Christoph Butterwegge: Wir brauchen einen solidarischen Ruck

Christoph Butterwegge über die Motive seiner Kandidatur für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten

Weil es keinen gemeinsamen rot-rot-grünen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten geben wird, schickt die LINKE einen eigenen Bewerber ins Rennen. Butterwegge ist auch schon hier in den Sozialpolitischen Nachrichten zu Wort gekommen.

Folgend veröffentlicht »neues deutschland« ein 10-seitiges Schriftstück von Professor Dr. Christoph Butterwegge zu seiner Bewerbung um das Bundespräsidentenamt:

Beweggründe für meine Bewerbung um das Bundespräsidentenamt

Mit meiner Kandidatur möchte ich die Öffentlichkeit für soziale Probleme sensibilisieren, denn obwohl die Gesellschaft immer stärker auseinanderfällt, nimmt das Establishment diesen Polarisierungsprozess nicht oder falsch wahr. Außerdem möchte ich der weiteren Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch neoliberale Reformen entgegentreten – gerade wird die Privatisierung der Autobahnen und damit ein neuerlicher Höhepunkt der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vorbereitet – sowie jenen Teilen der Bevölkerung eine politische Stimme geben, die immer stärker ausgegrenzt werden.

Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus ihren BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als »Hartz- IV-Familien« bezeichneten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237, 270 bzw. 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind froh, wenn sie am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.

Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So beschloss die Große Koalition vor Kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter 6 Jahren im nächsten Jahr nicht zu erhöhen.

CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer wachsenden Armut, wie ihr »Deutschlands Zukunft gestalten« überschriebener Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort »Reichtum« nur als »Ideenreichtum« bzw. als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur als »Durchhaltevermögen« bzw. im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.

»Armut« taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. So wollen CDU, CSU und SPD »den Kampf gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren«, meinen damit aber den Analphabetismus, während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist. Den von Sozialgeld (»Hartz IV«) lebenden Kindern wird je nach Alter ein Regelbedarf für Bildung in Höhe von 1,61 Euro, 1,30 Euro bzw. 0,32 Euro zugebilligt. »Altersarmut« kommt zwar ein Mal vor, und zwar sogar in der Zwischenüberschrift »Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen«, die das Motto für die Rentenpolitik der Regierungskoalition bildet. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme, auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen jedoch den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.

Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form – gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und erniedrigender sein kann.

Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort »Armutswanderung« bzw. »Armutsmigration« verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine »ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen« vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet würden.

Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer »importiert« wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h. durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.

Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich ist ein Paradigmenwechsel vom »schlanken« zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.

Meine politische Position: Wo und wofür ich stehe
Da die Spitzenpolitiker der etablierten Parteien gemeinsam die Mitte zu besetzen suchen, fühlen sich immer größere Bevölkerungsgruppen politisch nicht mehr repräsentiert. Rechtspopulisten können sich daher als Sprachrohr der sozial Benachteiligten, Abgehängten und Ausgegrenzten profilieren, obwohl sie ausweislich ihrer Programmatik die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen, gesellschaftlich Privilegierten und politisch Einflussreichen vertreten.

Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten auf das auch sozialräumliche Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, als soziales Gewissen wirkt und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto bilden Solidarität und soziale Gerechtigkeit, denn die von Bundespräsident Joachim Gauck aus biografischen Gründen besonders herausgehobene Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz, Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers. Genauso wichtig ist die Abwehr von Gewalt und Krieg, was Willy Brandt mit den Worten »Ohne Frieden ist alles nichts« ausgedrückt hat.

Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor Standardlebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten für sozialen Ausgleich sorgt, und bin im besten Sinne der Verteidigung von Bürgerrechten liberal und im Sinne der Verteidigung sozialer Errungenschaften konservativ, fühle mich aber gleichwohl als »ideeller Gesamtlinker«, der auch sozialdemokratische Programmtraditionen verkörpert und seit Jahrzehnten ökologische Zielsetzungen verfolgt. Außerdem halte ich außerparlamentarische Bewegungen wie die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, das globalisierungskritische Netzwerk attac, dessen wissenschaftlichem Beirat ich angehöre, den Bürgerprotest gegen Stuttgart 21, Occupy oder die jüngsten Massenproteste gegen CETA, TTIP und TiSA als einen lebendigen Ausdruck der Demokratie für unverzichtbar.

Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente (Referenden, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide) in der Bundesrepublik. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um sie auf staatliche Institutionen zu beschränken und den Parteien zu überlassen. Themen wie »Finanzkrise, Staatsschulden und Euro- Stabilisierung«, »Sozialstaatsentwicklung und Armut«, »Sicherung von Bürgerrechten und Demokratie«, sowie »Klimaschutz und Gewährleistung der Energieversorgung« verlangen ein viel stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Bürger/innen.
Die Demokratie ist nicht bloß durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische Apathie und die wachsende »Parteienverdrossenheit« der Bürger/innen gefährdet. »Politikverdrossenheit« ist allerdings genauso wie »Wahlmüdigkeit« ein irreführender Begriff, um die Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer randständigen bzw. prekären Existenz ist.

Vergleichbares gilt, wenn ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten demokratische Rechte vorenthalten oder ihre Angehörigen von Neonazis ermordet werden. Noch gefährlicher für die Demokratie sind rechtspopulistische Gruppierungen wie die »Alternative für Deutschland« (AfD) oder die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida). Aber auch entsprechenden Stimmungen, Strömungen und Bestrebungen in der bürgerlichen Mitte gebührt Aufmerksam- und Wachsamkeit aller Demokrat(inn)en, wie die Sarrazin-Debatte zur Genüge unter Beweis gestellt hat.

Möglichkeiten zur Schaffung einer sozialen und inklusiven Gesellschaft

Linke Gesellschaftskritik ist bitter nötig, denn die Frage lautet: Wollen wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, die Erwerbs- und Wohnungslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit honoriert, sich jedoch über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert? Oder wollen wir in einer sozialen Bürgergesellschaft leben, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, die Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit und Respekt gegenüber Minderheiten statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben? Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich trotz des Konjunkturaufschwungs verfestigenden Massenerwerbslosigkeit, kläglich versagt?

Die momentane Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen Premierministerin bzw. zum US-Präsidenten gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er- Jahre eingeleitet haben und die beendet werden muss. Dafür ist ein »Ruck« (Roman Herzog) nötig, aber in die entgegengesetzte Richtung, wie sie der Altbundespräsident seinerzeit einschlug: Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich muss heute eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen und Benachteiligten folgen. Dadurch würde die Gesellschaft humaner, friedlicher und demokratischer, sich aber auch die Lebensqualität für all ihre Mitglieder verbessern.

Seit der »Agenda 2010« und den sog. Hartz-Gesetzen herrscht soziale Eiseskälte in Deutschland. »Hartzer« werden durch ein rigides Arbeitsmarkt- und Armutsregime ausgegrenzt, von großen Teilen der Bevölkerung verachtet und als »Drückeberger«, »Faulenzer« und »Sozialschmarotzer« verächtlich gemacht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch die neoliberalen Reformen nachhaltig geschwächt worden. Wer ihn wieder stärken möchte und nicht bloß warme Worte für die Menschen auf der Schattenseite unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft übrighat, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine auch große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progessiverer Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener/innen und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen werden, weil diese fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), niedriger sein.

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sozial)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder bzw. Wohnbürger/ innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines »Um-« bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen nötig. Dabei geht es im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des Bismarck›schen Sozialsystems, verbunden mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeitsund Lebensbedingungen (Stichworte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung der Leiharbeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, Auflösung der Normalfamilie sowie Pluralisierung der Lebens- und Liebesformen) resultieren.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter/ innen dieser Reformoption tun. Hingegen stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber (und staatlichen Zuschüssen) speist.

Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunter nehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe auch nach der Gesundheitsreform neuen Typs ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz wäre also nicht gefährdet.

Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.

Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelfer/innen sowie Blut- und Organspender/innen, aber auch für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler/innen und Studierende.

Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Natürlich muss sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen. Auf die öffentlichen Haushalte kämen dadurch erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit Hilfe einer sozial gerechteren, sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierenden Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.

Eine solidarische Bürgerversicherung bedeutet keinen Systemwechsel. Vielmehr verschwände der Widerspruch, dass sich fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 6.200 Euro in Westdeutschland und 5.400 Euro in Ostdeutschland (2016). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte (und ihre Arbeitgeber) überhaupt keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Gesetzliche Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung können sie bei Überschreiten der weit niedrigeren Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze sogar verlassen. Warum muss die Solidarität bei Löhnen und Gehältern in dieser Höhe enden?

