Desinformationskampagnen – Ein Erlebnisbericht

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

In Gänze lesenswerter Text, auf den die NachDenkSeiten hingewiesen haben.
Passt zu meinem Referat über Manipulation und Meinungsmache.
Mit ausführlichen Kommentaren hier im Blog::
http://logon-echon.com/2016/03/27/desinformationskampagnen/
Auszüge:

Es geht wieder mal ein Gespenst um in Europa. Dieses Mal gruselt es Deutschland ganz besonders, aber auch die EU ist voller Furcht. Das Gespenst trägt den Namen russische Desinformation oder auch russische Propaganda. Die EU und die Bundesregierung rufen ihre Geisterjäger von BND und Verfassungsschutz, gründen sogar eine eigene Geisterjägertruppe, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Die Hysterie wird auf ganz großer Flamme gekocht, immer mehr Zutaten werden in den Topf geworfen, der täglich weiter angeheizt wird.
Putins Trolle seien überall, in den Foren der Nachrichtenmagazine, man macht ganze Trollfabriken ausfindig, es wird suggeriert, sie seien in Organisationen wie der Publikumskonferenz, sie betrieben subversive Blogs und bombardierten mit russlandfreundlichen Parolen die sozialen Netzwerken.

Nun betreibe auch ich einen Blog, der ausgesprochen freundlich von Russland spricht, und meine Texte werden vielfach geteilt. Entsprechend häufig bekomme ich den Vorwurf gemacht, ich sei ein Kreml finanzierter Troll, der die Desinformationskampagnen Russlands unterstützt.

Da ist zum Teil etwas Wahres dran, denn tatsächlich sind Desinformationskampagnen ein zentraler Motor meines Schreibens. Wer meinem Blog folgt, bekommt über meine Motivation Auskunft.

Vor drei Jahren noch war ich braver, systemkonformer Putin-Gegner. Schrecklich, was da alles passiert in diesem dunklen Russland, das eingeklemmt ist zwischen orthodoxer Kirche und rückwärts gewandter Politik eines homophoben, sein Volk aller Freiheiten beraubenden Diktators. Schauprozesse, unterdrückte Presse, Gewalt gegen Schwule und Lesben, ein eigenes Gesetz sogar, das die Gewalt gegen Minderheiten festschrieb. Einfach entsetzlich.

Aber irgendwann war es mir dann so, als würde doch etwas zu dick aufgetragen. Es waren Meldungen wie die, dass Bundespräsident Gauck diplomatische Verwicklungen riskiert und seinen Besuch bei den Olympischen Spielen in Sotchi aus Sorge um die Schwulen und Lesben absagte.
Die Inkarnation des deutschen Opportunismus wirft sich schützend vor eine Minderheit?
Irgendwie war das ein bisschen zuviel, um glaubhaft zu sein. Es wurde mir klar, ich musste da selbst mal gucken gehen. Hinfahren also und einen Sprachkurs machen. Genau das habe ich dann auch getan.

Was soll ich sagen? Das, was ich fand, war so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was in den deutschen Medien berichtet wurde. Überall Lebenslust und Lebensfreude, aufgeklärter Hedonismus, politisches Bewusstsein, tief in der Gesellschaft verwurzelte Solidarität, eine große queere Szene mit einer funktionierenden Infrastruktur.

Schon nach einem verlängerten Wochenende war mir klar: Ich war angelogen worden.
Es war ganz schlicht und einfach: Ich war von meiner Regierung und meinen Medien hinters Licht geführt worden. Sie hatten mich belogen. Da gibt es gar nichts zu beschönigen. Und ich habe ihnen viel zu lange geglaubt.
Ich hatte gedacht, manches mag vielleicht nicht ganz so stimmen, manches könnte man eventuell auch anders sehen, aber im Großen und Ganzen wäre es schon richtig, schließlich arbeiteten hier gut bezahlte und gut ausgebildete Journalisten. Allein an die Möglichkeit einer ganz großen Lüge war ich noch nicht reif zu glauben.
Jetzt bin ich es und ich kann auch nicht mehr zurück.
Ganz offensichtlich wird von deutscher, von westlicher Seite eine gezielte Desinformationskampagne gegen Russland und damit auch gegen die eigene Bevölkerung geführt.

Ich musste, das war mir nach meinem ersten Besuch klar, wieder nach Russland, musste mein Engagement intensivieren, musste der Anti-Aufklärung aus Deutschland, Europa und den USA etwas entgegensetzen.

Es war und ist immer noch wie aufwachen. Aus einem Traum aufwachen, den man für wahr gehalten hat, und sich in der Realität wiederfinden, die vielfältiger und reicher ist, als jeder Traum es sein kann.

Wie ein Schwamm sauge ich inzwischen alles auf, was mit Russland zu tun hat. Ich höre russische Popmusik, schaue russische Filme und Serien, lese russische Nachrichten.
Und immer noch überprüfe ich alles, was hier über bei uns über Russland erzählt wird. Es könnte ja sein, dass ich etwas übersehen. Meinen zentralen Vorwurf musste ich bisher nicht korrigieren. Wir werden hier falsch informiert und es steckt Absicht dahinter.

