Eine finanzpolitische Zeitbombe: Die geplante Kapitalmarktunion

Die geplante Kapitalmarktunion setzt auf noch mehr Deregulierung in der EU

https://monde-diplomatique.de/artikel/!5264078

von Frédéric Lemaire und Dominique Plihon

Auszüge:

Knapp sieben Jahre nach Beginn der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise steht die nächste Deregulierungswelle bevor. Die Panik, die im Herbst 2008 die Chefetagen der Banken erfasst hat, ist nur noch ferne Erinnerung, ebenso die seinerzeit geplanten Maßnahmen gegen diverse halsbrecherische Finanzoperationen.

EU-Finanzkommissar Jonathan Hill meint, es sei an der Zeit, in Europa „alte Schranken einzureißen und den freien Kapitalverkehr zwischen allen 28 Mitgliedstaaten zu erleichtern“ – weshalb die EU-Kommission der Kapitalmarktunion höchste Priorität einräumt. Der dazu im September verkündete Aktionsplan sieht bis 2019 eine Reihe von Konsultationen, Überprüfungsmaßnahmen und Gesetzesinitiativen vor.

Kritiker der neuerlichen Deregulierung speist Jonathan Hill mit den üblichen Argumenten ab: Das größte Risiko für die Stabilität sei nun einmal fehlendes Wachstum, deshalb sei die Belebung der Investitionstätigkeit so wichtig. Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die das Rückgrat der Gesamtwirtschaft bilden, könnten sich derzeit nicht angemessen finanzieren, weil die herkömmlichen Quellen für Investitionsgelder blockiert sind. Die Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe beeinträchtige auch die kapitalaufwendigen Programme zum Erhalt und Ausbau der Infrastruktur, zumal die öffentlichen Investitionen aufgrund der Sparpolitik zurückgehen. Heute müsse, so Hill weiter, die Kapitalbeschaffung wieder vermehrt über die Finanzmärkte laufen, wozu eine Reihe von Reformen notwendig seien.

Maßgeschneiderte Verfahren sollen den bürokratischen Aufwand für die Unternehmen reduzieren, die Bonitätsprüfung vereinfachen und vor allem die „Privatplatzierungen“ fördern. Letztere erlauben es nicht börsennotierten Unternehmen, sich statt an kreditvergebende Banken direkt an Finanzinvestoren zu wenden, zum Beispiel an spezialisierte Anlagefonds und Versicherungen. Diese unterliegen weniger strengen Vorschriften als die Publikumsgesellschaften,1 die in der Regel der Börsenaufsicht und geregelten Berichtspflichten unterliegen. Dieser Markt für privates Beteiligungskapital erlebt derzeit einen enormen Aufschwung, sein Umsatz könnte in den nächsten Jahren auf bis zu 60 Milliarden Euro steigen.

Die französische Regierung unterstützt diese Formen der Direktvermittlung und damit die Rückkehr zu bankfremden Finanzierungsmethoden. Das von Wirtschaftsminister Macron eingebrachte und am 7. August 2015 verkündete „Gesetz für Wachstum, Beschäftigung und wirtschaftliche Chancengleichheit“ fördert die Kreditvergabe zwischen Unternehmen, die ohne Vermittlung der Banken abläuft und damit jeglicher Regulierung entzogen ist.

Andere Maßnahmen erleichtern privaten Investoren den Rückkauf von Kreditverpflichtungen der Unternehmen gegenüber Banken. Die Kommission schlägt zudem für institutionelle Investoren (vor allem Pensionsfonds und Versicherungen) steuerliche Anreize für den Erwerb von Verbindlichkeiten nicht börsennotierter Unternehmen vor, was für Investoren weitaus rentabler – weil riskanter – ist als der Kauf von Staatsanleihen. So hat die französische Großbank Société Générale 80 Prozent ihrer Kredite mit mehr als fünfjähriger Laufzeit an KMU oder Midcap-Unternehmen2 an die Versicherungsgesellschaft Axa veräußert. Ähnliche Geschäfte laufen zwischen den Großbanken Crédit Agricole, BNP Paribas und Natixis und anderen Versicherungsunternehmen.

