fünf Monaten mit Zehen und Klauen verteidigt hat]

oder einvernehmlich vereinbarte alternative Maßnahmen bis Oktober 2015 umzusetzen;

[d.h. »gleichrangige« Opfer zu finden]

Verabschiedung ehrgeizigerer Produktmarktreformen zusammen mit einem klaren Zeitplan für die Durchführung sämtlicher im Rahmen des OECD-Instrumentariums (Teil I)

[d.h. die Vorschläge, von denen sich die OECD nun distanziert, nachdem sie diese Reformen in Zusammenarbeit mit der SYRIZA-Regierung umgearbeitet hat]

ausgesprochener Empfehlungen, unter anderem zu verkaufsoffenen Sonntagen, Schlussverkaufsperioden, Eigentum an Apotheken, Milch und Bäckereien, mit Ausnahme nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel, die in einem nächsten Schritt umgesetzt werden, sowie zur Öffnung von makroökonomisch relevanten geschlossenen Berufen (z.B. Fährbetrieb). Im Rahmen der Folgemaßnahmen zu dem OECD-Instrumentarium (Teil II) ist die Produktion in die vorbereitenden Maßnahmen aufzunehmen;

in Bezug auf die Energiemärkte Privatisierung des Stromübertragungsnetzbetreibers (ADMIE), es sei denn, im Benehmen mit den Institutionen können Ersatzmaßnahmen mit gleichwertiger Wirkung auf den Wettbewerb ermittelt werden;

[d.h. ADMIE wird auf Anweisung der Institutionen an bestimmte ausländische Kapitalinteressen
ausverkauft]

auf den Arbeitsmärkten eine tiefgreifende Überprüfung und Modernisierung der Verfahren für Tarifverhandlungen,

[d.h. sicherstellen, dass keine Tarifverhandlungen erlaubt sind]

Arbeitskampfmaßnahmen

[d.h. diese sollen verboten werden]

und, im Einklang mit den einschlägigen Richtlinien und bewährten Verfahren der EU, Massenentlassungen

[d.h. sollen nach Belieben der Unternehmer erlaubt sein]

nach dem mit den Institutionen vereinbarten Zeitplan und Ansatz.

[d.h. die Troika entscheidet]

Auf der Grundlage dieser Überprüfungen sollte die Arbeitsmarktpolitik an bewährte internationale und europäische Verfahren angepasst werden und nicht zu einer Rückkehr zur bisherigen Politikgestaltung führen, die mit den Zielen der Förderung eines nachhaltigen und integrativen Wachstums nicht vereinbar ist;

[d.h. es soll keinen Mechanismus für die Lohnabhängigen geben, bessere Arbeitsbedingungen gegenüber den
Unternehmern durchzusetzen]

Annahme der erforderlichen Maßnahmen zur Stärkung des Finanzsektors einschließlich entschlossener Maßnahmen in Bezug auf notleidende Kredite

[d.h. eine große Welle von Zwangsvollstreckungen
steht uns direkt bevor]

und Maßnahmen zur Verbesserung der Steuerung des HFSF und der Banken,

[d.h. die Griechen, die den Stabilitätsfond (HFSF) und die Banken unterhalten, werden genau Null Kontrolle darüber haben]

vor allem durch die Beseitigung sämtlicher Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme, insbesondere bei Ernennungsverfahren.

[d.h. mit Ausnahme der politischen Einmischung der Troika]

Darüber hinaus ergreift die griechische Regierung die folgenden Maßnahmen:

Ausarbeitung eines deutlich nachgebesserten Programms für die Privatisierung mit verbesserter Steuerung; Transfer von hohen griechischen Vermögenswerten an einen unabhängigen Fonds, der die Vermögenswerte durch Privatisierungen und andere Wege monetarisiert.

[d.h. eine Treuhand nach ostdeutschem Vorbild wird entworfen, um öffentliches Eigentum auszuverkaufen, allerdings ohne dass im Gegenzug die großen westdeutschen Investitionen nach Ostdeutschland fließen, die das Treuhand-Desaster abgefedert haben]

Die Monetarisierung der Vermögenswerte wird eine Quelle für die vereinbarte Rückzahlung des neuen ESM-Darlehen sein und soll während der Laufzeit des neuen Darlehens einen angestrebten Gesamtwert in Höhe von 50 Mrd. EUR erzielen, wovon 25 Mrd. EUR für die Rückzahlung der Rekapitalisierung von Banken und anderen Vermögenswerten verwendet werden und 50 % jedes verbleibenden Euro (d.h. 50 % von 25 Mrd. EUR) für die Verringerung der Schuldenquote und die übrigen 50 % für Investitionen genutzt werden.