Es sind lauter kleine Erlebnisse der Überführung der westlichen Propaganda, die meine Faszination und meine Liebe zu Russland aufrecht erhalten. Bei meiner zweiten Reise nach Moskau beispielsweise unterhielt ich mich über den Einfluss der orthodoxen Kirche. Ja, der sei schon gewachsen in den letzten Jahren.
Wie das denn aussähe wollte ich wissen. Es würden einfach immer mehr Leute in die Kirche gehen, bekam ich zur Antwort. Und nein, so was wie eine Kirchensteuer gäbe es nicht. Und Krankenhäuser und Kindergärten würde die Kirche auch nicht betreiben, das sei alles staatlich. Nein, die Kirche sei kein wichtiger Arbeitgeber. Es gäbe sowas wie Armenspeisung, das sei aber eher symbolisch, weil dafür auch der Staat zuständig sei.

Ich habe das überprüft, es stimmt alles. In der Mitte Moskaus beispielsweise steht die Christ-Erlöser-Kathedrale. Sie ist das Zentrum der russischen Orthodoxie. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie originalgetreu wieder aufgebaut, denn sie wurde unter Stalin abgerissen und durch ein öffentliches Schwimmbad ersetzt. Die finanziellen Mittel für den Wiederaufbau kamen ausschließlich aus Spenden, staatliche Gelder flossen nicht.
Das ist in Deutschland nachweislich anders. Da werden aus Steuermitteln Kirchen saniert.

So sieht er also aus, der wachsende Einfluss der orthodoxen Kirche: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehen wieder mehr Menschen in die Kirche. Das ist wirklich angst einflößend und muss hier dringend auf die Nachrichtenagenda gesetzt werden.
Dabei ist Russland weit von der Verflechtung von Staat und Kirche entfernt, wie er in Deutschland üblich und meines Erachtens zutiefst übel ist.

Ich habe die Krim besucht. Nach deutschen Medien sollte es dort nach dem Anschluss an Russland ganz schrecklich sein. Sich ausbreitende Armut, Inflation, Unsicherheit, ausbleibende Touristen und unterdrückte Tartaren, so sähe es da jetzt aus. Nur ein paar alte Sowjetspinner würden da hinfahren, in Nostalgie schwelgen und vom wiederaufleben der Sowjetunion träumen.
Nichts davon ist auch nur annähernd wahr. Die Hotels gut gebucht, die Strände voll, die Tataren integriert. Sie arbeiten als Taxi- und Busfahrer und betreiben Restaurants und Cafés in touristischen Ausflugszielen wie dem Berg Aj Petri. Systematische Unterdrückung sieht anders aus.

In Zusammenhang mit der Krim wird in den deutschen Medien immer das Wort Annexion gebraucht, möglichst häufig, versteht sich, damit auch der letzte versteht, dass Russland Unrecht begangen hat.
Nur trauert auf der Krim der Ukraine wirklich niemand hinterher, denn allen ist klar, die Alternative zu subtropischem Ferienidyll wäre ein tobender Bürgerkrieg. Auch die Wiederholung des Wortes, macht es in diesem Zusammenhang nicht wahrer. Man muss das Selbstbestimmungsrecht der Völker völlig negieren, um im Zusammenhang mit der Krim den Begriff der Annexion aufrecht erhalten zu können. Die USA halten im Hinblick auf die Krim diese Interpretation des Völkerrechts übrigens für richtig.
Und wer jetzt meint, mit den freundlichen grünen Männern argumentieren zu müssen, deren Anwesenheit Putin doch schließlich doch zugegeben hat, dem sei gesagt, dass er auch da wieder auf einen Propagandatrick reingefallen ist. Die Anwesenheit russischen Militärs wurde nie und zu keinem Zeitpunkt geleugnet, das wäre auch ziemlich unsinnig gewesen, schließlich war Sewastopol auch während der Zeit der Zugehörigkeit der autonomen Republik Krim zur Ukraine ein russischer Stützpunkt. Allerdings wurden die vertraglich zugesicherten Obergrenzen nie ausgeschöpft und der Nachweis, die Anwesenheit von einzelnen und kleinen Gruppen von russischen Soldaten wäre befehligt gewesen, kann eben nicht geführt werden. Der Anschluss der Krim an Russland verlief friedlich und folgte dem bekundeten Interesse der Bewohner der Krim.

Ursprünglicher Kristallisationspunkt meiner Auseinandersetzung mit Russland aber war das Anti-Gay-Propaganda-Gesetz, das hier im Westen für großen Wirbel gesorgt hat und immer noch sorgt.
Das Gesetz ist Mist, das steht außer Frage, allerdings werden seine Folgen für die queere russische Community völlig übertrieben und es wird auch die eigene Geschichte dabei völlig ausgeblendet.
Es war Margaret Thatcher, die mit der Clause 28 im Jahr 1988 eine Verwaltungsvorschrift erlassen hat, die positive Berichterstattung über gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Schulen, Gemeinden, kurz dem öffentlichen Raum untersagte. In Deutschland forderten konservative Politiker ähnliches.
Die Clause 28 ist praktisch die Blaupause zum russischen Gesetz. Sie war übrigens bis 2003 in Kraft.
Es ist also noch keine 15 Jahre her, dass beispielsweise den Briten vom Saulus zum Paulus gewendet ganz tugendhaft die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte der Schwulen und Lesben am Herzen liegen.
Die Clause 28 wie auch Internierungsgedanken des damaligen bayerischen Gesundheitsministers Peter Gauweiler fielen auch nicht einfach vom Himmel, sondern waren eine Reaktion auf die Aids-Krise, die plötzlich in grausamer Weise Homosexualität sichtbar gemacht hat. Es sind einfach viele gestorben.
Gleichzeitig war die Clause 28 und die konservative Diskussion hier in Deutschland Auseinandersetzung mit Pop- und Jugendkultur. Denn ebenso plötzlich wie durch Tod die Verbreitung von Homosexualität in der Gesellschaft sichtbar wurden, war in der Pop-Kultur nämlich plötzlich alles schwul, lesbisch, androgyn, trans.
Das hat wenig verwunderlich konservative Reaktionen ausgelöst. Erst die Rap-Bewegung mit ihren tief konservativen Repräsentanten wie Bushido, Moses Pelham und Sabrina Setlur brachten musikalisch das durcheinander gewirbelte Geschlechterverhältnis wieder in spießige Ordnung und die Diskussion war vorbei.

