„Es herrscht Klassenkampf“ – Sozialgipfel der Linken in NRW

Aktuelles Interview auf den NachDenkSeiten:

Armut in Deutschland? Haben wir nicht! Angst vor zu niedriger Rente? Alles Einbildung! „Deutschland geht es so gut wie nie zuvor!“. Behauptet zumindest Merkel und mit ihr die große Politik. Anders sieht das die Linkspartei Nordrhein-Westfalen und will anhand eines großen Sozialgipfels eine sozialpolitische Offensive forcieren. Nicht nur, aber auch, weil sie weiß, dass dem Rechtspopulismus von AfD und anderen mit dummen Phrasen und moralischen Appellen nicht beizukommen sein wird und die neoliberalen Parteien bereits zum nächsten Angriff auf den Sozialstaat blasen.

Özlem Alev DemirelÜber die politisch gewollte Armut im Land und was gegen diese getan werden muss sprach Jens Wernicke mit Özlem Alev Demirel, Landessprecherin der Linkspartei Nordrhein-Westfalen.

Frau Demirel, am 7. Mai veranstaltet die Linke Nordrhein-Westfalen unter dem Motto „Zeit für Veränderung“ einen Sozialgipfel, auf dem unter anderem Ulrich Schneider und Sahra Wagenknecht referieren. Warum dieser Gipfel? Was ist Ihre Intention?

In NRW wächst die Armut noch schneller als in anderen Teilen der Republik. Insbesondere das Ruhrgebiet gehört zu den größten Armutsregionen des Landes. Doch längst ist Armut nicht nur hier bittere Alltagsrealität: Arm trotz Arbeit und in der Rente, Arm durch Hartz IV, Arm durch horrend hohe Mieten.

Das alles gibt es in NRW überproportional häufig. Und dies, obwohl Hannelore Kraft mal versprochen hatte, kein Kind zurückzulassen. Von einer wirklich sozial orientierten Politik der Landesregierung kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Genauso wie die Armut wächst, ist NRW auch das Bundesland, in dem sich der Reichtum konzentriert – aber eben nur in den Händen einiger Weniger.

Seit der letzten Landesvorstandswahl haben wir das Thema Armut in den Fokus unserer politischen Arbeit genommen. Dabei geht es uns – anders als viele meinen – nicht lediglich um Sozialpolitik im engeren Sinne. Denn die soziale Frage zieht sich durch alle Lebensbereiche und Politikfelder.

Was heißt das konkret für ihren Sozialgipfel…?

Wir haben diesen Sozialgipfel so konzipiert, dass wir verschiedene, gesellschaftspolitisch wichtige Themen, verknüpft mit der sozialen Frage, diskutieren. So werden neben den klassischen, sozialpolitischen Themen etwa auch die Themen Ökologie, direkte Demokratie, Bildung, Migration und weitere in neun verschiedenen Foren besprochen.  

Wir haben dafür viele renommierte und fachkundige Referierende aus der Wissenschaft – etwa die Professoren Bontrup und Hickel –, wichtigen Verbänden und Organisationen sowie für den kulturellen Abschluss den bekannten Kabarettisten Fritz Eckenga gewinnen können. Es werden insbesondere viele Vertreter*innen aus Gewerkschaften und Sozialverbänden sowie von Selbsthilfeorganisationen beim Gipfel sein.

Das ist uns besonders wichtig, denn die soziale Frage zu behandeln, heißt nicht nur darüber reden oder stellvertretend für die Menschen und ihre Organisationen in Parlamenten vertreten sein, sondern mit den Betroffenen gemeinsam für Veränderung kämpfen. Statt irgendwelcher abstrakten Debatten in der Partei von oben wollen wir in NRW flächendeckend diesen Ansatz stärken.  

Welche Folgen zeitigt diese allgemeine Armut denn konkret? Ich meine: Es gibt ja medienwirksame Stimmen, die meinen, wir gesellschaftlichen Linken sollten mit unserem „Gejammere“ mal lieber die Klappe halten, absolute Armut gäbe es ja nicht, in Deutschland sei alles viel besser als andernorts usw. usf.

Ich finde diese Debatte um absolute oder relative Armut ziemlich heuchlerisch. Armut und Reichtum sind nun einmal zwei Seiten ein und derselben Medaille und müssen dementsprechend auch immer in Relation zueinander betrachtet werden.