Mit dieser systemwidrigen Begrenzung der Solidarität auf Normal- und Schlechterverdienende muss die Bürgerversicherung brechen. Wohl das schlagendste Argument für die Bürgerversicherung liefert ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Durch die Berücksichtigung anderer Einkunftsarten würde der Tatsache endlich Rechnung getragen, dass Arbeitseinkommen für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr die einzige und häufig nicht mehr die wichtigste Lebensgrundlage bilden. Daraus ergibt sich die Frage, warum der riesige private Reichtum nicht stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte.

Mittels der allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung würden die Nachteile des deutschen Sozial(versicherungs)staates kompensiert, ohne dass seine spezifischen Vorzüge liquidiert werden müssten. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an soziokulturelle und materielle Mindeststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt. Auf diese Weise würden soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen zum konstitutiven Bestandteil einer Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unabhängigen Justiz.

Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung nötig, die alle Wohnbürger/innen nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.
SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen orientieren im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung. Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch (noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein fortschrittliches Bündnis oder eine R2G-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen, humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar, wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht. Sonst setzen sich am Ende doch wieder mächtige Lobbygruppen durch.

Person, Forschungsschwerpunkte und Publikationen

Ich war von Januar 1998 bis Juli 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und zeitweilig Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.

Reiche und Arme haben nichts miteinander zu tun – Abschottung in den USA genau wie hier

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Selten mal ein so aktuelles und unverdrehtes Interview in der WELT:
http://www.welt.de/politik/ausland/article140753869/Reiche-und-Arme-haben-nichts-miteinander-zu-tun.html
Putnam-Our_KidsAuszüge:
Der amerikanische Traum steckt in einer tiefen Krise, sagt der US-Politikwissenschaftler Robert Putnam. Wer in eine arme Familie geboren wird, hat kaum mehr Chancen auf Aufstieg.
Doch woran liegt das?

Von Clemens Wergin

Robert Putnam macht die unsichtbaren Dinge sichtbar. Der bekannte Politikwissenschaftler richtet sein Echolot auf die amerikanische Gesellschaft, er erkennt und beschreibt Veränderungen in großen Linien. Im Jahr 2000 hat Putnam in „Bowling alone“ den Trend zur Vereinzelung in Amerika beschrieben.
Sein gerade erschienenes Buch „Unsere Kinder. Der amerikanische Traum in der Krise“ liest sich nun wie eine Gebrauchsanweisung für die Rassenunruhen von Ferguson und Baltimore, wo Schwarze Misshandlung durch Polizeibeamte erfahren haben.

Zehn Jahre lang haben Putnam und sein Team Daten gesammelt und individuelle Lebensgeschichten gesucht, um zu verstehen, was in Amerikas Unterschicht falsch läuft.
Sie haben versucht zu ergründen, warum die Chancengleichheit zwischen Arm und Reich immer mehr abnimmt – egal ob es sich um Schwarze, Hispanics oder Weiße handelt.
Seine Antworten hat Putnam am Dienstag auch mit Obama in Harvard diskutiert. Uns erklärte er vorher, was er dem US-Präsidenten sagen wird.

Professor Putnam, Sie haben erforscht, woran der amerikanische Traum scheitert. Haben die Antworten etwas mit Baltimore zu tun?

Ich stimme mit Präsident Obama überein, der die tiefer liegenden Ursachen in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit sieht. Natürlich gibt es in Baltimore auch spezifische Probleme, insbesondere die Beziehungen zwischen den Schwarzen und der Polizei. Das ist ein Rassenproblem (Link: http://www.welt.de/140430425) , das zu lange gegärt hat.
Bei dem größeren Thema jedoch, über das ich in „Our Kids“ schreibe, geht es nicht allein um ein Rassen-, sondern vor allem um ein Klassenproblem. Das ist auch ein wichtiger Hintergrund für das, was in Baltimore passiert ist und was auf andere Teile Amerikas genauso zutrifft.

Klassenzugehörigkeit entscheidet heute in Amerika also mehr über Erfolg oder Scheitern als die Hautfarbe(Link: http://www.welt.de/140364910) ?