Mein Blog dient daher auch dazu, über die Entwicklungen in der russischen Pop-Kultur zu berichten, denn dort geht es wie bei uns in den 80-ern und beginnenden 90ern wundervoll bunt und queer zu. Das nimmt man hier nur leider nicht zur Kenntnis.

Eine Argumentation über gesellschaftliche Entwicklungen erklärt aber eine konservative Reaktion der russischen Gesellschaft viel besser und tiefer als das deutsche Geschreibsel von einem homophoben Diktator und schwachsinnige Meldungen, wie die, in Russland dürften Transsexuelle keinen Führerschein besitzen.
Es wäre Aufgabe einer an journalistischen Prämissen orientierten Berichterstattung gewesen, über genau diese gesellschaftlichen Entwicklungen aufzuklären, anstatt Ressentiments zu schüren und Hass zu erzeugen. Dieses Züchten von Hass geht bis in die queere Community hinein und wird dort mit Inbrunst ausgelebt.

Wenn man nach Russland einreist, dann warnt die weit verbreite schwule Dating-App Scruff. An der sogenannten Reisewarnung ist so ziemlich alles falsch. Schwuler Aktivismus ist in Russland natürlich genauso wenig verboten, wie Versammlungen generell illegal sind.
Die in der Warnung geschürte Angst verhindert Kontakt und Austausch. Perfide.
Man muss es sich eigentlich auf der Zunge zergehen lassen. Eine App aus einem Land, das nachweislich foltert, völkerrechtswidrige Kriege zuhauf führt, Menschenrechte mit Füßen tritt, radikalen Fundamentalismus züchtet und weltweit Chaos verbreitet, eine solche App schwingt sich zum Moralapostel auf und lügt ihren Nutzern die Hucke voll.
Dieser Unwillen zur Aufrichtigkeit und Reflexion ist eine Unverschämtheit. Auf Nachfrage, was das soll, bekommt man einen Textbaustein zurück, der sich für die Nachfrage bedankt. Ansonsten beredtes Schweigen.

Scruff funktioniert in Russland übrigens nicht. Das liegt nicht daran, dass Schwule da alle unterdrückt werden, sondern eher daran, dass sie, wenn sie aus dem Ausland zurückreisen beim Grenzübertritt von Scruff gesagt bekommen, wie scheiße und gefährlich es in ihrem Land ist. So eine Anwendung deinstalliert man, zumal dann, wenn es vorne und hinten nicht stimmt. Den gleichgeschlechtlich liebenden Männern unter meinen Lesern mit Reiseabsichten nach Russland empfehle ich Growlr.

Ich bin kein Freund des Wortes Lügenpresse, weil es politisch instrumentalisiert wird, aber in meiner Auseinandersetzung mit Russland wurde und wird deutlich, wir werden systematisch falsch informiert. Es sind nicht einzelne Ausrutscher oder Akzentuierungen, über die man sich streiten kann. Es sind tatsächlich flächendeckende Fehlinformationen. Es geht gar nicht anders als Absicht zu unterstellen. Es stellt sich freilich die Frage, warum und mit welchem Ziel das alles passiert.

Um dieser Frage nachzugehen, ist das, worüber wir falsch informiert werden zu ergänzen um das, worüber wir überhaupt nicht informiert werden.

Augenfällig ist in Russland, dass überall gearbeitet wird. Überall ist Personal. Viel Personal. Alle arbeiten. In Russland wurden durch die Sanktionen absichtlich eine Wirtschaftskrise herbeigeführt und die Arbeitslosenquote liegt bei 5 Prozent. In der Krise! In den Museen an der Garderobe, viel Personal, in den Sälen viel Personal. In der Metro neben den Automaten besetzte Kassenhäuschen, in den Restaurants, überall viel Personal. In den Zügen hat jeder Waggon einen Zugbegleiter, in den Supermärkten sitzen Kassierinnen an Kassen und warten auf Kunden. Nicht wie bei uns, wo die Kunden schon mal die Waren aufs Band legen und dann auf die Kassiererin warten, die gerade noch ein Regal einräumt, damit auch jede Sekunde Arbeitskraft gewinnbringend ausgenutzt wird. Überall ist in Russland Personal. Alle arbeiten. Viel dieser Arbeiten könnten sofort und ohne viel technischen Aufwand wegrationalisiert werden. Dass es nicht getan wird, ist Absicht.

