Eine progressive Vision nationaler Souveränität für die Europäer ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein recht ausführlicher und ehrlicher Artikel von Thomas Fazi auf dem Makroskop:
https://makroskop.eu/2017/06/eine-progressive-vision-nationaler-souveraenitaet/
speziell in der Vorbereitung des Linken-Parteitags.
Dem Text fehlt aber noch viel konkretes „Fleisch“, das von alternativ denkenden Oekonomen erarbeitet werden müsste, ebenso die psychologische Begleitung mit der Zielsetzung, daraus auch eine Begeisterungsfähigkeit für diese Vision zu entwickeln, wie sie unter Willy Brandt noch spürbar war und auf deren Mangel u.a. A.Müller ständig hinweist.

Auch ich bin noch in einem inneren Diskussionsprozess, prinzipiell überzeugter Europäer und zerrissen bei der Frage, ob ich mir eine Regierungsbeteiligung der Linken wünschen soll oder lieber eine ausgedünnte Opposizion gegenüber einer neuen GroKo.
Hier Auszüge:

Eine progressive Vision nationaler Souveränität

Von Thomas Fazi

Die Meinung, dass nationale Souveränität mit rechtsgerichtetem Gedankengut einhergeht, hat bei vielen Linken den Status eines Dogmas und verhindert, das Thema als Antrieb für einen progressiven gesellschaftlichen Wandel zu nutzen.

In den letzten 12 Monaten hat eine Bewegung gegen das Establishment den Westen im Sturm erobert. Dazu zählt das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Wahl Donald Trumps in den USA, die Ablehnung Matteo Renzis konstitutioneller Reform in Italien, der wachsende Zuspruch für den Front National in Frankreich und anderer hauptsächlich rechter Parteien in ganz Europa. Auch wenn hinter diesen Phänomenen unterschiedliche Ideologien und Ziele stehen, sind sie alle als Ablehnung der (neo-)liberalen Ordnung zu interpretieren.

Obwohl die unmittelbaren Ursachen dieser Phänomene offensichtlich sind – sinkender Lebensstandard, wachsende soziale Ungleichheit, Angst vor Migranten usw. –, hat die derzeitige Krise viel tiefer gehende Wurzeln, die bis in die 70er Jahre zurückreichen; in die Zeit, als das fordistisch-keynesianische Modell der Nachkriegszeit – welches die Grundlage für ein 30-jähriges wirtschaftliches Wachstum bildete – in eine tiefe strukturelle Krise rutschte.
Damit wurde der Weg für ein grundlegend anderes Sozial- und Wirtschaftsmodell geebnet, das sich durch die folgenden Charakteristika auszeichnet: Handelsliberalisierung und Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, Lohnzurückhaltung, Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierung staatlicher Unternehmen und fiskalischer Einsparungen. In einem Wort: Neoliberalismus.

Diese „Gegenrevolution“ wurde durch die regierenden Eliten initiert, um die Macht ihrer Klasse wiederherzustellen, die aufgrund der wachsenden Forderungen organisierter Arbeitnehmer und radikaler sozialer Bewegungen extrem geschwächt wurde [1].
Der Erfolg dieser Gegenrevolution manifestierte sich in einem dramatischen Absinken des Anteils der Gehälter am Nationaleinkommen und somit der Kaufkraft der Arbeiterschaft [2].
Paradoxerweise droht dieser Erfolg das Ziel dieser Politik zunichte zu machen: Die Profitmaximierung. Denn Profite können nur erzielt werden, wenn ausreichend effektive Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen besteht – und dabei spielt die Lohnhöhe eine entscheidende Rolle.

Finanzialisierung

Die Antwort des Kapitalismus auf die Widersprüche des neoliberalen Politikmodells war die Finanzialisierung und der schuldenbasierte Konsum. Haushalte, die mit stagnierenden Löhnen und sinkender Kaufkraft konfrontiert waren, wurden dazu ermutigt, immer mehr Geld zu leihen, um die Differenz zwischen Einkommen und Ausgaben wettzumachen.
Das führte zu einem kolossalen Anstieg privater Schulden, speziell in den USA, aber auch in vielen europäischen Ländern.

Diese Form des „privatisierten Keynesianismus“ war zusätzlicher Treibstoff für die Entwicklung von Kreditblasen, die schließlich 2008 platzen. Sie erlaubte zudem einem winzigen Teil der Weltbevölkerung, immer mehr Vermögen anzuhäufen. Das alles geschah ohne nennenswerten Widerstand der „unteren Klassen“.
Diese waren durch wirkungsvolle neoliberale Diskurse eingeschläfert, die die liberalisierende Dynamik des „freien Marktes“ (vom Garagenerfinder à la Steve Jobs beispielhaft illustriert) gegen den verkrusteten und ineffizienten Staat (vom Papierschieber des Staates beispielhaft illustriert) in Stellung brachten.