Es gibt ein Thema, bei dem Rasse noch immer das bestimmende Merkmal ist: Gerechtigkeit im Strafverfolgungssystem. Darum ging es ja in erster Linie in Baltimore. Auch hier spielt die Schichtzugehörigkeit eine Rolle, es ist aber in erster Linie eine Rassenfrage. ber in vielen anderen Bereichen ist Klasse heute wichtiger als Rasse.
Ich möchte jedoch nicht so verstanden werden, als seien die Rassenprobleme in Amerika alle gelöst und als könnten wir uns nun allein auf die Frage von Klassenunterschieden (Link: http://www.welt.de/140240964) konzentrieren.

In Baltimore ist viel von dem zu beobachten, was sie als Diagnose sehen: Sich auflösende Familienverhältnisse, abwesende Väter, Kinder, die ohne Leitplanken und Autoritäten aufwachsen. Inwiefern gilt das über Baltimore hinaus?

Es ist traurig! Viel zu wenige Amerikaner sind sich bewusst, wie tief der Graben zwischen reichen und armen Kindern inzwischen geworden ist. Und mit reichen Kindern meine ich nicht die Kids von Bill Gates, sondern Kinder aus Bildungshaushalten.
Und mit armen Kindern meine ich nicht die ärmsten der Armen, die untersten ein Prozent, sondern das untere Drittel.
Dieser Graben zwischen dem oberen und dem unteren Drittel der Gesellschaft ist auf eine Weise gewachsen, die die Amerikaner schockiert, wenn sie davon erfahren.
Das ist der Grund, warum ich über so viele echte Lebensgeschichten geschrieben habe. Ich wollte meinen Mitbürgern so lebendig wie möglich schildern, was in den vergangenen Jahrzehnten passiert ist.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern schrieb gerade in der Washington Post(Link: http://www.washingtonpost.com/posteverything/wp/2015/04/30/heres-one-way-baltimore-teens-are-worse-off-than-poor-youths-in-nigeria-and-india/) , dass viele Kinder in Armenviertel unter einem posttraumatischem Stresssyndrom leiden, das vergleichbar ist mit dem von Armeeveteranen. Welchen Einfluss hat das auf die Entwicklung der Kinder?

Das Niveau von dem, was manche Entwicklungspsychologen „toxischer Stress“ nennen, ist unter armen Kindern sehr hoch. Das gilt für die großen städtischen Gettos, aber genauso für Arme in kleinen Städten.
Toxischer Stress – etwa mit Gewalt bedroht zu werden, missbraucht zu werden oder unter einem Mangel an Essen oder Kleidung zu leiden, wenn Eltern betrunken oder high sind oder wenn eines der Familienmitglieder im Gefängnis ist – löst eine chemische Kettenreaktion aus, die die Entwicklung des Gehirns behindert und seine grundlegende Struktur verändert. Das kann lebenslange Lernschwierigkeiten zufolge haben, kann die physische und mentale Gesundheit beeinträchtigen.

Sie wuchsen in den 50er- und 60er-Jahren in Port Clinton bei Ohio in einem sehr viel egalitäreren Amerika auf. Was hat sich seitdem verändert?

Erst einmal vorausgeschickt, um Missverständnissen vorzubeugen: In mancher Hinsicht ist es heute besser, sowohl in Port Clinton als auch im ganzen Land.
Rassenzugehörigkeit ist heute eine weit weniger wichtige Trennungslinie als damals.
Und es gibt große Fortschritte, was die Perspektiven von Frauen anbelangt im Vergleich zu jener Zeit, in der ich aufgewachsen bin.
Aber was die Frage der sozialen Klassen anbelangt, ist das etwas anderes.
Die Kinder mit verschiedenem Klassenhintergrund spielten früher alle zusammen, gingen zusammen zur Schule und zusammen zur Kirche, und sie waren bemerkenswert gut sozial integriert. Sie waren im selben Footballteam, dort spielten nicht nur die reichen Kinder. Und es war auch nicht so, dass allein die reichen Kinder die Chance hatten, in der Schule erfolgreich zu sein.
Aber selbst in dieser winzigen Stadt hat sich das verändert. Reiche und arme Leute leben nun in unterschiedlichen Vierteln, die Kinder haben nichts mehr miteinander zu tun.

Ihre Leben berühren sich nicht mehr.

Ja. Und was die Aufstiegschancen anbelangt, die waren bei armen Kindern in meiner Jugend fast so groß wie bei den reichen Kindern. Das hat sich in Port Clinton komplett verändert.
Reiche Kinder und ihre Familien können sich den Zerfall im Leben der armen Kinder kaum vorstellen.
Als ich aufwuchs, betrachteten meine Eltern und andere Eltern alle Kinder in der Stadt als „unsere Kinder“, egal ob reich oder arm, deshalb auch der Titel meines Buches.
Der fundamentale Verlust einer gemeinsamen Identität und gemeinsamer gegenseitiger Verantwortung, das ist meiner Ansicht nach die tiefere Ursache für diesen Wandel.

