„Hunde, die bellen, aber nicht beißen“ – Christoph Butterwegge zur Debatte über die Verteilung von Vermögen und ein Linksblinker-Beitrag aus der SPD

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

butterwegge2016Butterwegge hat wieder einmal treffend zugeschlagen: https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/hunde-die-bellen-aber-nicht-beissen-90023158.html
Dazu weiter unten aus einem Gastbeitrag von SPD-Chef Norbert Walter-Borjans, Kevin Kühnert und Michael Schrodi in der FR:
https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/corona-deutschland-geld-vermoegen-steuern-borjans-schrodi-kuehnert-90020278.html

Auszüge:

Womöglich besitzen heute weniger als 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, also über 40 Millionen Menschen. Denn diese vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stammende Zahl ist schon etwas älter.
Kürzlich haben seine Verteilungsforscher um Carsten Schröder frühere Ergebnisse im Rahmen eines Forschungsprojekts für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aktualisiert.

Dabei griffen sie auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) zurück, nahmen eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vor und bezogen die Reichenliste eines Wirtschaftsmagazins ein. Demnach entfallen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent des Nettogesamtvermögens konzentriert sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens.

Aufgrund der neuen Untersuchungsmethode beziffert das DIW den Gini-Koeffizienten auf 0,83. Dabei handelt es sich um ein Maß, das bei Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. Das 0,83 entspricht fast dem US-Vergleichswert, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage zeigt.

Zwar fiel die Vermögenskonzentration noch höher aus als bisher dokumentiert, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DIW selbst wiegelten aber hinsichtlich der politischen Konsequenzen ihrer Ergebnisse eher ab *). Daher fehlte es der im Sommerloch ausgebrochenen Verteilungsdiskussion an Biss.

So verwarfen die DIW-Forscher die Forderung nach Wiedererhebung der Vermögensteuer wegen des angeblich zu hohen administrativen Aufwandes und der möglichen Ausweichreaktionen davon Betroffener.
Außerdem betonten die Autoren, dass viele Hochvermögende vornehmlich Betriebsvermögen halten: „Negative Anreize, ihr Vermögen produktiver Aktivität zuzuführen, kann langfristige Konsequenzen für den materiellen Wohlstand aller haben, weil Investitionen, die Arbeitsplätze geschaffen hätten, möglicherweise nicht mehr oder weniger umfangreich getätigt werden.“
Als würde auch nur ein Unternehmer sein Gewinnstreben für den Fall einbüßen und sich als Privatier zur Ruhe setzen, dass er Vermögensteuer entrichten müsste!

Wenn es um die Verhinderung einer höheren Besteuerung von Reichen und Hyperreichen geht, ist diesen wie ihren publizistischen und wissenschaftlichen Steigbügelhaltern kein Vorwand zu fadenscheinig.
Schröder und seine Koautoren führten selbst die von der Corona-Pandemie ausgelöste Rezession als Beispiel für die möglicherweise krisenverschärfende Problematik einer ertragsunabhängigen Besteuerung an.
Als ob es bei einer Vermögensteuer weder Freibeträge noch Stundungsmöglichkeiten gäbe, die negative Folgewirkungen vermeiden helfen!

Mit einer leichten Verschärfung der Schenkung- und Erbschaftsteuer (stärkere Besteuerung von Firmenerben, zumindest Einschränkung des alle zehn Jahre neu in Anspruch zu nehmenden Freibetrages) sowie einer staatlich geförderten Vermögensbildung nannten die Autoren nur zwei Alternativen zur Vermögenssteuer, die zudem beide zahnlosen Tigern gleichen.

Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand war das Patentrezept von CDU/CSU und FDP in den 1960er Jahren, um die damals schon hohe Konzentration des privaten Reichtums abzumildern.
Bewirkt hat es nichts oder sogar das Gegenteil: Die vermögenspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung erfüllten nur eine Alibifunktion gegenüber der Bevölkerungsmehrheit.

Man kann die Verteilungsstrukturen nicht dadurch beseitigen, dass man die Lohnabhängigen zu Kapitalisten macht. Vielmehr würden die Reichen noch reicher, wenn auch die Armen zu Börsianern und damit einem doppelten Risiko ausgesetzt würden: ihren Arbeitsplatz und ihr Vermögen zu verlieren, wenn die Firma, an der sie beteiligt wären, Insolvenz anmeldet.

Wer behauptet, dass man der Vermögenskonzentration in Deutschland durch vermögensbildende Maßnahmen des Staates begegnen kann, ist entweder ignorant, ein Wirtschaftslobbyist oder ein Opportunist.
Die Reichsten sind auch die politisch Einflussreichsten im Land.
Dass die großen Medienkonzerne, die reichen Verlegerfamilien und ihre hochbezahlten Chefredakteure kein Interesse an staatlicher Umverteilung wie der Vermögensteuer haben, ist klar.
Aber dass kritische Wissenschaftler ihre Position stützen, verwundert sehr, ähneln sie doch Hunden, die bellen, aber nicht beißen.

*: Genau dies fällt unter meinen Begriff „Kükenpiepsen“. Dazu auch schon 2016: https://josopon.wordpress.com/2016/07/26/christoph-butterwegges-notizen-uber-neoliberalismus-sozialstaatsentwicklung-und-armut/

Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.

Reichtum umverteilen: Corona zeigt Notwendigkeit einer Vermögensteuer

Die Corona-Pandemie hat die Ungleichheit bei privaten Vermögen in Deutschland deutlicher gemacht. Ein Gastbeitrag von SPD-Chef Norbert Walter-Borjans, Kevin Kühnert und Michael Schrodi.

  • Die Ungleichheit bei privatem Vermögen in Deutschland ist größer als angenommen.
  • Menschen mit weniger Vermögen sind überproportional von Corona betroffen.
  • Das zeigt, dass Reichtum in Deutschland anders verteilt werden muss.

Berlin – Höhere Steuern auf große Vermögen sind ein Gebot der ökonomischen und sozialen Vernunft. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat aufhorchen lassen: Die im internationalen Vergleich bereits hohe Vermögensungleichheit in Deutschland ist noch größer als angenommen. Das reichste Prozent der Bevölkerung vereint 35 Prozent des Vermögens auf sich. Dagegen weist die untere Hälfte nur geringes Vermögen, vielfach sogar Schulden auf.

Damit hat Deutschland die höchste Ungleichheit bei privaten Vermögen in Europa. Diese gesellschaftliche Unwucht ist nicht nur Gift für den sozialen Zusammenhalt. Wenn Vermögenszuwächse da landen, wo sie weder produktiv investiert noch konsumiert werden, und Geld an den Stellen fehlt, wo es zur Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur dringend gebraucht wird, dann wird Vermögensungleichheit auch zu einer empfindlichen Wachstumsbremse.

Corona macht ungleiches Vermögen besonders sichtbar

Hinzu kommt, dass gerade Menschen mit einem schlechteren sozioökonomischen Status überproportional von Corona betroffen sind. Das Coronavirus macht Ungleichheiten auch gesundheitlich besonders sichtbar – und verschärft sie gar noch. Es ist an der Zeit, die Weichen auf mehr Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland zu stellen.

Verteilung des Vermögens: Ergebnis politischer Entscheidungen

Die Vermögensverteilung ist auch ein Ergebnis politischer Entscheidungen. Während Multimillionäre im Laufe der vergangenen 25 Jahre steuerlich entlastet wurden, sank das verfügbare Einkommen des unteren Einkommenszehntels. Zugleich schrumpfte das öffentliche Vermögen.

