Venezuela – Die boykottierte Parlamentswahl, der angekündigte wirtschaftliche Wiederaufbau und das Ende der Juan-Guaidó-Fiktion

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zu diesem Thema habe ich mich hier geäußert, seit ausgerechnet der Bayerische Rundfunk in vorauseilender Beflissenheit schon am Tage des Putschversuches eine Siegesmeldung in den Nachrichten von B5aktuell brachte – siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2019/02/07/kaum-hatte-der-putschist-guaido-sich-zum-prasidenten-venezuelas-erklart-wurden-im-bayerischen-rundfunk-schon-sprachregelungen-vollzogen-tagesschau-betreibt-desinformation-um-den-usa-beim-sturz-vo/
und https://josopon.wordpress.com/2019/02/28/faktencheck-venezuela-was-in-deutschen-medien-uber-das-sudamerikanische-land-verbreitet-wird-und-wie-es-tatsachlich-aussieht-ein-staatschef-aus-dem-regime-change-labor/
und hier: https://josopon.wordpress.com/2019/01/27/aufruf-zur-internationalen-solidaritat-schluss-mit-der-umsturzpolitik-gegen-venezuela-online-aufruf-bitte-unterzeic-hnen/.
Dazu auch der Sozialjournalist Norbert Häring: http://norberthaering.de/de/27-german/news/1104-tagesschau-maduro

Nun hier aktuell Frederico Füllgraf zur gescheiterten Farbrevolution *) der CIA :
https://www.nachdenkseiten.de/?p=68261
Auszüge:
Maduro2019Am vergangenen 7. Dezember fand in Venezuela eine politisch bedeutsame Wahl zur Erneuerung der Nationalversammlung (Bundesparlament) statt. Die Regierung Nicolás Maduro hatte Monate zuvor einen Aufruf zur Entsendung internationaler Wahlbeobachter veröffentlicht, dem nach Regierungsangaben 300 Vertreter aus 34 Ländern folgten. Die Europäische Union (EU) weigerte sich dennoch. EU-Außenminister Josep Borrell behauptete, der Wahlvorgang im Land verspreche keine Transparenz.
Somit vollzog die EU einen Schulterschluss mit dem umstrittenen und diskreditierten Oppositionsführer Juan Guaidó, der längst vor der Wahl der Regierung Maduro einen programmierten „Betrug“ unterstellte und zum Abstimmungsboykott aufrief.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
https://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/201223-Venezuela-die-boykottierte-Parlamentswahl-NDS.mp3
Die Wahl sorgte auch im Lager der Regierungspartei Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PDSUV) für Ernüchterung. Von 20,7 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich lediglich 30,5 Prozent an der Abstimmung über die Neubesetzung des Parlaments.
Im rückblickenden Vergleich mit dem Jahr 2005, als sich maximal 25 Prozent der Wähler an den damaligen Parlamentswahlen beteiligten, ist die Wahlbeteiligung von 2020 die zweitniedrigste in der über zwanzigjährigen Amtszeit des regierenden Chavismo.
Indes, nach der dramatischen Wahlniederlage von 2015, als mit ansehnlich hoher Wahlbeteiligung von 73 Prozent der Chavismo die Mehrheit in der Nationalversammlung an die Opposition verlor, eroberte nun Nicolás Maduros PDSUV mit 67 Prozent der abgegebenen Stimmen die Parlamentsmehrheit zurück und entreißt dessen Kontrolle Juan Guaidó, der ab 5. Januar 2021 seinen Posten als Präsident der Nationalversammlung verliert.

Obwohl der 37-jährige Guaidó von rund 60 Regierungen – darunter den USA, Brasilien und Deutschland – als „legitimes venezolanisches Staatsoberhaupt“ anerkannt, mit milliardenschweren Beträgen von der US-Regierung Donald Trumps finanziert und auf der internationalen politischen Bühne herumgereicht wurde, gelang es ihm nie, sich in seinem eigenen Land durchzusetzen.
Geschweige denn den gegenüber der Trump-Administration geleisteten „Schwur“ einzuhalten, den Sturz Nicolás Maduros herbeizuführen.
„Trumps Politik in Venezuela ist gescheitert. Sie können ja sehen, wo Trump ist, wo ich bin und wo Guaidó geblieben ist“, witzelte Nicolás Maduro vor internationalen Medien nach der Doppelniederlage, also der Wahlniederlage Trumps und der venezolanischen Opposition, und setzte einen Kraftausdruck obendrauf:
„Wir hätten uns mit Trump verstanden, er hat es aber vorgezogen, auf einen Idioten zu wetten, der ihn letztendlich verraten hat“.