Mit der Finanzialisierung war es möglich, die zur Stagnation beitragenden Effekte der neoliberalen Politik der Profitmaximierung vorübergehend hinaus zu schieben, führte aber dazu, dass dieses Akkumulationsregime 2007/2009 in Flammen aufging. Es lodert bis heute, da der Berg an Schulden, der in den vorhergehenden Jahrzehnten angehäuft wurde, krachend von der Decke ins Wohnzimmer fiel und die Weltwirtschaft einzuschmelzen drohte.

Zwar konnten die westlichen Regierungen einen GAU vermeiden und (für gewisse Zeit) die aus der Finanzkrise resultierenden negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen in Grenzen halten, indem sie – mit noch mehr Nachdruck – die Finanzialisierung erneut als Hauptmotor der Wirtschaft einsetzten.
Doch es half nicht, die wirtschaftliche Stagnation in vielen entwickelten Volkswirtschaften zu überwinden.

Der schuldenbasierte Konsum stand jetzt aufgrund der „Liquiditätsfalle“ und dem Schuldenabbau des Privatsektors nach der Krise nicht länger als Quelle autonomer Nachfrage zur Verfügung. Eine angemessene Gesamtnachfrage mittels lohnbasiertem Konsum lässt sich unter der derzeitigen Politik nicht aufrechterhalten – denn wie erwähnt sank die Kaufkraft der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten. In diesem Sinne sollte die derzeitige Stagnation als Folge der langen Krise gesehen werden, die bereits in den 70er Jahren ihren Anfang nahm.

Indes verschlimmert(e) sich die Situation nach der Krise weiter. Eine Reihe von westlichen Staaten sahen mit der Finanzkrise die Chance, einen noch radikaleren neoliberalen Kurs einzuschlagen.
Politische Maßnahmen wie die fiskalische Austeritätspolitik und Lohndeflation gereichten den Reichen und dem Finanzsektor zum Vorteil – und zum Nachteil aller anderen.

Kapitalisierung von Unzufriedenheit

Inmitten wachsender Unzufriedenheit, sozialer Unruhe und Massenarbeitslosigkeit (in verschiedenen europäischen Ländern), reagierten die politischen Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks mit business-as-usual-Politik und -Diskursen.
Als Folge ist das soziale Verhältnis zwischen Bürgern und Regierungen angespannter als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. In einigen Ländern wurde das Verhältnis bereits zerstört, wie eine Reihe von „Protestwahlen“ in diversen Ländern bezeugen. Der Protest richtete sich dabei, trotz der unterschiedlichen Umstände, unter denen diese Wahlen stattfanden, immer gegen den gleichen „Gegner“: Globalisierung, Neoliberalismus und das politische Establishment, welches die beiden Doktrinen befördert hat.

Viele sehen diese neonationalistische, gegen die Globalisierung und das Establishment gerichtete Revolte als Ankündigung des Endes der (neo-)liberalen Ära und das Einläuten einer neuen globalen Ordnung. Insbesondere Trump hat mit der Ankündigung und Implementierung „protektionistischer Maßnahmen“ Politiker und Kommentatoren weltweit in Alarmbereitschaft versetzt.

Doch ohne den symbolischen und ideologischen Wert dieser Entscheidungen kleinreden zu wollen, war die Globalisierung bereits weit vor der Wahl Trumps in Schwierigkeiten. Seit 2011 wuchs der Welthandel signifikant geringer als das globale BIP. Und mittlerweile sinkt er sogar, obwohl die Weltwirtschaft – wenn auch nur im Schneckentempo – wächst.
Die globalen Finanzströme haben seit dem Höchstwert kurz vor der Krise um 60% abgenommen.

In diesem Sinne sind der Wahlsieg Trumps, der Brexit und der Aufstieg populistischer Parteien „nur Begleiterscheinungen bedeutsamer Verschiebungen in der globalen Volkswirtschaft und internationaler geopolitischer Anpassungen, die seit den 70er Jahren stattfinden“, wie Vassilis K. Fouskas und Bulent Gokay analysieren. Und zwar:

  • die Krise des neoliberalen Wirtschaftsmodells und der neoliberalen Ideologie, die nicht länger in der Lage ist, die immanenten stagnierenden und polarisierenden Tendenzen zu überwinden und gesellschaftlichen Konsens bzw. eine gesellschaftliche Vormachtstellung (in materiellem bzw. ideologischem Sinne) herbeizuführen. Darüber hinaus ziehen selbst die Unterstützer des Neoliberalismus immer weniger Nutzen aus ihm.
  • die Krise der Globalisierung, die nicht länger dem erbarmungslosen Druck der Überakkumulation und Überproduktion entrinnen kann, die vor allem der verstärkten Konkurrenz aus Ländern wie China geschuldet ist (die wiederum mit der eigenen Überakkumulation zu kämpfen hat);
  • die ökologische Krise, d.h. Grenzen hinsichtlich der Energieversorgung und Versorgung mit anderen biophysischen Ressourcen, die den wirtschaftlichen Prozess am Laufen halten und auf dessen Funktionalität Einfluss haben;
  • die Vorherrschaftskrise der USA, die nicht länger in der Lage sind, einseitig die globale neoliberale Ordnung durchzusetzen, weder durch weiche Macht (d.h. durch pro-westliche multilaterale Institutionen wie dem IWF und der Weltbank) wie während der 90er Jahre, noch durch harte Macht (d.h. mit reiner militärische Stärke) wie in den frühen 2000er Jahren – was sich vor allem durch den (bisher) fehlgeschlagenen Versuch des Westens, Assad in Syrien zu stürzen, zeigt. Trumps unnachgiebige Haltung bezüglich Chinas und anderer Überschussländer (wie Deutschland), die er der Währungsmanipulation bezichtigt, und seine Pläne zur „Wiederverstaatlichung“ der US-Wirtschaftspolitik sollten daher im Kontext mit dem sich abzeichnenden Kollaps der neoliberalen Ordnung verstanden werden.

