Europas Zukunft: Zehn Varianten des Abstiegs

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

dagmar henn

Ein intelligenter Kommentar von Dagmar Henn:
https://freeassange.rtde.live/meinung/168623-europas-zukunft-zehn-varianten-abstiegs/
Auszüge:

Es wird getan, als ginge es um die Ukraine; in Wirklichkeit geht es um eine Welt ohne Kolonialismus. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in Europa könnte damit gut leben. Aber es fehlt die politische Kraft, um an die Stelle verbissener Verteidigung der alten Ordnung die neue zu setzen.

Überlegungen, wie die ganze gegenwärtige Krise – nicht nur in Bezug auf die ukrainische Front, sondern auf die globale Veränderung – für Europa enden könnte, beginnt man vielleicht am besten mit dem wünschenswerten Ergebnis. Für die weit überwiegende Mehrheit der europäischen Bevölkerungen wäre das eine Eingliederung in eine künftige Weltordnung souveräner Staaten mit gleichen Rechten.

In einer solchen Ordnung würden zwar die enormen Geldflüsse entfallen, die augenblicklich das Ergebnis der westlichen Macht sind, aber von diesen Geldflüssen profitiert nur eine verschwindende Minderheit. Für die allermeisten bieten die enormen, in wenigen Händen konzentrierten Geldbeträge nur Nachteile – um für all dieses Geld eine Verzinsung zu ermöglichen, steigen die Mieten und werden alle möglichen Lebensbereiche, wie das Gesundheitswesen, künstlich kommerzialisiert.

Nur als Beispiel dafür: In Deutschland besitzt gerade ein Prozent der Einwohner Wohnungen, in denen sie nicht selber leben. Darunter sind aber noch ein Menge Menschen, die etwa als Altersvorsorge genau eine Wohnung besitzen, die sie vermieten.
Nur dieses eine Prozent profitiert von den stetig steigenden Mieten. 99 Prozent haben davon einen Nachteil, denn selbst für die Eigentümer von selbstgenutztem Wohnraum wird der mögliche Vorteil eines steigenden Werts durch größere Probleme, dieses Eigentum überhaupt zu bilden, ausgeglichen.

Ein Verschwinden dieser Geldflüsse – was mit einem Bedeutungsverlust von Kolonialstrukturen wie IWF und Weltbank einhergeht – würde die Struktur des internationalen Handels verändern, der in vielen Bereichen heute von der Peripherie ins Zentrum fließt. An die Stelle des Abschöpfens müsste wieder ein Austausch von Gütern treten.
Dabei würde sich natürlich auch die Verteilung der Produktion ändern, weil eine Befreiung von kolonialen Lasten vielerorts eine nachholende Industrialisierung ermöglichen würde. Das heißt, die Rolle der jeweiligen Binnenmärkte würde in allen Ländern zunehmen.

Das klingt für deutsche Ohren, denen jahrzehntelang der Exportweltmeister als Ideal vorgesungen wurde, erst einmal irritierend, aber eine auf den Binnenmarkt konzentrierte Ökonomie ist für abhängig Beschäftigte ein Vorteil, weil die Löhne es ermöglichen müssen, die produzierten Waren auch zu erwerben.

Das wäre alles natürlich noch weit ausführlicher darzustellen; aber nehmen wir es einmal als gegeben an, dass eine Eingliederung auch der europäischen Länder in eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung möglich wäre.
Dennoch sind die politischen Machtverhältnisse augenblicklich derart von den Interessen maximal des obersten Promilles dominiert, das sich mit allen Kräften einer Veränderung der globalen Ordnung widersetzt. Um diese Zustände zu erhalten, wurden die demokratischen Mechanismen weitgehend außer Kraft gesetzt (die EU war dabei ein entscheidendes Mittel) und die öffentliche Meinung einer nie dagewesenen Kontrolle unterworfen. Wie also soll ein Weg von Zustand A in Zustand B möglich sein? Augenblicklich sind – trotz der massiven Proteste wie gerade in Frankreich – keine politischen Kräfte sichtbar, die im Stande wären, an den Machtverhältnissen im Innern des Westens etwas zu ändern.

Aber schließen wir die Möglichkeit nicht völlig aus; eine weitere Zuspitzung mag noch für Überraschungen sorgen.
Doch es gibt noch eine andere Variante, die aus einer westlichen Niederlage resultieren könnte, einen massiven wirtschaftlichen Zusammenbruch. Tatsächlich wäre dieser die zwangsläufige Konsequenz, wenn die erforderliche politische Anpassung an die geänderten globalen Verhältnisse nicht möglich ist.

Dabei sind folgende Punkte wichtig: Wirtschaftskrisen vom Kaliber 2008 oder 1929 sind chaotische Prozesse, und es hat zwar ab 2008 die Möglichkeit gegeben, die Folgen der Krise durch massive Geldschöpfung zu vertagen, aber weder war es möglich, ihre Entstehung zu verhindern, noch wurden die auslösenden Probleme auch nur ansatzweise gelöst.
Das heißt, wenn sich die verschiedenen Faktoren wie extreme Staatsverschuldung (insbesondere in den USA), massive Überbewertungen beispielsweise bei Immobilien und schwindender Einfluss des US-Dollars durch welchen Anstoß auch immer in eine große ökonomische Krise umsetzen, hat keine Regierung der Welt die Möglichkeit, das aufzuhalten.
Allerdings gibt es zwei Faktoren, die es möglich erscheinen lassen, dass diese Krise weitgehend auf den Westen beschränkt bleibt – je geringer der Einfluss des US-Dollars und je stärker die Abkopplung der ökonomischen Zonen, die der Westen mit seinen Sanktionen stetig weiter vorantreibt, desto besser die Chancen für den nichtwestlichen Teil der Welt, von dieser Krise nicht oder nur begrenzt betroffen zu werden.