Nach Schätzungen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) belaufen sich allein die fehlenden Investitionen von Bund, Ländern und Gemeinden zur Instandhaltung der Infrastruktur bereits auf 140 Milliarden Euro. In der Corona-Krise ist klar geworden, wie wichtig ein starker, reaktionsfähiger Sozialstaat ist. Es ergibt also gesamtgesellschaftlich absolut Sinn, etwas für eine gerechtere Verteilung von dem auf wenige Prozent der Bevölkerung konzentrierten Riesenvermögen hin zu unserem öffentlichen Vermögen tun.

Es geht aber auch um ein zentrales Versprechen unserer demokratischen Gesellschaft: Soziale Mobilität, also sozialer Aufstieg durch eigene Leistung, soll für alle möglich sein. Die gesellschaftliche Realität in Deutschland sieht aber leider anders aus: Vor allem der Geldbeutel der Eltern entscheidet über die Zukunftsperspektive der Kinder.

Studie zeigt: Großteil des Vermögens nicht aus eigener Arbeit

Wir plädieren deshalb für eine Neubelebung des Leistungsbegriffs. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das Handwerk, kleine und mittelständische Firmen tragen mit großem persönlichen Einsatz zum Wohlstand unserer Gesellschaft bei, während große Vermögen oft leistungslos vermehrt von einer Generation zur nächsten übertragen werden.

Die DIW-Studie zeigt: Mehr als die Hälfte des Vermögens stammt nicht aus eigener Arbeit, sondern wurde geerbt oder geschenkt. Sozialer Aufstieg wird trotz großer Anstrengung immer schwerer. Eine angemessene Besteuerung weltweit agierender Firmen, eine europäische Finanztransaktionssteuer gerade auf hochspekulative Derivate, die Wiederbelebung der Vermögensteuer sowie eine effektive und gerechte Erbschaftsteuer auf große Betriebsvermögen sind deshalb gerecht und dringend erforderlich.

Vermögen: Steuer für die reichsten zwei Prozent?

Es geht nicht um Neid. Es geht um wirtschaftliche und soziale Vernunft, wenn wir die Vermögenssteuer für die reichsten zwei Prozent endlich oben auf die Tagesordnung setzen und Erbschaften im Millionenbereich angemessen an der Finanzierung von Bildung und Infrastruktur beteiligen.

Wenn wir die Abgaben von Klein- und Mittelverdienern senken, die Kaufkraft stärken und den sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft voranbringen, ist das der richtige Weg. Konservative und Liberale haben anderes vor: Sie wollen Kürzungen bei den dringend notwendigen Zukunftsinvestitionen und beim Sozialstaat. Dieser neoliberale Weg ist eine soziale, ökologische und volkswirtschaftliche Sackgasse.

Mehr und mehr Höchstvermögende erkennen die Gefahr dieser Fehlentwicklung. Zuletzt haben 80 Multimillionäre zur Bewältigung der Corona-Folgen einen höheren Steuerbeitrag von sich und ihresgleichen gefordert. Auch Studien von OECD und IWF verweisen auf den negativen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und wirtschaftlicher Prosperität.

Umverteilung des Vermögens über Steuern – Höhere Löhne nötig

Die Umverteilung über Steuern ist ein Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Den anderen Schritt wollen wir auch tun: Wir wollen für bessere Löhne der Normalverdienenden sorgen und die steuerliche Absetzbarkeit von Top-Gehältern der Spitzenmanager begrenzen. Je gerechter Einkommen in Deutschland verteilt sind, desto weniger muss über die Steuerpolitik korrigiert werden. Dafür wird die SPD mit den Gewerkschaften eintreten.

Wir können uns als Gesellschaft eine solch große Ungleichheit der Vermögen nicht mehr leisten – weder finanziell noch wirtschaftlich oder hinsichtlich des sozialen Zusammenhalts. Deshalb brauchen wir faire Löhne und faire Steuern. Das schafft mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit und ist ein Beitrag, das Jahrhundertprojekt des sozial-ökologischen Umbaus unserer Gesellschaft finanziell zu stemmen.

Norbert Walter-Borjans ist Parteivorsitzender der SPD und Ex-Finanzminister von NRW.
Kevin Kühnert ist Vorsitzender der Jusos und stellvertretender Parteivorsitzender der SPD.
Michael Schrodi ist Mitglied im Finanzausschuss des Bundestags.

Zum Thema SPD vergleiche auch hier: https://josopon.wordpress.com/2017/03/29/erinnerung-volker-pispers-prophetische-aussage-schon-2009-zur-politik-der-spd/

und hier: https://josopon.wordpress.com/2017/02/22/spd-laeutet-traditionelles-linkes-halbjahr-vor-wichtigen-wahlen-ein/

spd2005

So sah das traditionelle linke Halbjahr vor der Bundestagswahl 2005 aus. Vorher (1998-2005): Mehrwertsteuer rauf, Privatisierungen, Hartz IV, Arbeitsmarktflexibilisierung usw….

 

spd2009

Das traditionelle linke Halbjahr 2009. Vorher (2005-2009): Geld für Bankenrettung, Rente mit 67

spd2013

Das traditionelle linke Halbjahr 2013. Danach (2013-2017): Vorratsdatenspeicherung, Freihandelsabkommen, Andrea Nahles

Jochen

Christoph Butterwegge: Wir brauchen einen solidarischen Ruck

Christoph Butterwegge über die Motive seiner Kandidatur für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten

Weil es keinen gemeinsamen rot-rot-grünen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten geben wird, schickt die LINKE einen eigenen Bewerber ins Rennen. Butterwegge ist auch schon hier in den Sozialpolitischen Nachrichten zu Wort gekommen.

Folgend veröffentlicht »neues deutschland« ein 10-seitiges Schriftstück von Professor Dr. Christoph Butterwegge zu seiner Bewerbung um das Bundespräsidentenamt:

Beweggründe für meine Bewerbung um das Bundespräsidentenamt

Mit meiner Kandidatur möchte ich die Öffentlichkeit für soziale Probleme sensibilisieren, denn obwohl die Gesellschaft immer stärker auseinanderfällt, nimmt das Establishment diesen Polarisierungsprozess nicht oder falsch wahr. Außerdem möchte ich der weiteren Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch neoliberale Reformen entgegentreten – gerade wird die Privatisierung der Autobahnen und damit ein neuerlicher Höhepunkt der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vorbereitet – sowie jenen Teilen der Bevölkerung eine politische Stimme geben, die immer stärker ausgegrenzt werden.

Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus ihren BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als »Hartz- IV-Familien« bezeichneten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237, 270 bzw. 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind froh, wenn sie am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.

Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So beschloss die Große Koalition vor Kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter 6 Jahren im nächsten Jahr nicht zu erhöhen.

CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr »Deutschlands Zukunft gestalten« überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort »Reichtum« nur als »Ideenreichtum« bzw. als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur als »Durchhaltevermögen« bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

»Armut« taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. So wollen CDU, CSU und SPD »den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren«, meinen damit aber den Analphabetismus, während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist. Den von Sozialgeld (»Hartz IV«) lebenden Kindern wird je nach Alter ein Regelbedarf für Bildung in Höhe von 1,61 Euro, 1,30 Euro bzw. 0,32 Euro zugebilligt. »Altersarmut« kommt zwar ein Mal vor, und zwar sogar in der Zwischenüberschrift »Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen«, die das Motto für die Rentenpolitik der Regierungskoalition bildet. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen jedoch den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann.

Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort »Armutswanderung« bzw. »Armutsmigration« verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine »ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen« vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden.

Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer »importiert« wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h. durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.

Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich ist ein Paradigmenwechsel vom »schlanken« zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

Meine politische Position: Wo und wofür ich stehe
Da die Spitzenpolitiker der etablierten Parteien gemeinsam die Mitte zu besetzen suchen, fühlen sich immer größere Bevölkerungsgruppen politisch nicht mehr repräsentiert. Rechtspopulisten können sich daher als Sprachrohr der sozial Benachteiligten, Abgehängten und Ausgegrenzten profilieren, obwohl sie ausweislich ihrer Programmatik die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen, gesellschaftlich Privilegierten und politisch Einflussreichen vertreten.

Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten auf das auch sozialräumliche Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, als soziales Gewissen wirkt und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto bilden Solidarität und soziale Gerechtigkeit, denn die von Bundespräsident Joachim Gauck aus biografischen Gründen besonders herausgehobene Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz, Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers. Genauso wichtig ist die Abwehr von Gewalt und Krieg, was Willy Brandt mit den Worten »Ohne Frieden ist alles nichts« ausgedrückt hat.

Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor Standardlebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten für sozialen Ausgleich sorgt, und bin im besten Sinne der Verteidigung von Bürgerrechten liberal und im Sinne der Verteidigung sozialer Errungenschaften konservativ, fühle mich aber gleichwohl als »ideeller Gesamtlinker«, der auch sozialdemokratische Programmtraditionen verkörpert und seit Jahrzehnten ökologische Zielsetzungen verfolgt. Außerdem halte ich außerparlamentarische Bewegungen wie die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, das globalisierungskritische Netzwerk attac, dessen wissenschaftlichem Beirat ich angehöre, den Bürgerprotest gegen Stuttgart 21, Occupy oder die jüngsten Massenproteste gegen CETA, TTIP und TiSA als einen lebendigen Ausdruck der Demokratie für unverzichtbar.

Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente (Referenden, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide) in der Bundesrepublik. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um sie auf staatliche Institutionen zu beschränken und den Parteien zu überlassen. Themen wie »Finanzkrise, Staatsschulden und Euro- Stabilisierung«, »Sozialstaatsentwicklung und Armut«, »Sicherung von Bürgerrechten und Demokratie«, sowie »Klimaschutz und Gewährleistung der Energieversorgung« verlangen ein viel stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Bürger/innen.
Die Demokratie ist nicht bloß durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische Apathie und die wachsende »Parteienverdrossenheit« der Bürger/innen gefährdet. »Politikverdrossenheit« ist allerdings genauso wie »Wahlmüdigkeit« ein irreführender Begriff, um die Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer randständigen bzw. prekären Existenz ist.

Vergleichbares gilt, wenn ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten demokratische Rechte vorenthalten oder ihre Angehörigen von Neonazis ermordet werden. Noch gefährlicher für die Demokratie sind rechtspopulistische Gruppierungen wie die »Alternative für Deutschland« (AfD) oder die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida). Aber auch entsprechenden Stimmungen, Strömungen und Bestrebungen in der bürgerlichen Mitte gebührt Aufmerksam- und Wachsamkeit aller Demokrat(inn)en, wie die Sarrazin-Debatte zur Genüge unter Beweis gestellt hat.

Möglichkeiten zur Schaffung einer sozialen und inklusiven Gesellschaft

Linke Gesellschaftskritik ist bitter nötig, denn die Frage lautet: Wollen wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, die Erwerbs- und Wohnungslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit honoriert, sich jedoch über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert? Oder wollen wir in einer sozialen Bürgergesellschaft leben, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, die Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit und Respekt gegenüber Minderheiten statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben? Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich trotz des Konjunkturaufschwungs verfestigenden Massenerwerbslosigkeit, kläglich versagt?

Die momentane Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen Premierministerin bzw. zum US-Präsidenten gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er- Jahre eingeleitet haben und die beendet werden muss. Dafür ist ein »Ruck« (Roman Herzog) nötig, aber in die entgegengesetzte Richtung, wie sie der Altbundespräsident seinerzeit einschlug: Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich muss heute eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen und Benachteiligten folgen. Dadurch würde die Gesellschaft humaner, friedlicher und demokratischer, sich aber auch die Lebensqualität für all ihre Mitglieder verbessern.

Seit der »Agenda 2010« und den sog. Hartz-Gesetzen herrscht soziale Eiseskälte in Deutschland. »Hartzer« werden durch ein rigides Arbeitsmarkt- und Armutsregime ausgegrenzt, von großen Teilen der Bevölkerung verachtet und als »Drückeberger«, »Faulenzer« und »Sozialschmarotzer« verächtlich gemacht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch die neoliberalen Reformen nachhaltig geschwächt worden. Wer ihn wieder stärken möchte und nicht bloß warme Worte für die Menschen auf der Schattenseite unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft übrighat, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine auch große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progessiverer Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen werden, weil diese fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), niedriger sein.

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sozial)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder bzw. Wohnbürger/ innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines »Um-« bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des Bismarck›schen Sozialsystems, verbunden mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeitsund Lebensbedingungen (Stichworte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung der Leiharbeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, Auflösung der Normalfamilie sowie Pluralisierung der Lebens- und Liebesformen) resultieren.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter/ innen dieser Reformoption tun. Hingegen stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber (und staatlichen Zuschüssen) speist.

Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunter nehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe auch nach der Gesundheitsreform neuen Typs ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz wäre also nicht gefährdet.

Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.

Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelfer/innen sowie Blut- und Organspender/innen, aber auch für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler/innen und Studierende.

Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Natürlich muss sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen. Auf die öffentlichen Haushalte kämen dadurch erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit Hilfe einer sozial gerechteren, sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierenden Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.

Eine solidarische Bürgerversicherung bedeutet keinen Systemwechsel. Vielmehr verschwände der Widerspruch, dass sich fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 6.200 Euro in Westdeutschland und 5.400 Euro in Ostdeutschland (2016). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte (und ihre Arbeitgeber) überhaupt keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Gesetzliche Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung können sie bei Überschreiten der weit niedrigeren Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze sogar verlassen. Warum muss die Solidarität bei Löhnen und Gehältern in dieser Höhe enden?

Mit dieser systemwidrigen Begrenzung der Solidarität auf Normal- und Schlechterverdienende muss die Bürgerversicherung brechen. Wohl das schlagendste Argument für die Bürgerversicherung liefert ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Durch die Berücksichtigung anderer Einkunftsarten würde der Tatsache endlich Rechnung getragen, dass Arbeitseinkommen für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr die einzige und häufig nicht mehr die wichtigste Lebensgrundlage bilden. Daraus ergibt sich die Frage, warum der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte.

Mittels der allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung würden die Nachteile des deutschen Sozial(versicherungs)staates kompensiert, ohne dass seine spezifischen Vorzüge liquidiert werden müssten. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an soziokulturelle und materielle Mindeststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt. Auf diese Weise würden soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen zum konstitutiven Bestandteil einer Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unabhängigen Justiz.

Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung nötig, die alle Wohnbürger/innen nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.
SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen orientieren im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung. Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch (noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein fortschrittliches Bündnis oder eine R2G-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen, humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar, wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht. Sonst setzen sich am Ende doch wieder mächtige Lobbygruppen durch.

Person, Forschungsschwerpunkte und Publikationen

Ich war von Januar 1998 bis Juli 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und zeitweilig Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.