Amts- und Szenenwechsel: Joe Biden und Enrique Capriles

Nicolás Maduros Humor scheint begründet. Der gewählte US-Präsident Joe Biden plane Verhandlungen mit dem venezolanischen Präsidenten und ignoriere gleichzeitig die Kontaktaufnahme-Versuche Juan Guaidós, berichtete die US-Agentur Bloomberg am vergangenen 18. Dezember.
Während die Trump-Administration Maduros Rücktritt als Voraussetzung für Verhandlungen ansah, verlange Bidens Team dies nicht, will Bloomberg erfahren haben.

Demnach plane Joe Biden, im Austausch für die Zusicherung „freier und fairer Wahlen“ Teile der mehr als 300 gegen Venezuela und einige seiner Regierungsfunktionäre in den vergangenen Jahren erlassenen Sanktionen abzuschwächen beziehungsweise zurückzunehmen; allerdings mit der Einschränkung, bestimmte, nicht näher erläuterte Sanktionen könnten gar erweitert werden.
Bidens außenpolitisches Berater-Team werde die bestehenden Sanktionen überprüfen, um festzustellen, wo die Beschränkungen mit Hilfe internationaler Verbündeter erweitert und welche Maßnahmen aufgehoben werden könnten, wenn Maduro sich dem demokratischen Ziel „nähert”, heißt es einem von Bloomberg zitierten Positionspapier.
Für die beabsichtigten Verhandlungen erwarte die zukünftige Biden-Regierung allerdings die Zustimmung ausländischer Regierungen, die Nicolás Maduro unterstützen, darunter Russlands, Chinas und des Iran.

Doch der angekündigten internationalen Wende ging eine innenpolitische Veränderung in Venezuela voraus. Drei Monate vor der Parlamentswahl kehrte der ehemalige Oppositionsführer und Landesgouverneur Enrique Capriles Radonski an die vorderste Front der Opposition gegen Maduro zurück.
„Die Landkarte der Opposition ändert sich, die in mehrfacher Hinsicht von entscheidender Bedeutung sein wird. Maduros Begnadigungen haben Washingtons Position nicht verändert“, doch „nicht einmal US-Außenminister Mike Pompeo scheint in der Lage zu sein, Juan Guaidó zu retten“, kommentierte Marco Teruggio in der argentinischen Tageszeitung Pagina12.

Mit Capriles wird seit vergangenem September Juan Guaidós Führungsanspruch des Oppositionsführers infrage gestellt, der immerhin als herausfordernder Präsidentschaftskandidat gegen Hugo Chávez und Nicolás Maduro antrat und ernstgenommen wurde. Der Jurist aus dem Bundesstaat Miranda beteiligte sich sehr wohl an verschiedenen Protestakten gegen den Chavismo, gilt jedoch als eher gemäßigter, vor allem als dialogbereiter Konservativer, der einst mit Guaidó in einer Reihe stand, ihm jedoch das Ende seiner „Seifenoper“ und der politischen Fiktion bescheinigte.

Seine Rückkehr ins Zentrum der Opposition erklärt sich mit vier Schritten.
Erstens mit seiner öffentlichen Ablehnung der von Guaidó vorgeschlagenen „Einheit der Opposition“, zweitens mit der Anerkennung der von der Regierung Maduro gewährten Begnadigung von 110 venezolanischen Oppositionellen, drittens mit der Einschaltung des türkischen Außenministers Mevlut Cavusoglu als Mittler der innervenezolanischen Dialogbemühungen und viertens mit seiner Ablehnung des Guaidó-Aufrufs zum Wahlboykott.
Es bestehen keine Zweifel an Capriles‘ unerschütterbarer Ablehnung des Chavismo und der Regierung Nicolás Maduro, doch ebenso wenig zweifelt Letztere an der Voraussehbarkeit und Zuverlässigkeit von Capriles‘ Handlungen im Vergleich mit dem eitlen und gescheiterten Putschisten Juan Guaidó.

Wahlenthaltung: kein exklusives venezolanisches Phänomen

Verschiedene europäische Medien – darunter die Deutsche Welle, die britische BBC und die französische France24 – hinterfragten das Ergebnis der jüngsten Parlamentswahl. „Die niedrige Wahlbeteiligung von 31 Prozent, 40 Punkte weniger als bei den Parlamentswahlen von 2015, überzieht den erwarteten Sieg mit einem Schatten und wird von der Opposition als ihr Argument verwendet”, kommentierte France24.
Dass die nahezu 70-prozentige Stimmenthaltung wahrhaftig keinen Grund zum Feiern bietet, sollte eindeutig festgehalten werden. Doch ist sie ein ausschließlich venezolanisches Symptom?