Der ökonomische Zusammenbruch (denn darum würde es sich für den Westen handeln) ist gewissermaßen der Joker im Spiel, der zumindest partiell unabhängig von den militärischen und politischen Entwicklungen jederzeit auftauchen kann; einzig die Wahrscheinlichkeit des Eintritts steigt im Zeitverlauf beständig.
Dabei ist die wahrscheinlichste Variante eine Mischung aus der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. und der deutschen Inflation 1923, also 2008 auf Steroiden mit einer Hyperinflation als Dreingabe. Falls, oder eher, wenn diese ökonomische Krise zuschlägt, dann ist der globale Westen handlungsunfähig, außer in einem einzigen Punkt, der leider ein Problem bleiben wird, solange in den USA die Neocons das Sagen haben – er befindet sich immer noch im Besitz nuklearer Waffen.
Diesen Punkt zu diskutieren, ist allerdings unnütz, das Ergebnis steht fest.

Diese ökonomische Erschütterung wird zwangsläufig, über kurz oder lang, auch das politische Gefüge erschüttern; schlicht deshalb, weil innerhalb des Bestehenden kein Ausweg möglich ist. Das Vertagen der Krisenfolgen wie nach 2008 funktioniert nicht mehr; sollten zu diesem Zeitpunkt noch größere Reste der alten Position des US-Dollars übrig sein, dürften sie sich nach Einsetzen dieser Krise in unvorstellbarer Geschwindigkeit verflüchtigen, schon allein, weil jeder Staat außerhalb des westlichen Kerns bemüht sein wird, in diese Entwicklung nicht mit hineingezogen zu werden.

Wie tief der Absturz wird, und wie lange es zu einer Erholung brauchen wird, hängt nicht nur in diesem rein ökonomischen Szenario davon ab, ob sich ausreichend politische Kräfte finden, die eine Rekonstituierung demokratischer Prozesse tragen und eine ökonomische Anpassung im Interesse der Bevölkerung vorzunehmen im Stande und willens sind.
Die gegenwärtige politische Elite in den europäischen Ländern dürfte dafür vollständig untauglich sein. Wobei die ganzen gegenwärtigen Bemühungen, einen Dissens und die Bildung politischer Gegenkräfte mit allen Mitteln zu verhindern, letztlich absurd sind – weder die globale Veränderung noch die ökonomische Krise werden dadurch verhindert, was bedeutet, dass letztlich dadurch auch die Macht der gegenwärtigen Eliten nicht gesichert werden kann; aber die Entwicklung eines Europas, das der Welt nicht mehr als Kolonialherr gegenübertritt, und damit die Möglichkeit eines Auswegs aus der Krise werden sabotiert.

Legen wir den Joker beiseite und betrachten, welche Entwicklungen auf der politischen Ebene möglich sind – ohne zu vergessen, dass in den meisten Versionen der Joker früher oder später dennoch ins Spiel kommt.

Die erste Version wäre eine lineare Verlängerung der Gegenwart. Die gesamte EU bleibt den USA völlig hörig, die USA selbst setzen ihr „Solange es nötig ist“ auf stetig weiter schrumpfendem Gebiet fort und eröffnen zusätzlich eine zweite Front gegen China, in die sich die EU ebenfalls ziehen lässt. Wenn man die Aussagen beispielsweise des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell liest, ist diese Version durchaus möglich.
Während die Kämpfe in der oder vielmehr um die Ukraine aufrechterhalten werden und langsam Richtung polnischer Grenze geschoben werden, könnte eine Auseinandersetzung zwischen den USA und China sehr schnell eskalieren, schlicht deshalb, weil in einem weitgehend maritimen Konflikt für China gar keine andere Möglichkeit bestünde, als die Flugzeugträgergruppen der USA anzugreifen. Freundliche Hilfe Russlands in der einen oder anderen Art, um auch mit den US-U-Booten umgehen zu können, kann man voraussetzen. Eine schnelle Eskalation hieße eine schnelle Niederlage der USA. Eine derart sichtbare, unverkennbare Niederlage, dass die ökonomische Krise vermutlich auf dem Fuß folgen würde.
Welche Folgen das in den gegenwärtig politisch tief gespaltenen USA hätte, ist schwer vorherzusagen, aber das wirksamste Mittel gegen ein Umschlagen in einen Bürgerkrieg könnte dann der Mangel an Munition sein.
Auf jeden Fall wäre das Resultat ein völliger Glaubwürdigkeitsverlust der einen Seite, und politische Instabilität. In vermindertem Maß gilt das auch für Europa, das zu diesem Zeitpunkt dank der mit Sicherheit eingeführten Sanktionen gegen China in einer Rezession steckt, selbst ohne Aktivierung der großen Krise. Das wäre dann ein langsamerer Abstieg, der aber, gerade weil langsamer, die Kontrolle durch die bestehende Macht verlängert und damit die Bildung politischer Gegenkräfte weiter verzögert.

