Noam‌ ‌Chomsky:‌ ‌Internationalismus‌ ‌oder‌ ‌Untergang‌

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

PI-Ratsmitglied Noam Chomskys programmatische Rede auf dem Eröffnungsgipfel der Progressiven Internationale

Eine Rede, die von sehr viel Weitblick und Einsicht zeugt, von dem alten Anarchisten:

Internationalism_Extinctionhttps://progressive.international/wire/2020-09-18-noam-chomsky-internationalism-or-extinction/de
Bei Rosa Luxemburg hieß das noch: „Sozialismus oder Barbarei“

chomsky american dreamAuszüge:

Wir treffen uns zu einem Zeitpunkt des Zusammentreffens diverser Krisen von außerordentlicher Schwere, in dem das Schicksal des Experiments Menschheit buchstäblich auf dem Spiel steht.
In den kommenden Wochen werden sich die Probleme in den beiden imperialen Großmächten der Neuzeit zuspitzen.

Das immer schwächer werdende Vereinigte Königreich, das öffentlich erklärt hat, dass es internationales Recht zurückweist, steht kurz vor einem klaren Bruch mit Europa und ist auf dem besten Weg, noch deutlicher zu einem US-Satelliten zu werden, als es dies ohnehin schon ist.
Aber was für die Zukunft natürlich von größter Bedeutung ist, ist das, was im wahren globalen Hegemon geschieht — geschwächt durch Trumps Amokläufe, aber immer noch mit überwältigender Macht und unvergleichlichen Vorteilen. Sein Schicksal, und gleichsam das Schicksal der Welt, wird womöglich im November entschieden.

Wenig überraschend ist der Rest der Welt daher besorgt, wenn nicht gar entsetzt. Es ist schwierig, einen so nüchternen und renommierten Kommentator wie Martin Wolf von der Londoner Financial Times zu finden. Und selbst er schreibt, dass der Westen vor einer ernsten Krise steht und wenn Trump wiedergewählt wird, “wird dies das Ende sein”.
Das sind starke Worte und er bezieht sich nicht einmal auf die großen Krisen, mit denen die Menschheit aktuell konfrontiert ist.

Wolf bezieht sich auf die globale Ordnung, sicher eine wichtige Angelegenheit, wenn auch nicht in der Größenordnung der Krisen, von denen weitaus schwerwiegendere Folgen drohen.
doomsday-clockAlso derjenigen Krisen, die die Zeiger der berühmten “Doomsday Clock” in Richtung Mitternacht treiben — in Richtung Ende.

Wolfs Begriff des “Endes” ist kein neuer Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Wir leben seit 75 Jahren in dessen Schatten, seit wir an einem unvergesslichen Augusttag erfuhren, dass die menschliche Intelligenz nun Mittel entwickelt hatte, die bald die Fähigkeit zur tödlichen, absoluten Zerstörung hervorbringen würden.
Das war erschütternd genug, aber da war noch mehr: Damals verstand man noch nicht, dass die Menschheit in eine neue geologische Epoche, das Anthropozän, eintritt. Eine Epoche, in der menschliche Aktivitäten die Umwelt auf eine Art und Weise verwüsten, das diese sich nun ebenfalls der endgültigen Zerstörung nähert.

Die Zeiger der “Doomsday Clock” wurden zum ersten Mal eingestellt, kurz nachdem Atombomben in einer Eskalation des unnötigen Abschlachtens eingesetzt wurden.
Seitdem haben die Zeiger im Zuge der Entwicklung der jeweiligen globalen Umstände oft oszilliert. Doch mit jedem Jahr, in dem Trump im Amt war, haben sich die Zeiger weiter in Richtung Mitternacht bewegt. Vor zwei Jahren waren sie so nah wie nie zuvor. Im vergangenen Januar sprachen Beobachter*innen nicht mehr von Minuten und wandten sich stattdessen den Sekunden zu: 100 Sekunden vor Mitternacht.
Sie verwiesen auf dieselben Krisen wie zuvor: die wachsende Gefahr eines Atomkrieges, einer Umweltkatastrophe sowie der Verfall der Demokratie.

Letzteres mag auf den ersten Blick unangebracht erscheinen, ist es aber nicht. Die zu beobachtende Rückgang der Demokratie passt in dieses düstere Trio.
Denn die einzige Hoffnung, den beiden Bedrohungen des “Endes” zu entkommen, ist eine lebendige Demokratie, in der besorgte und informierte Bürger*innen sich voll und ganz in Deliberation, Politikgestaltung und direkte Aktionen einbringen.

Das war also im vergangenen Januar. Seitdem hat Präsident Trump es geschafft, alle drei Bedrohungen zu verschlimmern. Das ist ja in gewisser Weise auch eine Leistung.

green-attraction-war-museum.jpgEr hat die Zerschlagung des Systems der Rüstungskontrolle — das einen gewissen Schutz gegen die Gefahr eines Atomkriegs bot — fortgesetzt und gleichzeitig, sehr zur Freude der Rüstungsindustrie, die Entwicklung neuer und noch gefährlicherer Waffen gefördert.
pexels-photo-545960.jpegIn seinem engagierten Einsatz für die Zerstörung der lebenserhaltenden Umwelt hat Trump riesige neue Gebiete für Bohrungen erschlossen, darunter auch die letzten großen Naturschutzgebiete.
Unterdessen sind seine Schergen dabei, systematisch das Regulierungssystem abzubauen, das die zerstörerischen Auswirkungen der Nutzung fossiler Brennstoffe etwas mildert und die Bevölkerung vor giftigen Chemikalien und Umweltverschmutzung schützt — ein Übel, das angesichts der aktuellen schweren epidemischen Ausbreitung einer Atemwegserkrankung (SARS-CoV2) doppelt mörderisch ist.SARS-CoV-2

Des Weiteren hat Trump seine Kampagne zur Schwächung der Demokratie fortgeführt. Laut Gesetz unterliegen die Ernennungen durch den Präsidenten der Bestätigung durch den Senat.
Trump vermeidet diese Unannehmlichkeiten, indem er die Positionen einfach unbesetzt lässt und die Ämter lediglich mit “vorübergehend ernannten” Personen besetzt, die seinem Willen nachkommen —und wenn sie dies nicht mit ausreichender Loyalität gegenüber ihrem Herren tun, werden sie entlassen.
Er hat die Exekutive von jeglicher unabhängigen Stimme gesäubert. Nur noch Speichellecker bleiben übrig.
coins-currency-investment-insurance-128867.jpegDer Kongress hatte schon vor langer Zeit Generalinspektoren eingesetzt, um die Leistung der Exekutive zu überwachen. Sie begannen, sich mit dem Sumpf der Korruption zu befassen, den Trump in Washington geschaffen hat. Er kümmerte sich schnell um dieses Problem, indem er sie entließ.
Vom republikanisch dominierten Senat, den Trump fest im Griff hat, war kaum ein Mucks zu hören; kaum ein Fünkchen Integrität blieb zurück, so erschrocken sind sie dort über die “Volksbasis”, die Trump mobilisiert hat.