Die Leute fühlen sich also nicht mehr verantwortlich dafür, auch den Kindern anderer Eltern zu helfen oder sich um sie zu kümmern?

Das ist richtig. Sie fragen mich natürlich nach den USA und nicht nach Deutschland, weil ich darüber nicht geschrieben habe. Aber man könnte durchaus auch die Frage stellen, ob es in Europa ähnlich ist, ob gebürtige Dänen oder Deutsche die armen Flüchtlingskinder aus Nordafrika oder dem Nahen Osten als „unsere Kids“ betrachten.
Mein Eindruck nach Besuchen in mehreren nord- und südeuropäischen Ländern ist jedoch, dass es dort ein ähnliches Problem gibt.
Ich möchte das nicht als billige Kritik verstanden sehen. Ich versuche nur, einem deutschen Publikum zu verdeutlichen, was ich meine, wenn ich sage: Wir sehen diese Kinder nicht mehr als unser aller Kinder an.

Es gibt auch einen erheblichen Graben, was die Stabilität der familiären Verhältnisse angeht. Amerika erlebte in den 70er-, 80er-Jahren eine Scheidungswelle, seitdem ist die Scheidungsrate in der Mittelklasse jedoch fast zur alten Werten zurückgekehrt. In der Unterschicht nehmen die Scheidungen jedoch weiter zu. Warum?

Darüber gibt es eine große Debatte. Fehlende Stabilität in der Familie ist sehr schlecht für die Entwicklung von Kindern und der wachsende Graben bei den Familienverhältnissen ist ein wichtiger Grund für die auseinandergehende Schere bei Aufstiegschancen von armen und reichen Kids.
Die Debatte über die Ursachen lässt sich auch an den Reaktionen auf mein Buch ablesen.
Konservative sagen: Putnam zeigt auf, dass die Chancenungleichheit von kulturellen Veränderungen herrührt, mit dem Wohlfahrtsstaat und der Permissivität der 60er-Jahre zu tun hat.
An den kulturellen Erklärungen ist manch Wahres dran, aber nicht annähernd so viel, wie viele Konservative denken.
Auf der anderen Seite sagen die Linken, dass der Grund in der langen Phase der wirtschaftlichen und Einkommensstagnation zu suchen ist, die vor allem Männer aus der Arbeiterklasse betrifft. Und natürlich ist auch das teilweise wahr. Ich hoffe jedoch, dass wir uns nicht in einer ideologischen Debatte verheddern. Am Ende sollten wir uns vor allem Sorgen um die Kinder machen.

Wenn Familien zerbrechen, könnte man meinen, dass die Menschen sich anderswo Hilfe suchen: in Kirchen, bei Nachbarn und informellen Netzwerken.
Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Häufig ist die Großmutter der einzige Anker für Kinder.

Das ist so, aber Großmütter können natürlich die Defizite im Zusammenhalt der Gemeinschaft, auch was Kirchen oder andere Gemeinschaftsinstitutionen anbelangt, nicht alleine ausgleichen. Die Bürgergesellschaft war historisch sehr wichtig für Amerika – das geht bis auf Tocqueville zurück. Und deshalb ist ihr Niedergang, besonders in der Arbeiterklasse, so viel gravierender, als er es wäre, wenn wir uns nicht so stark auf die Zivilgesellschaft gestützt hätten.

Was kann Amerika tun, um der Unterschicht wieder eine faire Chance auf den amerikanischen Traum zu geben?

Es braucht politische Entscheidungen, etwa von der Bundesregierung oder lokalen Regierungen oder zivilen Institutionen wie Kirchen, um die Situation zu verbessern. Die größte Hürde besteht darin, dass Amerika erkennt, wie groß das Problem tatsächlich ist.
In der Geschichte haben Amerikaner Probleme wie dieses behoben. Es gibt bestechende Parallelen zwischen der Not heute und der Not der 1890er-Jahre bis etwa um 1900.
Das wurde damals „gilded age“ genannt, und es ist kein Zufall, dass unsere heutige Periode manchmal als zweites goldenes Zeitalter bezeichnet wird.