Arbeiterfeind W.Clement gibt INSM-Ausbeutungsbibel heraus, SPD-Gabriel schwenkt das Weihrauchfass dazu

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Der bekennende Feind unnützer Esser, ehemals Superentsolidarisierungsminister der SPD, Wolfgang Clement, gibt mit massiver propagandistischer Unterstützung von Gabriel ein Märchenbuch der INSM heraus – Thema: „Was uns Kapitalisten stark und die Arbeiter schwach macht“.
Gabriel_Clement2001Wie immer wird nicht gefragt, was für wen gut ist. Jeder Arbeiter kann sich aber gerne über die aufgehende Schere zwischen Lohneinkommen und Unternehmergewinnen machen.
Kai van de Loo kommentiert hier:

„Das Deutschland-Prinzip“: Die merkwürdige wirtschaftspolitische Rezeptur der INSM

http://www.nachdenkseiten.de/?p=26718
Auszüge:

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die sich selbst als „überparteiliches Bündnis aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft“ zur Werbung für die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet und von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird, hat ein neues Buch mit dem Titel Das Deutschland-Prinzip. Was uns stark macht vorgestellt. Das Buch versteht sich laut INSM als „Impuls für die zentrale Debatte über die richtigen Weichenstellungen, die Deutschlands Erfolg und Wohlstand auch in Zukunft sichern sollen“ und will die „Prinzipien… der Erfolgsgeschichte“ der deutschen Volkswirtschaft hervorheben. Kai van de Loo unterzieht die wirtschaftspolitische Rezeptur des „Deutschland-Prinzips“ dieser PR-Organisation der Arbeitgeber einer kritischen Analyse.

Offizieller Herausgeber des Buches ist der gegenwärtige Kuratoriumsvorsitzende der INSM (und Ex-SPD-Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Ex-NRW-Ministerpräsident/Minister und heutige FDP-Wahlkämpfer als „Sozialdemokrat ohne Parteibuch“) Wolfgang Clement. Die öffentliche Vorstellung des Buches erfolgte am 3. Juli in Berlin im Beisein und mit einer persönlichen Begleitrede des aktuellen Bundeswirtschaftsministers, Vizekanzlers und SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel.
Clement und Gabriel zeigten dabei auf dem Podium ein großes Maß an Übereinstimmung und „spielten sich die Bälle zu“, so etwa berichtet es SPIEGEL online.
Herr Gabriel lobte sehr, dass „wir mal darüber reden, was gut ist in unserem Land“, und dass es sich beim „Deutschland-Prinzip“ um „ein wirklich gutes Buch“ über die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft handelt, das er, wäre er noch Politiklehrer, sogar „im Unterricht einsetzen“ würde. (Über die Buchpräsentation und Gabriels Auftritts wurde u.a. berichtet auf handelsblatt.com, und spiegel.de)

Dies sind aus Sicht eines kritischen, den Grundwerten der Sozialdemokratie grundsätzlich nahe stehenden Ökonomen, der Volkswirtschaftslehre auch unterrichtet, schon genügend Gründe, um sich das Buch und seine wirtschaftspolitische Rezeptur einmal näher anzuschauen.

Deutschland, eine Erfolgsgeschichte aus Prinzip (laut INSM)

Das Buch ist sehr dick (480 Seiten) und vom Stoff an sich recht vielseitig angelegt. Es enthält zahleiche Beiträge (Analysen, Kommentare, Interviews, Reportagen etc.) zu unterschiedlichen Themen eines illustren Autorenkreises, darunter u. a. je sechs deutsche Bundesminister und Ministerpräsidenten, EU-Kommissionspräsident Juncker, Bundesbankpräsident Weidmann, CDU-Generalsekretär Tauber, der Fraktionschef der Grünen im Bundestag Hofreiter, , die Ökonomie-Professoren Hüther und Sinn, taz-Chefredakteurin Pohl und BILD-Chefredakteur Diekmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Marx, ferner diverse Unternehmer und Manager, Journalisten, Schauspieler und Sportler. Insgesamt sind 178 – laut INSM – „kluge Köpfe“ vertreten.
Die Beiträge sollten aus der jeweiligen Autorensicht beschreiben, „warum es Deutschland so gut geht und wie das so bleiben kann.“ Wie schon der Titel des Buchs ein recht selbstgefälliger Anspruch, denn dass es unserem Land so gut geht und ob Eliteweisheiten auch die ganzen Bevölkerung dienen, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. (Das ist jedoch keine Aussage über die Güte einzelner Beiträge.) Hier soll allerdings nicht auf die sehr unterschiedlichen Einzelbeiträge des Buches eingegangen werden, sondern aus volkswirtschaftlicher Perspektive auf die fünf wesentlichen Elemente bzw. „Erfolgsfaktoren“ des „Deutschlands-Prinzips“, die von der INSM gesondert herausgearbeitet worden sind und auch in einer gesonderten Broschüre dargestellt werden.

Um es vorwegzunehmen: Diese fünf Erfolgsfaktoren sind vom fachlichen Gehalt sehr dünn und im Hinblick auf die wirtschaftspolitischen Implikationen, zurückhaltend formuliert, sehr einseitig. Sie beinhalten ein wirtschafts- bzw. neoliberales Weltbild, das zudem sehr einfach gestrickt wird.
Eigentlich erkläre sich das „Deutschland-Prinzip“ von selbst und sei ganz einfach, so der Kuratoriumsvorsitzende Clement, in der INSM-Pressemitteilung: „Innovationen, Freiheit, offene Grenzen und Solidarität sind die Grundlagen unserer Wirtschaftskraft und damit unseres Wohlstands.“ Deutschland habe „nicht zufällig Erfolg, sondern aus Prinzip, dem Deutschland-Prinzip.“ Eben darauf gründe sich die „Wirtschaftskraft des Exportweltmeisters“.
Im Vorwort der Broschüre heißt es zur Erläuterung dieses Deutschland-Prinzips: „Ein guter Wirtschaftsstandort schafft gute Arbeit und die Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland gestärkt aus der Weltwirtschaftskrise herausgekommen.“ (Eine Aussage, die nahezu wörtlich zum Repertoire unserer Bundeskanzlerin gehört.)
Das „Deutschland-Prinzip“ bedeutet demnach, der Wirtschaftsstandort Deutschland ist prinzipiell richtig gepflegt worden, andere haben das wohl nicht so getan. Doch was an dieser Standortpflege nun deutschlandspezifisch ist oder wodurch Deutschland sich von anderen so prinzipiell unterscheidet, wird gar nicht erklärt. Inwiefern „Deutschland“ wirklich gestärkt aus der Weltwirtschaftskrise herausgekommen ist und woran das zu messen ist, auch nicht. Und ob es vielleicht einen direkten Zusammenhang gibt, weshalb es Deutschland volkswirtschaftlich derzeit in mancher Hinsicht besser geht und anderen europäischen Ländern schlechter, wird ebenfalls nicht untersucht.
Wohl aber wird verdeutlicht, wie die INSM die zuvor genannten Erfolgskriterien aus ihrer Anschauung heraus füllt und welche Botschaften sie verkünden will.