Für den Aktivisten der venezolanischen Pobladores-Bewegung und Vertreter von Alba Movimentos, Hernán Vargas, stellt die von den USA und der EU verhängte Wirtschaftsblockade den Hauptgrund für das schlechte Wahlergebnis dar. „Stimmenthaltung ist eine Auswirkung der Blockade, da sie zweifellos zu materiellen Abnutzungserscheinungen im Land geführt hat.
Die Politik der Blockade sollte einen Aufruhr, das heißt einen Umbruch und einen Verstoß gegen die Ordnung des Landes hervorrufen, der zu einem Aufruhr führt.
In der Praxis ist dies aber nicht der Fall, im Gegenteil“, erklärte Vargas in einem Gespräch mit Brasil de Fato, der Wochenzeitung der brasilianischen Bewegung der Landlosen/MST.

Die Erklärung greift einen entscheidenden Aspekt auf, macht es sich aber zu einfach. Mitentscheidende Gründe für die von Vargas erwähnten Abnutzungserscheinungen ist die erratische Wirtschaftspolitik Nicolás Maduros seit 2013, insbesondere die zögernde Initiative, sich vom Erdöl als einziger Einnahmequelle zu befreien und vor allem eine nationale Nahrungsmittelindustrie mit produktiver und nachhaltiger Landwirtschaft als Lieferanten aufzubauen, die die Versorgung gesichert, die schwindelerregende Auslandsverschuldung von 136 Milliarden US-Dollar und die öffentliche Verschuldung mit 289 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) verhindert hätten.
Doch ebenso wenig bestehen Zweifel daran, dass die politischen Sanktionen dramatische ökonomische und soziale Schäden verursacht haben, bei denen das Volk der Hauptleidtragende ist und die sich nach Regierungsangaben auf mindestens 116 Milliarden US-Dollar summieren.

Die extrem hohe Stimmenthaltung ist also auch Ausdruck politischer Enttäuschungen über nicht eingehaltene Versprechungen des demokratischen Vertretungssystems.
Und damit steht Venezuela nicht allein da, wie der Fall Chile mit seiner ultraliberalen Regierung Sebastián Piñera deutlich macht. Am vergangenen 7. Dezember präsentierte zum Beispiel das Zentrum für Querschnittsuntersuchungen der Katholischen Universität (PUC Chile) unter Verwendung der von der Wahlbehörde (Servel) zur Verfügung gestellten Statistik eine Analyse individueller Wählerdaten, die an den zwischen 2012 und 2017 durchgeführten Wahlen teilgenommen hatten.
Obwohl sich die Untersuchung auf diesen Zeitraum konzentrierte, umfasste sie auch frühere Daten, die allesamt einen klaren Trend zum Rückgang der Wahlbeteiligung attestieren, deren niedrigsten Indikatoren bei den Kommunalwahlen von 2012 mit 43,2 Prozent und 2016 mit 34,9 Prozent registriert wurden.
Piñera wurde 2018 mit gerade einmal 3,8 Millionen Stimmen von insgesamt 14.796.244 Stimmberechtigten gewählt und hält sich Ende 2020 mit lächerlichen 7 Prozent Wählerzustimmung an der Macht.
„Chile ist als eines der Länder mit der niedrigsten Wahlbeteiligung der Welt bekannt … Diese Statistiken sind für eine Demokratie und in einem OECD-Land schockierend“, erklärte Simone Reperger, Vertreterin der SPD-eigenen Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile, gegenüber der Deutschen Welle.

Die Parlamentswahl als letzter Hebel zum wirtschaftlichen Wiederaufbau

Der 6. Dezember war für Präsident Maduro und den Chavismo eine Win/Win-Wette, sie brauchten unbedingt die jüngste Parlamentswahl und -mehrheit. Diese Mehrheit soll neue Investitions-Gesetzesregelungen im Parlament verabschieden, die milliardenschwere Investitionen aus Russland, China, Iran und der Türkei beschleunigen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau fördern können.
Das Stichwort dazu heißt Ley Antibloqueo/Antiblockade-Gesetz“ und wurde bereits im Oktober 2020 von der chavistisch dominierten Verfassungsgebenden Versammlung verabschiedet; ein Schritt, der offenbar den Schlüssel-Investoren als nicht ausreichend erschien und daher erweiterter Legitimation bedurfte.