Und weiter noch: Überall wird gebaut. Kostenintensiv gebaut. Rund um die Uhr, auch an den Wochenenden und Feiertagen. Straßen, Brücken, Häuser, Gleistrassen. Es ist wirklich augenfällig.

Und dann die Armut. Auch das ist augenfällig. Die viel beschriebene russische Armut. Sie fehlt weitgehend. Es gibt sie, aber im Vergleich zu meiner Stadt Berlin ist die öffentlich sichtbare Armut in Moskau verschwindend klein. Und nein, die Bettler werden da nicht von der Polizei abgeführt.

Ich war im Winter dort, bei minus 25 Grad. Das kann man ungeschützt draußen nicht überleben. Ich hätte sie sehen müssen in der Metro, in den Einkaufszentren, an den öffentlich zugänglichen Plätzen, an denen es warm ist. Und ich habe ein Auge dafür, denn es sind meine Patienten, die, mit denen ich hier in Berlin arbeite, die Gescheiterten, Schizophrenen, Süchtigen. Es gibt sie auch in Russland, aber in viel geringerer Zahl. Irgendetwas fängt sie auf, bevor sie ganz tief fallen.

Und ich glaube, das, was sie auffängt, ist Arbeit. Ich werde dem weiter nachgehen, bin mir aber jetzt schon ziemlich sicher.
Mit meiner Vorgesetzten hatte ich darüber eine interessante Diskussion. Sie wurde in der DDR geboren. Sie meinte, ich solle mir keine Illusionen machen, alle meine Patienten, so psychiatrisch auffällig sie auch seien, hätten in der DDR gearbeitet. Auf irgendeiner Stelle wie in einem Kassenhäuschen neben einem Automaten vielleicht, nicht hart und schwer. Aber sie hätten alle gearbeitet und teilgenommen.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen wie absurd unser System ist. Wir haben einen ausschließlich auf Leistung verkürzten Arbeitsbegriff, dem die soziale Komponente von Arbeit geraubt wurde, und sortieren darüber Menschen aus der Gesellschaft aus, die wir dann in sozialpsychiatrischen Einrichtungen unterbringen, die gesellschaftliche Zugehörigkeit über arbeitsähnliche Maßnahmen faken.
Zu wessen Nutzen ist das? Es nutzt denen, die aus Arbeit Gewinn erzielen. Es ist Umverteilung von unten nach oben durch Ausgrenzungen und Entsolidarisierung.

Merkels brandgefährlicher Ausdruck von der marktkonformen Demokratie jedenfalls wäre Putin niemals über die Lippen gekommen. Nicht, weil er kein Demokrat wäre, sondern weil die Marktkonformität die Aufgabe von Demokratie bedeutet.
Man hat bei uns einfach noch gar nicht begriffen, was diese Frau da tatsächlich gesagt hat. Es ist nichts weniger als die Preisgabe des Politischen und Unterordnung aller Interessen unter die Metaphysik des Marktes. Da kann man eigentlich auch Diktatur dazu sagen. Und in dieser Hinsicht sind wir auf einem guten Weg.

Mir scheint, die Koordinaten haben sich einfach verschoben. Während es früher zwischen Ost und West zugespitzt um die Frage Karl Marx oder Adam Smith gehandelt haben mag, handelt es sich heute ganz unzugespitzt um die Frage Keynes oder Hayek. Das ist meines Erachtens der eigentliche Motor hinter dem andauernden Russland-Bashing. Es geht um die Verteilungsfrage.
Russland präferiert offensichtlich ein Wirtschaftssystem, das den Menschen zum Mittelpunkt macht. Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen. Bei uns ist es umgedreht. Es ist der Verdienst Putins, den Sozialstaat nach Jelzin wieder hergestellt und den Einfluss der Oligarchen zurückgedrängt zu haben. Es ist weiterhin sein Verdienst, eine Balance zwischen privater und staatlicher Wirtschaft hergestellt zu haben. Es ist sein Verdienst, das Primat der Politik über den Markt wiedererlangt zu haben. Unsere Politik betreibt das Gegenteil. Sie befördert die Aufgabe des Politischen und übergibt Macht an das Kapital.
Dabei ist das russische Modell im Gegensatz zum europäischen Neoliberalismus und der Austeritätspolitik erfolgreich. Europa desintegriert und verarmt. Demgegenüber ist die russische Staatsschuldenquote eine der niedrigsten der Welt und in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs gelang es Russland einen Staatsfund zu schaffen, aus dem es jetzt zehrt und mit dessen Mitteln es die Wirtschaft ankurbelt. Das ist Keynes, der starke, regulierende Staat.

Und gerade als Europäer sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Ein Lebensstandard wie der in Russland wäre für die Menschen in den europäischen Krisenländern eine Verbesserung. Eine deutliche Verbesserung!
Was aber Europa von Keynes und einer auf den Menschen ausgerichteten Wirtschaftspolitik hält, das hat Schäuble mit EU, EZB und IWF im Bunde an Varoufakis und Griechenland vorgeführt.
Russland ist mit seiner Wirtschaftsordnung nicht die Überwindung des Kapitalismus, aber es zeigt seine alternative Form. Doch genau davon schweigt der deutsche Mainstream nicht ganz zufällig. Das alles kommt nicht in den Nachrichten.
Es ist aber wichtig, genau darüber zu berichten. Ein lauterer Journalismus würde das tun.