Version zwei wäre ein mehr oder weniger schneller Rückzug der USA von der ukrainischen Front, um „die Hände frei“ für China zu haben, wie das jüngst der CDU-Verteidigungspolitiker in geradezu freudiger Erwartung formulierte, weil er eine „deutsche Führungsrolle“ in der Ukraine erhoffte. Das sind Untervarianten A und B –
A wäre eine Übernahme der Führung in der EU in Bezug auf die Ukraine durch Deutschland, was eine Verlangsamung zur Folge hätte (Russland hat es nicht eilig, und das deutsche Militär will sich auf keinen Fall in der Ukraine wiederfinden) und womöglich zu Versuchen von EU-Seite führt, das Ganze einschlafen zu lassen; eine realistischere Option, wenn die Grünen nicht länger Teil der Regierung wären. Es ist aber, dank der gründlichen Vorarbeit von Angela Merkel bei Minsk, nicht allzu wahrscheinlich, dass sich Russland auf deutsche Verhandlungspartner einlässt.
Schon der Versuch würde allerdings zu Problemen zumindest mit Polen und den Balten führen, die, gäbe es eine deutsche Regierung mit einem Ansatz von Rückgrat, durch Verweis auf die EU-Subventionen beherrschbar wären; allerdings auch nur, solange die EU als Rahmen existiert. Wenn allerdings die Mittel knapp werden, weil die EU in der Rezession versinkt, fehlt das Mittel, Polen zu kontrollieren, und ein abrupter Wechsel hin zu Untervariante B mit Billigung der USA ist nicht auszuschließen.
B: Das wäre die Eskalation durch den Einsatz polnischen Militärs, um den Krieg selbst dann fortzusetzen, wenn Kiew personell dazu nicht länger im Stande ist. Die bei weitem unberechenbarste Version, zum einen wegen der innigen Nähe der jetzigen polnischen Regierung zu den US-Neocons, zum anderen, weil die Reaktion der Bundesregierung auf polnische Reparationsforderungen, der nicht einmal ein Verweis auf Oberschlesien über die Lippen kam, fürchten lässt, dass sie in diesem Fall zwar zumindest eine Zeit lang das Mitmarschieren verweigern würde, aber nicht im Stande wäre, daraufhin auf Abstand zu gehen. In welchem Fall das Auftauchen des Jokers geradezu einer Erlösung aus einem langen Elend gleichkommen könnte. Außer, es fänden sich noch andere EU-Staaten, die das polnische Spiel nicht mitmachen wollten.

Vermutlich ebenfalls in Richtung der polnischen Variante dürfte es gehen, sollten in der Ukraine Armee und Staat plötzlich zusammenbrechen. Dann würde das Ganze wahrscheinlich mit einer humanitären Erzählung bekränzt, was dafür sorgt, dass Deutschland und Frankreich diesem Marsch in den Sumpf wenig entgegensetzen. Die EU-Spitze wäre ohnehin mit wehenden Fahnen mit dabei. Das Ergebnis wäre eine partielle Umkehrung der ersten polnischen Variante – erst die polnische Intervention, gefolgt vom Rückzug der USA, die sich dann darauf verlassen könnten, den Rest der EU in der Falle zu haben.
Das wäre der langsamste und schmerzhafteste Niedergang, enthielte aber bei einer entsprechenden russischen Reaktion und einem Durchmarsch bis weit in den Westen zumindest die Hoffnung, dass sich das Problem der gegenwärtigen politischen Eliten erledigt hat.

Das größte Risiko für das Bestehen der EU ist die Entwicklung in Frankreich. Dort dürften die Proteste zunehmen, wenn sich die wirtschaftliche Lage in der EU verschlechtert; aber für einen Sturz Macrons und ein Entrinnen aus der Umklammerung durch die EU dürften friedliche Proteste nicht genügen, auch dann nicht, wenn sie mit Generalstreiks kombiniert werden. Das haben die Auseinandersetzungen in der Euro-Krise in Griechenland und Portugal bewiesen. Nicht einmal 12 Prozent der Bevölkerung auf der Straße genügten 2013 in Portugal, auch nur die Regierung zum Rücktritt zu zwingen.
Ein Ende der EU, das die Voraussetzung für eine Rückkehr zu demokratischen Zuständen wäre, würde erfordern, dass mindestens Frankreich oder Deutschland aussteigt; ein Austritt Ungarns würde nicht genügen. Dass der ökonomische Angriff der USA auf Europa Deutschland als erstes Ziel hatte, hat die Binnenverhältnisse sogar stabilisiert, weil die deutsche Dominanz in den letzten beiden Jahrzehnten die Hauptquelle für Unmut war.
Die jetzigen europäischen Politiker dürften eher an diesem Rahmen festhalten, um damit die Möglichkeit ihres Sturzes zu verringern, selbst wenn das ganze Staatenbündnis bis zum Hals im Wasser steht.
Unter diesem Gesichtspunkt wäre die polnische Variante fast vorteilhaft, weil sie die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Zwangsrahmen zerbricht, etwas erhöht.

Gesetzt den Fall, der Krieg in der Ukraine schleppt sich ohne Ausweitung auf China hin bis zu den US-Wahlen, gäbe es noch die Variante, dass ein neu gewählter US-Präsident Donald Trump in Kiew anruft und trocken mitteilt, jetzt gäbe es nichts mehr, was das Problem Ukraine per Zusammenbruch lösen würde.
Die EU-Führung würde vermutlich einige Wochen brauchen, um sich von der Schockstarre zu erholen, aber eine kleinere Version des polnischen Szenarios ist dennoch nicht ausgeschlossen. Allerdings sind die US-Wahlen erst Ende 2024.

Gänzlich unwahrscheinlich ist leider die Version, dass die Führung der EU sich eines Besseren besinnt und sich von den USA abkoppelt. Das würde im Prinzip die weichste Landung ermöglichen – ein Ende der Unterstützung der Ukraine, eine geordnete Auflösung der EU und eine, wenn auch mühsame, Neuorientierung hin auf die multipolare Welt. Der beste Zeitpunkt dafür wäre der Moment, wenn die USA ihren Fokus auf China verschieben. Aber ein Blick auf das Brüsseler Personal genügt, um diese Version ins Reich der Märchen zu verweisen.