Und ganz ehrlich: Welche Leute sind es denn, die den Menschen hier eintrichtern, dass sie nicht jammern sollen? Ich gehe mal davon aus, dass es nicht dieselben sind, die im Alter Flaschen sammeln müssen…

Armut kann eben auch bedeuten, in die eigenen vier Wände eingesperrt zu sein, manchmal sogar einsam, weil man es sich eben nicht leisten kann, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Im öffentlichen Raum kann mittlerweile sogar ein Klobesuch, eine Bahnfahrt oder Hunger und Durst zu einem Hindernis werden. Armut kann bedeuten, den eigenen Kindern einiges vorenthalten zu müssen, wie einen Zoobesuch oder dass Kinder eben nicht dieselben Chancen in einem selektiven Bildungssystem haben. Und immer öfter bedeutet Armut eben auch, arbeiten zu müssen, bis man umfällt oder krank wird, damit wenigstens die eigene Familie sich etwas leisten kann, aber dann eben keine Zeit mehr zu haben, das Leben gemeinsam zu genießen.

Wo Sie es gerade ansprachen… Abstrakte, entfremdete Debatten – das ist es, wie ich Parteipolitik oftmals erlebe. Und ich denke, dieses Narzisstentum in der Politik, gepaart mit parlamentarischer Entfremdung, das ist dann auch einer der Hauptgründe dafür, dass die Menschen keine Lust mehr haben auf „Politik“. Sie sind dabei gar nicht „politikverdrossen“, sondern es nur leid, zu Objekten apodiktischer Parolen gemacht zu werden, denen es kaum einen Deut wirklich um sie selber geht.

In der Tat sind viele Menschen nicht apolitisch, sondern haben schlicht keine Lust mehr auf das, was ihnen in diesem Land die ganze Zeit als Politik verkauft wird. Nämlich Gerede von oben – weit weg von ihrer Lebensrealität – gepaart mit einer Arroganz und angeblichen Alternativlosigkeit, die den Leuten dann auch in vielen Medien als „Realpolitik“ verkauft wird.

Aber mal ehrlich, was ist denn Politik in diesem Land und worüber bestimmt sie? Politik spielt in allen Lebensbereichen eine Rolle, in denen sich Menschen bewegen. Von der Mobilität bis zur Rente wird dabei alles von der herrschenden Wirtschaftsordnung bestimmt und die Entscheidungen der Politik haben daher „marktkonform“ zu sein. Alles andere wird mit Begriffen wie „Wahnsinn“, „Fundi“, „linke Spinner“ oder „realitätsfern“ und „utopisch“ abgetan.

Dabei ist doch die eigentliche Illusion, zu glauben, dass ein System, das immer mehr Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte produziert, stabil und als solches dann auch noch die letzte Stufe der Geschichte sein kann. Die Frage muss, wie ich finde, doch vielmehr lauten: „Warum sollen wir uns mit so einer wirtschaftlichen Ordnung abfinden?“ Fakt ist: Armut ist logische Konsequenz dieser Wirtschaftsordnung und Politik.

Wie kann man solchen Entfremdungstendenzen denn entgegentreten? Persönlich und als Partei… Gibt es in Ihrem Vorstand, in Ihrer Landesfraktion denn Personen, die konkrete Erfahrungen mit Armut haben, Personen etwa, die lange Hartz IV bezogen haben oder ähnliches?

Armut ist nicht nur Hartz IV, sondern hat längst viele Facetten. Man muss auch nicht arm sein, um gegen die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt zu kämpfen, aber ja, es gibt auch viele in unseren Reihen, die Armut aus ihrem eigenen Leben kennen. Und: Können sie mir überhaupt noch jemanden nennen – vor allem in der jüngeren Generation – der nicht auch Existenzängsten ausgesetzt war oder nach wie vor ist? Die Schicht derjenigen, die nie in die Gefahr geraten, einmal richtig abzurutschen, wird doch immer kleiner.