Bevor auf die Einzelheiten eingegangen wird, ist festzustellen, dass es etliche wichtige Aspekte gibt, über die man zwar in dem einen oder anderen Gastbeitrag des Buches etwas Gescheites findet, aber trotz der evident großen Bedeutung und teilweise enormen Aktualität schlicht nichts in den INSM-Ausführungen zum „Deutschland-Prinzip“ und der Erfolgsgeschichte des Wirtschaftstandortes Deutschland. Dazu gehören beispielsweise die Fragen der wirtschaftlichen Zukunft Europas und der Währungsunion, die Ursachen und Folgen der internationalen Finanzkrise, die Nachhaltigkeit unseres heutigen Wirtschaftsmodells, die große Exportlastigkeit des deutschen Wirtschaftswachstums und das dadurch enorme außenwirtschaftliche Ungleichgewicht, die hierzulande keineswegs bewältigte Massenarbeitslosigkeit und die Prekarisierungstendenzen am deutschen Arbeitsmarkt, der geringe volkswirtschaftliche Produktivitätsfortschritt, der langjährige Niedergang der Investitionsquote in Deutschland und die auch hier große und tendenziell zunehmende Schieflage in der Einkommens- und Vermögensverteilung … Aber es soll ja eben über die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und die Stärken unserer Volkswirtschaft informiert werden.
Auch was die großen volkswirtschaftlichen Herausforderungen für die Zukunft angeht, benennen Herr Clement und die INSM keinen der vorgenannten Aspekte, sondern explizit nur diese drei: „Demografie“, „Vernetzung und Digitalisierung“ sowie den „Fachkräftemangel“ bzw. dessen Behebung durch Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Aktuell besondere Sorgen bereiten aus Sicht der INSM (bzw. der von ihr repräsentierten Teile der Wirtschaft) außerdem die Bürokratie, die Regulierung, die „Umverteilung“ oder die hohen Energiekosten.
Als Volkswirt könnte man es an dieser Stelle gleich so sagen: Viele echte volkswirtschaftliche Probleme interessieren die INSM anscheinend kaum oder sie will sie „prinzipiell“ nicht thematisieren, schon gar nicht makroökonomische Fragestellungen, Probleme und Zusammenhänge, die über übliche Unternehmerperspektiven hinausgehen.
Das „Deutschland-Prinzip“ beinhaltet also volkswirtschaftlich eine stark eingeschränkte Sichtweise.

Dafür werden als volkswirtschaftliches Erfolgsrezept die fünf sog. Erfolgsfaktoren des „Deutschland-Prinzips“ als miteinander verzahnte, vorgeblich tiefe ökonomische Grundeinsichten widerspiegelnde Leitgedanken der Sozialen Marktwirtschaft präsentiert, und zwar im Originalwortlaut wie folgt:

  • Wohlstand entsteht aus Wirtschaftskraft“
  • „Wirtschaftskraft entsteht durch Innovation“
  • „Innovation braucht Freiheit“
  • „Freiheit wächst mit Europa und der Welt“
  • „Die Soziale Marktwirtschaft macht unser Land gerecht“

Diese fünf Erfolgsfaktoren sollen nun unter die Lupe genommen und fachlich einmal genauer mit dem abgeglichen werden, was man in volkswirtschaftlichen Standardlehrbüchern dazu nachlesen kann. Dabei zeigt sich, wie wenig Substanz die wirtschaftspolitische Rezeptur der INSM besitzt.

Einzelbetrachtung der Erfolgsfaktoren

„Wohlstand entsteht aus Wirtschaftskraft“

Die INSM erläutert: „Nur mit einer wachsenden Wirtschaft verbessern sich die Lebensbedingungen für alle.“ Und danach heißt es: „Mit dem Bruttoinlandsprodukt steigt der Wohlstand: Die Haushalte haben nicht nur mehr Vermögen, sondern können sich auch von ihrer Arbeit mehr leisten.“

Eigentlich eine Binsenweisheit. Doch abgesehen davon dass Wohlstand i.S.v. Lebensqualität keineswegs nur vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) abhängt, da viele Wohlstandsfaktoren (wie Gesundheit, Freizeit, Autonomie, Zufriedenheit, Umwelt etc.) gar nicht unmittelbar im BIP erfasst werden, ist die vorgenannte Aussage auch nur dann so pauschal richtig, wenn das BIP und sein Zuwachs über steigende Arbeitseinkommen entsprechend breit verteilt werden und keine Arbeitslosigkeit herrscht.
Ob aus dem Einkommenszuwachs auch Vermögen gebildet werden kann (und von wem hauptsächlich), ist eine zweite Frage. Auf beide Fragen geht die INSM nicht ein.
Es ist ebenfalls zu eng, Wirtschaftskraft allein mit dem BIP gleichzusetzen, denn das BIP kann zumindest kurz- und mittelfristig auch aus Gründen steigen, die langfristig eine Schwächung der Wirtschaftskraft bedeuten (Unfallereignisse, Rüstungsproduktion, Umweltverschmutzungen, Finanzmarktblasen, Lohndumping etc.)
Gleichzeitig kann es eine Reihe von Faktoren der Wirtschaftskraft im Sinne des volkswirtschaftlichen Produktionspotenzials geben, die im aktuellen BIP nicht zum Tragen kommen, etwa aufgrund einer Konjunktur- oder Strukturkrise, durch die vorhandene Kapazitäten brach liegen.

An anderer Stelle wird der Zusammenhang von Wirtschaftskraft und Wohlstand von der INSM historisch zu belegen versucht: „Immer wieder war es die Wirtschaftkraft, die in Deutschland für mehr Wohlstand gesorgt hat: mehr Steuern, mehr Beschäftigung, mehr Spielraum für sozialen Ausgleich. Diese Formel der Sozialen Marktwirtschaft zeigte ihre Wirkung erstmals in der langen Aufbauphase nach dem Krieg, dann wieder nach der Wiedervereinigung und zuletzt in den Wirkungen der Agenda 2010.“

Ausgerechnet die Agenda 2010 in ihre Bedeutung und Tragweite mit dem ordnungspolitischen Grundkonzept der Sozialen Marktwirtschaft und der außerordentlichen wirtschaftlichen Wiederaufbauleistung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gleichzusetzen, mag eine Interpretation sein, die sich speziell Herr Clement als einer der Hauptprotagonisten wünscht; in der Fachwelt ist bisher niemand so weit gegangen, denn es lässt sich sachlich nicht begründen, unabhängig von den sehr kontroversen Einschätzungen der Wirkungen der Agenda 2010.
Außerdem hat gestiegene Wirtschaftskraft nicht nur in Deutschland auch schon lange vor 1945 und in allen Zeiten danach für mehr Wohlstand gesorgt. Nicht zuletzt in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren, die hier von der INSM ausgeblendet werden. (Obwohl die Broschüre auch mit Fotos der früheren Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt bestückt ist.)

Zustimmen kann man der INSM, dass das Wirtschaftswachstum und gestiegene Wirtschaftskraft i.d.R. mehr Steuern, mehr Beschäftigung und mehr Spielraum für sozialen Ausgleich bedeuten. Ob Letzterer genutzt wurde und wird, ist damit jedoch nicht gesagt.
Das Steueraufkommen hängt natürlich nicht nur von der Wirtschaftsentwicklung, sondern auch vom Steuersystem und den damit verfolgten wirtschafts- und finanzpolitischen Zielen ab. Und auf den Beschäftigungsstand wirken weitere Einflussfaktoren ein, insbesondere die jeweilige Arbeitsmarktpolitik.

Die INSM wartet ferner mit einigen Zahlen als Beleg für den Wohlstandseffekt der Sozialen Marktwirtschaft auf und präsentiert dazu das BIP sowie das Bruttovermögen privater Haushalte der Jahre 2013 und 1991. Beide Größen verzeichnen einen Zuwachs um den Faktor +/- 2 herum. Gewiss eindrucksvoll, aber keineswegs deutschlandspezifisch – ein ähnliches Wachstum dieser Größen gab in vielen Teilen der Welt. Bei den INSM-Angaben handelt es sich außerdem um eine Darstellung reiner Nominalwerte, also ohne Berücksichtigung der Inflationsrate, weshalb damit nicht das reale Wachstum ausgewiesen wird, das beträchtlich kleinere Werten aufzeigt.
Überdies findet weder ein längerfristiger historischer noch ein internationaler Vergleich statt, anhand dessen man diese Zahlen vernünftig einordnen kann.