Dieser Angriff auf die Demokratie ist erst der Anfang. Trumps warnte jüngst, dass er gegebenenfalls sein Amt nicht niederlegen wird, wenn er mit dem Ergebnis der Wahlen im November nicht zufrieden ist.
Diese Drohung wird in hohen Kreisen sehr ernst genommen. Um nur einige Beispiele zu nennen:
Zwei angesehene pensionierte hochrangige Militärkommandeure veröffentlichten einen offenen Brief an den Vorsitzenden des Generalstabs, General Milley, in dem sie ihn an seine verfassungsmäßige Verantwortung erinnerten, die Armee zu entsenden, um einen “gesetzlosen Präsidenten”, der sich weigert, nach der Wahlniederlage aus dem Amt zu scheiden, gewaltsam zu entfernen.

firearm-handgun-revolver-gun-53351.jpegAußerdem warnten sie vor möglichem Widerstand durch paramilitärische Einheiten, die Trump bereits nach Portland, Oregon, entsandt hatte, um die Bevölkerung dort zu terrorisieren — entgegen des heftigen Widerstands der gewählten Amtsträger*innen dort.

Viele Persönlichkeiten des Establishments halten die Warnungen für realistisch, darunter auch das angesehene Transition Integrity Project, das soeben die Ergebnisse der “Kriegssimulation” veröffentlicht hat, die es zu möglichen Folgen der Wahlen im November durchgeführt hat.
Die Projektmitglieder gehören “zu den versiertesten Republikanern, Demokraten, Beamten, Medienexperten, Meinungsforschern und Strategen überhaupt”, erklärt der Ko-Direktor des Projekts.
Unter ihnen sind auch prominente Persönlichkeiten beider Parteien. In jedem denkbaren Szenario, abgesehen von einem klaren Trump-Sieg, führten die Simulationen zu so etwas wie einem Bürgerkrieg, womit Trump also beschließen würde, “das amerikanische Experiment” endgültig zu beenden.

Wiederum starke Worte, die so noch nie zuvor von nüchternen Mainstream-Stimmen zu hören waren. Allein die Tatsache, dass solche Gedanken aufkommen, ist schon bedrohlich genug.
Und sie sind bei Weitem nicht allein. Angesichts der unvergleichlichen Macht der USA ist weit mehr als das “amerikanische Experiment” in Gefahr.

Nichts dergleichen ist in der oft turbulenten Geschichte der parlamentarischen Demokratie bisher geschehen. Wenn man sich an die vergangenen Jahre erinnert, so hatte Richard Nixon — sicherlich nicht die angenehmste Person in der Geschichte der Präsidentschaft — guten Grund zu der Annahme, dass er die Wahlen von 1960 nur wegen krimineller Manipulation durch Mitarbeiter der Demokraten verloren hatte. Er focht die Ergebnisse dennoch nicht an und stellte das Wohlergehen des Landes über seine persönlichen Ambitionen.
Albert Gore
tat im Jahr 2000 dasselbe. Heute gilt das nicht mehr.

In reiner Verachtung für das Wohlergehen des Landes neue Wege zu beschreiten, reicht dem Größenwahnsinnigen, der die Welt beherrscht, offenbar nicht mehr aus.
Nein, Trump hat darüber hinaus mehrfach angekündigt, dass er die Verfassung missachten und über eine dritte Amtszeit “verhandeln” könnte, wenn er entscheidet, dass er irgendeinen Anspruch darauf hat.

Manche tun das als Verschrobenheit einer Witzfigur ab. Wie die Geschichte zeigt, tun sie das aber auf eigene Gefahr.

Das Überleben der Freiheit wird nicht durch “Pergament-Barrieren” garantiert, wie James Madison warnte.
Das will heißen: Worte auf Papier reichen nicht aus. Freiheit gründet auf den Grunderwartungen von Gutwilligkeit und dem allgemeinen Anstand.
Diese Grunderwartung ist von Trump zusammen mit seinem Mitverschwörer, dem Senatsmehrheitsführer Mitch McConnell — der das “größte beratende Gremium der Welt”, wie es sich selbst nennt, in einen erbärmlichen Witz verwandelt hat — in Stücke zerfetzt worden.
McConnells Senat weigert sich, Gesetzesvorschläge auch nur in Erwägung zu ziehen. Seine Sorge gilt den Reichen und der Justiz, die von oben bis unten mit jungen Anwält*innen der extremen Rechten besetzt ist. Diese sollen sicherstellen, dass die reaktionäre Trump-McConnell-Agenda über die nächste Generation hinweg gesichert wird — was auch immer die Allgemeinheit will; was auch immer die Welt zum Überleben braucht.

Die Unterwürfigkeit der Republikanischen Partei unter Trump und McConnell in ihrem Dienst an den Reichen ist wirklich bemerkenswert, selbst für die neoliberalen Standards und der dort üblichen Verherrlichung der Gier.
Eine Veranschaulichung liefern die führenden Spezialisten für Steuerpolitik, die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman. Sie zeigen, dass im Jahr 2018, nach dem Steuerbetrug, der bisher die einzige Errungenschaft von Trump-McConnell war, “zum ersten Mal in den letzten hundert Jahren Milliardäre weniger [an Steuern] bezahlt haben als Stahlarbeiter*innen, Lehrer*innen und Rentner*innen” und damit “ein Jahrhundert der Steuergeschichte” praktisch ausgelöscht wurde.
“Im Jahr 2018 wurde zum ersten Mal in der modernen Geschichte der Vereinigten Staaten das Kapital weniger besteuert als die Arbeit” — ein wirklich beeindruckender Sieg in diesem Klassenkampf, der in der aktuell hegemonialen Doktrin “Freiheit” genannt wird.

syringe and pills on blue backgroundDie “Doomsday Clock” wurde im vergangenen Januar neu gestellt, also bevor das Ausmaß der Pandemie verstanden wurde. Die Menschheit wird sich früher oder später von der Pandemie erholen, was schreckliche Kosten verursacht. Es sind oftmals unnötige Kosten.
Wir sehen das deutlich an den Erfahrungen der Länder, die entschiedene Maßnahmen ergriffen, als China der Welt am 10. Januar die relevanten Informationen über das Virus zur Verfügung stellte:
An erster Stelle standen dabei Ost-Südostasien und Ozeanien, andere folgten. Das Schlusslicht bilden einige veritable Katastrophen, namentlich die USA, gefolgt von Brasilien unter Bolsonaro und Indien unter Modi.