Das Hauptproblem ist auch, dass viele Menschen nur das, was in Parlamenten geschieht, als „die Politik“ wahrnehmen und lediglich „professionelle Politiker“, also Abgeordnete und hauptberufliche Amtsträger als politisch relevante Größen wahrnehmen. Dabei verkennen sie, dass es ebenso Politik ist, wenn sie auf die Straße gehen und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen demonstrieren. Politik heißt eben nicht nur abgedroschene Phrasen von irgendwelchen selbsternannten oder gewählten Stellvertretenden zu hören, sondern auch, sich mit Freunden über die Rente zu unterhalten oder sich dafür einzusetzen, dass es bessere Lernbedingungen für unsere Kinder gibt, gegen TTIP demonstrieren und vieles mehr.

Ohnehin sollte man nicht vergessen, dass die wahre Veränderung erst dann beginnt, wenn man diese Dinge, die einen auch im Alltag beschäftigen, in die Öffentlichkeit zu tragen, darüber zu diskutieren und für Alternativen zu streiten beginnt. Letztlich ist die Macht der Straße auch um ein Vielfaches größer als die Macht der Parlamente.

Ist es nicht komisch, wenn Sie als professionelle Politikerin, die ja auch selber mal im Parlament gesessen hat, sowas sagen. Warum möchten sie da überhaupt noch in die Parlamente kommen?

Gleichwohl würde ich nie behaupten, dass die Parlamente unwichtig sind. Ich möchte nur dem Eindruck entgegenwirken, dass es ausschließlich die parlamentarische Ebene ist, auf der Politik gemacht wird. Dies stellt die Realität auf den Kopf. Selbstverständlich muss man auch die Möglichkeiten der parlamentarischen Ebene nutzen. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass Veränderungen in Parlamenten eingeleitet werden.

Ich gebe Ihnen mal zwei Beispiele aus meiner Zeit als Landtagsabgeordnete. Während dieser Zeit sind in NRW etwa die Studiengebühren abgeschafft und die Abwahl von Bürgermeistern ermöglicht worden. Beides wäre noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen. Nur durch erheblichen, gesellschaftlichen Druck hat sich eine Mehrheit auch im Parlament hinter diesen Anliegen formiert. Und wir als Linkspartei-Abgeordnete haben versucht, diesen Protest und Unmut ins Parlament zu tragen und durch Gesetzesinitiativen und parlamentarische Arbeit hier positive Fortschritte erreicht. Deshalb ist es wichtig, dass wir als LINKE auch stark in Parlamente einziehen. Doch das allein reicht nicht!

Können Sie festmachen, woran es liegt, dass die AfD und ähnliche „Vereine“ gerade tausende auf die Straßen bekommen, von linken Demos aber kaum etwas zu sehen ist? Da scheinen die Rechten ja irgendetwas „besser“ zu machen als die Linken oder irre ich mich?

Naja, dass die AfD in NRW tausende auf die Straße bekommen hätte, wäre mir neu. Ich denke, Sie spielen da auf die Pegida-Demonstrationen in Dresden an. Ich kann ihnen aber berichten, dass bei jeder Demonstration der Rechten hier in NRW mindestens das Doppelte an Gegendemonstranten teilgenommen hat.

Daneben gab es in der vergangenen Zeit zahlreiche Mobilisierungen, die definitiv nicht als rechts bezeichnet werden können. Ich denke da an die Streiks im letzten Jahr für bessere Löhne oder Arbeitsbedingungen oder die Blockupy-Demonstrationen sowie die Massendemonstrationen gegen TTIP in Berlin und Hannover. Während es aber bei den Pegida-Demonstrationen ständig hieß, dass die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden müssen, habe ich entsprechende Äußerungen nie in Bezug auf Blockupy oder die Proteste gegen TTIP wahrgenommen.

Aber ja, ich würde mir auch noch mehr und vor allem schlagkräftigeren Protest wünschen, insbesondere auch gegen die unzähligen Kriege auf dieser Welt, an denen auch die Bundesrepublik und die EU direkt oder indirekt mitbeteiligt sind.

Da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt, Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht in die Position bringen, dass Sie sich rechtfertigen. Was ich meinte, war: Die AfD hat massiven Zulauf und steht hoch in der Wählergunst, die Erfolge Ihrer Partei stagnieren hingegen und trotz allen Parlamentarismus hat es die Linke weder geschafft, die Massen, damit meine ich die Millionen, die notwendig wären, um Schlagkraft zu erlangen, zu mobilisieren, um Hartz IV endgültig abzuschaffen, noch sonst Bahnbrechendes für die soziale Gerechtigkeit in der sogenannten „Realpolitik“ durchzusetzen. Kluge Positionen und wunderbare Analysen gibt es da; was aber hilft das den Menschen, die in diesem Lande im Elend leben und seit vielen Jahren auf realeVerbesserungen Ihrer Lebensbedingungen warten? Wen wundert es da, wenn sich die Leute in der Not nun auch dem Strohhalm AfD zuwenden, der Ihnen mittels Rassismus und Nationalismus glaubhaft zu machen versucht, endlichwirklich etwas für sie zu tun?