Das Gesetz bietet der Regierung die Nutzung rechtlich institutioneller Mittel, vor allem die US-Sanktionen „durch einen flexiblen Schutz und, gesetzt der Fall, mit einem rigorosen Gegenangriff zu konfrontieren“, so der Wortlaut des Gesetzes. „Wir müssen Formeln finden, um frei und legal mit der Welt handeln zu können, ohne Angst vor Repressalien aus den USA. Wir müssen das Landeseinkommen zurückgewinnen, indem wir uns auf unsere Stärken und Fähigkeiten verlassen, um unser Volk vor den schrecklichen Auswirkungen der Blockade schützen zu können“, begründete Nicolás Maduro die Initiative.
Gemäß Artikel 19 des Anti-Blockade-Gesetzes wird die Regierung „in bestimmten Fällen Normen von rechtlichem oder sublegalem Rang zurücknehmen, deren Anwendung unmöglich oder kontraproduktiv ist“.
Darüber hinaus wird der Exekutive erlaubt, Änderungen in der Eigentumsstruktur bestimmter Unternehmen, sowohl des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA wie auch privater Unternehmen, vorzunehmen.

Schlüsselfunktion im Gesetz haben Artikel 6 und 9, die zum einen das Vorrecht des staatlichen Besitzes am PDVSA-Konzern und zum anderen den Schutz ausländischer Investitionen sichern.
„Die Befugnis zur Ausübung von Geschäften und damit verbundenen Lizenzen beschränkt sich darauf, niemals zu Lasten von Artikel 303 der venezolanischen Verfassung zu handeln, der den Staat dazu auffordert, alle Anteile der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA zu behalten“, und „das Gesetz sieht ´Investitionsgarantien´ vor, mit denen die Regierung versucht, ausländisches Kapital anzuziehen.
Dies tut sie mit der Versicherung, Klauseln zum Schutz der Investitionen anzubieten, um Vertrauen und Stabilität zu schaffen. Die Exekutive darf ebenso ´jeden Finanzmechanismus´ nutzen, um den Zweck dieser Gesetzgebung zu erfüllen“, heißt es im Wortlaut des Gesetzes.

Hatte die von der Opposition kontrollierte Nationalversammlung im Oktober 2020 noch die Verabschiedung des Antiblockade-Gesetzes als für null und nichtig erklärt, so ist damit zu rechnen, dass die seit dem 6. Dezember mit Regierungsmehrheit dominierte Nationalversammlung das Gesetz mit großer Mehrheit durchpeitscht.
Doch wird auch dieser neue Umstand jene Länder, wie die USA und den EU-Block, überzeugen, die die Chavismo-Behörden nicht für legitim halten und seinen Zugang zu den internationalen Finanzierungs- und Ölhandelsmärkten blockieren?

*: Zu Farbrevolutionen siehe auch https://josopon.wordpress.com/2014/09/21/cia-in-der-ukraine-freedom-and-democracy/

Über Kommentare hier auf meinem Blog würde ich mich freuen.

Jochen

Was will die Opposition in Venezuela?


Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sehr ausführliche Untersuchung der Monde Diplomatique, ganz im Gegensatz zu der inszenierten Medienkampagne hier, zu der sich auch der SPD-Außenminister Maas in widerlicher vorauseilender Beflissenheit gesellt. Hat ihm Trump schon einen Direktorenposten in einer seiner Firmen versprochen?

https://monde-diplomatique.de/artikel/!5571191
Hier auszugsweise:

Die Opposition gegen Präsident Maduro umfasst sämtliche politischen Strömungen – von den traditionellen Parteien, die bis zur Ära Chávez die Macht unter sich aufgeteilt hatten, bis hin zur sozialistischen Linken. Ihre Pläne für Venezuelas wirtschaftliche Zukunft sind unklar und widersprüchlich. Einigkeit gibt es nicht.

von Julia Buxton

Das Unmögliche ist geschehen. In Venezuela hat sich eine durch persönliche Rivalitäten und strategische Spaltungen gelähmte Opposi­tions­be­wegung geeinigt.
Von links bis rechts stimmt man darin überein, dass die zweite Amtszeit Maduros nicht durch die Wahl vom Mai 2018 legitimiert ist.
Die von der Opposi­tion beherrschte Nationalversammlung be­trachtet Nicolás Maduros Amtseinführung am 10. Januar 2019 als widerrechtliche Machtergreifung, und für diesen Fall sieht die bolivarische Verfassung des Landes vor, dass der Parlamentspräsident, also ­Juan Guaidó, zum „Interimspräsidenten“ ernannt wird.