Das Leuchtturmprojekt der Kommission ist jedoch die Verbriefung der Bankenkredite. Sie erlaubt es den Banken, die von ihnen ausgegebenen Kredite auf den Kapitalmärkten weiterzuverkaufen und damit ihre Risiken zu entsorgen, ohne Verlust der Provisionen, die sie bei der Darlehensvergabe eingestrichen haben. Diese Möglichkeit haben sie Mitte der nuller Jahre exzessiv genutzt, als sie den Investoren massenhaft die zu Aktienpaketen „umgestrickten“ US-Immobiliendarlehen andrehten.

Freilich haben diese Verbriefungen, über die die Banken ihr Risiko an andere weiterreichen, nicht nur die Komplexität, sondern auch die Vernetzung und die wechselseitige Abhängigkeit der Finanzmärkte erhöht. Die Folge war, dass 2008 die Subprime-Blase platzte und die Finanzmarktkrise sich zu einer globalen Wirtschaftskrise ausweitete.

Legende vom Nutzen für kleinere Unternehmen

Weil die EU-Kommission um die Brisanz des Vorhabens weiß, plädiert sie für eine „hochwertige“ und möglichst „transparente“ Verbriefung – während die Bankenlobby schon an der Formulierung möglichst schwacher Regeln arbeitet. Finanzkommissar Hill hat bereits angekündigt, er werde eine Abmilderung der Regeln nicht verhindern, nach denen die Banken bislang wenigstens einen Teil der aus verbrieften Schuldforderungen resultierenden Risiken in ihren Bilanzen halten müssen.

In den Augen der europäischen Regierungen ist das stärker von den Märkten bestimmte US-Finanzsystem geradezu vorbildlich – und eine Sicherheitsgarantie für die Unternehmen. So erklärt die Kommission in ihrem Grünbuch allen Ernstes: „Die stärkere Abhängigkeit von Bankkrediten macht die europäische Wirtschaft und insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KUM) insgesamt anfälliger, wenn die Bedingungen für die Vergabe von Bankkrediten – wie in der Finanzkrise der Fall – strenger werden.“3 Dass ebendiese Finanzmärkte und ihre Deregulierung die Krise verursacht haben, ist offenbar längst vergessen.

Die Anwälte der Liberalisierung legen sich argumentativ schwer ins Zeug. So behaupten sie etwa, die Anpassung des europäischen Finanzsystems an die angelsächsischen Regeln werde der Kapitalmarktunion dauerhaft mehr Wachstum und Beschäftigung und den KMU einen leichteren Zugang zu Finanzmitteln bescheren. Gerhard Hue­mer, Chefökonom beim Europäischen Dachverband der KMU (­UEAPME), hat da erhebliche Zweifel: „Für die überwältigende Mehrheit der Kleinunternehmen wird der Bankkredit auch künftig die Hauptfinanzierungsquelle bleiben. Die Kapitalmarktunion kann die Funktionsstörungen der Bankenfinanzierung und deren Folgen nicht ausgleichen.“4 Auch beim marktfreundlichen Washingtoner Thinktank Brookings Institution hält man die Vorteile der Kapitalmarktunion für die KMU für „stark überschätzt“.5

Hill hat selbst zugegeben, dass er den Nutzen seines Projekts für die kleinen Unternehmen übertreibt, um die eigentlich Geprellten zu besänftigen – nämlich die europäischen Bürger. So erklärte er bei einer Diskussion in Washington: „Wenn wir in der europäischen Debatte über die Kapitalmarktunion die kleinen und mittleren Unternehmen in den Vordergrund stellen, dann deshalb, weil sie als ein wichtiger Wirtschaftsfaktor wahrgenommen werden und weil es leichter ist, die Öffentlichkeit mit Vorschlägen zu überzeugen, die diese Unternehmen stärken.“6 Dagegen kritisieren die Nichtregierungsorganisation Finance Watch und der deutsche Spitzenverband der genossenschaftlichen Kreditwirtschaft (BVR) die Kapitalmarktunion als ein Vorhaben, dessen Hauptziel die Rentabilitätssteigerung der Großbanken sei.

Die Kapitalmarktunion wird überdies die Schattenbanken begünstigen, die schon für die Krise 2008 maßgeblich verantwortlich waren und deren Verbriefungsprodukte nun bewusst gefördert werden, um die strengeren Regeln, denen das offizielle Bankensystem unterstellt ist, zu umgehen.