Tatsächlich ist wohl ein Teil des Problems, dass wir uns zu viel um die parlamentarische Arbeit gekümmert haben und dabei zu wenig gemeinsam mit den Menschen vor Ort aktiv waren oder nicht ausreichend dazu beigetragen haben, dass gesellschaftliche Bewegungen aufgebaut werden. Unser Landesverband hatte lange Zeit den Banner „Veränderung beginnt durch Opposition“ verinnerlicht.

Doch wo beginnt Opposition? Erst im Parlament? Ich würde sagen, Opposition beginnt im Bewusstsein der Leute. Diese müssen wir mitnehmen. Wenn wir einfach nur in den Parlamenten laut „Nein“ zu allem sagen, werden wir die Menschen auch nicht erreichen.

Nun argumentieren zurzeit aber ja auch Gysi und andere Parteigrößen für Rot-Rot-Grün. Das sei unabdingbar notwendig, um den „Rechtsruck“ im Lande zu unterbinden. Sie fordern damit eine finale Assoziation der letzten wirklichen Oppositionskraft in das parlamentarische System. Meinen Sie, durch derlei Einbindung in Strukturen könne Schlimmeres verhindert werden? Und wieso? Ich meine, wenn ich so an die SPD denke, die diesen Weg seit Jahrzehnten beschreitet, fällt mir unter dem Stichwort „Verhinderung von Schlimmerem“ vor allem ein, dass wir dieser das größte Verarmungsprogramm und den ersten Krieg mit deutscher Beteiligung seit 1945 verdanken

Das Argument des kleinen Übels ist ein Totschlagargument und wie Sie ja richtig beschreiben, trifft es vielfach noch nicht einmal zu. Wobei ich meine, dass es bei einer tatsächlichen faschistischen Regierung nicht um diese Frage ginge. Da wäre die Linke tatsächlich in der Pflicht, solch eine Entwicklung mit breiten Bündnissen zu verhindern.

Es wäre aber völlig verfehlt, dies auf die Regierungsfrage zu reduzieren. Regierungen haben den Faschismus noch nie verhindert. Lediglich mit einer Parlamentsmehrheit entzieht man rassistischem Gedankengut nämlich weder den Nährboden noch gibt man die richtigen Antworten darauf.

Darüber sprachen wir ja schon: Aktuell wählen Menschen aus Protest oder getrieben von rassistischen Ressentiments die sogenannte AfD. Unsere wichtigste Aufgabe ist es daher zurzeit, jetzt nicht irgendwelche Farbenspiele zu beginnen, sondern den Menschen, die von Abstiegs- und Existenzängsten geplagt sind, deutlich zu machen, dass die wahren Ursachen für ihre soziale Situation weder der muslimische Nachbar von nebenan noch die Geflüchtete sind. Ja, dass ganz im Gegenteil auch diese beiden in aller Regel Opfer derselben Habgier und des Systems in diesem Land wie weltweit geworden sind. Dieses System entzieht uns allen zunehmend die Existenzgrundlage, weltweit.

Es ist daher heute wichtiger denn je, zu erkennen, dass die Grenzen nicht zwischen den Religionen, Kulturen oder Nationalitäten, sondern zwischen Arm und Reich, zwischen unten und oben, verlaufen.

Ich würde sogar die These wagen, dass, betrachtet man sich einmal die Entwicklung von SPD und Grünen, gerade jene, die heute alles dafür tun, Rot-Rot-Grün zu ermöglichen, womöglich in einigen Jahren auch jene sind, die mit Hartz 2020 den finalen Sieg der „sozialen Gerechtigkeit“ zu feiern in der Lage wären; dass also etwa beispielsweise Rot-Rot-Grün den Regelsatz dann um 25 Euro erhöht und damit „endlich“ die Armut um Lande für beseitigt erklärt. So läuft doch Politik – und so scheint er Menschen und Parteien zu zermürben auf dem bedingungslosen Weg „zur Macht“.