Parteien und Organisationen aus dem gesamten Spektrum der Opposi­tion haben sich hinter das „Statut zur Regelung des Übergangs zur Demokratie und zur Wiederherstellung der Verfassung“ gestellt, das in Kraft treten wird, sobald Maduro sein Amt niederlegt.
Es sieht eine vorläufige Regierung der nationalen Einheit, die Erneuerung der staatlichen Behörden und eine neue Präsidentschaftswahl binnen zwölf Monaten vor.

Kritiker verurteilen dieses Vorgehen als „Staatsstreich“1 und halten die offene, massive Unterstützung Guaidós durch die USA für eine Verletzung der venezolanischen Souveränität. Sie warnen vor einem Bürgerkrieg und einer Verschärfung der humanitären Krise.
Guaidós Anhänger im In- und Ausland dagegen versprechen sich von seiner Interimspräsidentschaft einen Ausweg aus dem wirtschaftlichen Chaos und ein Ende des „neuen Autoritarismus“.

Die Hoffnung, es könnte aufgrund des massiven Drucks aus den USA zu einem schnellen Regimewechsel kommen, hat sich schnell zerschlagen, weil Maduro weiterhin von der venezolanischen Armee gestützt wird; Russland und China halten ihm die Treue, allerdings hat China mit der Opposition schon Gespräche über seine Investitionen in Venezuela geführt.2
Auch die von Mexiko und Uruguay vorgeschlagene Alternative einer Verhandlungslösung hat Guaidós Schwung gebremst.

Guaidó und die Diaspora in den USA

Doch mit lautstarker Rückendeckung aus den USA hat Guaidó die Forderung, mittels Verhandlungen einen Weg aus der politischen Sackgasse zu finden, zurückgewiesen. Er hat dem militärischen Oberkommando Straffreiheit zugesichert, die lähmenden US-Sanktionen gegen die staatliche Ölgesellschaft PDVSA begrüßt und dem Einfrieren von Staatseinnahmen und Staatsvermögen im Ausland zugestimmt. Eine US-Militär­inter­vention will er nicht ausschließen.

Die Einheit der Opposition ist fragil. Sie wird brüchiger werden, wenn Fragen der Machtverteilung, der Besetzung wichtiger Posten und der politischen Ausrichtung in den Vordergrund rücken. Was die Schlüsselfiguren angeht, besteht ein Mangel an ideologischer und politischer Klarheit.
Es zeichnet sich ab, dass Venezuela während eines „Übergangsprozesses“ von einem deutlich weniger breiten Bündnis regiert werden könnte.

Dabei sollten der Zuschnitt, die personelle Besetzung und die Setzung der Prioritäten von Guaidós Parallel­regierung und Planung für die Zeit nach Maduro von größtmöglicher Pluralität geprägt sein. Doch die Choreografie des Regimewechsels wird von Guaidós Minderheitspartei Voluntad Popular (die 2015 bei der Parlamentswahl nur 14 der 167 Sitze errang) und ihrem einflussreichen Diaspora-Netzwerk in den USA dominiert.

Ein großer Teil der Opposition bleibt bei den strategischen Verhandlungen zwischen US-Beamten, Voluntad Popular, deren Vertreter in Washington und einzelnen stark profilierten Persönlichkeiten wie Maria Corina Machado, der Vorsitzenden von Vente Venezuela, und Antonio Ledezma, dem Chef der Alianza Bravo Pueblo, ausgeschlossen. Vente Venezuela und Alianza Bravo sind im Vergleich zu Gruppierungen wie Primero Justicia und Acción De­mo­crática3 kleine Fische, mehr persönliche Wahlvereine als strukturierte Parteien, und verfügen im Parlament nur über je einen Sitz.

Juan Guaidó selbst gehört innerhalb der Opposition zu einer Fraktion von Hardlinern, die bei den venezolanischen Wählerinnen und Wählern wenig Rückhalt hat, nur eine begrenzte Kompromissfähigkeit an den Tag legt, sich über ihre ideologische Ausrichtung ausschweigt und sich in der Frage, wie ihre Pläne für den nationalen Wiederaufbau umgesetzt werden sollen, auffallend bedeckt hält.
Falls Guaidó einen versöhnlicheren Ton anschlagen und auf die nach wie vor beträchtliche chavistische Wählerschaft zugehen sollte, riskiert er den Widerstand seiner eigenen radikalen Basis.

Die Oppositionsbewegung nutzt von jeher sowohl institutionelle wie außerparlamentarische Strategien, von der Beteiligung an Wahlen über Protestkundgebungen, Hungerstreiks und Guarimbas (Straßenbarrikaden) bis zum Putschversuch.