Wer meint, es ginge in der Auseinandersetzung mit Russland um Menschenrechte, um die Freiheiten von Schwulen und Lesben, der versteht von Geopolitik reichlich wenig. Wer sich hier in eine schwule Bar stellt und es gut findet, dass die den russischen Wodka boykottiert, er sich daher mit finnischem besäuft, beweist tiefe politische Unbildung.
Wer dem Mainstream glaubt, und denkt, Russland hätte die Absetzung von Merkel im Sinn, ebenfalls.
Es geht um Verteilungsfragen und es geht nach wie vor um die Konkurrenz von Wirtschaftssystemen. Wir lassen uns gegeneinander ausspielen.

Die Desinformationskampagnen hierzulande sind äußerst massiv. Ich bin seit zwei Jahren sehr regelmäßig in Russland. Und wenn ich zurück bin, vermisse ich Moskau schon nach wenigen Tagen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich, wenn ich hier von Russland erzähle, ich großes Misstrauen ernte.
In der Regel bekomme ich dann von Menschen, die noch nie in Russland waren und die auch die Sprache nicht sprechen, die auch nie da hin fahren würden, weil es nach allem was man hört da ja schrecklich sein soll, von solchen Menschen bekomme ich dann erklärt, wie es in Russland wirklich zugeht: Unterdrückung der Presse, der Schwulen, Morde an angeblichen Oppositionellen und so weiter und so fort. Da haben die Spin-Doktoren und Think-Tanks wirklich gute Arbeit geleistet. Die Absurdität fällt meinen Gesprächspartnern in der Regel nicht auf. Sie sind sich absolut sicher.

Im Gegenteil. Die Propaganda hier ist so massiv, dass ich Freundschaften verliere. Wegen meiner russlandfreundlichen Position wenden sich Menschen ab. Es wurde absichtlich eine Pogromstimmung gezüchtet, die jede Form anderer Meinung diskriminiert. Wir können gar nicht mehr miteinander sprechen. Wir können uns nur wechselseitig unserer Konformität versichern. Falls das nicht möglich ist, folgt unmittelbar der Kontaktabbruch.
Gegenüber Russland werden medial primitivste Rassismen vorgetragen, die man sich sonst verbietet. Es ist kein Argument zu blöd, um nicht noch gegen Russland ins Feld geführt zu werden. Vor allem die Mittelschicht in der Bundesrepublik ist derart aufgehetzt, dass sie nicht einmal mehr in der Lage ist, eine andere Meinung einfach nur hören und stehen lassen zu können. Dabei vertritt weder die Bundesregierung noch die Europäische Kommission, die NATO oder die USA irgendwelche Interessen, die auch nur annähernd deckungsgleich wären mit den Interessen der deutschen Mittelschicht. Diese in Deutschland herrschende politische Blindheit empfinde ich als einfach nur furchtbar und deprimierend.

Und dann ist da noch etwas, über das die deutschen Medien nicht berichten. Sie berichten nicht über die unglaubliche Wertschätzung, die Russland und Russen gerade Deutschland entgegen bringen.
Das dem so ist, kann man sich hier vermutlich auch gar nicht vorstellen, denn hier wird ja permanent auf Russland eingedroschen. Warum sollten die uns wertschätzen?

Während bei uns das Bild vom primitiven Russen in seiner ganzen rassistischen Varianz medial gepflegt wird, glaubt man in Russland an eine Gemeinschaft mit der deutschen Kultur, die die Jahrhunderte und alle Verwerfungen überdauert.
Dass der zentrale Platz Berlins durch die Jahrhunderte und durch die Systeme nach einem russischen Zaren benannt ist, der eine Freundschaft mit Preußen pflegte, ist jedem meiner Besucher aus Russland untrügliches Zeichen dafür, dass es so ist. Dass die meisten Deutschen nicht wissen, warum der Alexanderplatz Alexanderplatz heißt, wollen meine Freunde dann kaum glauben.