Die INSM springt dafür abrupt in die Gegenwart, und um zu belegen, wie gut die Situation der deutschen Volkwirtschaft heute sei, und verweist auf die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 30,2 Millionen, die „so hoch wie nie zuvor“ ist, sowie auf den Anstieg der Reallöhne , die „seit 2012 um 3,1% gestiegen“ sind. Damit soll wohl – eine eigene, doch nahe liegende Interpretation, explizit wird das nicht gesagt – zum Ausdruck gebracht werden, dass die angesprochene Agenda 2010 die Beschäftigung in Deutschland wieder erhöht hat (übrigens wird die noch stärker gestiegene nicht-sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht erwähnt, wohl um die Aufmerksamkeit auf den Zuwachs „guter Arbeit“ zu lenken) und dass nun sogar kräftige reale Lohnzuwächse (jetzt wird auf einmal auch real gerechnet) erreicht werden können.
Warum und um wie viel die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland vorher geringer war, erfährt man nicht, auch nicht, wieso die Löhne erst seit wenigen Jahren wieder real steigen und weshalb in der ganzen Zeit seit Mitte der 1990er Jahre – in denen auch der Rahmen der Soziale Marktwirtschaft bestand – eine so lange Durststrecke der realen Lohneinkommen zustande gekommen ist.
Der Anstieg der Reallöhne hat überdies auch mit der niedrigen Inflation zu tun und weshalb die INSM den Anstieg ausgerechnet seit 2012, dh. für einen Dreijahreszeitraum (3,1% beträgt der reale Anstieg der Bruttolöhne im Zeitraum 2012 bis 2014 insgesamt) bleibt unerfindlich, es sei denn, es sollte für eilige Leser der Eindruck erweckt werden, es handele sich um eine jährlichen Reallohnzuwachs – dieser war seit 1992 niemals so hoch).
Kein Wort widmet die INSM der Prekarisierung am Arbeitsmarkt und dabei auch bei der von ihr herausgestellten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung etwa durch die Ausweitung von Zeit- und Werkverträgen. Sie äußert sich auch mit keinen Wort zu der zwar quantitativ verminderten, aber noch immer bestehenden Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bzw. der permanenten Verletzung des Ziels der Vollbeschäftigung in Deutschland.
Die Zahl der registrierten Arbeitslosen liegt bei 2,8 Millionen (davon 2,0 Millionen in Westdeutschland – hier ist die Arbeitslosenzahl 2015 immer noch höher als 1990 und auch 1980!) , die offizielle Zahl der „Unterbeschäftigten“ (d.s. die zusätzlich arbeitslos Gemeldeten in Arbeitsgelegenheiten, Qualifizierungsmaßnahmen, Krankheit etc.) liegt bei 3,7 Millionen und weitere rd. 3 Millionen Erwerbstätige würden nach der jüngsten Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamtes mehr arbeiten als sie es tun, überwiegend weil sie bislang nur Teilzeitarbeitsverhältnisse haben. Manche Regionen Deutschlands, nicht nur im Osten, haben auch heute noch zweistellige Arbeitslosenquoten, bundesweit ist diese seit mehr als 30 Jahren nicht unter 6 % gesunken. Offenbar schöpft Deutschland sein Arbeitskräftepotenzial bei weitem nicht aus.

Ebenso wenig sagt die INSM etwas zur heutigen Qualität der Arbeitsplätze und der Produktivität der Arbeitskräfte. Wie kommt es eigentlich, dass es in Deutschland schon seit einiger Zeit neue Rekorde der Beschäftigung und der Zahl der Erwerbstätigen gibt, aber das Arbeitsvolumen 2014 immer noch geringer war als 1992, dass trotz der größeren Zahl der eingesetzten Arbeitskräfte das BIP nur so schwach wächst (1,6% in 2014, aber bloß 0,1% in 2013 und 0,4% in 2012, seit dem Inkrafttreten der Agenda 2010 im Jahr 2005 waren es im Durchschnitt knapp 1,3% p.a.) und dass die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen in den letzten Jahren teilweise sogar rückläufig war?
Stimmt hier vielleicht etwas nicht mit der so gepriesenen deutschen Wirtschaftskraft?

„Wirtschaftskraft entsteht durch Innovation“

Gerade technologische Innovationen hätten Deutschlands Wirtschaft stark gemacht (was keineswegs falsch ist, aber sicherlich nicht für alle Bereich gilt, denn auch in Deutschland wurde und wird technologisch kopiert und adaptiert), und seine Wirtschaftskraft begründet.
Die INSM präsentiert dazu ein Länderranking der „Innovationskraft“ des Instituts der deutschen Wirtschaft (hier eine unparteiische Quelle?), wonach Deutschland international 2012 auf dem sechsten Rang lag, und vergleicht das deutlich höhere Pro-Kopf-BIP der innovationsstärksten Länder in diesem Ranking mit dem der Innovationsschwächsten. Was die vor Deutschland liegenden Länder (Finnland, Schweiz, Südkorea …) in der Innovationspolitik ohne „Deutschland-Prinzip“ besser gemacht haben, wird jedoch nicht erläutert.

Doch der INSM geht es vor allem um die Zukunft. Damit sich unsere Lebensbedingungen in Deutschland weiter „so positiv“ entwickeln können, „müssen die Voraussetzungen für wirtschaftliche Wertschöpfung durch Innovation und Produktion stimmen“, fordert sie und sieht zugleich im „Fortschritt Deutschlands wichtigsten Rohstoff“, denn unser Land habe „kaum Bodenschätze“ (was so nicht stimmt, denn rd. drei Viertel der mineralischen Rohstoffe werden aus heimischen Lagerstätten gewonnen – importiert werden müssen hauptsächlich Erdöl und Metallerze).
Gemäß den Berechnungen des Sachverständigenrates Wirtschaft würden rd. 60% des Wachstums der kommenden Jahre vom technologischen Fortschritt getragen.
Unklar bleibt bei der INSM, wie hier technologischer Fortschritt genau definiert ist, ob er mit den vorher thematisierten Innovationen, also eigenen Marktneuheiten der deutschen Wirtschaft bei Produkten, Verfahren oder Organisationsformen gleichzusetzen ist und welche Prämissen die Prognose des Sachverständigenrats sonst noch gemacht hat; klar ist dagegen, dass das Wachstum in Deutschland voraussichtlich nicht durch starken Zuwachs an Realkapital mittels Sachinvestitionen, Bevölkerungswachstum oder Erschließung neuer Territorien und Rohstoffvorkommen kommen wird, womit der technologische und technisch-organisatorische Fortschritt als fundamental einzige Möglichkeit bleibt.

Die INSM sieht diese „Grundlage“ indessen als „in Deutschland gefährdet“ an, weil andere Länder technologisch aufgeholt haben und Innovationen nicht die nötige Unterstützung in Deutschland finden. Beleg sei, dass die Patentanmeldungen 2013 in allen patentstarken Ländern außer Deutschland gestiegen sind.
Nun sind technologische Vorsprünge gewiss ein Vorteil für die Gewinnerzielung, aber nicht Voraussetzung für volkswirtschaftlichen Wohlstand insgesamt. Wenn andere Länder technologisch aufholen, bedeutet das zugleich doch auch wachsende Märkte und Absatzmöglichkeiten für deutsche Technologieprodukte. Und es bedeutet einen intensivierten Wettbewerb, der den Fortschrittsprozess weiter antreibt. Demgegenüber sind die Patentanmeldungen in einem Einzeljahr wenig aussagekräftig und kein Nachweis, dass Innovationen (die patentgeschützten und anderen Erfindungen nachlaufen) nicht die „nötige Unterstützung“ (von der Politik oder der Gesellschaft?) finden. Was die nötige Unterstützung wäre, bliebe ohnehin zu klären.