Wovon wir Zeuge werden, ist nicht das Ende der Globalisierung. Sie wird weitergehen, auch wenn sie höchstwahrscheinlich durch verstärkte Spannungsfelder zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des internationalen Kapitals und einer Kombination aus Protektionismus und Internationalisierung gekennzeichnet sein wird. Was wir erleben, ist eher die Geburt einer post-neoliberalen Ordnung.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie diese Ordnung aussehen wird. Bisher liegt keine neue kohärente Ideologie oder kein neues Akkumulationsregime auf der Lauer, um den Neoliberalismus zu ersetzen.

Antonio Gramsci beschrieb organische Krisen, wie die, die wir gerade erleben, treffend als Situationen, in denen „das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann“. „In dieser herrscherlosen Phase“, so Gramsci, ist es nicht selten, dass „eine große Vielfalt an Krankheitssymptomen“ – so wie die, die ich oben geschildert habe – in Erscheinung treten.

Was diese „Krankheitssymptome“ als dominante Reaktion auf den Neoliberalismus und die Globalisierung hervorgerufen hat, ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass die Kräfte des rechten Lagers den Unmut der Massen, die aufgrund des vierzigjährigen neoliberalen Klassenkampfs von Oben entrechtet, an den Rand gedrängt, verarmt und enteignet wurden, viel effektiver als die linken bzw. progressiven Kräfte aufgegriffen haben.

Letztendlich waren sie die einzigen Kräfte, die eine (mehr oder weniger) schlüssige Antwort auf das weitverbreitete – und wachsende – Verlangen nach mehr territorialer und nationaler Souveränität liefern konnten. Denn dies wird zunehmend als der einzige Weg gesehen, um einen gewissen Grad an kollektiver Kontrolle über Politik und Gesellschaft – in Abwesenheit effektiver supranationaler Mechanismen der Repräsentativität – zurückzuerlangen.

Da der Neoliberalismus einen Krieg gegen die nationale Souveränität führt, sollte es nicht verwundern, dass „Souveränität das Grundgerüst zeitgenössischer Politik darstellt“, wie Paolo Gerbaudo anmerkt. Denn letzten Endes war das Aushöhlen der nationalen Souveränität und die Beschneidung gängiger demokratischer Mechanismen – was auch als Entpolitisierung definiert wurde – das essentielle Element des neoliberalen Projekts. Es zielte darauf, makroökonomische Politik von populären Streitfragen abzuschirmen und jegliche Hindernisse, die dem wirtschaftlichen Austausch und den Finanzströmen in den Weg gelegt wurden, zu beseitigen.

Laut Stephen Grills haben Neoliberalismus und Globalisierung somit nicht dazu geführt, dass – wie viele linke Studien behaupten – sich der Staat gegenüber dem Markt zurückgezogen hat. Eher hat er sich umgestaltet, um die Befehlsgewalt über die Wirtschaftspolitik „in die Hände des Kapitals und primär die der finanziellen Interessen“ zu legen.
Aufgrund der schädlichen Effekte der Entpolitisierung ist es nur normal, dass der Aufstand gegen den Neoliberalismus zuallererst in Form von Forderungen nach einer Repolitisierung des nationalen Willensbildungsprozesses erfolgen muss.

Rückgewinnung von nationaler Souveränität

Dass die Vision von nationaler Souveränität, welche im Zentrum der Kampagnen um Trump und den Brexit stand und derzeit den öffentlichen Diskurs dominiert, als reaktionär und quasi-faschistisch bezeichnet werden kann,[3] sollte kein Argument gegen das Konzept der nationalen Souveränität sein.
Die Geschichte zeigt, dass nationale Souveränität und Selbstbestimmung keine reaktionären oder chauvinistischen Konzepte sind. Tatsache ist, dass diese Konzepte den Kämpfen unzähliger Sozialisten und linker Freiheitsbewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts Ziele vorgaben.

Selbst wenn wir unsere Analyse auf die Kernländer des Kapitalismus beschränken, ist es offensichtlich, dass nahezu alle großen sozialen, ökonomischen und politische Fortschritte der letzten Jahrhunderte den Institutionen des demokratischen Nationalstaats zu verdanken sind und nicht den internationalen, multilateralen oder supranationalen Institutionen. In Wirklichkeit werden letztere in einer Vielzahl von Fällen genutzt, um gerade diese Fortschritte rückgängig zu machen.