Doch trotz des Fehlverhaltens oder der Gleichgültigkeit einiger politischer Anführer wird es letztlich eine Art Erholung von der Pandemie geben.
Im Gegensatz dazu werden wir uns jedoch weder vom Abschmelzen der Polkappen noch von der in die Höhe schießende Zahl der Brände in der Arktis, die enorme Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre freisetzen, oder von anderen Schritten auf unserem Marsch in die Klimakatastrophe erholen.

Wenn die renommiertesten Klimawissenschaftler*innen uns mahnen, “jetzt in Panik zu geraten”, sind sie nicht alarmistisch. Wir dürfen keine Zeit verlieren.
Nur wenige tun genug; und was noch schlimmer ist: die Welt ist mit führenden Politiker*innen gestraft, die sich nicht nur weigern, ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, sondern den Wettlauf in die Katastrophe absichtlich beschleunigen. Die Bösartigkeit im Weißen Haus steht bei diesem ungeheuerlichen Verbrechen unangefochten an der Spitze.

Doch es sind nicht nur Regierungen. Dasselbe gilt für die fossile Brennstoffindustrie, die Großbanken, die sie finanzieren, und andere Industrien, die von Handlungen profitieren, die das “Überleben der Menschheit” ernsthaft gefährden, wie es in einem geleakten internen Memo der größten Bank Amerikas heißt.

Die Menschheit wird diese institutionelle Bösartigkeit nicht mehr lange überleben. Die Mittel zur Bewältigung der Krise sind zwar vorhanden; aber nicht mehr lange.
Eine Hauptaufgabe der Progressiven Internationale ist es daher dafür zu sorgen, dass wir jetzt alle in Panik geraten — und entsprechend handeln.

Die Krisen, mit denen wir in diesem einzigartigen Moment der Menschheitsgeschichte konfrontiert sind, sind natürlich internationaler Natur.
Die Umweltkatastrophe, der Atomkrieg und die Pandemie kennen und akzeptieren keine Grenzen.
Und in weniger offensichtlicher Weise gilt das auch für den dritten der Dämonen, die die Erde heimsuchen und den Zeiger der “Doomsday-Clock“ weiter gen Mitternacht treiben: der Verfall der Demokratie.
Der internationale Charakter dieser letzten Seuche wird deutlich, wenn wir ihre Ursprünge untersuchen.

Die Umstände sind unterschiedlich, aber es gibt einige gemeinsame Grundlagen. Ein großer Teil des Übels geht auf den vor 40 Jahren gestarteten neoliberalen Angriff auf die Weltbevölkerung zurück.

Der grundsätzliche Charakter dieses Angriffs wurde in den Ansprachen seiner prominentesten Figuren festgehalten.
Präsident Ronald Reagan erklärte in seiner Antrittsrede, dass die Regierung das Problem ist und nicht die Lösung — was bedeutet, dass Entscheidungen von Regierungen, die zumindest teilweise unter öffentlicher Kontrolle stehen, auf private Macht übertragen werden sollten, die der Öffentlichkeit gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen muss und deren einzige Verantwortung die Selbstbereicherung ist, wie der Ökonom Milton Friedman proklamierte.
Die andere Figur war Margaret Thatcher, die uns lehrte, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur einen Markt, auf den die Menschen geworfen werden, um so gut wie möglich zu überleben — und zwar ohne Organisationen, die es ihnen ermöglichen, sich gegen die zerstörerischen Kräfte des Marktes zu wehren.

Zweifellos unbeabsichtigt paraphrasierte Thatcher damit Marx, der schon die autokratischen Herrscher seiner Zeit dafür verachtete, dass sie die Bevölkerung in einen “Sack Kartoffeln” verwandelt hatten: wehrlos gegenüber konzentrierter Macht.

Mit beeindruckender Konsequenz zogen die Regierungen Reagan und Thatcher los, um die Arbeiter*innenbewegung zu zerstören, das Haupthindernis für eine harte Klassenherrschaft der wirtschaftlich Stärksten.
Damit übernahmen sie die Leitprinzipien des Neoliberalismus aus seinen Anfängen im Wien der Zwischenkriegszeit, wo der Gründer und Schutzpatron der Bewegung, Ludwig von Mises, seine Freude kaum im Zaum halten konnte, als die protofaschistische Regierung Österreichs lebendige Sozialdemokratie und diese verabscheuungswürdigen Gewerkschaften, die sich in die ach-so-gesunde Wirtschaft einmischten, indem sie die Rechte der Werktätigen verteidigten, gewaltsam zerstörte.
Wie von Mises in seinem neoliberalen Klassiker “Liberalismus” von 1927 (fünf Jahre nachdem Mussolini seine brutale Herrschaft begann) erklärte: „Es kann nicht geleugnet werden, dass der Faschismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und dass ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faschismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben” — wenn auch der Faschismus selbst nur vorübergehend sei, versicherte er uns.
Die Schwarzhemden werden also gesittet nach Hause gehen, nachdem sie ihr gutes Werk vollbracht haben.

Dieselben Prinzipien beflügelten die begeisterte neoliberale Unterstützung für die abscheuliche Pinochet-Diktatur.
Einige Jahre später wurden sie in anderer Form unter der Führung der USA und des Vereinigten Königreichs auf globaler Ebene durchgesetzt.

pexels-photo-259027.jpegDie Folgen waren vorhersehbar: Zum einen kam es zu einer starken Konzentration des Reichtums bei gleichzeitiger Stagnation für einen Großteil der Bevölkerung, was sich im politischen Bereich in der Aushöhlung der Demokratie niederschlug.
Die Auswirkungen in den Vereinigten Staaten zeigen sehr deutlich, was man erwarten kann, wenn die Herrschaft des “Business” praktisch unangefochten ist. Nach 40 Jahren verfügen nun 0,1 Prozent der Bevölkerung über 20 Prozent des Reichtums, doppelt so viel wie zum Zeitpunkt der Wahl Reagans.
Die Vergütung der CEOs ist nach oben geschnellt und hat das Vermögen des gesamten Managements mit in die Höhe getrieben. Die Reallöhne für männliche Arbeitnehmer ohne Aufsichtsfunktion sind hingegen gesunken.
Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck, mit nahezu keinerlei Reserven.
Auch die Finanzinstitutionen, die weitgehend rücksichtslos und räuberisch auftreten, sind in ihrer Größe geradezu explodiert. Es gab wiederholte Zusammenbrüche, die jedes Mal schlimmer wurden.
Die Täter wurden per Bailout vom freundlichen Steuerzahlenden gerettet — wobei das wohl noch eine der geringsten der indirekten staatlichen Subventionen ist, die sie erhalten.
“Freie Märkte” führten zu einer Monopolisierung mit weniger Wettbewerb und Innovation, da die Starken die Schwachen schluckten.
Die neoliberale Globalisierung hat ganze Regionen im Rahmen der Investorenrechtsabkommen, die fälschlicherweise als “Freihandelspakte” bezeichnet werden, deindustrialisiert.
Mit der Annahme der neoliberalen Doktrin, dass “Besteuerung Raub ist”, öffnete Reagan die Tür für Steuerparadiese und Briefkastenfirmen — die zuvor verboten und durch wirksame Rechtsdurchsetzung praktisch ausgeschlossen waren.
Das führte sofort zu einer riesigen Steuerhinterziehungsindustrie, die den massiven Raubüberfall auf die breite Bevölkerung durch die Reichen und die Konzerne beschleunigte. Und das war keine kleine Veränderung; das Ausmaß wird auf Dutzende Billionen Dollar geschätzt.