Diese Gefahr besteht, aber das muss nicht sein. Letztlich muss man sich entscheiden, in wessen Interesse man Politik machen möchte. Wir müssen uns entscheiden. Im Interesse der lohnabhängigen Klasse und damit der 99 Prozent – oder im Interesse des Kapitals. Diese Interessen stehen im Widerspruch zueinander. Kurz: Es herrscht Klassenkampf.

Dementsprechend hängt auch alles von diesen Kämpfen und den gesellschaftlichen Dynamiken ab und ist weder statisch noch lediglich vorherbestimmt durch die vergangene Entwicklung.

Was konkret erhoffen Sie sich diesbezüglich denn von Ihrer Tagung? Und aber auch ganz allgemein: Wie können wir, die 99 Prozent, wie Sie sagen, unsere Chancen in diesem aussichtslos scheinenden Kampf denn verbessern? Was täte not, ganz konkret?

Uns ist natürlich klar, dass wir mit einer Tagung nicht von heute auf morgen die Welt verändern werden. Es geht uns aber darum, eine Debatte zu starten und mit vielen realen und potenziellen Bündnispartnern zusammen zu kommen, ihnen zuzuhören und daran für die weitere Arbeit anzuknüpfen.

Wir würden uns freuen, wenn möglichst viele Menschen am 7. Mai mit uns gemeinsam darüber diskutieren, wie wir ein sozialeres NRW erreichen können. Von dieser Tagung kann ein starkes Signal ausgehen, dass wir im kommenden Jahr in ganz NRW stärker vor Ort präsent sein wollen und die soziale Frage in all ihren Facetten zum Thema machen.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Özlem Alev Demirel, Jahrgang 1984, engagierte sich bereits als Schülerin politisch. Sie war Mitglied im Landesvorstand der LandesschülerInnenvertretung Nordrhein-Westfalen, langjähriges Mitglied im Bundesvorstand der DIDF-Jugend sowie deren Bundesvorsitzende. 2010 wurde sie über die Landesliste der Linkspartei in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt. Aktuell ist sie Landessprecherin der Linkspartei Nordrhein-Westfalen.


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Neue Kampagne der Frankfurter Banking-Community: Jens Weidmann gibt ein Musterbeispiel für Manipulation

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Norbert Häring ist aufmerksam geworden auf die neuen Lügen des Jens Weidmann:
http://norberthaering.de/de/27-german/news/532-jens-w
Auszüge:

Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat auf dem Europäischen Bankenkongress in Frankfurt Ende 2015 eine verräterische Rede gehalten. Es lohnt sich, sie zu analysieren, um die vielen Falschdarstellungen zu entlarven, derer es bedarf, um die kapital- und bankenfreundliche Politik der Notenbanker zu rechtfertigen.
Aus Opfern werden Täter, aus Folgen werden Ursachen gemacht.

Wie können wir den wirtschaftlichen Herausforderungen des Euro-Raums begegnen“, fragt Jens Weidmann im Titel seines Vortrags. Ich interpretiere das „Wir“, gesprochen vor der Frankfurter Banking-Community als „Wir die Banking-Community“. Wie wir sehen werden, lässt sich diese Sichtweise ganz gut durchhalten. Zugegeben: das Wort Lüge ist strenger als üblich, für die interessengeleiteten Verdrehungen, die er zum Besten gibt. Aber die Versuchung, so die Klangähnlichkeit mit dem Roman von Ulrich Plenzdorf herzustellen, ist einfach zu groß.

Alles Relative wird wegdefiniert

Die Verdrehung der Realität fängt mit einer unzulässigen Verengung an, damit dass Weidmann für den Euroraum das Bild des Luxus-Sportwagens bemüht, einer in Frankfurt besonders häufig anzutreffenden automobilen Abart. Der Ferrari fahre nicht so schnell, wie er eigentlich könnte. Mit schnell ist Wirtschaftswachstum gemeint und schon hat Weidmann alles wegdefiniert, was tatsächlich die Hauptprobleme des Euroraums ausmacht, aber aus Sicht des deutschen Kapitals nicht problematisiert werden sollte, die Ungleichgewichte. Wenn er sie im Folgenden doch thematisiert, dann nur als Unwuchten, als Problem, das daraus entsteht, dass etwa ein Reifen weniger leistungsfähig ist als die Norm. Selbst Deutschland, mit seinen riesigen, nirgends im Vortrag erwähnten Außenhandelsüberschüssen, kann er deshalb auffordern, noch leistungsfähiger zu werden. Für volle Leistungsfähigkeit sollten ja alle Teile maximale Leistung bringen. Weidmann hat offenkundig hervorragende Redenschreiber.