Die verstärkte Beteiligung von Versicherungen, Pensionsfonds und spekulativen Zweckgesellschaften an der Finanzierung der Wirtschaft birgt ein weiteres Risiko. Solche Investoren haben oft zu wenig Erfahrung, um die Qualität der gehandelten Anleihen zu beurteilen. Sie glauben, sie könnten den Sachverstand und den Kundenkontakt der Banken durch abstrakte Risikokalküle ausgleichen. Aber genau die versagen bekanntlich, wenn es auf den Finanzmärkten zu überraschenden Turbulenzen kommt. Das Platzen einer Kreditblase wäre für die Verbriefungsmärkte besonders dramatisch, weil spekulative Investoren im Fall der Fälle nicht – wie die Bankhäuser – auf die Rettungsmaßnahmen der Zentralbanken zählen können.

Eigentlich müssten sich die Banken gegen die Kapitalmarktunion wehren, denn damit schwindet ihr Einfluss. Aber sie sind eifrige Befürworter, und zwar, weil sie selbst längst im System der Schattenbanken mitmischen. Das Engagement auf den Verbriefungsmärkten erlaubt auch ihnen, die für herkömmliche Bankenkreditgeschäfte geltenden Vorschriften zu umgehen, etwa dank neuer komplexer Finanzprodukte, die außerhalb der Börse auf dem ungeregelten und undurchsichtigen „Over-the-counter“-Markt gehandelt werden.

Zutaten für die nächste schwere Krise

Zur Finanzierung ihrer spekulativen Transaktionen können die Banken in Zukunft sogar die Europäische Zentralbank (EZB) in Anspruch nehmen, die beschlossen hat, die Hinterlegung solcher verbrieften Kredite beim Austausch gegen frisches Geld als Sicherheitsgarantie anzuerkennen. Diese Beihilfe der EZB soll die Kreditvergabe an die „Realwirtschaft“ beleben. Dabei deutet alles darauf hin, dass damit vor allem die Geschäfte der Schattenbanken gefördert werden: Die von der EZB bereitgestellte Liquidität kann für spekulative Anlagen eingesetzt werden, so dass wiederum neue Spekulationsblasen entstehen – und platzen – können.

Die geplante Kapitalmarktunion droht also, die großen „Universalbanken“ in finanzielle Zeitbomben zu verwandeln. Dabei schützt der scheinbar rein fachliche Charakter des Themas das Projekt vor den Blicken der Öffentlichkeit, sodass die EU-Kommission in aller Ruhe die Zutaten für die nächste schwere Krise zusammenmischen kann.7 Im Oktober hat sie unter Leitung ihres Präsidenten Juncker ein Beratungsverfahren eingeleitet – unter anderem, um „unnötige regulatorische Belastungen und andere Faktoren“ zu ermitteln, „die sich langfristig negativ auf Investitionen und Wachstum auswirken.“8 Mit dem Argument könnte man auch die Finanztransaktionssteuer (Financial Transaction Tax, FTT) aushebeln, über die derzeit mühselige Verhandlungen zwischen elf europäischen Regierungen laufen.9 So forderten in einem Schreiben vom 6. November 2015 elf nationale Unternehmerverbände – unter der Führung des Dachverbands Business Europe – die europäischen Finanzminister auf, die FTT zu begraben. Schließlich gebe es „klare Beweise für die schädlichen Wirkungen der FTT im Hinblick auf Investitionen, Wachstum und Arbeitsplätze“.10

Nutzen zweifelhaft, Risiken beträchtlich – die „Bilanz“ der Kapitalmarktunion fällt eher negativ aus. Sie beruht von vornherein auf einer Fehldiagnose, weil die Kommission eine der zentralen Ursachen für die wirtschaftlichen Stagnation im Euroraum schlicht verdrängt: die staatliche Sparpolitik und die Lohnzurückhaltung. Dass die kleineren und mittleren Unternehmen nicht genug investieren, liegt vor allem an der geringen Nachfrage. Und die wird auch dadurch abgewürgt, dass die öffentliche Hand „den Gürtel enger schnallt“.