So ging es weiter und die neoliberale Doktrin festigte sich.

Als dieser Angriff gerade erst begann, Gestalt anzunehmen, trat der Präsident der Gewerkschaft “United Auto Workers”, Doug Fraser, 1978 aus einem von der Carter-Administration eingerichteten Ausschuss für Arbeiter*innen und Angestellte zurück und drückte seine Betroffenheit darüber aus, dass die Wirtschaftsführer “beschlossen hatten, in diesem Land einen einseitigen Klassenkrieg zu führen — einen Krieg gegen die arbeitende Bevölkerung, die Arbeitslosen, die Armen, die Minderheiten, die ganz Jungen und die ganz Alten und sogar viele aus der Mittelschicht unserer Gesellschaft”.
Damit hätten sie “den zerbrechlichen, ungeschriebenen Pakt, der zuvor in einer Zeit des Wachstums und des Fortschritts existierte, zerbrochen und weggeworfen”.
Er verwies damit auf die Zeit der Klassenzusammenarbeit im reglementierten Kapitalismus.

Er erkannte etwas verspätet, wie die Welt funktioniert. Und zwar zu spät, um den erbitterten Klassenkampf abzuwehren, der von den Wirtschaftsführern angezettelt wurde, denen von willfährigen Regierungen bald freie Hand gelassen wurde.
Die Folgen für einen Großteil der Welt sind wenig überraschend: weit verbreitete Wut, Ressentiments, Verachtung für politische Institutionen, während die vorrangig wirtschaftlichen Institutionen durch wirksame Propaganda eher im Schatten stehen können.
All das bietet ein fruchtbares Terrain für Demagogen, die vorgeben können, Dein Retter zu sein, während sie Dir in den Rücken fallen und gleichzeitig die Schuld für die herrschenden Zustände auf Sündenböcke abwälzen: Immigrant*innen, Schwarze, China, wer auch immer am besten zu lang bekannten Vorurteilen passt.

Doch kommen wir zurück zu den großen Krisen, mit denen wir in diesem historischen Moment konfrontiert sind: Alle sind international; und zwei internationale Gruppierungen formieren sich, um ihnen zu begegnen. Eine davon wird heute vorgestellt: die Progressive Internationale.
Die andere hat bereits unter Trumps Führung des Weißen Hauses Gestalt angenommen: Eine Reaktionäre Internationale, der die reaktionärsten Staaten der Welt angehören.

In der westlichen Hemisphäre umfasst diese Reaktionäre Internationale Bolsonaros Brasilien und einige andere.
Im Nahen Osten sind die wichtigsten Mitglieder die Familiendiktaturen am Golf, die ägyptische Diktatur von al-Sisi — vielleicht die härteste in der ohnehin bitteren Geschichte Ägyptens—- und Israel, das vor langer Zeit seine sozialdemokratischen Ursprünge über Bord geworfen hat und weit nach rechts gerückt ist; die vorhersehbaren Auswirkungen der lang anhaltenden und brutalen Besatzung.
Die gegenwärtigen Abkommen zwischen Israel und arabischen Diktaturen, die langjährige stillschweigende Beziehungen formalisieren, sind ein bedeutender Schritt zur Festigung dieser Nahost-Basis der Reaktionären Internationale. Den Palästinenser*innen wird ins Gesicht getreten.
Es ist das scheinbar angemessene Schicksal derer, denen es an Macht mangelt und die nicht ordnungsgemäß vor den Füßen ihrer natürlichen Herren kriechen.

Ein Partner im Osten ist Indien, wo Premierminister Modi die säkulare Demokratie Indiens zerstört und das Land in einen rassistischen hinduistisch-nationalistischen Staat verwandelt, während er Kaschmir vernichtet.
Das europäische Kontingent umfasst die “illiberale Demokratie” Viktor Orbans in Ungarn und ähnliche Elemente in anderen Ländern.
Die Reaktionäre Internationale hat auch starke Rückendeckung in den dominierenden globalen Wirtschaftsinstitutionen.

Diese beiden Internationalen machen einen guten Teil der Welt aus, die eine auf der Ebene der Staaten, die andere auf der Ebene der Basisbewegungen. Jede von ihnen ist eine prominente Vertreterin viel breiterer gesellschaftlicher Kräfte, die gegensätzliche und hart umkämpfte Visionen von der zukünftigen Welt haben, die aus der gegenwärtigen Pandemie entstehen soll.
Eine Kraft arbeitet unermüdlich daran, eine strengere Version des neoliberalen globalen Systems zu konstruieren, von dem sie sehr profitiert hat, mit einer intensiveren Überwachung und Kontrolle.
Die andere freut sich auf eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens, in der Energien und Ressourcen auf die Bedürfnisse der Menschen und nicht auf die Forderungen einer winzigen Minderheit ausgerichtet sind.
Es ist eine Art Klassenkampf auf globaler Ebene, mit vielen komplexen Facetten und Wechselwirkungen.

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das Schicksal des Experiments Menschheit vom Ausgang dieses Kampfes abhängt.

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https://progressive.international/

hawking

Schon 2016 warnte Stephen Hawking: https://josopon.wordpress.com/2016/11/23/stephen-hawking-warnt-erde-wird-spatestens-in-1-000-jahren-zerstort-sein/

samir amin

Zum Thema „Internationale“ vgl. hier Samir Amin: https://josopon.wordpress.com/2017/10/01/interview-mit-okonom-samir-amin-wir-brauchen-eine-funfte-internationale/
Von Chomsky habe ich hier schon berichtet:
https://josopon.wordpress.com/2017/02/09/noam-chomsky-sozialismus-in-zeiten-der-reaktion/
und https://josopon.wordpress.com/2014/12/23/wiederkehr-des-kalten-krieges-einsichten-von-noam-chomsky-uber-die-amerikanische-ausenpolitik-a-nlasslich-des-ukraine-konfliktes/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Das Virus war nicht Ursache, sondern Auslöser und Verschärfer des Crashs – Der Exportüberschussweltmeister

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Eine sehr gute Analyse des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung https://www.isw-muenchen.de/2020/04/das-virus-war-nicht-ursache-sondern-ausloeser-und-verschaerfer-des-crashs/

und ein dazu passender Artikel von Heiner Flassbeck aus dem Makroskop auszugsweise:

A. Das Virus war nicht Ursache, sondern Auslöser und Verschärfer des Crashs

  1. April 2020 Conrad Schuhler

Bei dem Text handelt es sich um eine Vorabveröffentlichung aus dem isw-report 121: Finanzcrash, Rezession, Pandemie – Der Finanzkapitalismus befeuert die Triple-Krise.