Dabei ist an der Hoffnung meiner russischen Freunde sogar was dran. Angela Merkel und ihre Regierung wird als relativ machtlos und eingeschränkt wahrgenommen. Eingeklemmt zwischen den USA und Konzerninteressen kann diese Regierung nach Auffassung meiner russischen Freunde ohnehin kaum etwas wirklich selbst entscheiden. Vermutlich haben sie recht.
Aber so eröffnen sich auch positive Visionen von Zukunft. Denn wenn man die transatlantische Einklemmung und die erdrückende Umarmung der Lobby abschütteln könnte, dann tun sich Möglichkeiten auf.
Nach wenigen Überlegungen schon ist klar, dass Deutschland als wichtiger Anker in Europa im Zusammengang mit Russland in der Lage wäre einen ewig währenden Frieden zu stiften. Eine Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok, daran angeschlossen und verbunden die BRICS. Ein riesiges Geflecht von Handel und kulturellem Austausch.
Es wäre ein großer Schritt zu dem, was Immanuel Kant in seiner Schrift “Zum ewigen Frieden” beschrieben hat. Es ist genau dieses Angebot, das wir von Russland beständig gemacht bekommen, das hier nie thematisiert wird und das unsere Eliten ohne uns zu fragen mit Vehemenz zurückweisen. Sie hetzen uns lieber gegeneinander auf.
Es ist an uns, Mittel und Wege zu finden, das zu durchbrechen. Das, was die Bundesregierung mit TTIP und ihren Kriegen gegen den Terror, mit Überwachung und Einschränkung von Freiheiten plant, ist nicht in unserem Interesse.
Das was Russland mit BRICS und den alternativen Institutionen zu Weltbank und IWF tut, mit Russlands an Frieden ausgerichteten Politik, sowie der Absicht, der UNO und dem Sicherheitsrat nach seiner Beschädigung durch westliche Politik wieder Leben einzuhauchen, das ist sehr wohl in unserem Interesse.
Wir müssen das wenigstens zur Kenntnis nehmen und diskutieren, bevor wir es eventuell zurückweisen. Dann wüssten wir wenigstens, was wir aufgeben, warum und zu welchem Preis wir es aufgeben.
Mit meinem Blog trage ich dazu bei, die Desinformationskampagnen des Mainstreams zu durchbrechen.
Aus freien Stücken, nicht als bezahlter Troll, sondern weil ich Aufklärer bin.

Auch ich verstehe mich als Aufklärer. Und ich habe einige aus Russland stammende Patienten, die das gleiche über ihre Heimat berichten wie Gert Even Ungar von seinen Besuchen. Mein letzter Besuch in Russland liegt über 30 Jahre zurück, da war Gorbatschow noch als „Mineralsekretär“ an der Macht, es gab überall in Moskau und Leningrad Mineralwasserautomaten mit dem entfernt nach Desinfektionsmittel schmeckenden Leitungswasser aufgesprudelt, und den Wodka musste man nach langem Schlangestehen in speziellen kleinen Läden kaufen.

Kurz nach Jelzins Putsch sank die Lebenserwartung der russischen männlichen Bevölkerung um 10 Jahre.
Jochen

Welchem Zweck Staatsschulden dienen, und warum Regierung und Leitmedien uns nicht die Wahrheit sagen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aufschlussreicher Artikel im Neuen Deutschland -einfach erklärt und verständlich
http://www.neues-deutschland.de/artikel/984347.eine-verteilungsfrage.html
Auszüge:

Eine Verteilungsfrage

Welchem Zweck Staatsschulden dienen, wann sie zu einem Problem werden – und für wen: eine Aufklärung

Die Furcht vor der Staatsverschuldung wird befeuert, sie dient als politischer Hebel. Statt ihren Zweck und ihre Verteilungswirkung zu erklären, werden Staatsschulden dargestellt als eine Gefahr »für uns alle«.

Schulden gelten einerseits als schlecht. Gleichzeitig aber macht der Staat immer neue.
Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man Staatsschulden als das betrachtet, was sie sind – ein Instrument, mit dem die Regierung einen bestimmten Zweck erreichen will: Wirtschaftswachstum.

Wenn ein Staat feststellt, dass seine geplanten Ausgaben über seinen geplanten Einnahmen liegen, könnte er schlicht die Steuern erhöhen. Damit aber würde er dem privaten Sektor Mittel entziehen, was unter Umständen nicht erwünscht ist.
Daher verlegt sich eine Regierung auf Verschuldung: Sie konfisziert das benötigte Geld nicht von Unternehmen und Privatpersonen, sondern sie leiht es sich, verschafft sich damit zusätzliche Mittel und den Gläubigern einen Anspruch auf Zinseinnahmen.
Damit will der Staat den Widerspruch auflösen, dass er einerseits die Wirtschaft fördern will, andererseits aber dieser Wirtschaft immerzu Kosten verursacht.

Mit dem geliehenen Geld finanziert der Staat seine Ausgaben. Vor allem versucht er, die Standortbedingungen zu verbessern und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Über das »angemessene« Volumen der Staatsverschuldung, wie viele Schulden es sein dürfen, kann man also nicht mehr sagen als: nicht »zu viele«.
Dieses »Zuviel« kennt in der Praxis einen Maßstab: das Wirtschaftswachstum. Ihm sollen Staatsschulden dienen, dieses Wachstum dürfen sie nicht beschädigen. Ein Staat muss sich seine Verschuldung also leisten können. Die Frage, ob Staatsschulden nun gut oder schlecht sind, läuft also auf die Frage hinaus: Wie gut oder schlecht ist kapitalistisches Wirtschaftswachstum?

Dass Staatsschulden das Wirtschaftswachstum erhöhen können, ist keine Streitfrage, sondern Fakt. Dabei ist es egal, ob die Schulden passiv hingenommen (bei Steuerausfällen) oder für »aktive Wirtschaftspolitik« gezielt aufgenommen werden.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Stimmen einiger Ökonomen und Institutionen (IWF, OECD) zu verstehen, die nach Jahren von wirtschaftlicher Stagnation und drohender Deflation, vor allem in der Euro-Zone, der staatlichen Verschuldung durchaus auch Positives abgewinnen können – wenn es denn dem Aufschwung, dem Wirtschaftswachstum dient.

Ebenso Fakt ist aber, dass es ein Problem ist, wenn den höheren Schulden kein entsprechend höheres Wirtschaftswachstum und keine höheren Staatseinnahmen gegenüberstehen und darüber immer größere Teile des Staatshaushaltes in die Schuldenbedienung fließen.