Am besten lässt sich das im Kontext der Eurokrise beobachten. Supranationale Institutionen (die größtenteils niemandem Rechenschaft schuldig sind) wie die Europäische Kommission, die Eurogruppe und die EZB haben ihre Macht und Autorität genutzt, um einschneidende Austeritätsmaßnahmen gegen in Not geratene Länder zu verhängen. Das Problem, um es kurz zu sagen, ist nicht die nationale Souveränität, sondern der Umstand, dass das Konzept in den letzten Jahren größtenteils von den Rechten und Rechtsextremen für sich in Anspruch genommen wurde. Diese Gruppierungen sehen es als einen Weg, ihre ausländerfeindliche und identitäre Agenda durchzudrücken.

Warum also war es dem Mainstream der Linken nicht möglich, eine alternative, progressive Sicht auf die nationale Souveränität als Antwort auf die neoliberale Globalisierung zu entwickeln?

Die Antwort lautet, dass im Verlauf der letzten dreißig Jahre der Großteil der Linken das falsche Narrativ akzeptiert haben. Nämlich, dass Nationalstaaten im Wesentlichen durch den Neoliberalismus und/oder die Globalisierung überflüssig gemacht worden seien und daher bedeutsame Veränderungen nur auf internationaler/supranationaler Ebene herbeigeführt werden könnten. Übersehen wird, dass diese Entwicklungen hauptsächlich vom Staat selbst herbeigeführt wurden.

Hinzu kommt, dass die meisten Linken mittlerweile den makroökonomischen Mythen Glauben schenken, die das neoliberale Establishment nutzt, um den Staat davon abzuhalten von seiner fiskalischen Kapazität Gebrauch zu machen.
Beispielsweise wurde fraglos die sogenannten Haushaltsbudget-Analogie akzeptiert: Regierungen, die eine eigene Währung ausgeben, sind demnach genauso wie Haushalte in ihrem finanziellen Spielraum beschränkt; fiskalische Defizite führen zu Schulden, die die kommenden Generationen belasten.

Von dieser Analogie wird in der europäischen Debatte erfolgreich Gebrauch gemacht. Trotz der desaströsen Effekte der institutionellen Ausgestaltung der EU und der Währungsunion klammern sich die Mainstream-Linken weiterhin an diese Institutionen.
Sie glauben, dass diese in eine progressive Richtung reformiert werden können – ungeachtet der Faktenlage, die das Gegenteil beweist.
Zudem lehnen sie jegliche Diskussion über eine progressive Agenda auf Grundlage einer wiederhergestellten nationalen Souveränität ab.
Ein „Rückzug auf nationalistisches Terrain“ würde den Kontinent zwangsläufig mit einem Faschismus wie in den 30er Jahren überziehen, so die Überzeugung.

Damit überlässt man das weitläufige politische Schlachtfeld im Kampf gegen den Neoliberalismus dem rechten Lager bzw. den Rechtsextremen. Wenn progressiver Wandel nur auf globaler oder europäischer Ebene herbeigeführt werden könnte, bleibt den Wählern nur die Wahl zwischen reaktionärem Nationalismus und progressiver Globalisierung. Die Linke hätte den Kampf dann bereits verloren.

Das muss aber nicht so sein. Eine progressive, emanzipierte Vision von nationaler Souveränität, die eine ernsthafte Alternative zu den Rechten und den Neoliberalen darstellt, ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Sie basiert auf der Volkssouveränität, der demokratischen Kontrolle über die Wirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung von reich zu arm, Inklusion und gewissermaßen der sozioökologischen Transformation der Produktion und Gesellschaft.

Das alles muss auch nicht auf Kosten der europäischen Kooperation gehen. Ganz im Gegenteil: Die Fakten belegen, dass die schraubstockartige Umklammerung durch die Eurozone die nutzstiftenden Aspekte in Gefahr bringt, die mit der Gründung der Europäischen Union einhergegangen sind.
Demonstriert wurde das unlängst durch die Reaktion Europas auf die Flüchtlingskrise. Diese Umklammerung führt zu einer Verschärfung zwischeneuropäischer Divergenzen und zu weitreichender sozialer Verwüstung. Sie schürt nationale Ressentiments, wie man sie seit der Nachkriegszeit nicht mehr gesehen hat.
Der wahre Wert des Europäischen Projekts besteht in seiner Fähigkeit, multilaterale Kooperationen hinsichtlich von Problemen wie der Immigration, dem Klimawandel, dem Menschenhandel, die einzelne Nationen alleine nicht lösen können, in Gang zu bringen und zu koordinieren.

Wenn man die monetären und fiskalischen Werkzeuge, die man zur Sicherstellung des Wohls der eigenen Bürger benötigt, den nationalen Regierungen wieder zurückgeben würde, wäre diese Art der Kooperation nicht untergraben.
Im Gegenteil: Es würde die Basis für ein erneuertes Europäisches Projekt – und im allgemeineren Sinne für eine neue international(istisch)e Weltordnung – legen, die auf der multilateralen Kooperation zwischen souveränen Staaten basiert.