Bleibt die Frage, warum die EU dieses riskante Projekt so rasch vorantreibt? Ob das Ganze nur als Beruhigungssignal an Großbritannien gedacht ist, um einen „Brexit“ abzuwenden? Misstrauisch stimmen auch die Verbindungen, die Juncker und Hill zu Finanzkreisen unterhalten. Juncker war immerhin von 1995 bis 2013 Regierungschef in Luxemburg, einer der großen europäischen Steueroasen. Und Hill ist der Gründer von Quiller Consultants, einer auf den Finanzsektor spezialisierten Unternehmensberatung, die in der Londoner City unter anderem für die britische HSBC Bank gearbeitet hat.

1 Publikumsgesellschaften sind Personen- oder Kapitalgesellschaften mit vielen Großanlegern oder Anteilseignern, wie zum Beispiel Aktiengesellschaften.

2 Mid Caps sind Unternehmen mit einem Börsenwert zwischen 500 Millionen und 2 Milliarden Euro/Dollar.

3 „Schaffung einer Kapitalmarktunion“, Grünbuch der EU-Kommission, Brüssel, 18. Februar 2015, S. 8.

4 Siehe: Maximising the Capital Market opportunity for SMEs and Start-ups; www.accaglobal.com/za/en/discover/news/2015/05/capital-markets.html.

5 Douglas J. Elliott, „Capital markets union in Europe: Initial impressions“, Brookings Institution, 23. Februar 2015; http://ec.europa.eu/finance/consultations/2015/capital-markets-union/docs/green-paper_de.pdf.

6 Diskussionsforum am 25. Februar 2015.

7 Siehe Sven Giegolds Blog-Eintrag vom 30. September 2015: www.sven-giegold.de/2015/kapitalmarktunion-darf-nicht-fuer-deregulierungswelle-missbraucht-werden.

8 „Kapitalmarktunion: Ein Aktionsplan für mehr Unternehmens- und Investitionsfinanzierung“. Pressemitteilung der Europäischen Kommission, 30. September 2015: europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5731_de.htm.

9 Siehe Stephan Schulmeister „Die vernünftigste Steuer in diesen Zeiten“, Le Monde diplomatique, Dezember 2014.

10 Siehe: www.sven-giegold.de/wp-content/uploads/­2015/­11/2015-11-06-Letter-on-FTT-to-ECOFIN-Council-No­vember-Min-Gramegna-LU.pdf.

Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke

Frédéric Lemaire ist Doktorand am Centre d’économie der Universität Paris-Nord (CEPN). Dominique Plihon ist Professor für Finanzökonomie an der Universität Paris XIII. Beide sind Mitglieder von Attac France.

Gezielte Zerlegung und Desintegration: Haus Europa vor dem Einsturz

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Naomi Kleins Schock-Strategie in der Anwendung auf Europa kritisiert hier Prof.Birgit Mahnkopf:Birgit_Mahnkopf
http://www.neues-deutschland.de/artikel/978094.haus-europa-vor-dem-einsturz.html
Auszüge:

Die gezielte Desintegration der EU unter Aufgabe ihrer gepriesenen Grundfeste

Das »andere Europa«, für das soziale Bewegungen seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise geworben haben, erst recht die von progressiven Kräften in den letzten Jahren geforderte »Neugründung Europas«, wird es nicht geben. Statt dass es zu einer Einschränkung der brandgefährlichen Spekulation von Finanzmarktakteuren gekommen ist, haben sich die Eigenarten des europäischen Integrationsprojekts als Brandbeschleuniger für eine Feuerbrunst erwiesen, die das lange schon einsturzgefährdete »gemeinsame Haus« Europa in Schutt und Asche legen könnte.

In Schulbüchern steht die EU noch immer als leuchtendes Beispiel für Frieden und Wohlstand, Sozialstaat und Solidarität, Demokratie, Respekt von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit – und für neuartige Institutionen supranationaler und intergouvernementaler Regulierung. Doch ist vom Exempel regionaler Kooperation im Sommer 2015 wenig übrig.

Frieden – nun ja, der scheint zumindest innerhalb der EU vorerst noch gewährleistet. In ihren Außenverhältnissen kann davon aber längst keine Rede mehr sein. Militäreinsätze zur Terrorbekämpfung, die Bewaffnung nichtstaatlicher Gewaltakteure und Waffenlieferungen an Konfliktparteien oder der Einsatz von ökonomischen Sanktionen als Mittel von »hard power« gehören schon heute zum Arsenal der einstmals als »Friedensmacht« bezeichneten EU.