Staatsschulden sind also – wie die Schulden von Unternehmen – eine Art vorfinanziertes Wachstum. Über die staatliche Kreditaufnahme spekulieren Regierungen und ihre Geldgeber – die Finanzmärkte – darauf, dass die Schulden mehr Wirtschaftsleistung und mehr Staatseinnahmen generieren.
Mit ihrer Verschuldung macht eine Regierung ihre Bevölkerung dafür haftbar, dass diese Rechnung aufgeht. Bebildert wird diese Haftung durch die Zahl »Staatsschulden pro Kopf der Bevölkerung«.

In die Irre führt die Frage, ob Staatsschulden »für uns« oder für »Deutschland« ein Problem sind. Denn die Menschen sind von diesen Schulden sehr unterschiedlich betroffen – je nach ihrer Stellung und Funktion in der Wirtschaft.
Für die Gläubiger sind die Staatsschulden Geldkapital, also sich vermehrender Reichtum. Über Zinszahlungen profitieren sie von der Schuldenlast.

Dass diese Rechnung aufgeht, dafür müssen andere einstehen. Dies sieht man besonders deutlich, wenn ein Staat Probleme mit der Schuldenbedienung bekommt und »sparen« will.
Dieses »Sparen« trifft logischerweise immer dieselben: die Empfänger von staatlichen Transferleistungen, die Arbeitnehmer, die Konsumenten.
Ge- und befördert werden dagegen die »Träger des Wachstums«, also die Unternehmen und die Finanzinstitute. Sie sollen investieren und Kredite vergeben, sie sollen verdienen, sie sollen Arbeitsplätze »schaffen« und so die Wirtschaftsleistung steigern.
Dass Mehrwertsteuererhöhungen, Lohn- und Rentensenkungen die Massenkaufkraft mindern, die gesellschaftliche Nachfrage reduzieren und damit das Wachstum schädigen, ist ein Widerspruch bei diesem Programm. Mit ihm wird aber klargestellt, an wem »gespart« wird, wenn es heißt: »Wir müssen sparen.«

Ob und wie eine Regierung sparen muss, ist zuweilen aber nicht von ihrer Entscheidung oder vom Verhalten der Finanzakteure abhängig, sondern auch von der Haltung des Auslands. So kann in der EU und in der Eurozone de facto kein Land autonom über sein Finanzgebaren entscheiden – vor allem Deutschland redet bei der Frage mit, ab wann eine Verschuldung zu groß ist und ein Eurostaat Maßnahmen ergreifen muss.
Die Grenzen der Staatsverschuldung sind in der Euro-Zone institutionell geregelt durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt, neuerdings auch durch den Fiskalpakt. Die Unterwerfung unter den Stabilitätspakt war eine Bedingung, unter der die Bundesregierung bereit war, die D-Mark gegen den Euro einzutauschen. Die EU-Kommission und die Euroländer haben seitdem ein Auge auf die Finanzpolitik ihrer Europartner, die immer auch Konkurrenten sind. Trotz gleicher Währung waren und sind auch einige Länder gleicher als andere. Während etwa Frankreich oder Berlin es durchaus mal erlaubt ist, das Defizitziel zu verfehlen, ohne gleiche einen blauen Brief der EU-Kommission zugestellt zu bekommen, war man bei anderen Ländern nicht so großzügig – vor allem nicht in der Krise. Zu spüren bekam dies besonders die griechische Bevölkerung.

Doch die gegenseitige Kontrolle der europäischen Staaten geht weit über die Staatseinnahmen und -ausgaben hinaus. Um die finanzielle Stabilität zu gewährleisten, prüft die EU-Kommission inzwischen regelmäßig eine Vielzahl von ökonomischen Kennzahlen – von der Exportentwicklung über Außenhandelsdefizite, Lohn- und Preisentwicklung in den Ländern. Überschreitet ein Land dauerhaft bestimmte Grenzwerte, kann ihm die EU Vorschriften machen, wie es seine Politik zu ändern hat.
Allgemeines Ziel dieser makroökonomischen Überwachung ist die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten und darüber die Wettbewerbsfähigkeit der EU als Ganzes. Dies soll auch politischen Zwecken dienen: »Vor allem müssen wir […] die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum unserer Bemühungen stellen«, sagte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im März 2011, »denn nur ein wettbewerbsstarkes Europa hat Gewicht in der Welt.«

Zur Erhöhung dieser Wettbewerbsfähigkeit sind in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von »Strukturreformen« in Europa umgesetzt worden, die die Bedingungen für Investitionen verbessern sollen. Hier geht es zum einen um die Liberalisierung bislang regulierter Märkte, um den Abbau von Bürokratie und staatlichen Kontrollen und um die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, sprich: um die Entmachtung der Gewerkschaften zum Zwecke der Senkung der Lohnstückkosten. Man sieht, welch weitreichende Konsequenzen die Kontrolle von Verschuldung und Staatsfinanzen hat.