Diese Wirtschaftsentwicklung belegte, dass wir es nach dem Absturz 2009 zunächst mit einem kräftigen Aufschwung zu tun hatten, aber danach mit einer anhaltenden Stagnation, die schließlich in ein Null-Wachstum führte. (Schuhler, 2020) Die 2019-Quartale definierten den Zustand einer anhaltenden Stagnationskrise:

1. Quartal; + 0,5%;
2. Quartal: – 0,2%;
3. Quartal: + 0,2 %;
4. Quartal: 0,0%.

In derselben Zeit schmierte die Industrieproduktion ab von 12% plus 2010 auf 5% minus 2019, weltweit sank die Industrieproduktion von 14% plus auf 2% minus.

Wir haben es also mit einer ein Jahrzehnt anhaltenden Überakkumulationskrise zu tun – das Wertschöpfungspotential übersteigt die effektive Nachfrage, worauf die Industrie, das Herzstück der Wertschöpfung, mit einem Rückgang ihrer Produktion reagiert; und die Finanzstrategen, die Vermehrer der Geldvermögen, reagierten mit weiteren Einstiegen in die Finanztitel, bliesen den Ballon des fiktiven Vermögens weiter auf.
Es ist dies die klassische Struktur des Finanzkapitalismus, der entsprechend dem klassischen Muster Kurs genommen hatte auf den Tiefpunkt der Krise, den ultimativen Crash des Finanzsystems.

Den Zündfunken spendierte das Coronavirus, so wie es in früheren Zeiten das Öl tat, der Rubel oder gar der Tequila. Die Bezeichnungen verdeckten den Umstand, dass diese Krisen – in Wahrheit ging es um die Erhöhung des Ölpreises und um die Verschuldungen in Russland und Mexico – den globalen Kapitalismus stets zu einem Zeitpunkt trafen, da seine periodische Überakkumulation an einem Höhepunkt angelangt war.
Das Statistische Bundesamt sagte schon Ende 2019 voraus, dass eine Wachstumsnull ins Haus stünde, die WTO rechnete damals schon vor, dass der Welthandel zurückgehen würde. (Schuhler, a.a.O.) Die ersten Nachrichten über das Treiben des Coronavirus in China erschienen am 7.1.2020 (wir bestätigen hierzu den 31.12.2019, Anmerkung Redaktion).
Die Krise ebenso wie Informationen darüber waren also schon Wochen und Monate vor dem Auftauchen des Virus zu erkennen.
Es handelt sich um keine Coronakrise, sondern um eine Krise des Kapitalismus.

Corona ist nicht nur Auslöser der Krise, es verstärkt diese auch – und vor allem ist es die Legitimation der „Notstandsmaßnahmen“

Dennoch ist es falsch, Corona bloß als „schwarzen Schwan“, als Alibi-Mythos zu verharmlosen. Die Pandemie ist ein zusätzlicher Krisenfaktor von erheblicher Dimension, sowohl was seine realen Effekte angeht als auch und vor allem seine Eignung als Vorwand für antidemokratische Notstandsmaßnahmen schlimmster Qualität.
Die Stilllegungen und Ausgangssperren liquidieren das öffentliche Leben und halten die wirtschaftliche Produktion über längere Fristen an und legen den internationalen Kultur- und Wissenschaftsaustausch ebenso lahm wie den Handel.

Teil II des isw-Konjunkturberichts (erscheint in Kürze, Anmerkung Redaktion) hatten wir überschrieben: „Das Coronavirus – der Sturz in die globale Rezession. Der Exportüberschussweltmeister ist einer der Hauptgeschädigten.
Wir haben im vorigen Abschnitt festgestellt, dass die Triple-Krise – Finanzcrash, reale Rezession, Pandemie – in Deutschland einen Schaden von bis zu 729 Milliarden Euro verursachen wird.

Wieviel dieses Schadens auch ohne die Corona-Pandemie entstanden wäre, ist natürlich nicht mehr exakt zu quantifizieren. Dass die hochspekulierten Kurswerte ein Vielfaches des realen Werts der Unternehmen ausmachten, ist indes unbestreitbar.
Ein Rückgang dieser Aktien um 50% ihrer Kurswerte ist nötig, um den Profit- und damit den Spekulationstrieb der Vermögensverwalter und der Vermögensbesitzer aller Art wieder in Gang zu setzen.
Ein Rückgang der realen Produktion um zehn Prozent und mehr ist nötig, um Investitionen zu den verlangten Profitaussichten wieder in produktive Bereiche zu lenken.
Die realen wie die Finanzmärkte verlangen die Korrektur der vorhandenen Werte, sonst würde es beim Stillstand bleiben.

Da kam Corona gerade recht, um diese Korrektur mit den schärfsten Waffen von Notstand und Demokratie-Shutdown durchzusetzen.
Die Corona-Pandemie ist kein „schwarzer Schwan“, keine Erfindung oder Verschwörung profitgieriger Kapitalisten, sie ist eine kostspielige Realität, aber die Kapital-Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien nutzen sie einerseits, um die Kosten der „Krisenbewältigung“ abzuwälzen auf die Massen der Bevölkerung und dabei deren heftige Zustimmung zu finden.
Und zweitens, um die Bevölkerung an den Abbau von Demokratie, von Privatheit, Freizügigkeit, Versammlungs- und Demonstrationsrechten aller Art bei dieser und dann den kommenden Krisen zu gewöhnen und auch dafür noch den Beifall der Massen zu finden.
75% der Deutschen finden die „Maßnahmen gegen die Corona-Ausbreitung“ gerade richtig, 20% meinen sogar, sie „müssten härter ausfallen“, nur 3% sagen, sie „sind übertrieben“
. *)

Diese Erkenntnis, dass die Kapitalelite solche Maßnahmen jetzt dringend braucht, beantwortet auch die Frage, warum die Maßnahmen jetzt so rigoros ausfallen, wo sie doch bei der Umweltkrise, deren Folgen weit gravierender sind, so überaus bescheiden sind.