Aus Wirkung wird Ursache

„Die Diskrepanz zwischen Preisen und Löhnen einerseits, und Produktivität andererseits war die Hauptursache für die Leistungsbilanzdefizite. Diese Defizite mussten extern finanziert werden und führten zu einer prekären öffentlichen und privaten Verschuldung.“

Tatsächlich war die Wirkungskette anders herum. Aufgrund der Nachfrageschwäche in Deutschland und des durch die Währungsunion stark sinkenden Zinsniveaus in den peripheren Ländern kam es zu einem starken Kapitalfluss aus Kerneuropa in die Peripherie. Aufgrund des leicht und billig zu habenden Kredits wurde auf Teufel komm raus investiert und gebaut. Die Kapitalflüsse waren zuerst da, die Lohnsteigerungen kamen später.
Das führte zu überproportionalen Lohn- und Preissteigerungen in diesen Ländern, aber wegen der ebenfalls stark steigenden Produktion erst einmal nicht oder kaum zu Produktivitätsproblemen. Die Probleme entstanden erst, als im Zuge der Krise die Produktion einbrach und in Relation zu den gestiegenen Löhnen und dem hohen Beschäftigungsgrad zu mickrig wurde.

Statt Weidmanns verdrehter Aussage, die Ursache der Krise sei eine falsche Lohnpolitik gewesen, wäre korrekt: Ursache waren von der Europäischen Zentralbank lange Zeit ignorierte und aktiv beschönigte Kreditblasen in den peripheren Ländern. Die EZB hat sogar extra ihren Referenzwert für die Geldmengenentwicklung eingemottet, weil er Alarm schlug.

Der junge W. macht weiter mit der nächsten Verdrehung:

Als die Märkte sich weigerten, die Defizite weiterhin zu langfristig tragfähigen Zinsen zu finanzieren, musste die Lücke geschlossen werden.“

„Sich weigerten“, trifft es nicht. Aufgrund der Subprime-Krise bekamen alle Banken ein akutes, existenzbedrohendes Liquiditätsproblem. Deshalb mussten sie die Kreditvergabe einstellen und strichen bestehende Kreditlinien, was Unternehmen, Konsumenten und Länder, die auf die ansonsten immer übliche Verlängerung von Kreditverträgen am Ende der ursprünglichen Laufzeit vertraut hatten, in existenzielle Probleme stürzte.
Richtig wäre also etwa die Formulierung: Als die Banken, die sich in den USA verzockt hatten, alle Kreditlinien strichen und ihrer Aufgabe der Kreditvergabe nicht mehr nachkommen konnten, kam es zu einer schweren Rezession.

Aus Nachfrageeffekt wird Angebotseffekt

„Die Preise und Löhne wurden stärker an die Produktivität angeglichen. Dadurch werden alle Krisenländer außer Griechenland und Zypern ihre außenwirtschaftlichen Defizite im laufenden Jahr in Überschüsse umkehren können.“

Die Löhne wurden definitiv gesenkt. Das stimmt. Es stimmt auch, dass dadurch das Außenhandelsdefizit abgebaut wurde. Gelogen ist allerdings, dass Letzteres vor allem mit dem Verhältnis von Löhnen und Produktivität zu tun hätte.
Im besten Fall, wie in Spanien, setzt die Zunahme der Exporte ihren langfristigen Trend fort, in den schlechteren Fällen sanken die Exporte trotz der höheren „Wettbewerbsfähigkeit“. Was das Schrumpfen oder Verschwinden der Defizite herbeiführte, war der Einbruch der heimischen Nachfrage aufgrund der gesunkenen Kaufkraft, der sich in einen Einbruch der Importe übersetzte. Die Bevölkerung dieser Länder wurde einfach zu arm gemacht, um sich Importe leisten zu können.