Grob betrachtet besteht die Opposition aus drei Fraktionen. Die erste, die mit Guaidós Voluntad Popular, Leo­poldo López und Figuren wie Corina Machado und Antonio Ledezma identifiziert wird, wollte lange Zeit nicht das Geringste mit der „Bolivarischen Revolution“ zu tun haben. Für sie, die „Radikalen“, bedeutete die Teilnahme an Wahlen schon eine Legitimation des chavistischen Regimes.
Sie sind eng mit der Diaspora in den USA verbunden, die dort einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern besitzt. Von den USA aus griffen sie die Befürworter der Partizipation4 scharf an, riefen zur Militärinterven­tion auf und entwarfen Übergangsszenarien für Venezuela.5
Im Land selbst organisierten sie sich in kommunalen Netzwerken (Redes Populares) und mobilisierten ihre Anhänger über soziale Medien und Studierendenorganisationen. Finanziell unterstützt wurden sie durch die US-Stiftung National Endowment for Democracy (NED) und die Washingtoner Behörde für Entwicklungszusammenarbeit USAID.6

Ihre privilegierte soziale Herkunft, ihre helle Haut und eine Ausbildung in den USA unterscheidet die „Radikalen“ von denjenigen Venezolanern, die Chávez vergötterten. Ihr Elitismus stand ihrem politischen Erfolg im Wege: Von der öffentlichen Meinung wurden ihre anhaltenden Bemühungen, den Präsidenten zu stürzen – etwa mit dem Staatsstreich 2002 und dem Amtsenthebungsreferendum 2004, das von Corina Machado angezettelt wurde –, als Versuch einer reichen Minderheit wahrgenommen, ihren Willen gegen die Mehrheit durchzusetzen.
Von der venezolanischen Regierung wurden sie als antinationaler Haufen beschimpft, der mit den US-amerikanischen Neokonservativen unter einer Decke stecke und sich weit vom venezolanischen Volk entfernt habe. Und solange der Ölpreis immer weiter anstieg und der Regierung Chávez die rasche Einführung von Sozialprogrammen erlaubte, schien es tatsächlich, als stünden die Verfechter eines Regimewechsels auf der falschen Seite der Geschichte.

Die beiden anderen Oppositionsströmungen waren offener für Versöhnungsinitiativen. Wenn ihr parlamentarisches Engagement erfolgreich war, wie bei den Gouverneurswahlen in den Bundesstaaten 2008 oder bei den Parlamentswahlen 2010, gewannen die „Zentristen“ an Einfluss. Rückschläge wie die knappe Niederlage des oppositionellen Einheitskandidaten Henrique Capriles Radonski gegenüber Maduro 2013 haben wieder zur Verlagerung der Proteste auf die Straße geführt.

Zu den Zentristen werden die beiden größten Oppositionskräfte Primero Justicia (PJ, mit 33 Sitzen im Parlament) und Acción Democrática (AD, 25 Sitze) gezählt, obwohl die zwei Parteien zwischen verschiedenen Positionen hin und her schwanken.

Die PJ ist ein Spross zivilgesellschaftlicher Bewegungen aus der Zeit vor Chávez in den frühen 1990er Jahren, die sich 2000 als Partei neu konfigurierten.
Die AD dagegen ist Venezuelas wichtigste „historische Partei“. Man hält ihr zugute, das Land 1958 zusammen mit der christdemokratischen Copei in die Demokratie geführt zu haben; anschließend teilten sie sich die Macht. Antonio Ledezma, ein Verbündeter Guaidós, trennte sich 1999 von der AD. Persönliche und politische Feindschaften prägen bis heute das Bild der AD und ihrer Abspaltungen.

Der PJ-Vorsitzende Capriles brachte die Opposition vom prinzipiellen Wahlboykott ab und steuerte die im Januar 2008 ins Leben gerufene Koalition Mesa de la Unidad Democrática (MUD) pragmatisch auf einen Kurs, der zwar von den zentralen Forderungen der Opposition nach wirtschaftlicher Reaktivierung, demokratischem Wiederaufbau und sozialer Neuordnung ausging, aber zugleich die Notwendigkeit anerkannte, die chavistische Basis für sich zu gewinnen und Teile des bolivarischen Programms zu bewahren.