  1. Fabian Scheidler bezeichnet die Maßnahmen zur Corona-Pandemie als beispiellos „in der jüngeren Geschichte“. Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Person seien suspendiert worden, ebenso das Grundrecht auf Asyl. Große Teile der Wirtschaft wurden lahmgelegt, „fast die gesamte Kulturbranche, die Gastronomie, der Sport, der Tourismus und sogar – bisher unvorstellbar – die Autoindustrie und der Flugverkehr“.Würde man diese Maßnahmen mit der Reaktion auf die weitaus schwerwiegendere Krise des Klimawandels und des Artensterbens vergleichen, dann schreit der Kontrast zum Himmel. Beim Virus wird die Gesellschaft lahmgelegt, während „in der Klimafrage seit 40 Jahren so gut wie nichts passiert“.
    Zu dieser Diskrepanz fallen ihm zwei Gründe ein. Erstens: Die Klimakatastrophe kommt schleichend, es handelt sich um ein langfristiges Problem, unsere politischen und medialen Systeme seien aber „kurzfristig ausgerichtet“. Zweitens seien von der Umweltkatastrophe eher die Armen im „Süden“ als die Reichen im „Norden/Westen“ betroffen; das Virus aber mache vor Schranken von Klasse und Nationalität nicht Halt. „Auch reiche weiße Männer in den Industriestaaten sind gefährdet.
    Beides trifft sicher zu, aber der letzte Grund liegt tiefer: Die Profitinteressen der Schmutzindustrien von der Autoproduktion bis zur Landwirtschaft sind politisch stark genug, um die Geschwindigkeit der Transformation zu ökologischen Wirtschafts- und Verkehrsverfahren enorm, vielleicht gar entscheidend zu verringern. Dass sogar die Autoindustrie in den Lockdown der Wirtschaft einbezogen ist, muss man aus ihrer Interessenlage heraus verstehen. Sie braucht die Stilllegung ihrer Produktion angesichts des Nachfragerückgangs und der Typenumstellungen und nun übernimmt der Staat auch noch per Kurzarbeitergeld – das aus der Solidarkasse der Arbeitnehmer stammt – den Großteil der Personalkosten.
  2. Wir stehen in der Einschätzung Hararis in der heutigen Krisenzeit vor zwei grundsätzlichen Entscheidungen. Wir haben zu wählen zwischen totalitärer Überwachung oder weitergehender Ermächtigung der Bürger, zwischen Abschaffung der Demokratie oder ihrer Ausweitung. Zweitens zwischen nationalistischer Isolierung oder globaler Solidarität.
    Mit der Corona-Pandemie ist der tipping point, der Kipppunkt, erreicht.Vor die Alternative „Gesundheit oder Privatheit“ gestellt, wählt eine Mehrheit den Überwachungsstaat, der diesmal „under the skin“ geht – buchstäblich unter die Haut, die Regierung will jetzt ein Überwachungssystem durchsetzen, das Körpertemperatur, Blutdruck, Herzschlag erfasst.
    Wie Fieber und Husten sind Ärger, Freude, Langeweile, Liebe biologische Phänomene, die erkannt, bewertet und sanktioniert werden.
    Corona macht die Tür auf für „Big Brother“. Nicht nur der Virenträger, auch der unliebsame Ideenträger, alle mit „falschem Temperament“ oder „falscher“ DNA könnten stigmatisiert werden, ihre Kontakte überwacht, ihre Aktionen Schritt für Schritt kontrolliert werden. Die Alternative kann für Demokraten natürlich nicht lauten „Krankheit oder Überwachung“, sondern es muss heißen: Wir brauchen ein funktionales Gesundheitssystem und ebenso Freiheits- und Persönlichkeitsrechte.Die Würde des Menschen ist unantastbar – das muss unsere Maxime für alle Bereiche des sozialen Lebens sein. Und nicht: Hier müssen wir die Würde leider antasten, die Demokratie leider aussetzen, damit nicht alles zusammenbricht.
  3. Dass die Menschen jetzt „reif“ für faschistische Demagogen sind, ist das Werk der Kapital-Eliten. Diese haben in der Globalisierung die rigorose Ausdehnung des global value, des Höchstprofits in den letzten Winkel der Erde durchgesetzt. Die einheimischen ArbeiterInnen wurden verarmt auf Globalniveau, die Finanzmittel dorthin abgezogen, wo der der Profit am Höchsten war.
    Woher soll das Vertrauen dieser Globalisierungsverlierer in diese Eliten kommen? Fremdenhass und Führertum fallen auf günstigen Boden. Das gilt geradeso für die Innenpolitik.
    Die Privatisierung der Sektoren der unmittelbaren Lebensversorgung hat u.a. zur Dequalifizierung des Gesundheitswesens geführt. Wer arm ist, muss früher sterben. Er/sie hat auch schlechtere Bildungschancen, es sei denn, er kann dafür bezahlen, sich schon zu Beginn des Arbeitslebens mächtig verschulden.
    Sozialer Aufstieg? Der Eintrittspreis wird immer höher. Alt werden ist ganz schlecht. Nur wer Geld hat, kann sich wirklich gute und würdevolle Pflege und Betreuung leisten.
    Unter- und Mittelschicht unserer Gesellschaft erleben eine bedrohliche Gegenwart und haben eine prekäre Zukunft vor sich.
    Unser Land ist, wie der ganze Westen, eine Zwei- oder Drei-Klassengesellschaft, wo den unteren Klassen – und es werden immer mehr – langsam, aber immer schneller die Geduld reißt. Die Kasernen-Gesellschaft der optimalen Gesundheit – „sonst droht der Massentod“ – soll sie gefügsam machen. Ein Virus kommt alle zwei, Jahre. Das Virus wird zum Dauerzustand und mit ihm die Kasernen- und Klinikdisziplin.
  4. Wie lange dauert der Notstand und die von ihm abgeleiteten diktatorischen Regeln? In Deutschland haben wir immer noch die 1968 so erbittert umkämpften Notstandsregeln, die jetzt wieder zur Blüte kommen. Israel hat noch seine Notstandsregeln des Krieges 1946, die jetzt ergänzt werden. Trump hat das Kriegsrecht ausgerufen. Die Krise, heißt es allenthalben, ist die Stunde der Exekutive.
    Diese erstarkte Exekutive wird ihre neu gewonnenen Spielräume nicht von selbst wieder aufgeben. Dazu braucht man eine Öffentlichkeit, die aus ihrer Schockstarre herausmuss.
  5. Der Staat muss sich fragen lassen, warum er seine Wirkungsmacht immer dann massiv einsetzt, wenn das Kapital darniederzuliegen droht, es aber des äußersten Einsatzes der demokratischen Kräfte bedarf, um Interessen der Menschen an einem fairen, demokratischen, solidarischen, für alle vorteilhaften Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft durchzusetzen.
    Dann heißt es, die Widerstände seien zu stark, die Rechte anderer würden negativ berührt, alle möglichen Nebenwirkungen negativ, die Expertenmeinungen kontrovers, und morgen auch noch ein Tag. Diese politischen Eliten brauchen keine neuen Vorgaben. Ihre „Aufzucht“, ihre Karrierebedingungen, ihre positiven Sanktionen – sie sind strukturell an die Kommandos des Kapitals gewöhnt, mal „sozialer“, mal marktliberaler, doch stets sind Kommandos für sie „Moses und die Propheten“, wie Marx formulierte.
    Diese Eliten müssen ausgewechselt werden. Wir brauchen neue Formen der Demokratie. Wir brauchen Räte in Nachbarschaften, Gemeinden und Ländern, aus Betrieben und aus den Organisationen der Zivilgesellschaft – von den Umweltgruppen über Berufsgenossenschaften und karitativen Vereinigungen bis zu Sport- und Kulturverbänden. Das System der Berufspolitik alten Schlags – ob korrupt, opportunistisch oder sträflich naiv – muss durch die direkte Bindung der Gewählten an Nachbarn und Kollegen ersetzt werden. **)
  6. Die internationalen Organisationen machen zum Teil hervorragende Arbeit, wie etwa die Weltgesundheitsorganisation WHO.
    Ihre Arbeit ist umso besser, je mehr sie aus Expertengruppen im Dienst des globalen Kapitals zu solidarischen Vereinigungen für die Interessen aller ohne Ansehen von Rasse, Geschlecht, Nationalität umgewandelt werden. Dies ist ein langwieriger Prozess, der sich stützen muss auf die Organisationen der internationalen Zivilgesellschaft, die bisher an den Katzentischen der internationalen Politik ihren Platz finden müssen. Beginnen muss es damit, dass das Prinzip der Solidarität jetzt schon durchgesetzt wird gegen egoistische Politik der Nationalstaaten.
    Die deutsche Weigerung, Euro-Bonds – die Übernahme der Schulden der einzelnen europäischen Staaten durch gemeinsame europäische Anleihen, um die Insolvenz der Schuldner zu verhindern – zu verabschieden, ist ein weiterer Skandal in der ruchlosen Ausplünderung europäischer Länder durch die überlegene deutsche Wirtschaftsmacht.