Die in den Brunnen gefallenen sollen mit Regenschirmen gegen schlechtes Wetter vorsorgen

Jens W. fragt dann, was man für mehr Wachstum tun könnte und kommt als Antwort unmittelbar auf die definitorische Feststellung:

„Bei Strukturreformen unterscheidet man zwischen Güter- und Arbeitsmarktreformen. Auf beiden Märkten kann viel erreicht werden. Hier würden Reformschritte zu Produktionssteigerungen führen, da Produktionsfaktoren leichter in Geschäftsfelder mit höheren Renditeerwartungen verschoben werden könnten. Und darüber hinaus wären die Länder besser in der Lage, angemessen auf unvorhergesehene Wirtschaftsereignisse und strukturelle Veränderungen, wie beispielsweise die Digitalisierung zu reagieren.“

Hier driftet der junge W. in eine modellhafte neoklassische Traumwelt ab. Er sagt es im ganzen Vortrag zwar nicht so deutlich, aber gemeint ist mit diesen Strukturreformen wie man weiß die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten wie Kündigungsschutz und unbefristete Verträge und derartige „Friktionen“. In Ländern wie Spanien und Griechenland, die von der größten anzunehmenden ökonomischen Katastrophe getroffen wurden, sollen also Strukturreformen dieser Art umgesetzt werden, damit sie vorbereitet sind, wenn mal in der Wirtschaft etwas schief läuft.
Der zweite Grund ist ebenso weltfremd bizarr. In Ländern, in denen jeder vierte arbeitslos ist, soll die wichtigste Aufgabe darin bestehen, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die noch Beschäftigung haben, diese leichter verlieren können, damit die neuen Unternehmen und Geschäftsfelder, die es mangels Nachfrage und mangels Kredit nicht gibt, problemlos Arbeitskräfte finden würden, wenn es sie denn gäbe.

Normalbegabte Menschen würden so etwas dumm, zynisch, absurd und alles mögliche andere nennen, aber den jungen W. in seiner Selbstsicherheit ficht das nicht an.
Wie der junge W. in Plenzdorfs Roman, der sich auch nach der Ablehnung durch eine Kunstschule weiter für ein verkapptes Genie hält, und er macht weiter. Seine Zuhörer sind ja vor allem Banker, die so etwas gerne hören.

Und so schießt er weiter aus seiner eigenen Adaption von Edgars „Old Werther“. Was diesem die Sprüche aus Goethes Werther, die er immer zitiert, wenn Situationen unangenehm werden oder er sich seiner Sache nicht mehr ganz sicher ist, sind dem Jens W. die angebotsorientierten Floskeln aus alten Sachverständigenratsgutachten, mit denen er ökonomischen Sachverstand vorschützt, wie Edgar W. seelischen Tiefgang.

Aus dem Champion wird ein Versager

Die Strukturreformen auf den Gütermärkten sind nicht ganz so politisch sensibel, wie die auf den Arbeitsmärkten, und so nennt der junge W. beispielhaft ein paar von den besonders wichtigen, die nötig sind, um die Probleme und die Wachstumsschwäche des Euroraums aufzulösen.

„Leider sind die bürokratischen Hürden aber bei Unternehmensgründungen in vielen Ländern Europas nach wie vor hoch. Dies gilt nicht zuletzt für Deutschland, das im Doing-Business-Report der Weltbank in dieser Hinsicht an 107. Stelle steht.“

Also: Der junge W. teilt uns mit, dass geringe bürokratische Hürden vor Unternehmensgründungen ganz, ganz wichtig sind für das Wachstum. Zum Beleg führt er Studien an, die angeblich belegen, dass, wenn man die Marktzutrittshürden von einem niedrigen Niveau wie in Dänemark auf ein mittleres wie in Spanien anhebt, die „totale Faktorproduktivität (das ist im Großen und Ganzen die Wirtschaftskraft) um volle zehn Prozent sinkt.
Und dann erwähnt er noch, dass das europäische Wachstumschampion Deutschland auf diesem Feld ganz schlecht abschneidet.