Die Parlamentswahl von 2010, bei der die MUD nur knapp der Regierungspartei unterlag, stärkte die Einigkeit dieser Koalition, die sich bei der Präsidentschaftswahl 2012 hinter Chávez’ Herausforderer Capriles Radonski sammelte. Capriles positionierte sich als Mitte-links-Kandidat und propagierte ein „unternehmerfreundliches, aber sozial ausgewogenes“ Wirtschaftsmodell.7
Damit ging er auf Distanz zu Positionen, wie sie die Radikalen vertraten, die auf Rücknahme des staatlichen Einflusses, auf (Re-)Privatisierungen – einschließlich der staatlichen Ölgesellschaft – und auf Wiedereinführung der Marktwirtschaft bestand. Während die Radikalen Vergeltung und Strafverfolgung von Regierungsbeamten verlangten, stand Capriles für Versöhnung und nationale Einigung.

2012 behielt Chávez mit einem Vorsprung von 11 Prozentpunkten die Oberhand, bei der Wahl nach seinem Tod gewann Maduro 2013 mit nur 0,7 Prozentpunkten Vorsprung. Die beiden Niederlagen gaben den Radikalen um Leopoldo López wieder Auftrieb.

Leopoldo López, die graue Eminenz

Die Auseinandersetzungen zwischen Capriles und López wurden in den venezolanischen Medien „wie eine Tele­novela mit großem Eifer“ verfolgt. López, der nach seiner Ausbildung in den USA früh der PJ beigetreten war, verließ die Partei 2007 aufgrund interner Zerwürfnisse. Eine Depesche des US-Außenministeriums beschreibt ihn als „spalterische Figur […] arrogant, ­rachsüchtig und machthungrig“, aber „von anhaltender Popularität, charismatisch und mit Organisationstalent“.8

López trat einer 1999 gegründeten Splittergruppe namens Nuevo Tiempo bei, die sich in den späten 2000er Jahren auf die Mobilisierung studentischer Proteste verlegte. 2009 gründete er Voluntad Popular. Nachdem ihm wegen Korruptionsanschuldigungen verboten wurde, öffentliche Posten zu bekleiden, wurde er von den Radikalen zum Gegner hochstilisiert, den die Chavisten am stärksten fürchteten.
Capriles erschien dagegen als eine lahme zweite Wahl, aber in der Doppelstrategie von Volksaufstand und Wahlbeteiligung fanden beide Fraktionen eine gemeinsame Grundlage.

Bei der Parlamentswahl 2015 errang die MUD schließlich 56 Prozent der Stimmen und die Mehrheit der Sitze im Parlament. Das Bündnis hatte zwar einen Plan, um an die Macht zu kommen, aber keinen für eine künftige Regierung. Als Minimalkonsens erwiesen sich in den Parlamentsdebatten die Freilassung politischer Gefangener – mit besonderem Augenmerk auf den wegen „Verschwörung“ inhaftierten López – und die Rücknahme einiger sehr populärer Programme von Chávez.
Diese Agenda entsprach nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung angesichts eines wachsenden wirtschaftlichen Chaos, zunehmender Versorgungsengpässe und um sich greifender Unsicherheit. Die Opposition blieb eine unbekannte, wenn nicht argwöhnisch beobachtete Größe. In Meinungsumfragen von 2017 bezeichnete sich die Hälfte der Bevölkerung als „ni, ni“, weder für die Regierung noch für die Opposition.9

Im Herbst 2017, nach den Gouverneurswahlen, implodierte die MUD, weil sich vier der fünf MUD-Gouverneure entschieden, ihren Amtseid vor der Nationalen Verfassunggebenden Versammlung NCA abzulegen. Damit legitimierten sie die NCA, die von Maduro ins Leben gerufen worden war, um das von der Opposi­tion dominierte Parlament zu umgehen. Die NCA wird von den USA, Kanada, der Organisation Amerikanischer Staaten sowie von einer Reihe europäischer und lateinamerikanischer Staaten nicht anerkannt.

Die Spaltung der MUD offenbarte erneut den Zwist zwischen jenen, die in Wahlen ein Mittel zur Veränderung sahen, und jenen, die glaubten, die Regierung müsse aus dem Amt gejagt werden. Für den parlamentarischen Weg traten jetzt die Mitte-links-Kräfte ein, enttäuschte und aus Maduros engerem Kreis verbannte Chavisten sowie Sozialisten, die die Korruption in der Regierung, das Missmanagement der Staatsindustrien und den wachsenden Einfluss des Militärs kritisierten.
Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2018 wurden sie von dem Ex-Chávez-Gefolgsmann und Gouverneur des Bundesstaats Lara, Henri Falcón, vertreten. Seine Kandidatur wurde von den Radikalen der PJ und AD abgelehnt, die AD rief nach dem erneuten Zusammentreten der NCA wieder einmal zum Wahlboykott auf.