Auch Wohlstand gibt es noch in der EU, doch ist dieser immer ungleicher verteilt und an eine Verarmungsdynamik gekoppelt, die entwickelte Industrieländer bislang nur in Kriegszeiten erlebt haben.

Der europäische Sozialstaat, der einst als »Alleinstellungsmerkmal« firmierte, ist Schnee von gestern; er wird als Preis für eine starke Währung und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft. Niemand will mehr dem Kapital Sozialpflichten aufherrschen, Staatsschulden – in Griechenland und anderswo – gelten als hinreichender Grund dafür. Eingriffe in die kapitalistische »Satansmühle« (Karl Polanyi) von Arbeitsmärkten, öffentliches Eigentum an Schlüsselindustrien und Infrastruktureinrichtungen oder ein dichtes Netz von öffentlichen Diensten – erst recht staatliche Interventionen mit dem Ziel Beschäftigung zu schaffen – werden nur noch als »Belastungen« öffentlicher Haushalte zum Thema. Schuldendienstfähigkeit hat höchste Priorität.

Der Begriff der Solidarität ist aus dem Vokabular getilgt. Jedenfalls kann sich darauf kein syrischer Flüchtling verlassen. Damit darf auch keine griechische Rentnerin rechnen, die von ihren opulenten 700 Euro Kinder und Enkel unterstützen muss.
Wenn es um das »Menetekel Griechenland« geht, ist von europäischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften, doch auch von grünen und linken Parteien und selbst von den Kirchen wie den sozialen Bewegungen nichts zu erkennen, was einer Verteidigung dieser »europäischen Idee« gleichkäme.

Für die etablierten politischen und wirtschaftlichen Eliten und ihre Claqueure aus den Medien erinnert Solidarität ohnehin eher an systemgefährdendes Verhalten; ihnen gilt die Demokratie in Europa als ein zwar nützliches, aber keineswegs übergeordnetes Gut. Der gezielte Angriff auf Prozesse demokratischer Willensbildung in den EU-Staaten, den die rein nationale Interessen bedienende deutsche Führungsmacht in Europa unternimmt, kommt da wie gerufen.
Der »Zuchtmeister« aus Deutschland arbeitet daran, dass es eine Alternative zur gesellschaftlich wie ökonomisch desaströsen Sparpolitik weder heute in Hellas noch morgen irgendwo sonst in Europa geben kann. Dafür sorgen die außerhalb der vertraglichen Regelungen liegenden Kompetenzen für die »Troika-Institutionen«.

In ökonomisch und geopolitisch schwierigen Zeiten wird die Desintegration Europas gezielt vorangetrieben – zugunsten einer neuen, im radikalen Sinne hierarchisch strukturierten Region.
In diesem Europa wird es einen »harten Kern« geben, der zuständig ist für die Regeln der Herrschaftsausübung, einen Kreis von Satellitenstaaten, denen ein gewisses Maß an interner Autonomie zugestanden wird, einen größeren Ring von abhängigen Staaten, die jede sozial- und wirtschaftspolitische Souveränität aufgeben müssen – und einen »Ring von Freunden« in einem weiten »Grenzgebiet«, das sich in die Einflusszonen anderer Mächte erstreckt und dessen Funktion darin besteht, den kleinen Kern bestmöglich abzuschirmen von den Auswirkungen des Chaos, das durch das neue europäische Herrschaftssystem (mit)verursacht wird.

Birgit Mahnkopf ist Professorin für Europäische Gesellschaftspolitik an der HWR Berlin.

Jochen

Russland: Umsturz per Krise ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zu diesem Thema habe ich hier schon früher was eingestellt:
https://josopon.wordpress.com/2014/08/27/schockstrategie-unabhangiges-forschungsinstitut-sieht-die-hauptschuld-an-ukraine-krise-bei-m-westen-ein-russischer-abgeordneter-bekommt-paranoia/
Die Befürchtungen Evgenii Alexejewitsch Fedorows, der Umsturz werde schon im Herbst 2014 in St.Petersburg losgehen, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Noch steht das russische Volk mit großer Mehrheit hinter seiner Führung, wie das »Stratfor«-Chef George Friedman festgestellt hat.