„Innovation braucht Freiheit“

Die INSM erläutert im Anschluss an die Ausführungen zur Bedeutung von Innovationen dann, dass neue Ideen nur wirtschaftliche Realität werden können, wenn der Staat nicht „überreguliert“ und dass „weniger Bürokratie mehr Neuentwicklungen“ bedeuten würde.
Vor allem Unternehmen forschungsstarker Branchen würden staatliche Überregulierung als Hindernis für neue Produkte betrachten. Gleichzeitig würden sich besonders kleine Unternehmen, die oft Marktneulinge und damit besonders innovativ sind, durch bürokratische Vorgaben eingeschränkt sehen. Ein Silicon Valley sei schon deshalb „in Deutschland nicht vorstellbar, weil die berühmten Garagen wegen angeblicher Mängel beim Brandschutz und der Beleuchtung geschlossen würden.“

Das einzige konkrete Beispiel, das die INSM hier anführt, ist ebenso polemisch wie hypothetisch. Bei allen andern Aussagen fehlen klare Beispiele oder Kriterien.
Zweifellos gibt es lästige und manchmal überflüssige Bürokratie sowie Erscheinungsformen einer Überregulierung, die auch sinnvolle wirtschaftliche Aktivitäten einengen. Doch es gibt es ebenso einleuchtende und volkswirtschaftlich gut begründbare bürokratische Anforderungen sowie fatale Erfahrungen mit Unterregulierungen (vom Pharma- bis zum Finanzsektor).

Die Nachhaltigkeit von Innovationen setzt mitunter voraus, dass sie nicht beliebige Entfaltungsmöglichkeiten haben, sondern bestimmte Hürden übersprungen und Rahmenbedingungen eingehalten werden. Der zuvor von der INSM angeführte Patentschutz, das Erfindermonopol, beinhaltet z.B., dass die Freiheit von Nachahmern jedenfalls befristet eingeschränkt wird. Die INSM lässt die sachlich nötige Differenzierung vermissen.

Es ist ja keineswegs falsch, dass Innovationen Freiheitsspielräume brauchen. Doch den großen Begriff der „Freiheit“ auf die möglichst freie Entfaltung wirtschaftlicher Neuerungsaktivitäten zu verengen, ist schon allein unter ökonomischen Gesichtspunkten unhaltbar.
Außerdem brauchen Innovationen nicht nur Freiheit von staatlichen Beschränkungen, sondern u. a. auch offene, nicht-vermachtete und nachfrageseitig aufnahmefähige Märkte, günstige Bedingungen für die Finanzierung und vielfach staatliche Grundlagenforschung und FuE-Förderung.

Hemmnisse für Innovationen durch Formen der Bürokratie und Dirigismus gibt es übrigens nicht nur durch den Staat, sondern auch auf privater Ebene, gerade in manchem Großunternehmen. Auch die deutsche Metall- und Elektroindustrie dürfte da kaum eine Ausnahme sein.

„Freiheit wächst mit Europa und der Welt“

Hier heißt es zunächst, die Globalisierung und der Freihandel machten Deutschland stärker und ohne Zugang zu internationalen Märkten wäre unser reales Pro-Kopf-Einkommen um 50% geringer. Wie das abgeschätzt worden ist, wird nicht erklärt.
Ökonomen wissen seit Ricardo um die möglichen Vorteile des internationalen Freihandels und auch um dessen Beschränkungen. Diese gelten für alle Länder.
Für den internationalen Handel gibt es diverse bi- und multilaterale institutionelle Regelungen, wie etwa die WTO, auf europäischer Ebene die Binnenmarktregelungen.
Ein spezifisches „Deutschland-Prinzip“ erschließt sich daraus gerade nicht. Richtig ist, dass die deutsche Volkswirtschaft inzwischen eine Exportquote von über 50% aufweist, und Autarkie eine total unrealistische, hypothetische Annahme wäre. Unter welchen Bedingungen der internationale Handel

Die INSM setzt allerdings im nächsten Gedankenschritt den Freihandel mit Freiheit gleich, die mit der Globalisierung immer weiter wachse (jetzt nicht als Freiheit zur Innovation, sondern als Freiheit zum Exportieren und Importieren und grenzüberschreitenden Investieren), und sie schiebt an dieser Stelle sofort ein Plädoyer für das zwischen der EU und den USA geplante Freihandelsabkommen TTIP hinterher, wodurch „die Exporte in die USA langfristig um ein Drittel steigen“ könnten (diesmal ohne eine Quelle für diese Schätzung anzugeben). Erneut wird der Freiheitsbegriff unzulässig verengt.
Auf die Streitpunkte und Probleme bei TTIP wird überhaupt nicht eingegangen. Die Absicht dahinter ist leicht zu erraten und verstimmt.

Die INSM schneidet in diesem Kontext noch einen weiteren grundlegenden und aktuellen Gesichtspunkt an. Sie spricht sich ausdrücklich für mehr Zuwanderung aus, allerdings jetzt nicht aus Gründen der Freiheit, sondern wegen der wirtschaftlichen Nützlichkeit: Zuwanderer sorgten für Wachstum, sicherten gemeinsam „mit uns“ (den alteingesessenen Einwohnern) den Wohlstand in Deutschland und stärkten unser „Wirtschaftssystem“ (hier hätte die INSM allerdings zutreffend sagen müssen: „unsere „Wirtschaftskraft“, zumal sie das System ja eben unverändert lassen will).
Und warum ist da so optimistisch? „Produzieren für die Weltmärkte braucht … Menschen mit internationalen Wurzeln.“ Hier habe Deutschland „Potenzial“, denn es sei „unter Zuwanderern so beliebt wie nur noch die USA“ und der Anteil derjenigen Ausgebildeten mit Hochschulabschluss sei bei den Zuwanderern (mit 29%) größer als bei den Deutschen („nur“ 19%). Woran das liegen mag, wird von der INSM nicht erörtert.

„Die Soziale Marktwirtschaft macht unser Land gerecht“

Laut INSM hat in Deutschland „jeder … die gleichen Chancen“, nämlich „die Möglichkeit, zum Wohlstand beizutragen und an ihm teilzuhaben“.
Über die Unterschiede im Umfang dieser Beitrags- und Teilhabemöglichkeiten sowie in deren Relationen sagt die INSM indes nichts, sprich: Verteilungsfragen werden beim Thema Gerechtigkeit von ihr gar nicht thematisiert.

Dagegen behauptet die INSM ausdrücklich, die Soziale Marktwirtschaft ermögliche „jedem … zugleich ein Leben in Würde“ und führt dazu an: „Während das Einkommen im EU-Schnitt bei fast jedem dritten Haushalt nicht ausreicht, kommen in Deutschland 91% gut zurecht.“
(Als Quelle für diese Aussage wird eine Eurostat-Umfrage für das Jahr 2013 angegeben, die auf eigenen Einschätzungen privater Haushalte bezüglich der Frage, ob sie „schlecht mit ihrem Einkommen auskommen“ beruht; als Beleg ist das methodisch zumindest angreifbar.)
Was ein „Leben in Würde“ bedeutet, ist sicherlich Interpretationssache. Folgt man hier der INSM, können es aber 30% (!) der Haushalte in der EU nicht führen. Ein großer Teil Europas wäre demnach keine Erfolgsgeschichte!