[d.h. öffentliches Eigentum wird ausverkauft und die jämmerlichen Einnahmen werden dafür eingesetzt, nicht ausgleichbare Schulden auszugleichen – überhaupt nichts bleibt dabei für öffentliche oder private Investitionen über]

Dieser Fonds würde in Griechenland eingerichtet und von den griechischen Behörden unter Aufsicht der maßgeblichen europäischen Organe und Einrichtungen verwaltet werden.

[d.h. er wird zwar offiziell in Griechenland seinen Sitz haben, genau wie der HFSF oder die Griechische Zentralbank, aber vollständig von den Kreditgebern kontrolliert werden]

In Abstimmung mit den Institutionen und aufbauend auf bewährten internationalen Verfahren sollte ein Rechtsrahmen angenommen werden, um gemäß den Grundsätzen und Standards der OECD in Bezug auf die Verwaltung staatseigener Unternehmen transparente Verfahren und eine angemessene Preisbildung für die Veräußerung von Vermögenswerten sicherzustellen;

[d.h. die Troika wird tun und lassen, was sie will]

Modernisierung und deutliche Stärkung der griechischen Verwaltung im Einklang mit den Zielsetzungen der griechischen Regierung sowie – unter Federführung der Europäischen Kommission – die Einleitung eines Programms zum Aufbau von Kapazitäten und zur Entpolitisierung der griechischen Verwaltung.

[d.h. Griechenland wird nach dem Modell Brüssels zu einer demokratiefreien Zone mit einer Technokraten-Regierung, die politisch schädlich und makroökonomisch unfähig ist]

Ein erster Vorschlag sollte nach Beratungen mit den Institutionen bis zum 20. Juli 2015 vorgelegt werden. Die griechische Regierung verpflichtet sich, die Kosten der griechischen Verwaltung gemäß einem mit den Institutionen vereinbarten Zeitplan weiter zu senken;

[d.h. die niedrigsten Löhne zu senken, während die Gehälter einiger Troika-freundlicher Apparatschiks erhöht werden]

vollständige Normalisierung der Verfahren zur Arbeit mit den Institutionen einschließlich der erforderlichen Arbeiten vor Ort in Athen sowie Verbesserung der Programmdurchführung und -überwachung

[d.h. die Troika schlägt zurück und verlangt, dass die griechische Regierung sie auch noch dazu einlädt, als Aufseher nach Athen zurückzukehren – ein Karthagischer Frieden in aller Pracht, ein Frieden, der den Besiegten dauerhaft zerstört und ihm die Möglichkeit nimmt, »wieder auf die Beine zu kommen«]

Die Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzesentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird.

[d.h. das griechische Parlament wird erneut, nachdem es für fünf Monate kurz unabhängig war, zu einem Anhängsel der Troika]

Der Euro-Gipfel betont erneut, dass die Umsetzung von zentraler Bedeutung ist, und begrüßt in diesem Zusammenhang die Absicht der griechischen Regierung, bis zum 20. Juli 2015 ein Hilfeersuchen um technische Unterstützung an die Institutionen und die Mitgliedstaaten zu richten, und er ersucht die Europäische Kommission, diese Unterstützung durch Europa zu koordinieren;

Die griechische Regierung wird mit Ausnahme des Gesetzes über die humanitäre Krise die Rechtsvorschriften überprüfen, um die Rechtsvorschriften zu ändern, die im Widerspruch zu der Vereinbarung vom 20. Februar eingeführt wurden und Rückschritte gegenüber früheren Programmauflagen darstellen, oder sie wird klare Ausgleichsäquivalente für die erworbenen Rechte ermitteln, die im Nachhinein geschaffen wurden.