Eine wirklich optimistische Variante, nach der in ein, zwei, drei europäischen Ländern die vorhandenen Regierungen entmachtet und die NATO aus dem Land gekegelt wird, um anschließend unter zumindest möglicher Umgehung einer tiefen ökonomischen, politischen und sozialen Krise die Anpassung an die neuen Verhältnisse zu beginnen, ist derzeit nicht sichtbar.

Das ist die wirkliche Tragik der Entwicklung. Denn die europäische Geschichte ist nicht nur eine des jahrhundertelangen Raubes rund um die Welt, der von oben orchestriert wurde; sie ist auch eine Geschichte eines jahrhundertelangen Kampfes von unten um politische Rechte und die politische Macht; ein Kampf, ohne den weder die Idee von Menschenrechten noch von Demokratie noch die des Völkerrechts je geboren worden wäre.
Aber die Erinnerung an diesen Teil der Geschichte, mit seinen Siegen und Niederlagen, seinen Errungenschaften und Widersprüchen, wurde erfolgreich ausgelöscht.

Selbst die Franzosen scheinen vergessen zu haben, wie man die Bastille stürmt.

Mein Kommentar: Irgendwie habe ich hier nicht mitbekomen, wo die eine Version aufhört und die nächste anfängt. Nur den Schluss kann ich vollumfänglich teilen.
Über Eure Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Europäische Militarisierungsoffensive: Autonom Krieg führen

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Im Windschatten der Fußball-EM wird weiter Militarisierung betrieben. Dazu auch die heutige Regierungserklärung durch Angela Merkel. Man beachte das neoliberale Neusprech mit vielen neu eingeführten Begriffen!:
https://www.jungewelt.de/2016/07-06/060.php
Auszüge:

Die neue »EU-Globalstrategie« proklamiert verschärfte Aufrüstung und die ­weltweite Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik

Von Sabine Lösing und Jürgen Wagner

Überschattet von der Brexit-Abstimmung verabschiedeten die europäischen Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen in Brüssel am 28. und 29. Juni nahezu unbemerkt eine neue EU-Globalstrategie (EUGS). Das seit über einem Jahr unter der Ägide der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini ausgearbeitete Papier namens »Gemeinsame Vision, gemeinsame Aktion – ein stärkeres Europa«1 ersetzt die bisher gültige »Europäische Sicherheitsstrategie« (ESS) aus dem Jahr 2003.
Die EUGS steckt als Grundlagendokument die allgemeinen Ziele ab, die die Europäische Union mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen möchte. Sie liefert damit die Grundlage, um nun – wahrscheinlich in einem späteren Weißbuch – eine konkrete Militarisierungsagenda zur Umsetzung dieser Absichten auszuarbeiten.
Und ausgerechnet der Brexit könnte sich als regelrechter Segen für die Propagandisten einer »Militärmacht Europa« erweisen, da Großbritannien bislang Initiativen in diese Richtung stets ablehnend gegenüberstand. Jedenfalls gingen die Außenminister Deutschlands und Frankreichs unmittelbar nach dem britischen Referendum mit einem gemeinsamen Papier in die Offensive, in dem sie eine Reihe von Vorschlägen unterbreiten, um die EUGS mit militärischer Substanz anzureichern.

»Ein stärkeres Europa«

Eines fällt gleich beim ersten Blick in das Mo­gherini-Papier auf: Der triumphal-optimistische Ton, der sich noch wie ein roter Faden durch den Vorgänger zog, wurde von einer deutlich düstereren Lageeinschätzung verdrängt. Die ESS 2003 war beispielsweise noch mit folgendem Satz eingeleitet worden: »Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer in der europäischen Geschichte beispiellosen Periode des Friedens und der Stabilität gewichen.«2

Ganz offensichtlich hat sich diese nach Eigeneinschätzung überaus komfortable Lage seitdem grundlegend verändert. So wurde bereits in einem vom EU-Parlament im April 2016 verabschiedeten Entschließungsantrag zur Globalstrategie gefordert, »dass sich die Europäische Union des gesamten Ausmaßes der Verschlechterung ihres unmittelbaren strategischen Umfelds und der sich daraus ergebenden langfristigen Folgen bewusst werden muss«.3
In der EUGS werden nicht minder pessimistische Töne angeschlagen: »Wir erleben gegenwärtig eine existentielle Krise, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Unsere Union ist bedroht. Unser europäisches Projekt, das uns in beispielloser Weise Frieden, Wohlstand und Demokratie gebracht hat, ist in Frage gestellt.«

Gleichzeitig wird betont, dass es durchaus möglich sei, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien – und dafür dient die EUGS quasi als Anleitung.
Schon unmittelbar nachdem sie vom Europäischen Rat im Juni 2015 den Auftrag zur Ausarbeitung der Globalstrategie erhalten hatte, veröffentlichte Mogherini als eine erste Standortbestimmung einen »Strategischen Überprüfungsbericht« (»Strategic Review«), in dem Sinn, Zweck und Anspruch des Unterfangens folgendermaßen umrissen wurden: »Die EU verfügt über alle Mittel, um in der Zukunft ein einflussreicher globaler Akteur zu sein – wenn sie gemeinsam handelt. (…) In einer verflochtenen, umkämpften und komplexen Welt benötigen wir eine klare Vorstellung über die richtige Richtung. Wir müssen uns über unsere Prioritäten und Ziele und über die Mittel, wie wir sie erreichen wollen, verständigen. (…) Wir benötigen eine gemeinsame, umfassende und schlüssige EU-Globalstrategie.«4