Der Artikel erschien in englischer Sprache ursprünglich im Green European Journal und wird hier in leicht gekürzter und deutscher Fassung mit Zustimmung des Autors nachgedruckt.

Christoph Butterwegges Notizen über Neoliberalismus, Sozialstaatsentwicklung und Armut

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

butterwegge2016

Ein langer Text, der sich zu lesen lohnt:
https://www.jungewelt.de/2016/07-26/055.php
Auszüge:

Oben – unten

Die soziale Ungleichheit in diesem Land wächst.

Mit dem Bankrott der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 wurde die Finanzkrise für alle Welt sichtbar und vielen Menschen schlagartig klar, dass die Liberalisierung der Märkte, die Deregulierung des Bankwesens und die Privatisierung öffentlichen Eigentums das Desaster vergrößert, wenn nicht gar verursacht hatten. Allerdings trat kein nachhaltiger Bewusstseinswandel ein, infolgedessen die neoliberale Hegemonie erschüttert sowie die daraus resultierende Asymmetrie der Einkommens- und Vermögensverteilung einschließlich der Gefahr für die Demokratie beendet worden wäre.

Beschönigen, beschwichtigen

Versagt haben nicht bloß die Banken, das Spitzenmanagement und ihre politischen Kontrolleure in Regierung und Verwaltung, sondern auch die Massenmedien, weil deren Repräsentanten damit verquickt und fast ausnahmslos von der neoliberalen Pseudophilosophie und der offiziösen Marktmythologie beseelt sind.
Hatten sie die neoliberale Theorie und Terminologie jahrelang kritiklos übernommen, begingen manche Medien jetzt den Fehler, sie für ein bloßes Fossil, ein ideologisches Relikt der Zeit vor dem Kriseneinbruch zu halten und gar nicht mehr ernst zu nehmen.

Dass bürgerliche Journale, ja selbst manche Boulevardzeitungen und große Nachrichtenmagazine unmittelbar nach Ausbruch der Finanzmarktkrise wieder das Wort »Kapitalismus« verwendeten, nachdem sie es jahrzehntelang wie der Teufel das Weihwasser gemieden und meistenteils durch »Soziale Marktwirtschaft«, den neoliberalen Kosenamen für dieses System, ersetzt hatten, war ein nicht zu unterschätzender semantischer Erfolg für die seit Jahrzehnten schwächelnde Linke. Zwar gelang ihr keine Entmythologisierung des Marktes, aber immerhin eine bis heute anhaltende Enttabuisierung des Kapitalismusbegriffs.
Vor der Banken- und Finanzmarktkrise wäre es überhaupt nicht denkbar gewesen, dass die führende Lokalzeitung einer westdeutschen Metropole mit dem Zitat »Den Kapitalismus bändigen« aufgemacht hätte, wie das der Kölner Stadt-Anzeiger am 10. März 2010 tat, als er über ein von ihm veranstaltetes Lesergespräch mit den beiden Unionspolitikern Jürgen Rüttgers und Horst Seehofer berichtete.

Die meisten Debattenbeiträge zu möglichen Krisenursachen blieben an der Oberfläche, statt bis zu den Wurzeln der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise vorzustoßen. Wenn die globale Finanz- und Wirtschaftskrise nicht einfach ignoriert oder in ihrer zentralen Bedeutung für das gesellschaftliche Leben relativiert wird, begreift man sie meistens entweder als eine Art Naturkatastrophe, die wie eine Sturmflut über die Weltwirtschaft hinweggefegt ist, oder als Folge des Versagens einzelner Personen, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, sondern der »Verlockung des Geldes« erlegen waren.
In diesem Zusammenhang wurden vor allem der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Gier der Boni kassierenden Investmentbanker und der Börsenspekulanten sowie der Geiz von Großinvestoren für die Misere verantwortlich gemacht.

Durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich zweifellos noch vertieft. Reich(er) geworden ist, wer mit dubiosen Finanzprodukten (Derivaten, Zertifikaten usw.) gehandelt, auf den internationalen Kapitalmärkten mit hohem Risiko investiert und erfolgreich an den Börsen spekuliert hat. Dagegen gehören Millionen (Langzeit-)Erwerbslose, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senioren und Migranten zu den Krisenverlierern. Ein verteilungspolitischer Paternostereffekt bewirkt, dass Kapitalanleger, Finanzjongleure und Spekulanten nach oben gelangen, während ein wachsender Teil der Mittelschicht befürchten muss, abwärts zu fahren und künftig der Unterschicht anzugehören.
Längst haben wir uns an Schlagzeilen wie »Arm im Alter. So viele Rentner wie nie zuvor sind auf die staatliche Grundsicherung angewiesen« oder »Jedem sechsten Deutschen droht Armut« einerseits und »Superreiche werden noch reicher« oder »Immer mehr Millionäre in Deutschland« andererseits gewöhnt. Denn gravierende soziale Ungleichheit, von vielen Deutschen eher in Ländern wie den USA, Brasilien oder Kolumbien verortet, hat mittlerweile auch die Bundesrepublik erfasst.