[d.h. zusätzlich zu der Aussicht, nicht länger gesetzgeberisch unabhängig zu sein, muss die
griechische Regierung rückwirkend alle Gesetze annullieren, die sie während der vergangenen fünf Monate verabschiedet hat
]

Die oben aufgeführten Verpflichtungen sind Mindestanforderungen für die Aufnahme der Verhandlungen mit der griechischen Regierung. Der Euro-Gipfel hat jedoch unmissverständlich klargestellt, dass die Aufnahme von Verhandlungen einer etwaigen endgültigen Vereinbarung über ein neues ESM-Programm, das in jedem Fall auf einen Beschluss über das Gesamtpaket (einschließlich des Finanzierungsbedarfs, der Schuldentragfähigkeit und einer etwaigen Überbrückungsfinanzierung) gestützt sein muss, keinesfalls vorgreift.

[d.h. Selbstzerfleischung: Lege einer von Sparpolitik zerquetschten Volkswirtschaft weitere Sparmaßnahmen
auf – wir werden schon sehen, ob die Eurogruppe Dich mit weiteren schädlichen, nicht bezahlbaren Krediten begräbt]

Der Euro-Gipfel nimmt zur Kenntnis, dass nach Einschätzung der Institutionen der mögliche Programmfinanzierungsbedarf zwischen 82 und 86 Mrd. EUR beträgt.[d.h. die Eurogruppe beschwört riesige Zahlen, die weit über dem liegen, was nötig wäre, um zu signalisieren, dass die Fesselung an die Schulden niemals enden wird]

Er ersucht die Institutionen, Möglichkeiten einer Verringerung des Finanzierungsrahmens – durch einen alternativen Konsolidierungspfad oder höhere Einnahmen aus Privatisierungen – zu prüfen.

[d.h. Ja, es könnte sein, dass Schweine fliegen]

Die Wiederherstellung des Marktzugangs, die Ziel eines jeden Finanzhilfeprogramms ist, verringert die Notwendigkeit einer Inanspruchnahme des gesamten Finanzrahmens.

[d.h. das werden die Gläubiger tunlichst vermeiden, z.B. dadurch, dass Griechenland erst 2018 in den Genuss des Anleihenaufkauf-Programmes der EZB kommt, um die Zinsen zu senken, zu einem Zeitpunkt also, wenn dieses Anleihenaufkauf-Programm nicht mehr existiert]

Der Euro-Gipfel nimmt Kenntnis vom dringenden Finanzierungsbedarf Griechenlands, der verdeutlicht, dass äußerst zügig Fortschritte im Hinblick auf einen Beschluss über eine neue Vereinbarung erzielt werden müssen: Dieser Finanzierungsbedarf wird auf einen Betrag von 7 Mrd. EUR bis zum 20. Juli und auf einen weiteren Betrag von 5 Mrd. EUR bis Mitte August veranschlagt.

[d.h. »Erweitern und Vortäuschen« bekommt eine weitere Bedeutung]

Der Euro-Gipfel stellt fest, wie wichtig es ist, dass der griechische Staat seine Zahlungsrückstände gegenüber dem IWF und der Bank von Griechenland ausgleichen und in den kommenden Wochen seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen kann, um die Voraussetzungen für einen ordnungsgemäßen Abschluss der Verhandlungen zu schaffen. Das Risiko eines nicht zügigen Abschlusses der Verhandlungen liegt vollständig bei Griechenland.

[d.h. einmal mehr wird verlangt, dass das Opfer an Stelle des Täters die Schuld auf sich lädt]

Der Euro-Gipfel ersucht die Euro-Gruppe, diese Aspekte vordringlich zu erörtern.

In Anbetracht der akuten Herausforderungen, mit denen der griechische Finanzsektor konfrontiert ist, müsste der Gesamtrahmen eines etwaigen neuen ESM-Programms die Schaffung eines Puffers von 10 bis 25 Mrd. EUR für den Bankensektor umfassen, um einen potenziellen Bankenrekapitalisierungsbedarf und etwaige Bankenabwicklungskosten zu decken, wovon 10 Mrd. EUR unmittelbar über ein Sonderkonto beim ESM bereitgestellt würden.

[d.h. die Troika gibt zu, dass die 2013 und 2014 erfolgten Rekapitalisierungen der Banken im Umfang von höchsten zehn Milliarden Euro nicht ausreichte. Aber natürlich wird die Schuld dafür nun auf die SYRIZA-Regierung abgewälzt]

Der Euro-Gipfel ist sich bewusst, dass eine rasche Entscheidung über ein neues Programm eine Voraussetzung dafür ist, dass die Banken wieder öffnen können und somit eine Erhöhung des Gesamtfinanzierungsrahmens vermieden wird.