Die Interessen der Mitgliedsländer ließen sich, so der Befund, nicht mehr nationalstaatlich durchsetzen. Nur im EU-Verbund könne die für notwendig erachtete machtpolitische Schlagkraft generiert werden, um auch in Zukunft weltweiten Einfluss ausüben zu können.
In der EUGS selbst wird diese Überlegung aufgegriffen: »Wir brauchen ein stärkeres Europa. (…) In einer komplexeren Welt der globalen Machtverschiebungen und breiteren Machtverteilung muss die EU zusammenhalten. (…) Gemeinsam können wir mehr erreichen, als wenn jeder Mitgliedsstaat allein und ohne Abstimmung mit den anderen handelt.«

Fragt man nach den Interessen, für die EU-Europa sein Gewicht in die Waagschale werfen soll, wird schnell klar, worum es geht: Die Regeln der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung, von denen nicht zuletzt Deutschland als Spitzenexporteur profitiert, sollen mit Nachdruck durchgesetzt werden:
»Voraussetzung für eine prosperierende Union ist ein starker Binnenmarkt und ein offenes internationales Wirtschaftssystem. Wir haben ein Interesse an fairen und offenen Märkten, an der Festlegung globaler Wirtschafts- und Umweltregeln und an einem dauerhaften Zugang zu den globalen Gemeingütern über offene See-, Land-, Luft- und Weltraumwege.«

Auffällig ist in diesem Zusammenhang das flammende Bekenntnis zu TTIP, dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Ungeachtet des massiven Widerstands innerhalb der Bevölkerung wird ihm eine zentrale Bedeutung zugeschrieben: »Die EU wird eine transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den Vereinigten Staaten anstreben. Ebenso wie das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) mit Kanada bezeugt TTIP das transatlantische Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und zeigt unsere Bereitschaft, eine ehrgeizige und geregelte Handelsagenda zu verfolgen.«
Bei TTIP geht es in letzter Konsequenz vor allem darum, die Position des schwächelnden neoliberalen Westens gegenüber stärker staatskapitalistisch ausgerichteten Konkurrenten wie China und Russland zu stärken.

Welche entscheidende Rolle TTIP dabei spielt, weltweit »die Regeln zu setzen«, bringt der der Rüstungsindustrie nahestehende Informationsdienst Griphan Briefe mit beeindruckender Klarheit und in einer ebenso bemerkenswerten Kunstsprache auf den Punkt: »Wir haben auf diesen Seiten grundsätzlich Position bezogen. Im Telegrammstil: Das Projekt einer gemeinsamen Währung ist mehr als die Möglichkeit, in Amsterdam den Kaffee in gleicher Münze zahlen zu können. Der Euro ist strategischer Partner des Dollar beim amerikanischen Bestreben, den Aufstieg Chinas einzuhegen. Europa ist Partner beim Setzen international verbindlicher Standards in Form von Good governance, anti-corruption, and the rule of law (gute Regierungsführung, Bekämpfung der Korruption und der Herrschaft des Rechts, jW ) Darum geht es beim Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (TTIP): Wer die Standards setzt, schafft Märkte! Und damit sind die Globalisierung und Geoeconomics das eigentliche Narrativ; und dieser Erzählfaden hat ein – nicht unwesentliches – militärisches Kapitel.«5

Russland: Vom Partner zum Gegner

Während China in der EUGS nur am Rande erwähnt wird, widmet sich das Dokument Russland sehr intensiv – und auch hier werden gänzlich neue Töne angeschlagen.
So hieß es in der »Europäischen Sicherheitsstrategie« aus dem Jahr 2003 noch: »Wir müssen uns weiter um engere Beziehungen zu Russland bemühen, das einen wichtigen Faktor für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand bildet. Die Verfolgung gemeinsamer Werte wird die Fortschritte auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft bestärken.«
In der EUGS wird hingegen erklärt: »Wesentliche Veränderungen in den Beziehungen zwischen der EU und Russland hängen ab von der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Grundsätze, auf denen die europäische Sicherheitsordnung aufgebaut ist, einschließlich der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris. Wir werden weder die illegale Annexion der Krim durch Russland anerkennen noch die Destabilisierung der östlichen Ukraine hinnehmen. Wir werden die EU stärken, die Widerstandsfähigkeit unserer östlichen Nachbarn erhöhen und ihr Recht, frei über ihre Haltung gegenüber der EU zu bestimmen, verteidigen.«

Mit diesen reichlich ignoranten Aussagen werden bewusst einige unbequeme Tatsachen ausgeklammert: So etwa, dass es die NATO unter Beteiligung zahlreicher EU-Staaten war, die beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 das Völkerrecht eklatant verletzt hatte.
Auch mit der »freien Entscheidung« der Nachbarländer ist es nicht so weit her, wie die EU glauben machen möchte. Beispielsweise war man nicht gewillt, die Entscheidung des – in freien und fairen Wahlen an die Macht gekommenen – damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu akzeptieren, im November 2013 die Unterzeichnung des strategisch wichtigen Assoziierungsabkommens mit der EU auf Eis zu legen. Statt dessen wurden Proteste unterstützt, die schlussendlich zu einem Putsch und der Einsetzung einer prowestlichen Regierung führten und die Vorgeschichte dessen bilden, was hier als »illegale Annexion der Krim durch Russland« bezeichnet wird.