Wie zuvor Capriles warb auch Falcón damit, dass seine Bewerbung der nationalen Versöhnung diene. Die Radikalen denunzierten ihn als Verräter. Falcón wiederum beschwerte sich, dass seine Kandidatur von der Opposition heftiger bekämpft werde als von Maduro. Auf seine Niederlage – Maduro siegte mit 68 Prozent der Stimmen bei einer schwachen Wahlbeteiligung von 48 Prozent– reagierte Falcón mit der Anschuldigung, die Wahl seien manipuliert gewesen.
Das Ergebnis raubte der Wahlstrategie moderater Oppositionskräfte den letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Die Weichen für die Unterstützung von Guaidós Interimspräsidentschaft waren gestellt.

Doch Guaidós Autorität im Land selbst ist unsicher. Weder die Opposition noch die Wähler insgesamt haben ihm einen Blankoscheck ausgestellt.
Capriles schrieb kurz vor Guaidós Selbst­ernennung, „gewisse Leute“ in der Opposition, die sich mit Gewalt durchsetzen wollten, machten die Venezolaner zu „Kanonenfutter“.10

Die Unfähigkeit der Opposition, sich zu einigen, ist Teil ihrer grundsätzlichen Schwäche: Sie hat kein klares politisches Projekt, das die Mehrheit der Venezolaner überzeugen könnte. Der Plan País, der in den USA ausgearbeitet wurde und sich auf Leopoldo López’ Buch „Venezuela Energética“ stützt, beschreibt zwar detailliert die Missstände der venezolanischen Ökonomie; über die technische Umsetzung der Pläne zur Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft gibt er aber wenig Auskunft.

Eine Umstrukturierung von Venezuelas Öl-, Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik durch die von Guaidó ohne weitere Diskussionen ernannten Personen aus dem Umfeld der Voluntad Popular wird – ob Maduro im Amt bleibt oder nicht – die Opposi­tion zersplittern.
Da Maduro nach wie vor einen Teil der Bevölkerung hinter sich hat, verhindern das Fortbestehen der inneren Spaltungen, der Hang zum Personalismus und eine Politik des „Jeder für sich und dem Sieger alles“ innerhalb der Opposition eine friedliche Einigung über die Zukunft Venezuelas.*)

¹ Siehe Oscar Guardiola-Rivera, Guardian, 28. Januar, theguardian.com/commentisfree/2019/jan/28/venezuela-coup-trump-juan-guaido.

² wsj.com/articles/china-holds-talks-with-venezuelan-opposition-on-debt-oil-projects-11549993261.

³ wsj.com/articles/what-the-hell-is-going-on-how-a-tiny-cabal-galvanized-venezuelas-opposition-11549555626.

4 Diego Arria, „An Open Letter to Henrique Capriles“, Huffington Post/the Blog, 19. März 2013, www.huffingtonpost.com/diego-arria/an-open-letter-to-henriqu_b_2886218.html.

5 www.planpais.com/.

6 Vgl. Eva Gollinger, „Kreuzzug gegen Venezuela. Der Chávez Code“, Frankfurt am Main (Zambon Verlag) 2006, sowie Tim Gill und Rebecca Hanson, „How Washington Funded the Counter-Revolution in Venezuela“, The Nation, 8. Februar 2019.

7 „Lineamientos para el programa de gobierno de unidad nacional (2013-2019)“, MUD, Caracas, 23. Januar 2012.

8 Roberto Lovato, „The making of Leopoldo López“, Foreign Policy, Washington, D. C., 27. Juli 2015.

9 Yesibeth Rincón, „Crecen los ‚ni ni‘ ante falta de soluciones a crisis“, Panorama, Maracaibo, 2. Januar 2017, https:/www.panorama.com.ve.

10 „¿Quién es el enemigo de la Asamblea Nacional?“, 13. Januar 2019, www.henriquecapriles.com.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Julia Buxton ist Professorin für vergleichende Politikwissenschaften an der Europa-Universität Budapest.

*: Das bedeutet also: Bürgerkrieg!
Vergleiche dazu die Analyse der Konstruktion des Putschisten durch US-ThinkTanks hier:
https://josopon.wordpress.com/2019/02/28/faktencheck-venezuela-was-in-deutschen-medien-uber-das-sudamerikanische-land-verbreitet-wird-und-wie-es-tatsachlich-aussieht-ein-staatschef-aus-dem-regime-change-labor/

 

Jochen