Regulierung wird eindimensional

Auch zur Regulierung des Finanzsektors äußert sich der junge W. mit Tiefgang:

„Regulierung ist eine Frage der Dosierung. Anscheinend existiert – analog zum Reifendruck – eine Art optimales Maß von Regulierung.“

Mit „Regulierung“ spielt der junge W. auf das weit über 1000 Seite dicke Regelbuch von Basel III und verwandte Konvolute an. Irgendetwas ermöglicht es ihm, diese vieldimensionalen Regelkonvolute auf die eindimensionale Frage zu reduzieren: „Solls ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger sein.“

Weg mit dem Sozialklimbim

Was die Finanzpolitik angeht, plädiert Weidmann nach einer wirren Vorrede dafür, den Staats-„konsum“, also allen Sozialklimbim zu kürzen, damit man mehr investieren kann. Das ist schnörkelloser Lobbyismus für das Kapital, wie man ihn von einem aufrechten Notenbanker erwartet.

Und weil Deutschland ein Gläubigerland ist, will das deutsche Kapital natürlich keine höhere Inflation. Deshalb soll die Europäische Zentralbank nach dem Wunsch Weidmanns ihr Inflationsziel von zwei Prozent tunlichst vergessen und die Wirkung der fallenden Ölpreise herausrechnen.
Vergessen ist, dass die EZB mehrmals den Forderungen der Falken aus dem D-Mark-Block nachgegeben und die Leitzinsen erhöht hat, nur weil steigende Ölpreise die Inflationsrate vorübergehend nach oben getrieben hatten. Für eine Gläubigernation ist eben jedes Argument für höhere Zinsen recht. Er erwähnt sogar die ungünstigen Wirkungen der Niedrigzinsen auf die Lebensversicherer. Er hätte auch Allianz sagen können. Denn was der Allianz frommt, ist bekanntlich gt für Deutschland.

Jens Weidmann fasst am Ende zusammen, was die Euro-Krise aus seiner Sicht lösen kann: mehr Taxifahrer und Friseure, die für weniger Geld arbeiten, und mehr Automation. Im O-Ton:

„Wir werden unser Ziel nur erreichen, wenn wir die immer noch vorhandenen Zutrittsbarrieren zu den Güter-Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten sowie zum digitalen Markt niederreißen.“

Wenn das allein schon die Lösung ist, was ist dann „unser Ziel“, fragt man sich. Die Lösung der Krise des Euroraums sicherlich nicht. Bessere Kapitalverwertungsmöglichkeiten zu Lasten der Arbeitnehmer? Schon eher. Wessen Ziel das ist, ist klar. Das Ziel seiner Zuhörer auf dem Bankenkongress.

Der Unterstützung des deutschen Finanz- und Industriekapitals kann er sich sicher sein. Dieses weiß, dass die radikalen Sprüche dieses jungen W. so nicht in Politik umgesetzt werden. Denn die Bundesbank kann keine Politik mehr machen, sie kann nur bremsen und so dafür sorgen, dass der Finanzierungsvorteil der Deutschen von der EZB nicht ganz abgebaut wird. So wird das ökonomische Genie dieses jungen W. nicht so auf die Probe gestellt werden, wie das von Plenzdorfs Edgar W., der, ein „nebelloses Farbspritzgerät“ entwickelt und beim ersten Versuch, die selbstgebaute Maschine in Betrieb zu nehmen, durch einen Stromschlag getötet wird.

Hinweis: Am 23. Januar habe ich zweieinhalb Absätze hinzugefügt, um den Bezug zu Die neuen Leiden des jungen W. expliziter zu machen.

P.S. Eine treue Leserin wies darauf hin, dass es sich bei den heute nachgefragten Maschinen nicht mehr so sehr um nebellose Farbspritzgeräte handle, sondern vermehrt um Unterbelichter, Nebelkerzenwerfer und Knut- und Federmaschinen für das marktkonforme Klickparkett.

Mein Kommentar: Herr Weidmann wird von uns Steuerzahlern bezahlt und sollte der Allgemeinheit dienen, nicht dem einen Prozent.

Das ganze passt in eine Linie mit der im SOMMER 2015 von dem Arbeiterfeind W.Clement herausgegebenen INSM-Ausbeutungsbibel, zu der ausgerechnet SPD-Gabriel das Weihrauchfass geschwenkt hat: https://josopon.wordpress.com/2015/07/09/arbeiterfeind-w-clement-gibt-insm-ausbeutungsbibel-heraus-spd-gabriel-schwenkt-das-weihrauchfass-dazu/

Jochen