Statt »Freundschaft« Umzingelung

Auch die Situation im Nachbarschaftsraum der EU hat sich aus Sicht des Staatenbündnisses nicht eben positiv entwickelt. In der ESS wurde 2003 noch das Ziel ausgegeben, man wolle einen »Ring verantwortungsvoll regierter Staaten« um die EU herum schaffen. Hierfür wurde ein Jahr später die »Europäische Nachbarschaftspolitik« (ENP) ins Leben gerufen, die, in den Worten der damaligen EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner, »einen ›Ring von Freunden‹ entlang der Grenzen der erweiterten EU«, eine »Zone der Stabilität und des Wohlstandes« hervorbringen sollte, »von Osteuropa über den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den gesamten Mittelmeerraum.«6

Auch hiervon ist wenig übriggeblieben. Bereits in Mogherinis »Strategic Review« hieß es: »Seit der Sicherheitsstrategie 2003 hat sich das strategische Umfeld der EU radikal verändert. (…) Heute umgibt die EU ein Krisenbogen der Instabilität
Wiederum ganz ähnlich heißt es auch in der EUGS: »Im Osten wird gegen die europäische Sicherheitsordnung verstoßen, und Terrorismus und Gewalt suchen Nordafrika und den Nahen Osten und auch Europa selbst heim.« Hier wird ebenfalls auf jede Form von Selbstkritik verzichtet – waren es doch die im Rahmen der ENP vorangetriebenen neoliberalen Assoziierungsabkommen, die in vielen Ländern mit ihrer Freihandelsagenda wesentlich zur Verarmung und Destabilisierung beigetragen haben.
Dennoch propagiert die EUGS die Fortsetzung genau jener Politik: »Viele Menschen im Osten und im Süden würden im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) gerne engerer Beziehungen mit der Europäischen Union aufbauen. (…) Die ENP hat sich erneut zur Östlichen Partnerschaft und zu den Ländern des südlichen Mittelmeerraums bekannt, die engere Beziehungen zu uns aufbauen möchten. Wir werden diese Länder dabei unterstützen, Assoziierungsabkommen einschließlich vertiefter und umfassender Freihandelszonen (DCFTA) umzusetzen.«

Die Einbeziehung möglichst vieler Länder in eine großeuropäische Wirtschaftszoneohne ihnen eine Mitsprache bei deren Ausgestaltung einzuräumen – stellt seit Jahren ein wichtiges Ziel der Union dar. Sie werden dadurch Teil der europäischen Einflusszone, weshalb dann auch der (militärischen) »Stabilisierung« des Nachbarschaftsraums in der EUGS große Bedeutung zugemessen wird: »Um unserer Sicherheit im Inneren willen haben wir auch ein Interesse daran, dass in den Regionen in unserer Nachbarschaft und der weiteren Umgebung Frieden herrscht.«

Autonom Krieg führen

Ebenfalls verändert hat sich die Haltung der USA gegenüber Rüstungsanstrengungen der Europäischen Union, die auf eine eigenständige Fähigkeit zur Kriegsführung abzielen. Während Bemühungen in eine solche Richtung früher scharf abgelehnt wurden, wird dies heute von Washington als eine Möglichkeit begrüßt, Kosten auf die Verbündeten zu verlagern. Auch aus EU-Sicht hat dies seinen Reiz, vergrößert doch die Option, unabhängig von der NATO – und damit einem Veto der USA – militärisch einsatzfähig zu sein, die Möglichkeit, eigene machtpolitische Ziele durchzusetzen.
So verwundert es nicht weiter, dass der Anspruch auf eine »autonome militärische Handlungsfähigkeit« in der EUGS an zahlreichen Stellen auftaucht. So heißt es etwa: »Die europäischen Anstrengungen auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verteidigung sollten die EU in die Lage versetzen, autonom zu handeln und gleichzeitig zu Maßnahmen der NATO beizutragen und gemeinsam mit ihr Maßnahmen durchzuführen. Eine glaubwürdigere europäische Verteidigung ist auch für eine gesunde transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von wesentlicher Bedeutung.«

Daraus wird die Forderung abgeleitet, sich die »notwendigen« Kapazitäten zur autonomen Kriegsführung auch zuzulegen: »Die Mitgliedsstaaten [benötigen] bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen, um auf externe Krisen reagieren und die Sicherheit Europas aufrechterhalten zu können. Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen muss. (…) Eine tragfähige, innovative und wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für die strategische Autonomie Europas und eine glaubwürdige GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, jW).«

Das aktuelle militärische Planziel – die Fähigkeit, zwei Korps (60.000 Soldaten) mit entsprechender Bewaffnung ein Jahr lang stationieren zu können – soll hierfür angepasst werden: »Geeignete Zielvorgaben und strategische Autonomie sind wichtig, damit Europa fähig ist, innerhalb wie außerhalb der eigenen Grenzen den Frieden zu fördern und Sicherheit zu gewährleisten.«
Wenn nicht explizit gesagt wird, worum es geht – nämlich darum, das militärische Planziel nach oben zu korrigieren – dürfte dies wohl der parallel zur Abfassung der EUGS laufenden Brexit-Debatte geschuldet gewesen sein. Deutlicher wurde Mogherini in ihrem »Strategic Review«: »Die EU kann es sich nicht leisten, das ›V‹ aus ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu ignorieren. (…) Das aktuelle Anforderungslevel und die militärischen Kapazitätsziele sind nicht an das sich ändernde Umfeld angepasst.«