Zwar ist soziale Ungleichheit aufgrund des bei Unternehmern und Aktionären konzentrierten Privateigentums an Produktionsmitteln und der weitgehenden Mittellosigkeit vieler Arbeitskraftbesitzer für kapitalistische Industriegesellschaften seit jeher konstitutiv. Durch den Globalisierungsprozess, seine Gestaltung und ideologische Rechtfertigung durch den Neoliberalismus, die Vereinigung von DDR und BRD sowie neuere ökonomische Krisenprozesse (globale Finanzmarkt-, Weltwirtschafts- und europäische Währungskrise) hat sie aber in Deutschland seit der Jahrtausendwende drastisch zugenommen. Verantwortlich dafür war die Prekarisierung.
Während die »rot-grünen« Rentenreformen auf eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge hinausliefen und zur finanziellen Entlastung der »Arbeitgeber« (Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten) sowie zur Absenkung des Sicherungsniveaus (von damals 53 Prozent vor Steuern auf etwa 43 Prozent vor Steuern im Jahr 2030) führten, trugen die sogenannten Hartz-Gesetze, besonders deren viertes, erheblich zu einer Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse bei. Der ausufernde Niedriglohnsektor, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig ist, ist zum Haupteinfallstor für Erwerbs- und spätere Altersarmut geworden.

Heute ist das Problem wachsender Ungleichheit in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht die Kardinalfrage der Gesellschaftsentwicklung. Um die neue Qualität der gesellschaftlichen Spaltung erklären sowie ihre Ursachen, Erscheinungsformen und negativen Folgen für das politische System der Bundesrepublik verstehen zu können, muss man das Wesen und die spezifischen Charakterzüge des Gegenwartskapitalismus berücksichtigen. Verantwortlich für die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg sind nicht bloß der Kapitalismus als solcher und die ihm eigene Tendenz zur Überakkumulation bzw. Überproduktion im Rahmen »normaler« Konjunkturzyklen, sondern auch seine jüngsten Strukturveränderungen. Anknüpfend an die Charakterisierung früherer Entwicklungsphasen dieser Wirtschaftsordnung als »Handels-« und »Industriekapitalismus« ist meist von »Finanzmarktkapitalismus« die Rede. Typisch für ihn sind Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und Spekulationsblasen unterschiedlicher Art.

Entsolidarisierung, Entpolitisierung

Die Fragmentierung, Ausdifferenzierung und Polarisierung der Gesellschaft im modernen Finanzmarktkapitalismus fördert die Tendenz zur Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung. Daher ist die ausgeprägte soziale Ungleichheit sowohl Gift für den Zusammenhalt von Gesellschaften wie für die Demokratie. Zwar führt die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht automatisch zu einer Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems. Ursächlich dafür sind vielmehr Formen der Entpolitisierung, mit der die etablierten Parteien sowohl Frustrationserlebnisse wie auch Abwehrreaktionen der Bürger hervorrufen.
Das Ideal der politischen Gleichheit aller Staatsbürger wie auch die Legitimationsbasis der Demokratie nehmen unter wachsender sozialer Ungleichheit Schaden. Einer schwindenden Partizipationsbereitschaft der Armen steht eine Überrepräsentation der Wohlhabenden und Reichen gegenüber.

In einer wohlhabenden Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, sozial gerecht und demokratisch zu sein, müssen Armut, sofern sie nicht auf Einzelfälle beschränkt ist und man ein persönliches Versagen der davon Betroffenen unterstellen kann, wie Reichtum, der ein vernünftiges Maß übersteigt, öffentlich gerechtfertigt werden. Dies geschieht primär über das meritokratische Dogma, wonach es Leistungsträgern in der kapitalistischen Marktwirtschaft besser geht und besser gehen soll als den weniger Leistungsfähigen oder gar den »Leistungsverweigerern«, »Faulenzern« und »Sozialschmarotzern«.
Je nachdem, ob die politische Kultur eines Landes wie der USA den Reichtum weniger Familien und die Armut vieler anderer Bürger durch ein meritokratisches Gerechtigkeitsverständnis legitimiert oder ob sie wie in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern stärker für die aus einer sozioökonomischen Zerklüftung erwachsende Bedrohung des Zusammenhalts der Gesellschaft wie für die sukzessive Liquidation der Demokratie sensibilisiert ist, werden die Legitimitätsgrenzen für Ungleichheit anders gezogen.