[d.h. die Troika machte die griechischen Banken zu, um die SYRIZA-Regierung zum Kapitulieren zu zwingen – und schreit jetzt nach ihrer Wiedereröffnung]

Die EZB/der SSM wird nach dem Sommer eine umfassende Bewertung vornehmen. Der Gesamtpuffer wird Vorkehrungen für eine mögliche Kapitalknappheit im Anschluss an die umfassende Bewertung nach der Anwendung des Rechtsrahmens einschließen.

Es bestehen ernste Bedenken hinsichtlich der Tragfähigkeit der griechischen Schulden.

[Alle Achtung: Wirklich? Meine Güte!]

Dies ist auf eine Lockerung der politischen Maßnahmen in den letzten zwölf Monaten zurückzuführen, die zu der jüngsten Verschlechterung des makroökonomischen und finanziellen Umfelds im Inland geführt hat.

[d.h. nicht die »Rettungs«-Kredite und die Austeritäts-Auflagen von 2010 und 2012 haben die Wirtschaft nach unten gezogen und die Schulden in immense Höhen aufgetürmt – sondern es soll die Regierung gewesen sein, die diese »Rettungs«-Politik deshalb kritisierte, weil sie dazu führte, dass die Schulden niemals zurückzahlbar sind]

Der Euro-Gipfel weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Reihe von Maßnahmen zur Unterstützung der Schuldentragfähigkeit Griechenlands getroffen haben, die den Schuldentilgungspfad Griechenlands erleichtert und die Kosten erheblich verringert haben.

[d.h. das erste und das zweite »Rettungs«-Programm scheiterten und die Schulden explodierten. Das war die ganze Zeit absehbar, ebenso, dass es das eigentliche Ziel der »Rettungs«-Programme war, die Velruste von Banken auf Europas Steuerzahler abzuwälzen]

Vor diesem Hintergrund ist die Euro-Gruppe bereit, im Zusammenhang mit einem möglichen künftigen ESM-Programm und im Geiste der Erklärung der Euro-Gruppe vom November 2012

[d.h. das Versprechen zur Schuldenumstrukturierung gegenüber der früheren griechischen Regierung wurde von den Gläubigern nie eingehalten]

erforderlichenfalls mögliche zusätzliche Maßnahmen (möglicher längerer Tilgungsaufschub und mögliche längere Zurückzahlungsfristen) zu erwägen, um sicherzustellen, dass der Bruttofinanzierungsbedarf auf einem tragfähigen Niveau bleibt. Diese Maßnahmen hängen davon ab, dass die in einem etwaigen neuen Programm festzulegenden Maßnahmen vollständig umgesetzt werden, und sie werden nach einem ersten positiven Abschluss der Überprüfung in Betracht gezogen.

[d.h. nochmals: Die Troika zwingt die griechische Regierung, unter der Last unbezahlbarer Schulden weiterzuarbeiten. Wenn – als Resultat hieraus – das Programm scheitert, steigt die Armut weiter und die Einkommen brechen weiter ein, statt einen Teil der Schulden zu erlassen – wie es die Troika 2012 getan hat]

Der Euro-Gipfel betont, dass ein nominaler Schuldenschnitt nicht durchgeführt werden kann.

[Übrigens: Die SYRIZA-Regierung hat, und zwar seit Januar, eine moderate Schuldenumstrukturierung ohne Schuldenschnitt vorgeschlagen, um die erwartbaren Nettowerte der griechischen Rückzahlungen an die Gläubiger zu erhöhen. Dies wurde von der Troika abgelehnt, weil ihr Ziel lediglich darin bestand, SYRIZA zu demütigen.]

Die griechische Regierung erneuert ihre unabänderliche Zusage, dass sie allen ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber allen ihren Gläubigern vollständig und rechtzeitig nachkommt.

[Was übrigens nur nach einer substanziellen Schuldenumstrukturierung geschehen könnte.]

Sofern alle in diesem Dokument aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind, können die Euro-Gruppe und der ESM-Gouverneursrat gemäß Artikel 13 Absatz 2 des ESM-Vertrags die Institutionen beauftragen, ein neues ESM-Programm auszuhandeln, falls die Voraussetzungen nach Artikel 13 des ESM-Vertrags auf der Grundlage der in Artikel 13 Absatz 1 genannten Bewertung erfüllt sind.