Angemerkt sei hier noch: Zwar wird ständig darüber geklagt, der Staat gebe zu viel aus – obwohl seit der Großen Finanzreform 1969 in Deutschland Kredite ein reguläres Instrument zur Finanzierung von Staatsaufgaben sind -, selten kritisiert wird aber die Einnahmeseite. Dabei gibt es hier zwei kritikwürdige Entwicklungen. Erstens: Es ist ja klar, dass der Staat das Finanzkapital auch besteuern könnte, statt es zu leihen und dafür Zinsen zu zahlen. Doch dies tut er nicht.

Zweitens ist bemerkenswert, von wem der Staat eigentlich Geld einnimmt, um seine Schulden zu bedienen – wer also für die Schulden (Zinsen) bezahlt. Hier ist die Entwicklung eindeutig: Seit 1977 wird die Steuerbelastung in Deutschland – und nicht nur dort – vermehrt von den Lohnabhängigen (die auch zum großen Teil die Mehrwert- und Verbrauchersteuern zahlen) getragen. Die Belastung von Gewinnen und Vermögen hingegen sinkt. Die Steuerquote geht seit Jahrzehnten tendenziell zurück, die Vermögen wachsen, und seit 1997 ist die Vermögensteuer de facto abgeschafft.
Man sieht: Steuerpolitik ist wesentlich Umverteilungspolitik. Dieser Trend wird durch die Krise verschärft: Die Politik setzt bei der Sanierung der Staatsfinanzen zunehmend auf die Besteuerung des Verbrauchs, so wurde in allen Euro-Krisenländern die Mehrwertsteuer deutlich erhöht.

Die Lohnabhängigen wiederum, die etwa zwei Drittel des gesamten Steueraufkommens tragen, zahlen also nicht bloß für den Großteil der Staatsverschuldung. Sie sollen sich außerdem in Lohnzurückhaltung üben und müssen gleichzeitig seit Jahren die Folgen der Kürzungen von staatlichen Sozialleistungen hinnehmen.

Somit ist auch die Schuldenfrage eine Verteilungsfrage und nicht zuletzt eine Machtfrage. Das musste selbst die FAZ eingestehen, die die Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck zu Wort kommen ließ: »Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen.« (»Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20.8.2011).

Trotz des offiziell ausgerufenen Kreuzzugs gegen die Staatsverschuldung ist sie in den letzten Jahren weiter gestiegen. Dies erkennen die Regierungen und Eliten durchaus als eine Gelegenheit, ihr neoliberales Programm von Deregulierung, Liberalisierung und Senkung der Lohnstückkosten durchzusetzen. Die hohe Verschuldung dient hier als Druckmittel.
Zum Beispiel im Fall Griechenlands: »Für viele Ökonomen (ist) die hohe Verschuldung ein wichtiges Disziplinierungsinstrument zur Durchsetzung struktureller Reformen, die sonst nicht zielstrebig durchgeführt würden.«

Ähnlich argumentierte bereits vor bald 15 Jahren der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: »Am Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt darf nicht gerüttelt werden. Zwar sind seine Referenzwerte wissenschaftlich nicht begründbar [sic!]; sie haben aber erstaunliche Konsolidierungsbemühungen und Konsolidierungserfolge bewirkt und sollten unbedingt beibehalten werden.«

Die Idee, die Angst vor Schulden politisch zu nutzen, nannte David Stockman, Ronald Reagans ehemaliger Direktor des Office of Management, »strategisches Defizit«. In einem Interview machte er deutlich, dass Reagan nie so recht an die neoliberale Angebotspolitik geglaubt habe, stattdessen habe er einen »schlanken Staat« zum Ziel gehabt.

Ähnliches gibt es aus Großbritannien zu berichten, dem zweiten Land, das bei der Durchsetzung neoliberaler Politik eine Vorreiterrolle spielte. Der leitende Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher, Alan Budd, gab dem »Observer« Anfang der 1990er Jahre zu Protokoll: »Die Politik der 1980er Jahre, die Inflation durch Druck auf die Wirtschaft und Kürzung der öffentlichen Ausgaben zu bekämpfen, war ein Vorwand, um die Arbeiter abzustrafen. Das Ansteigen der Arbeitslosigkeit war sehr erwünscht, um die Arbeiterklasse zu schwächen. […] Seitdem konnten die Kapitalisten immer größere Profite machen

So dient die Furcht vor der Staatsverschuldung als politischer Hebel. Statt ihren Zweck und ihre Verteilungswirkung zu erklären, wird sie dargestellt als eine Gefahr »für uns alle«, die eine Art nationalen Notstand schafft und außergewöhnliche Maßnahmen erfordert.
Dieses Bedrohungsszenario nutzt die Politik anschließend, um die Staaten in ein »Paradies der Gläubiger« (Mark Blyth) und Investoren zu verwandeln.

Mein Kommentar: Unsere „Leitmedien“ machen das alles mit, aller Parteien mit Ausnahme der Linkspartei winken das duch und haben dem Fiskalpakt und der Schuldenbremse zugestimmt. Sonst könnte man hier wunderbar mit der Sanierung der Infrastruktur, mit Investitionen in Bildung und Kultur, Arbeitsplätze schaffen und auch alle Flüchtlinge gut versorgen. Für die Bankenrettung waren auch Milliarden übrig.
Verschwiegen wird auch immer noch, dass eine bisher immer wieder zitierte wissenschaftliche Studie renommierter Ökonomen, Staatsverschuldung sei eine Bremse für die Wirtschaft, sich als fehlerhaft herausgestellt hat.

Jochen