Erklärtermaßen war es nicht die Aufgabe der EUGS zu definieren, welche militärischen Fähigkeiten zur Durchsetzung der formulierten Ziele erforderlich sind und wie diese erreicht werden sollen. Das dürfte die Aufgabe eines künftigen Weißbuches sein, für dessen Erstellung der ehemalige EU-Außenbeauftragte Javier Solana in einer Studie im Auftrag der »Generaldirektion Externe Politikbereiche« des Europäischen Parlaments schon im April 2016 einen detaillierten Fahrplan vorgelegt hat: »Die Union wird den Mitgliedsstaaten darlegen müssen, welche Fähigkeiten sie von ihnen insgesamt für die Umsetzung dieser Strategie benötigt, wo Bedarfslücken geschlossen werden müssen und wie die EU-Mitgliedsstaaten zu diesen gemeinsamen Prioritäten beitragen können. (…) Das Weißbuch gilt daher als notwendiger Baustein zur Ergänzung, Präzisierung und Umsetzung der Globalen Strategie für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).«7
Auch wenn mit Blick auf die Brexit-Debatte der Begriff »Weißbuch« selbst vermieden wurde, wird diese Forderung – umschrieben als »sektorale Strategie« – auch in der EUGS faktisch unterstützt. So müssten, heißt es dort, »im Rahmen einer sektoralen Strategie, die vom Rat zu vereinbaren ist, die zivil-militärischen Zielvorgaben, Aufgaben, Anforderungen und vorrangigen Fähigkeiten, die sich aus dieser Strategie ergeben, näher festgelegt werden.«

Deutsch-französische Offensive

Wie bereits angedeutet, scheiterten bislang fast alle Schritte zur Stärkung der EU-Militärpolitik am Widerstand Großbritanniens. Mit dem – wahrscheinlichen – Austritt Großbritanniens werden die Karten nun neu gemischt, und der Weg für eine forcierte EU-Militarisierung wird frei: »Einige britische EU-Ausstiegsbefürworter hatten vor dem Referendum noch behauptet, Brüssel halte das Papier bewusst unter Verschluss, weil es einer künftigen EU-Armee den Weg bereite. Aber auch die Cameron-Regierung setzte, was das Militärische angeht, stets voll auf die NATO und hielt nie viel von den zaghaften EU-Versuchen, parallel dazu auch mit militärischen Strukturen zu experimentieren. Wenn sich das Königreich von der EU abnabelt, könnte sich die Ausgangslage hier ändern«. Mit diesen Worten wurde der Direktor des Programms »Europas Zukunft« bei der Bertelsmann-Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme, kürzlich von der »Tagesschau« zitiert. »Ich glaube«, erklärte er, »dass dort Fortschritte ohne die Briten auf diesem Gebiet wahrscheinlich leichter möglich sind.«8

Wenige Tage nach Abschluss des britischen Referendums nutzten Frankreich und Deutschland die Gunst der Stunde und holten ein offensichtlich schon länger ausgearbeitetes Papier namens »Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt« hervor.9 Darin kündigten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault an, »weitere Schritte in Richtung einer politischen Union in Europa unternehmen« zu wollen.
Neben weitreichenden Ankündigungen zur Migrations- und Wirtschaftspolitik wird darin auch eine »europäische Sicherheitsagenda« vorgestellt. Sie enthält die Forderung, die EUGS als Sprungbrett für eine weitere Militarisierung der Union zu nutzen: »Deutschland und Frankreich [schlagen] eine europäische Sicherheitsagenda vor, die alle Sicherheits- und Verteidigungsaspekte umfasst, die auf europäischer Ebene eine Rolle spielen. (…) Die Globale Strategie der Europäischen Union, das neue außenpolitische Grundsatzdokument der EU, (…) ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Doch wir müssen noch weiter gehen: In einem stärker von divergierenden Machtinteressen geprägten internationalen Umfeld sollten Deutschland und Frankreich gemeinsam dafür eintreten, die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur zu entwickeln.«

Darauf folgt eine Reihe von Vorschlägen, die zwar fast alle schon geraume Zeit durch die Brüsseler Korridore geistern, jedoch stets an der britischen Position, jede Stärkung der EU-Militärkomponente bedeute eine unerwünschte Schwächung der NATO, abprallten.
Mit dem bevorstehenden Brexit haben die von Steinmeier und Ayrault geforderten Schritte nun deutlich größere Realisierungschancen: »Die EU wird in Zukunft verstärkt beim Krisenmanagement aktiv werden, denn viele Krisen betreffen unsere Sicherheit direkt. (…) Die EU sollte in der Lage sein, zivile und militärische Operationen wirksamer zu planen und durchzuführen, auch mit Hilfe einer ständigen zivil-militärischen Planungs- und Führungsfähigkeit. Die EU sollte sich auf einsatzfähige Streitkräfte mit hohem Bereitschaftsgrad verlassen können und gemeinsame Finanzierungen ihrer Operationen erleichtern. Gruppen von Mitgliedsstaaten sollten so flexibel wie möglich eine dauerhafte strukturierte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich einrichten können oder mit einzelnen Operationen vorangehen. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten die Einrichtung ständiger maritimer Einsatzverbände in die Planungen aufnehmen sowie EU-eigene Fähigkeiten in anderen Schlüsselbereichen schaffen.«

Mit einem britischen Austritt aus der EU würde zudem die ohnehin schon dominierende Position Deutschlands weiter gestärkt.10
Nicht völlig zu Unrecht werden die deutsch-französischen Vorschläge deshalb mancherorts als beunruhigende Vorboten für das Bestreben gewertet, künftig – noch stärker als bislang schon – einfach »durchzuregieren«. In jedem Fall deutet der Steinmeier-Ayrault-Vorstoß darauf hin, dass als willkommener Kollateralnutzen des Brexit die Möglichkeit gesehen wird, die Militarisierung der Europäischen Union entschieden voranzutreiben.
Und ohne Großbritannien wird es kleinen und mittleren Mitgliedsländern, die dem – aus welchen Gründen auch immer – skeptisch gegenüberstehen, von nun ab erheblich schwerer fallen, diesbezügliche Initiativen zu blockieren.