B. Corona und der Exportüberschussweltmeister

flasbeck2013k

Von Heiner Flassbeck

Deutschland ist mit seiner extrem einseitigen, auf Exportüberschüsse ausgerichteten Wirtschaftsstruktur in und nach der Krise in höchstem Maße gefährdet.
Jetzt gilt es, Schaden dadurch abzuwenden, dass alte Dogmen schnell ad acta gelegt werden.

Wer glaubt, die Industrieländer würden etwa gleichartig von den wirtschaftlichen Folgen des Corona-Schocks betroffen sein, liegt falsch. Weil die Bekämpfung der Krise eine nur dramatisch zu nennende Rückkehr des Nationalstaates und abgeschotteter Grenzen mit sich gebracht hat, werden diejenigen wirtschaftlich am meisten leiden, die auf offene Grenzen und den freien Austausch von Waren und Gütern angewiesen sind.
Das Land, das ganz oben auf der Liste derer steht, denen die Unterbrechung des globalen Handels massiv schaden wird, heißt Deutschland.

Gerade hat der Internationale Währungsfonds (IWF) eine erste Prognose für die Weltwirtschaft in diesem Jahr vorgelegt. Für die gesamte Welt steht dort eine Zahl von minus 3 Prozent, was nicht gewaltig aussieht, es in Wirklichkeit aber ist.
Deutschland muss entsprechend den Erwartungen der Ökonomen aus Washington mit einem Rückgang des BIP von sieben Prozent rechnen, die USA mit sechs Prozent, Frankreich mit über sieben Prozent, Spanien mit acht, und Italien sieht sich sogar mit einem neunprozentigen Rückgang der gesamten Wirtschaftsleistung konfrontiert.

Für Deutschland geht der IWF also von einem deutlich größeren Rückgang aus, als ihn die Sachverständigen (mit minus 2,8) und die Institute (mit minus 4,2) vorhergesagt haben.
Aktuelle Zahlen über Arbeitslose, Produktion und Umsätze in den USA lassen allerdings darauf schließen, dass auch diese Schätzung noch auf der optimistischen Seite liegt.
Europa und Deutschland glänzen durch die Abwesenheit jeder ernsthaft zu verwendenden Zahl; die Statistischen Ämter sind offensichtlich nicht in der Lage, ihren gewohnten Trott zu durchbrechen, der darauf hinausläuft, dass es erst Anfang Mai Zahlen für den März gibt.

So hat das Statistische Bundesamt zwar eine Internetseite für „Statistiken mit Bezug zu COVID-19 erstellt. Aber außer einem Lkw-Maut-Fahrleistungsindex steht dort nichts Neues, was der schnelleren Beurteilung der Lage dienen könnte. Und die Zeitreihe des besagten Index ist viel zu kurz, um daraus Schlussfolgerungen für die Produktion ziehen zu können.
Eurostat hat seinen Internet-Auftritt ebenfalls etwas angepasst, dreht den Spieß allerdings um. Dort erklärt man: „Eurostat and the National Statistical Institutes (NSIs) are doing their best to continue publishing relevant statistics of the highest quality, as planned in the national and Eurostat release calendars.“
Das kann man auch so lesen, dass wir schon froh sein können, überhaupt Daten im normalen Rhythmus zu erhalten.

Die Bundesagentur für Arbeit gibt zwar laufend neue Rekorde bekannt bei der Zahl der Betriebe, die Kurzarbeit anmelden (zuletzt 725 000), war bisher aber offenbar nicht bereit oder fähig, für mehr als die ersten 55 000 geprüften Anträge anzugeben, für wie viele Menschen dabei Kurzarbeit angemeldet worden ist.

Was passiert mit dem Exportüberschuss?

Erstaunlich an allen vorliegenden Prognosen ist, dass sie damit rechnen, der deutsche Überschuss im Außenhandel werde nahezu unverändert hoch bleiben, obwohl der internationale Handel nach einer Vorhersage der Welthandelsorganisation um 13 bis 32 Prozent einbrechen wird (der IWF rechnet mit minus 11 Prozent).
Die Institute setzen zwar einen Rückgang der deutschen Exporte von mehr als zehn Prozent an, vermindern aber auch die Importe um fast zehn Prozent, so dass der deutsche Überschuss sich nur wenig verringert. Auch der IWF rechnet mit einem Überschuss von 6,6 Prozent des BIP, nach 7,1 Prozent im vergangenen Jahr.

Diese Vorhersagen werden sich als falsch erweisen. Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Währungen vieler Schwellen- und Entwicklungsländer, mit denen Deutschland insgesamt einen Überschuss von mehr als vierzig Milliarden Euro aufweist (plus OPEC-Staaten gar fast 60 Milliarden), stark abgewertet haben, was deren Einkauf ausländischer Güter generell verteuert und in vielen Fällen nahezu unmöglich macht.