Jetzt aber aktuell auf German Foreign Policy:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59023
Auszüge:

MOSKAU/BERLIN/WASHINGTON
(Eigener Bericht) – Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise in Russland treibt im Westen die Debatte über einen möglichen Umsturz in Moskau voran. Im Zentrum der Planungen stehen dabei die russischen Mittelschichten; Hintergrund ist, dass der Umsturz in der Ukraine, der als mögliches Modell für einen „Regime Change“ auch in Russland gilt, maßgeblich von den Mittelschichten des Landes herbeigeführt wurde.
Könne Moskau deren Einkommen und deren Lebensniveau nicht mehr garantieren, könnten sie der Regierung womöglich die Unterstützung entziehen, vermutet eine Expertin von der „European Foundation for Democracy“ aus Brüssel. Allerdings sei keinesfalls klar, ob ein Umsturz ein prowestliches Regime an die Macht bringen werde.
Beobachter weisen darauf hin, dass Putin zur Zeit nicht nur außergewöhnlich hohe Zustimmungswerte hat, sondern dass außerhalb der Metropolen auch in den Mittelschichten nationalistische, antiwestliche Vorstellungen dominierten. Ein Umsturz biete keine Erfolgsgarantie für den Westen.
Der russische Ex-Oligarch Michail Chodorkowski hat vor kurzem „revolutionäre“ Schritte in Aussicht gestellt – unter Abkehr von einem Machtwechsel „auf demokratischem, sanftem Weg“.
Weil der Westen den ökonomischen Druck auf Moskau aber inzwischen so stark erhöht, dass selbst eine Staatspleite nicht mehr völlig ausgeschlossen wird, drohen die Umsturzpläne sich gegen ihre Erfinder zu wenden: Russlands Kollaps träfe europäische Banken, die in Moskau Außenstände in dreistelliger Milliardenhöhe haben, und könnte die Wirtschaft der EU mit in die Krise reißen.

Die Mittelschichten als Ansprechpartner

Im Zentrum der gegenwärtigen Überlegungen, ob sich ein Umsturz in Russland herbeiführen lässt, stehen die Mittelschichten des Landes.
Dass ein Rückgriff auf diese zum Erfolg führen kann, hat zuletzt der Umsturz in der Ukraine bewiesen: Die „Orangene Revolution“ Ende 2004 wie auch die Majdan-Proteste im Winter 2013/14 wurden maßgeblich von ihnen getragen, wenngleich jeweils bestimmte Oligarchen-Fraktionen den Machtwechsel unterstützten und Anfang 2014 zusätzlich noch gewalttätige Spektren der extremen Rechten benötigt wurden, um die Regierung aus dem Amt zu jagen.
Die aufstrebenden urbanen Mittelschichten sind in Osteuropa allgemein oft in Richtung Westen orientiert, unterstützt beispielsweise durch Kontakte, die sich im Rahmen eines Auslandsstudiums ergeben haben. So konnten allein 2013 beinahe 3.800 Russen mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) an deutschen Hochschulen studieren oder forschen.
Ihre oft dominierende kulturelle Orientierung in Richtung Westen tut ein Übriges, um die Mittelschichten auch russischer Metropolen zu bevorzugten Ansprechpartnern Berlins zu machen, das seine Beziehungen zu ihnen unter anderem über parteinahe Stiftungen und NGOs intensiviert.

Loyalität gegen Wohlstand

Unklar scheint zur Zeit, wie sich der aktuelle Machtkampf zwischen Russland und dem Westen auf die politischen Präferenzen der russischen Mittelschichten auswirkt. Diese sind vergleichsweise dünn und wurden während der Proteste gegen Putin im Winter 2011/12, die sie wesentlich trugen, auf – je nach Definition – zehn bis 15, maximal 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt.[1]
Eine im Mai veröffentlichte – umstrittene – Analyse des Soziologischen Instituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften bezog erstmals Staatsangestellte wie etwa Lehrer und Sozialarbeiter sowie Arbeiter in Staatsbetrieben in die Berechnung ein, weil deren Einkommen unter Putins Präsidentschaft erhöht worden waren; sie kam damit auf einen Anteil an der Bevölkerung von mehr als 40 Prozent. Die so definierten Mittelschichten seien in ihrer überwiegenden Mehrheit der Regierung gegenüber loyal – jedenfalls solange diese entsprechende Einkommen und damit einen annehmlichen Lebensstandard garantieren könne, hieß es in der Untersuchung.
Sei dies aber, etwa wegen einer Wirtschaftskrise, einmal nicht mehr der Fall, dann könnten sich die Mittelschichten rasch gegen die Regierung wenden.[2]
Dem stimmen auch westliche Think-Tanks ausdrücklich zu. Könne Moskau nicht mehr liefern, dann würden die Mittelschichten Putin wohl die Unterstützung entziehen, urteilt Anna Borshchevskaya, eine Expertin der Brüsseler „European Foundation for Democracy“.[3]