Wie kam es damals zur Veränderung?

Es dauerte etwa 20 Jahre. Es war eine spannungsgeladene Zeit sozialer und politischer Mobilisierung, als die Amerikaner sich ziemlich plötzlich der Probleme von Reichtum und Armut bewusst wurden und entschieden, etwas zu ändern. Ende des 19. Jahrhunderts war der Sozialdarwinismus die vorherrschende Philosophie. Sie dominierte das Denken in derselben Art, wie der extreme Individualismus die amerikanische Gesellschaft heute beherrscht. Diese Phase ging zu Ende, nachdem ein eingewanderter dänischer Journalist, Jacob Riis, ein Buch geschrieben hatte mit dem Titel „Wie die andere Hälfte lebt“. Er beschreibt die Verwahrlosung von Wohnblöcken in der Lower East Side von New York. Das Buch war nicht der einzige Grund für die Wende, aber Historiker denken, es hat eine große Rolle gespielt.

Weil es Empathie geschaffen hat für die andere Hälfte?

Genau. Nun will ich nicht sagen, dass ich selbst ein Jacob Riis bin. Aber es ist das Genre, in dem „Our Kids“ geschrieben wurde und das Ziel, das hinter der Verwendung all dieser detaillierten individuellen Schicksale steckt.
Ich möchte mehr Leute da oben überzeugen, dass sie ein Interesse an den Kids da unten haben sollten. Als den Amerikanern das Problem damals bewusst wurde, begannen sie ziemlich schnell, Lösungen zu entwickeln.
Eine der interessantesten war die Erfindung der kostenlosen weiterführenden Schule, der High School. Das brachte dem Land einen Schub durch Humankapital. Die amerikanische Arbeiterschaft war dadurch in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts weit besser ausgebildet als anderswo, und das ist ein Faktor, der den Wohlstand Amerikas in dieser Periode erklärt. Diese Reform gab reichen und armen Kindern ähnliche Aufstiegschancen. Dazu bedurfte es dessen, was Tocqueville „aufgeklärtes Eigeninteresse“ nennt: Reiche bezahlten für die Bildung anderer Leute Kinder und realisierten, dass das besser für alle sein würde. Ich glaube, Amerika könnte heute eine ähnliche kulturelle Veränderung herbeiführen.

Was ist heute das Äquivalent für die High School?

Frühkindliche Bildung von 0 bis 4 Jahren wäre ein wichtiger Beitrag, um mehr Chancengleichheit herzustellen.
Ich denke auch, dass wir sehr viel mehr Energie und Geld für das Community College aufwenden sollten.

So ähnlich wie das duale System in Deutschland, die Berufsausbildung?

Absolut. In diesem Bereich können wir sehr viel von Deutschland lernen. Aber die wichtigste Veränderung besteht darin, den seit 50 oder 60 Jahren anhaltenden Niedergang in der gemeinschaftlichen Solidarität umzukehren.
Ich denke nicht, dass das von heute auf morgen passiert. Aber das ist die langfristige Perspektive, die wir haben sollten, wenn wir über Baltimore nachdenken.

Aber was würden Sie einer alleinerziehenden Mutter in Baltimore raten, die ihren Kindern heute schon eine Chance geben will?

Ich würde ihr sagen, es ist sehr wichtig, dass sie ihren Kindern beständige, persönliche Zuwendung schenkt. Das schließt etwa mit ein, den Kindern jeden Tag vorzulesen.
Wir wissen, dass diese Art von aktiver, stetiger Anteilnahme mächtige Wirkung entfaltet.
Das klingt natürlich etwas blöd von jemandem wie mir. Für mich mit meinen Enkeln und für meine Kinder, die ihren Kindern vorlesen, ist das einfacher, weil wir nicht in Armut leben.
Es soll also nicht so rüberkommen, als würde ich der armen Mutter ihre Defizite vorwerfen.
Aber es ist tatsächlich so, dass arme Eltern ihren Kindern helfen wollen, aber dass sie dazu nicht in der Lage sind.
Teilweise aus wirtschaftlichen Umständen, oder weil es an Vorbildern mangelt, die ihnen ermöglichen würden, bessere Eltern zu sein.
Das gilt gleichermaßen für die armen weißen Mütter wie für die armen schwarzen und hispanischen Familien.
Ich würde also einer armen weißen Mutter in den Appalachen denselben Rat geben wie der schwarzen Mutter in Baltimore.

Jochen