Anmerkungen:

1 »Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union«, Brüssel, 28.6.2016

2 »Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt«, Brüssel, 12.12.2003

3 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. April2016 über das Thema: »Die EU in einem sich wandelnden globalen Umfeld – eine stärker vernetzte, konfliktreichere und komplexere Welt«

4 Mogerhini, Federica: »The European Union in a changing global environment. A more connected, contested and complex world, Strategic Review«, Brüssel, Juni 2015

5 Griphan-Briefe, 27. Juni 2016, S. 1

6 Ferrero-Waldner, Benita: »Europa als globaler Akteur«: Rede in Berlin, 24.1.2005

7 Solana, Javier u. a.: »Auf dem Weg zu einer Europäischen Verteidigungsunion – ein Weißbuch als erster Schritt«, April 2016, S. 4 f

8 »EU will die gemeinsame Verteidigung stärken«, in: »Tagesschau online«, 28.6.2016

9 Ayrault, Jean-Marc/Steinmeier, Frank-Walter: »Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt«, Stand: 27.6.2016

10 Berechnungen zufolge steigt der deutsche Stimmanteil im EU-Rat nach einem Brexit von aktuell 16 Prozent auf 18,3 Prozent und von Frankreich von 13,1 Prozent auf 15 Prozent. Siehe: Mitrenga, Daniel: »Statt Brexit: #EUpgrade«, Broschüre des Verbands Die jungen Unternehmer, Mai 2016, S. 36

Sabine Lösing ist Mitglied des Europaparlaments und dort für die Fraktion Vereinte Euro­päische Linke/Nordische Grüne Linke im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung.
Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen. Beide schrieben in der jungen Welt am 15. März über Rüstungsforschung im Dienste der EU.

Jochen

Obama und Merkel kommen – wir zeigen es denen: TTIP&CETA stoppen! Für einen gerechten Welthandel!

Aufruf zur überregionalen Demonstration am 23. April 2016 in HannoverTTIP-CETA2016

Die Hannover Messe 2016 wird zusammen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama eröffnet: Ihr Ziel ist es, die TTIP-Verhandlungen gemeinsam voranzubringen.

Doch das Handels-und Investitionsabkommen der EU mit den USA droht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu untergraben.

Ebenfalls in diesem Jahr will die Europäische Kommission das CETA-Abkommen mit Kanada dem Rat und dem Europäischen Parlament zur Ratifizierung vorlegen. Es dient als Blaupause für TTIP. Schon mit ihm könnten Großunternehmen über kanadische Tochtergesellschaften EU-Mitgliedsstaaten auf Schadensersatz verklagen, wenn neue Gesetze ihre Profite schmälern.

Dagegen tragen wir unseren Protest auf die Straße! Getragen von einem breiten Bündnis demonstrieren wir mit zehntausenden Menschen am Samstag, den 23. April in Hannover – unmittelbar vor dem Besuch Obamas.

Dabei sind wir Teil einer transnationalen Protestbewegung: Auf beiden Seiten des Atlantiks streiten wir zusammen mit unseren Freund/innen und Partner/innen in Kanada und USA gegen Abkommen, die vor allem mächtigen wirtschaftlichen Interessengruppen dienen. Hier wie dort treten wir für eine Handels-und Investitionspolitik ein, die auf hohen ökologischen und sozialen Standards beruht und nachhaltige Entwicklung in allen Ländern fördert. Sie muss insbesondere

  • Demokratie und Rechtsstaat fördern sowie die Gestaltungsmöglichkeiten von Staaten, Ländern und Kommunen für die Zukunft sichern,
  • nationale wie internationale Standards zum Schutz von Mensch und Umwelt stärken sowie
  • die Entwicklung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung fördern.

Wir brauchen soziale und ökologische Leitplanken für die Globalisierung. Doch TTIP und CETA gehen in die falsche Richtung: Der „Wert“ des Freihandels wird über die Werte ökologischer und sozialer Regeln gestellt. Sonderklagerechte für Investoren gefährden parlamentarische Handlungsfreiheiten.

Beide Abkommen setzen öffentliche und gemeinnützige Dienstleistungen und Daseinsvorsorge, kulturelle Vielfalt und Bildungsangebote unter Druck. Sie ziehen die falschen Lehren aus der Finanzkrise, stärken transnationale Konzerne und schwächen kleine und mittelständische Unternehmen, auch in der Landwirtschaft. TTIP und CETA grenzen die Länder des globalen Südens aus, statt zur Lösung globaler Probleme wie Hunger, Klimawandel und Verteilungsungerechtigkeit beizutragen.

Wir treten daher für internationale Abkommen ein, die

  • Umwelt-, Sozial-, Daten-und Verbraucherschutzstandards erhöhen statt sie zu senken oder auszuhebeln;
  • Arbeitsstandards wie die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festschreiben statt sie auszuhöhlen;
  • öffentliche und gemeinnützige Dienstleistungen und Daseinsvorsorge stärken statt sie zu schwächen;
  • kulturelle Vielfalt und öffentliche Bildungsangebote fördern statt sie als Handelshemmnis zu betrachten;
  • bäuerliche und nachhaltige Landwirtschaft sowie artgerechte Tierhaltung voranbringen statt Gentechnik und industrielle Landwirtschaft zu fördern;
  • die Macht von Konzernen und Finanzmarkt-Akteuren begrenzen statt sie zu vergrößern;
  • global ausgerichtet sind statt die Mehrheit der Menschen auszugrenzen und
  • transparent und offen verhandelt werden statt geheim und in Hinterzimmern.

 

Hierfür gehen wir am Samstag, den 23. April in Hannover auf die Straße – Demonstrieren Sie mit!

Der Aufruf kann hier unterzeichnet werden:

http://ttip-demo.de/home/aufruf/aufruf-unterzeichnen/

Frohe Feiertage mit mineralölfreien Schokoladenosterhasen

Euer Jochen