Breite Zustimmung zu Putin

Inwieweit das in absehbarer Zeit der Fall sein könnte, ist nicht ganz klar. Die Zustimmungswerte in der Bevölkerung für Putin liegen bei mehr als 80 Prozent; ein Teil der relativ wenigen Unzufriedenen fordert zudem keine prowestliche Politik, sondern einen härteren Kurs gegenüber dem Westen.
Hinzu kommt, dass die russischen Mittelschichten zur Zeit vor allem unter den westlichen Sanktionen leiden [4]; ob sie diese nun Putin ankreiden oder dem Präsidenten zugute halten, dass er die Krim wieder unter russische Kontrolle gebracht hat, ist ungewiss.
Barack Obama und Angela Merkel gelten Umfragen zufolge als die unbeliebtesten ausländischen Politiker.[5]
Einiges deutet darauf hin, dass bei der Mehrheit der Mittelschichten eine prowestliche Präferenz derzeit keineswegs gesichert ist. Bereits Ende 2013 hatte der Moskauer Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen), Jens Siegert, gewarnt, außerhalb der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg teilten die Mittelschichten die liberale Orientierung in Richtung Westen ohnehin kaum; ihre „politischen Vorlieben“ seien teilweise von einem „Führer-Kult“ geprägt, teilweise „deutlich nationalistischer gefärbt“.[6]
Auch bei der „European Foundation for Democracy“ heißt es, man dürfe nicht ausschließen, dass signifikante Teile der Mittelschichten, sollten sie sich von Putin abwenden, sich gegen die Demokratie wendeten und in einem „extremen russischen Nationalismus“ ihr Heil suchten.[7]
Der Westen müsse sich intensiv um die Mittelschichten bemühen.

Nicht demokratisch

Dabei wird die Perspektive eines Umsturzes inzwischen bereits öffentlich thematisiert. Anfang Dezember hat der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowski, der Ende 2013 auch dank deutscher Vermittlung aus der Haft entlassen wurde, erklärt, er erwarte „mehr oder weniger“ ein „blutiges Ende des Putin-Regimes“. „Ein demokratisches Modell“, mit dem Putin als Präsident abgelöst werden könne, sehe er nicht: „Es braucht ‚revolutionäre‘ Massnahmen.“[8]
Mit Hilfe einer Übergangsregierung könne der Staat danach umgebaut werden; das „traue ich mir zu, denn ich bin ein Krisenmanager“, wird Chodorkowski zitiert. Danach könne es wieder Wahlen geben.

Zusammenbruch

Düstere Andeutungen hat letzte Woche zudem der prominente russische Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin in einer deutschen Wochenzeitschrift geäußert. Er sei „kein Freund von Revolutionen“, äußerte er, er könne sich jedoch „substanzielle Verbesserungen mit dem derzeitigen Regime“ kaum vorstellen: „Es wird einen Schnitt geben, eine ’nichtstationäre Periode‘ mit Absturz und einer langsamen Erholung.“[9]
Es gehe dabei um „eine Krise, den Zusammenbruch von Wirtschaft und Ordnung“: „Die Kriminalität wird ansteigen, es kann Zusammenstöße verschiedener Volksgruppen geben“. Ein dann an die Macht kommender Staatschef müsse „für Ordnung“ sorgen und „den Staat vor dem Zerfall bewahren“.