Hierzulande jedenfalls verzichten vor allem bei Kommunal- und Landtagswahlen teilweise über die Hälfte der Wahlberechtigten auf die Abgabe ihrer Stimme. Das hat zahlreiche Gründe, deren wichtigste jedoch dürften die scheinbare Alternativlosigkeit hinsichtlich der politischen Macht- und der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sowie das Gefühl vieler Bürger sein, mit ihrer Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewegen zu können. Eine solche Form der »Zuschauerdemokratie« zeigt eine politische Repräsentationskrise an.
Ob das Vertrauen der Bürger zu den etablierten Parteien und Politikern schwindet, hängt stark von ihrer Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit ab. Dass die Wahlbeteiligung in einzelnen Ortsteilen derselben Großstadt äußerst unterschiedlich ausfällt, liegt an der sich auch sozialräumlich manifestierenden Kluft zwischen Arm und Reich: Während die Beteiligung bei Bundestagswahlen in gutbürgerlichen Wohnvierteln nach wie vor bei fast 90 Prozent liegt, gehen (Langzeit-)Erwerbslose, Geringverdiener und Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, kaum noch wählen. In manchen Großstädten der Bundesrepublik beträgt die Differenz zwischen der Wahlbeteiligung in Nobelvierteln und abgehängten Quartieren, wo die sozial Benachteiligten wohnen, mittlerweile über 40 Prozentpunkte.

Wenn die soziale Verzerrung von Wahlergebnissen eine Repräsentation aller Stimmbürger kaum noch ermöglicht, wird das Ideal der politischen Gleichheit ad absurdum geführt. Früher galt die soziale Ungleichheit als gottgegeben, weshalb sie fast nie hinterfragt wurde. Heute wird die wachsende soziale Ungleichheit entweder legitimiert, indem man sie zur notwendigen Voraussetzung eines produktiven Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bzw. zu einer Triebkraft des wissenschaftlich-technischen Erkenntnisfortschritts stilisiert, oder sie wird naturalisiert, d.h. als zwangsläufiges Resultat einer unterschiedlichen Intelligenz bzw. genetischen Ausstattung der Individuen hingestellt. Im zuerst genannten Fall wird auf die Lehren neoliberaler Ökonomen wie Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, im zuletzt genannten Fall auf Behauptungen von Eugenikern, Soziobiologen oder prominenten Sachbuchautoren wie Thilo Sarrazin rekurriert.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt auch die Transformation des Gerechtigkeitsempfindens eines Großteils der Bevölkerung. Standen früher die Bedarfs- und die Verteilungsgerechtigkeit als für einen Sozialstaat konstitutive Orientierungsmarken im Mittelpunkt der Diskussion, bestimmen heute Begriffe wie »Leistungsgerechtigkeit«, »Teilhabegerechtigkeit«, »Chancengerechtigkeit« und »Generationengerechtigkeit« die öffentliche Debatte. Sie tragen ebenfalls dazu bei, dass soziale Ungleichheit von den meisten Bürgern akzeptiert wird.
Soll den o. g. Spaltungs- und Zerfallsprozessen entgegengewirkt, Armut bekämpft und Reichtum beschränkt werden, muss daher nicht bloß die Sozialstruktur der Gesellschaft verändert, sondern auch das öffentliche Bewusstsein für Polarisierungstendenzen, die mit ihnen verbundenen sozialen Probleme und die daraus erwachsenden Gerechtigkeitsdefizite geschärft werden.

Krise des Neoliberalismus?

Zwar schien es vorübergehend, als erlebe der (Wohlfahrts-)Staat eine gewisse Renaissance und als neige sich die Ära der forcierten Privatisierung von Unternehmen, öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialen Risiken ihrem Ende zu. Kaum hatte die Finanzmarktkrise das Konzept des Neoliberalismus widerlegt und seine Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit erschüttert, wehrten sich führende Repräsentanten dieser Richtung jedoch gegen angebliche Verteufelungsbemühungen und gingen zum argumentativen Entlastungs­angriff bzw. zur ideologischen Gegenoffensive über.
Ginge man naiverweise von Menschenfreundlichkeit und Vernunft als zu verfolgenden Handlungsmaximen aus, hätten nachhaltige Lehren aus dem Krisenfiasko gezogen werden müssen. Statt dessen taten neoliberale Professoren, Publizisten und Politiker so, als hätten sie immer schon prophezeit, dass die Blase an den Finanzmärkten irgendwann platzen werde. Die meisten Ideologen der Marktfreiheit wiesen jede Mitschuld am Banken- und Börsenkrach von sich, sprachen in Anlehnung an John Maynard Keynes zum Teil selbst vom »Kasinokapitalismus«, wie der Ökonom Hans-Werner Sinn, und erweckten damit den Eindruck, sie hätten womöglich eher als Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker vor dessen schlimmen Auswüchsen gewarnt. Sehr geschickt nutzten prominente Neoliberale auch die TV-Talkshows und andere öffentliche Bühnen, um »der Politik« den Schwarzen Peter zuzuschieben. Entweder wurde das Desaster auf die Fehlentscheidungen einzelner Personen (Spitzenmanager, Investmentbanker) oder auf das Versagen des Staates und seiner Kontroll­organe (Politiker, Finanzaufsicht) reduziert.