Im Weiteren wird von der INSM noch einmal herausgestellt, dass die Soziale Marktwirtschaft es „jedem ermöglicht, seine Potenziale zu entfalten“. Die dafür im Einzelnen nötigen formalen und materialen Freiheitsrechte und deren Realsierung werden aber nicht erörtert.
Stattdessen wird an dieser Stelle betont, dass Deutschland „fast 30% seines BIP für Soziales aus(gibt) – so viel, wie kaum ein anderes Land für Rentner, Arbeitslose, Kranke und andere Empfänger zahlt.“ Diese Argumentationslinie verwundert, denn der Sozialstaat hat zwar viel mit sozialer Sicherheit, aber eher wenig mit Potenzialentfaltung zu tun. Er schützt mehr vor Potenzialzerstörung.
Und die als so hoch gepriesene Quote der Sozialleistungen in Deutschland liegt mit fast 30% tatsächlich nur genau im Durchschnitt der EU-28 und unter derjenigen der skandinavischen Länder, Frankreichs, der BENELUX-Staaten, Österreichs und bis vor kurzem auch noch Griechenlands (als Sonderfall mit einem viel tieferen absoluten Niveau und wie bekannt einer ganz besonderen Problematik).

Auf Basis dieser dürren Angaben zieht die INSM gleichwohl den weit reichenden Schluss, die Soziale Marktwirtschaft habe Deutschland „zu einem der gerechtesten Länder der Welt gemacht.“
Das ist die eigene Beurteilung der INSM, die man nicht teilen muss, aber auch nicht widerlegen kann, denn Gerechtigkeit ist eine Werturteilsfrage und Vergleiche hängen vom Maßstab ab. Doch so weit es dafür objektivierbare Kriterien gibt wie etwa den Gini-Koeffizienten der Einkommenskonzentration, gibt es allein in der EU eine Reihe von Ländern mit erheblich größerer Gerechtigkeit.
Und wie passt zum „Deutschland-Prinzip“ die Zunahme der Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung in längerfristigen Vergleichen, wie sie beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt hat?

Damit befasst sich die INSM jedoch nicht. Sie blickt demgegenüber nach vorn und ist der Auffassung, dass es „noch gerechter geht“. Wer nun glaubt, sie spricht wenigstens in diesem Zusammenhang auch einmal Verteilungsgesichtspunkte an, irrt. „Noch gerechter“ ginge es, so dass Credo der INSM , „wenn wir stärker in Bildung investieren, Energiekosten wie Bürokratieaufwand senken und die ausufernden Subventionszahlungen abbauen.“ Speziell „die Kosten der Energiewende wachsen immer weiter – seit 2000 flossen bereist 101,2 Milliarden Euro an Subventionen.“ (Gemeint sind hier wohl die Differenzkosten zum Strompreis im Aufkommen der EEG-Umlage.) Verteilungsdiskussionen werden einfach zurückgewiesen. Statt sich auf wohlstandsfördernde Rahmenbedingungen zu konzentrieren, so die INSM, sei die aktuelle Politik „oft bestimmt durch Regulierung, Bürokratie, Anspruchsdenken und Umverteilungsplänen … Statt um Verteilung muss es in der Politik wieder um die Frage gehen, wie der Wohlstand erwirtschaftet wird.“

Dass das Erwirtschaften und Verteilen des Wohlstands in einer Marktwirtschaft, zumal in der Sozialen Marktwirtschaft, zusammengehören, dass mehr Verteilungsgleichheit bei Chancen wie Ergebnissen (die zugleich die nächsten Chancen formen) unter Umständen mehr Effizienz bedeuten kann und dass „Anspruchsdenken“ und „Umverteilungspläne“ ihre Ursache auch darin haben können, dass es eine Umverteilung zu Lasten größerer Bevölkerungsgruppen von unten und auch der Mitte nach oben zur Bevorteilung der reichsten Schichten gegeben hat, wird von der INSM nicht angesprochen, geschweige denn erwogen.
Es bleibt ihr Geheimnis, wie sie mit der von ihr praktizierten Tabuisierung der Verteilungsfrage eine glaubwürdige Aussage über „mehr Gerechtigkeit“ erreichen will.
Für die Forderung der INSM nach mehr Investitionen in die Bildung gibt es stichhaltige volkswirtschaftliche Gründe, auch verteilungspolitische. Diese müssten jedoch benannt, erörtert und ausgeleuchtet werden – denn mehr Bildung führt nicht automatisch zu mehr Gerechtigkeit -, und sie müssten mit nachvollziehbaren Finanzierungsvorschlägen unterlegt werden, damit man sie ernst nehmen kann.

Was die INSM schließlich zur Energiewende bemerkt, ist ein durchaus ernsthaftes Argument. Denn der Subventionsanteil für die Erzeugung von Strom aus erneuerbarer Energien ist in den letzten Jahren sehr stark gestiegen. Diese Subventionen fließen aber nicht aus dem Staatshaushalt, sondern müssen von allen Stromverbrauchern ohne Rücksicht auf ihre jeweilige soziale Lage über die EEG-Umlage auf den Strompreis getragen werden, während wohlhabende Haushalte von den Vergütungen für Solaranlagen auf ihren Hausdächern oder von den Erträgen aus Investmentbeteiligung beispielsweise an Windkraftprojekten mit staatlich gesicherter Rendite profitieren.
Die Bundesregierung hat mit der letzten EEG-Novelle diese Entwicklung begrenzt, aber keineswegs zurückgedreht. Eindeutig gerechter im Sinne einer ausgeglicheneren Lastenverteilung als die Umlage- wäre eine Steuerfinanzierung, aber davon spricht auch die INSM nicht. Überdies müssen aus volkswirtschaftlicher Sicht bezüglich der Gesamtkostenbelastung der Energiewende verschiedene weitere Strompreisfaktoren berücksichtigt werden.
Daher schlägt die Expertenkommission zum Monitoring der Energiewende als maßgeblichen Indikator die sog. „Letztverbraucherausgaben für Elektrizität“ im Verhältnis zum BIP vor. Gemäß ihrer letzten Stellungnahme zum Fortschrittsbericht Energiewende der Bundesregierung vom Dezember 2014 hat diese Belastung zuletzt (2013 gegenüber 2012) etwas zugenommen (Anstieg von 2,5 % auf 2,6 %), erscheint aber weiter verkraftbar. Allerdings empfehlen die Experten eine nach Branchen und Endverbrauchergruppen differenzierte Betrachtung der Energiekostenbelastung anstatt so pauschaler Aussagen, wie sie auch die INSM hier macht.

Was die INSM gerade in diesem Kontext erstaunlicherweise nicht thematisiert: Die deutsche Energiewende mit ihren planwirtschaftlichen Zielsetzungen und den vielen lenkenden Maßnahmen für den Energiebereich steht an sich in einem prinzipiellen Konflikt zu den Grundsätzen einer Marktwirtschaft.
Solange der Verbindlichkeitscharakter der politischen Zielvorgaben der Energiewende aber nicht in Frage gestellt wird, was fast niemand tut, auch die INSM hier nicht, und die Energiewende mit dem ihr zugrunde gelegten Energiekonzept als gesamtstaatliches Investitionsprojekt verstanden und gesellschaftlich akzeptiert wird, ergeben sich zwingend zusätzliche „Energiekosten“ im Sinne von Finanzierungslasten, die von der Volkswirtschaft zu tragen sind, und zwar solange bis die Ziele erreicht sind und die davon erwarteten ökonomischen und ökologischen Früchte geerntet werden können. Wann das sein wird und welche Nebenwirkungen das hat, ist eine offene Frage.
Da die deutsche Energiewende international bislang einzigartig ist und mit ihr gewollt eine Vorreiterrolle eingenommen wird, stellt sie gewissermaßen ein Deutschland-Prinzip eigener Art dar. Über dieses wäre eine intensive Auseinandersetzung sinnvoller, so die Meinung des Autors dieser Zeilen, als über die Schmalspur-Ökonomie des Deutschland-Prinzips der INSM.

Jochen