Auch die Regierungen dieser Länder werden darauf achten müssen, dass viel weniger importiert wird. Auslandsverschuldung wird in der Krise wieder als ein gewaltiges Problem betrachtet, weil davon das Rating der Kapitalmärkte sehr stark mit abhängt, dem sich die Entwicklungsländer leider nicht entziehen können (vgl. dazu auch diesen Artikel).
Hinzu kommt, dass die Rohstoffpreise enorm gesunken sind, was die Verfügbarkeit ausländischer Währung in diesen Ländern weiter einschränkt.

Gegenüber den anderen Industrieländern gibt es zwar keine deutlichen Aufwertungen des Euro, aber sowohl gegenüber dem Rest der Welt als auch gegenüber den EWU-Partnerländern wird das deutsche Außenhandelsgeschäft in den kommenden Monaten mit Sicherheit deutlich schwieriger.
Deutschlands Kerngeschäft ist nämlich der Verkauf von Gütern, die man genau jetzt nicht unbedingt braucht. Bricht die Wirtschaft weltweit nur in dem Ausmaß ein, das der IWF jetzt erwartet, sind die weltweiten Kapazitäten in einem Maße unterausgelastet, wie es das seit der Großen Depression der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht gegeben hat.

Bei unausgelasteten Kapazitäten wird die Investitionstätigkeit zunächst einmal für ein bis zwei Jahre extrem schwach sein und folglich die Nachfrage nach deutschen Maschinen.
Auch für große Infrastrukturprojekte, für die man deutsches Knowhow und deutsche Schwermaschinen braucht, wird es in den nächsten Jahren überall an Geld fehlen, weil die öffentlichen Haushalte zwar nicht in einer objektiven Zwangslage sind, die Politik aber fast überall die Lage in dieser Weise interpretieren wird und sich damit selbst knebelt.

Schließlich geht es um die Automobilindustrie, die immer noch das große Standbein der deutschen verarbeitenden Industrie ist. Wenn man einmal unterstellt, dass in allen wichtigen Abnehmerländern der deutschen Automobilunternehmen mindestens ein Viertel aller Arbeitnehmer in diesem Jahr einen völlig unerwarteten finanziellen Rückschlag erleiden, weil sie für mindestens zwei Monate Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld beziehen, kann man sich ohne weiteres vorstellen, dass der Kauf eines neuen Autos erst einmal weit in die Zukunft geschoben wird.
Auch ein Großteil der Unternehmen, die erhebliche Gewinneinbußen erlebt haben, hat sicher anderes zu tun, als über den Kauf neuer Automobile nachzudenken.

Die deutsche Automobilindustrie, die sich schon vor Corona in einer ausgeprägten Rezession befand und mit Modellumstellungen zu kämpfen hat, dürfte vor ihrer größten Bewährungsprobe in den letzten siebzig Jahren stehen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich das Wunder von 2010 wiederholt, als die chinesische Nachfrage nach deutschen Autos regelrecht explodierte und der Branche wie der gesamten deutschen Wirtschaft entscheidend half, die globale Rezession rasch zu überwinden.

Exportüberschüsse wollen alle

Der entscheidende Zusammenhang, der dem Exportüberschussweltmeister das Leben schwer machen wird, ist mit dem bisher gesagten jedoch noch nicht einmal angesprochen.
Praktisch alle Länder der Welt werden in der Krise ihre öffentlichen Defizite massiv erhöhen und nach der Krise unter politischem Druck sein, die Defizite und Schuldenstände wieder zu begrenzen. Ganz besonders gilt das für Europa, wo noch niemand mit politischer Verantwortung gesagt hat, dass die Maastricht-Kriterien – einschließlich der 60 Prozent-Grenze für den öffentlichen Schuldenstand – nun für alle Zeit obsolet sind.

Unter dem Druck, die öffentlichen Defizite gering zu halten, werden nach der Krise alle Länder versuchen, ihre Leistungsbilanzdefizite abzubauen bzw. selbst Überschüsse zu erzielen.
Weil die Unternehmen schon lange nicht mehr die traditionelle Rolle des Schuldenmachers und Investors übernehmen, gibt es – wie wir oft gezeigt haben – keine andere Möglichkeit, die Wirtschaft zu beleben, wenn der Staat als Schuldner ausfällt, außer der, dass man das Ausland zum Schuldenmachen zwingt.

Daraus folgt, dass der deutsche Weg der vergangenen 15 Jahre, nämlich über Leistungsbilanzüberschüsse das Schuldenmachen auf das Ausland zu verlagern, hundertprozentig versperrt ist.
Weder die übrigen Europäer noch die USA werden es hinnehmen, dass Deutschland noch einmal voll auf Außenhandelsüberschüsse setzt.
Von den Schwellen- und Entwicklungsländern werden bei sehr niedrigen Bewertungen ihrer Währungen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Leistungs- und Handelsbilanzsalden auf die Überschussseite zu bringen.

Um diesem Dilemma zu entkommen, müsste Deutschland rasend schnell lernen, dass es in seinem eigenen Interesse nicht darauf beharren sollte, dass nach der Krise die Maastricht-Kriterien wieder in Kraft gesetzt und die Staaten zu einer Austeritätspolitik gezwungen werden.
Nur wer den Zusammenhang von Sparen, Verschulden und Investieren begreift, hat eine Chance, die ökonomischen Schäden der Coronakrise einigermaßen zu begrenzen.
Ob sie will oder nicht, die deutsche Politik wird sich neue ökonomische Ratgeber suchen müssen, um im Inland und in Europa über die Runden zu kommen.

Meine Anmerkungen

Schock-Strategie_Naomi_Klein*: Genau diese Strategie beschrieb Naomi Klein in ihrem Buch: Die Schock-Strategie; in der EU wird hier die Anwendung schon 2017 beschrieben: https://josopon.wordpress.com/2017/08/01/griechenland-verordnete-verarmung/

**: Dazu wieder die Fragen des lesenden (und leidenden) Intellektuellen – wenn die Meinungsmache wieder so perfekt inszeniert wird wie oben beschrieben, woher soll dann der Widerspruchsgeist erwachsen ? Es bleibt nach der guten Analyse wieder beim moralischen Appell des Müssens. Davon abgesehen finde ich als Arzt die jetzigen Kontaktsperremaßnahmen leider bis auf weiteres unumgänglich, um Hunderttausenden das Leben zu retten. Siehe https://josopon.wordpress.com/2020/04/07/corona-geht-gerade-erst-los-warum-es-schlimmer-kommt-als-die-regierung-sich-zu-sagen-traut-und-was-sie-trotzdem-richtig-macht/
und 200414-Analyse-Dr.-Vogt
Jochen