Die etablierten Parteien zogen ebenfalls keine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Konsequenzen aus dem Krisenfiasko bzw. dem totalen Bankrott des Neoliberalismus, sondern hielten unbelehrbar an ihrem bisherigen Kurs fest. Exemplarisch genannt sei der am 16. Dezember 2013 von Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel unterzeichnete Koalitionsvertrag. In dem Regierungsprogramm für die 18. Legislaturperiode des Bundestages ließen CDU, CSU und SPD wenig Sensibilität für das Kardinalproblem der sozialen Ungleichheit erkennen. Vielmehr kommt »Reichtum« im Koalitionsvertrag auf 185 Seiten nur als »Ideenreichtum« bzw. als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur in »Durchhaltevermögen« bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.
»Armut« taucht zwar insgesamt zehn Mal auf, größtenteils aber missverständlich oder in einem fragwürdigen Zusammenhang.

Mit dem im Koalitionsvertrag auch von der bisher größten Oppositionspartei bestätigten Merkel-Mantra »Keine Steuererhöhungen – für niemand!« wird die selbst im 2013 veröffentlichten 4. Armuts- und Reichtumsbericht der schwarz-gelben Koalition eingeräumte Verteilungsschieflage akzeptiert und das Auseinanderfallen der Gesellschaft forciert. Selbst der Mindestlohn steht für CDU, CSU und SPD nicht im Kontext der Armutsbekämpfung, obwohl der stets wachsende Niedriglohnsektor die Grundlage für heutige Erwerbs- und künftige Altersarmut bildet. Sonst hätten sie die offizielle Lohnuntergrenze nämlich kaum bei 8,50 Euro angesetzt. Auch die ab 1. Januar 2017 geltende Höhe von 8,84 Euro reicht längst nicht aus, um bei Vollzeiterwerbstätigkeit in Würde leben und eine Familie ernähren zu können …

Verfrühte Freude

All das unterstreicht nur die fehlende Bereitschaft der Vertreter von Wirtschaft und Politik, einen Neuanfang zu wagen, sowie die Unfähigkeit ihrer Kritiker, personelle, inhaltliche und programmatische Alternativen zu erzwingen. Zwar befindet sich der Neoliberalismus heute in einer Legitimationskrise, seinen dominierenden Einfluss auf die Massenmedien und die öffentliche Meinung sowie die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hat er bisher jedoch weder hierzulande noch im Weltmaßstab eingebüßt. Obwohl die Finanzmarktkrise von den Musterländern einer »freien Marktwirtschaft« ausging, ist die neoliberale Hegemonie in der Bundesrepublik, der Europäischen Union und den USA ungebrochen.

Marktradikale, die nach dem Bankrott ihrer Liberalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungskonzepte eigentlich in Sack und Asche gehen müssten, hatten politisch und ideologisch schon bald wieder Oberwasser. Tatsächlich waren sie nie gegen Staatsinterventionen ganz allgemein, sondern nur gegen solche, die Märkte, unternehmerische Freiheit und Profitmöglichkeiten beschränken. Demgegenüber sind selbst massive Eingriffe wie das praktisch über Nacht unter aktiver Mitwirkung von Spitzenvertretern des Bankenverbandes und der betroffenen Finanz­institute geschnürte 480-Milliarden-Euro-Paket zur Rettung maroder Banken ausgesprochen erwünscht, wenn hierdurch die Börsen stabilisiert und die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert werden. Dabei handelt es sich um einen marktkonformen Staatsinterventionismus im Sinne der Monopolwirtschaft und privaten Großbanken, die selbst entsprechende Konzepte vorgeschlagen und teilweise gemeinsam mit den zuständigen Ministerien entwickelt haben.

Insofern erscheint Freude über einen »neuen Staatsinterventionismus« und »postneoliberale« Regulationsformen als verfehlt oder zumindest verfrüht, denn die Finanzkrise brachte eben (noch) keineswegs das Ende von Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung mit sich, sondern gab der Staatsintervention nur eine andere Stoßrichtung. Konzepte wie Public Private Partnership (PPP) bzw. Öffentlich-Private Partnerschaft (ÖPP), deren Bilderbuchkarriere schon beendet schien, könnten angesichts leerer Staatskassen und zunehmender Verschuldung vor allem der Kommunen sogar größere Bedeutung gewinnen. Dafür sprechen auch Bemühungen von CDU, CSU und SPD, die Planung, den Bau und den Betrieb der Autobahnen in einer privatrechtlich organisierten Bundesfernstraßengesellschaft (BFG) zu bündeln und Banken, Pensionsfonds und Versicherungskonzernen, die in der gegenwärtigen Niedrigzinsphase nach rentablen Anlagemöglichkeiten suchen, daran mit Anteilen bis zu 49 Prozent zu beteiligen.

Anmerkung: Hierzu vergleiche meinen Blogbeitrag vom April   https://josopon.wordpress.com/2016/03/04/den-einstieg-in-die-autobahnprivatisierung-stoppen-online-petition-milliardenkungelei-der-banken-verhindern/ : Diese Geschichte ist haarsträubend. Dobrindt macht aus dem Bundesverkehrsministerium einen Selbstbedienungsladen,
Finanzminister Schäuble trägt die Koffer dazu.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch »Kritik des Neoliberalismus« bei Springer VS in einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage erschienen.

Jochen