Zur Unterstützung von Wachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen in Griechenland (in den kommenden 3 bis 5 Jahren)

[Wohlgemerkt: Während man in den vergangenen fünf Jahre bereits Wachstum und Jobs zerstört hat
…]

wird die Kommission eng mit der griechischen Regierung zusammenarbeiten, um bis zu 35 Mrd. EUR (im Rahmen verschiedener Programme der EU) zur Finanzierung von Investitionen und der Wirtschaftstätigkeit, einschließlich von KMU, zu mobilisieren.

[d.h. Es geht um die dieselben Strukturfonds plus etwas Fantasiegeld, die auch schon 2010 bis 2014 zur Verfügung standen]

Die Kommission wird als eine Ausnahmemaßnahme aufgrund der einzigartigen Lage Griechenlands den Gesetzgebungsorganen der EU vorschlagen, die Höhe der Vorfinanzierung um 1 Mrd. EUR aufzustocken, um einen sofortigen Anschub für Investitionen zu geben.

[d.h. Von den 35 Milliarden Euro, die jetzt Schlagzeilen machen, ist nur eine Milliarde echtes Geld]

Auch der Investitionsplan für Europa wird Finanzierungsmöglichkeiten für Griechenland vorsehen.

[d.h. es ist derselbe Plan, den die meisten Euro-Finanzminister ein Phantomprogramm nennen]

Jochen

Zum Jahresabschluss eine Erinnerung: Wie Horst Köhler und Thilo Sarrazin den DDR-Anschluß ausbrüteten

Aus einer Buchbesprechung in der jungen Welt:

https://www.jungewelt.de/2014/09-26/053.php?sstr=K%F6hler%7CSarrazin

Der Hamburger Publizist Otto Köhler veröffentlichte 2011 im Verlag Das Neue Berlin eine Neuauflage seines 1994 erschienenen Buches »Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte«. Das hinzugefügte erste Kapitel befaßt sich mit dem Anteil Horst Köhlers, 1990 Staatssekretär im Bonner Finanzministerium, und seines Fachreferenten Thilo Sarrazin am Entwurf der Währungsunion mit der DDR. Ein Auszug:

Abriss_Stralsund2008Seit neun Wochen ist die Mauer auf, alles ist vorbereitet, jetzt fällt die Entscheidung. In Bonn läßt der Bundesminister der Finanzen Theo Waigel seinen Vertrauten Horst Köhler zu sich kommen. Keiner sagt ein Wort, sie sprechen nur mit den Augen. Bis schließlich der Minister den Mund öffnet und Köhler anweist: »Kobra, übernehmen Sie!«

Darauf hat Köhler seit zwei Monaten gewartet, vorbereitet ist er längst. 1989 war er noch Leiter der Abteilung »Geld und Kredit«, seit Jahresbeginn 1990 ist er beamteter Staatssekretär im Finanzministerium. Mit seinem Team, wie man solche Leute heute nennt, hat er alles sorgfältig ausgearbeitet. 

Dies hat Kobra Köhler selbst so bezeugt in einem Beitrag für das viel zu wenig bekannte Buch, das Waigel noch während seiner Ministerzeit herausgab und das die Aufschrift trägt: »Tage, die Deutschland und die Welt veränderten«. (…)

Am 29. Januar 1990 war Köhlers Auftrag erfüllt, und Sarrazin hatte einen Plan vorgelegt, die DDR schleunigst in den Machtbereich der D-Mark einzugliedern. (…) Der künftige Autor von »Deutschland schafft sich ab«: »Mit der schlagartigen Einbeziehung der DDR-Wirtschaft in den D-Mark-Wirtschafts- und Währungsraum gewinnt der Reformprozeß eine neue, gänzlich anders geartete Qualität: Die Hirn zermarternden, fast unlösbaren Fragen, wie in einem planwirtschaftlichen System zügig und ohne zu große soziale Kosten ein funktionierendes Preissystem, Wettbewerb, ein funktionierender Kapitalmarkt verwirklicht werden können, lösen sich in ein Nichts auf, denn mit dem Tage der Umstellung ist dies alles da.«

Treuhand_LogoUOder alles weg, in den Händen der Treuhand und ihrer Komplizen geschmolzen. (…) Arbeitslosigkeit etwa: Sie war in dem von Köhler in Auftrag gegebenen und gebilligten Sarrazin-Papier für den Osten fest eingeplant.