Drohender Rückschlag

Vor diesem Hintergrund verschärft der Westen seine Wirtschaftssanktionen und erhöht damit den ökonomischen Druck auf Moskau und auf die Mittelschichten, die zum Handeln getrieben werden sollen.
Allerdings zeigen sich klare Differenzen zwischen EU und USA. Während Washington eine signifikante Verschärfung anstrebt, hat die EU beschlossen, neue Strafmaßnahmen auf die Krim zu beschränken und ihre Wirksamkeit damit deutlich einzugrenzen.
Hintergrund ist, dass Berlin und Brüssel mittlerweile befürchten müssen, von noch exzessiveren Sanktionen selbst hart getroffen zu werden. Ökonomen schließen mittlerweile eine russische Staatspleite nicht mehr aus. Diese jedoch träfe nicht mehr nur deutsche Exporteure, deren Milliardenausfälle sich anderweitig kompensieren [10] oder doch zumindest noch einigermaßen verkraften ließen, sondern auch Großbanken in Deutschland und in anderen EU-Staaten.
Zum 30. Juni beliefen sich die russischen Auslandsschulden auf beinahe 173 Milliarden Euro, von denen 128 Milliarden Euro bei europäischen Banken aufgenommen worden waren. Deutschen Banken sei es zwar gelungen, ihre Außenstände in Russland von 15 Milliarden auf 13,3 Milliarden zu drücken; doch beliefen sich die russischen Kredite bei der Deutschen Bank und bei der Commerzbank noch auf jeweils mehr als fünf Milliarden Euro.[11]
Die Bank Austria sitze auf Forderungen von 14,2 Milliarden Euro, italienische Banken hätten Außenstände von 21 Milliarden Euro, französische Kreditinstitute verzeichneten 37 Milliarden Euro russische Schulden in ihren Bilanzen. Das Risiko eines fatalen Rückschlags der russischen Krise auf Deutschland und die EU gilt unter Fachleuten als erheblich. Aus diesem Grund hat mittlerweile auch US-Präsident Obama angekündigt, die neuen Sanktionen vorerst wohl nicht in Kraft zu setzen.

Mögliche Kurskorrekturen

Angesichts der Tatsache, dass die Umsturzbestrebungen die eigene Wirtschaft massiv zu schädigen drohen, wird in Berlin und Brüssel eine Kurskorrektur nicht mehr gänzlich ausgeschlossen. „Niemand hat Interesse daran, dass die russische Wirtschaft in eine tiefe Depression stürzt“, hieß es am Mittwoch aus dem Umfeld der EU-Kommission.
„Wir haben kein Interesse an einer ökonomischen Desintegration Russlands“, erklärt der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, Karl-Georg Wellmann (CDU): Bei Bedarf könnten „die Sanktionen … sehr schnell zurückgefahren werden“.[12]
Dabei geht es freilich nicht darum, die Wirtschaft Russlands zu retten, sondern die eigenen Staaten vor schweren ökonomischen Schäden zu bewahren.

Weitere Informationen zum eskalierenden Konflikt zwischen dem Westen und Russland finden Sie hier: Die freie Welt, Urteil ohne Gericht, Wie im 19. Jahrhundert, Die syrische Kröte, Ein Ring um Russland, „Moskaus Drang nach Westen“, Eine Monroe-Doktrin für Osteuropa, Die neue nukleare Eskalationsdynamik, Die geplatzte Pipeline und Die Widersprüche der EU.

[1] S. dazu Deutsch-russische Widersprüche.
[2] Vladimir Ryzhkov: Putin Can’t Afford His Middle Class Base. www.themoscowtimes.com 07.07.2014.
[3] Anna Borshchevskaya: What Will Happen To Putin’s Approval Ratings Once Russia’s Economy Plummets? www.forbes.com 06.11.2014.
[4] Reinhard Lauterbach: Financial Attack. junge Welt 18.12.2014.
[5] Christian Schaudwet: „Germanija“ glänzt in Russland nicht mehr. www.noz.de 21.11.2014.
[6] Jens Siegert: Abseits von Moskau – die etwas andere Mittelschicht. Russland-Analysen Nr. 267, 22.11.2013.
[7] Anna Borshchevskaya: What Will Happen To Putin’s Approval Ratings Once Russia’s Economy Plummets? www.forbes.com 06.11.2014.
[8] „Putin hat sich selber in eine Sackgasse gebracht“. www.nzz.ch 05.12.2014.
[9] Wirtschaftskrise in Russland: „Putin wird sich bis zuletzt an die Macht krallen“. www.spiegel.de 11.12.2014.
[10] S. dazu Schlagkräftige Verbündete.
[11] Europäische Großbanken zittern um ihr Geld in Russland. www.welt.de 17.12.2014.
[12] Dietmar Neuerer: Deutsche Außenpolitiker bieten Russland Hilfe an. www.handelsblatt.com 17.12.2014.

Jochen