Arbeitshetze 4.0 ? Industrie 4.0 vernichtet 60.000 Jobs – Dazu Studie der Hans-Böckler-Stiftung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wichtiger Artikel, eine der Grundlagen meines heutigen Redebeitrages auf der Solidaritätsdemonstration für die Kathrein-Mitarbeiter in Nördlingen:
https://www.jungewelt.de/2015/09-24/003.php

Aktuell dazu unten auch eine Zusammenfassung einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung:

http://www.boeckler.de/61390_61398.htm

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Arbeitshetze 4.0

Das Rationalisierungsprojekt »Industrie 4.0« verschärft Überwachung und Verfügbarkeit der Beschäftigten

Von Marcus Schwarzbach

Die Brille macht’s: Abhängig Beschäftigte können mit ihr nicht nDie Brille macht’s: Abhängig Beschäftigte können mit ihr nicht nur lesen, was sie minutiös auszuführen haben. Zugleich wird ihre gesamte Arbeitszeit quantitativ und qualitativ kontrolliert
Foto: Fraunhofer IML

Das große (Zukunfts-)Forschungsprojekt von Bundesregierung und Großkonzernen heißt »Industrie 4.0«. Inzwischen ist davon auszugehen, dass die Verwirklichung der bislang vor­liegenden Ideen nicht zum propagierten Quantensprung führen wird, sondern sich das Gan­ze vielmehr in vielen kleinen Trippelschritten entfaltet. Die anfängliche Aufbruch­stim­mung unter den Konzernen hat sich in verhaltenen Optimismus verwandelt.

Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie »Industrie 4.0« flächendeckend aussehen wird. Bei aller Unklarheit über die konkreten Auswirkungen der digitalen Arbeit ist bereits jetzt klar: Die Arbeitsbedingungen werden sich gravierend verändern.
Bei cyber-physischen Sy­ste­men (CPS) steuern sich »intelligente« Maschinen, Betriebsmittel und Lagersysteme in der Pro­duk­tion eigenständig per Softwarealgorithmen. Das Thema ist nicht so fern, wie viele denken – denn das »Internet der Dinge« verspricht eine Vernetzung vieler Lebens­be­reiche per World Wide Web: etwa Kühlschränke, die eigenständig Lebensmittel »nach­kau­fen« und Waschmaschinen, die nur starten, wenn der Strompreis niedrig ist. Dieses Kon­zept soll die virtuelle mit der realen Welt vereinen. Dabei werden Objekte scheinbar schlau (smart) und können Informationen austauschen.
Die Basis dafür sind Chips und deren Programmierung, durch die Waren oder Geräte nicht nur eine eigene Identität in Form eines Codes erhalten, sondern auch Zustände erfassen und Aktionen ausführen können. Die Übertragung dieser Logik auf Werkhallen ist die Grundidee von »Industrie 4.0«.

Es ist oft von »Visionen« die Rede. Für die Arbeitswelt scheint jedoch ein Negativ­sze­nario realistisch: verstärkte Kontrolle, gesenkte Löhne und zunehmend Arbeit auf Abruf, also Flexibilität nach Auftragslage.

Arbeitspflicht »on demand«

Stärkere Schwankungen in der Produktion sollen durch das deutsche Vernetzungskon­zept besser bewältigt werden.
»Das heißt, es geht nicht mehr nur um die Flexibilität in den acht Stunden Arbeit, die wir so gewohnt sind, sondern darüber hinaus«, sagt Pro­fessor Dieter Spath,¹ langjähriger Leiter des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), der 2013 als Vorstandsvorsitzender zur Wittenstein AG wechselte.

Der Zeitdruck auf die Belegschaften soll nicht nur erhöht werden, es ist sogar geplant, die Arbeitskraft so flexibel zu etablieren, dass sie rund um die Uhr und den Kalender verfüg­bar sein soll. Im Ergebnis steht nach Implementierung von »Industrie 4.0« ein extrem fle­xibler Produktionsprozess auf der Basis neuester Informationstechnologien. Heutige star­re, oft nur bei hohen Stückzahlen rentable Fertigungsketten sollen in kleine, wie Bau­stei­ne kom­binier­bare Einheiten aufgeteilt werden, die alle über ein Netzwerk miteinander ver­bunden sind. In Sekundenbruchteilen tauschen sie softwaregestützt Daten über aktuelle Aufgaben, anste­hende Aufträge und vorhandene Kapazitäten aus.

Vorteile der Massenfertigung – geringe Stückkosten und hohe Auslastung der Kapazitä­ten – sollen so mit denen der Kleinserienfertigung kombiniert werden. Stefan Ferber, Vizechef der Abteilung Engineering im Bosch-Konzern, benennt klare Anforderungen aus Unter­neh­mens­sicht: »Was bringt es mir, wenn ich eine Fabrik habe, die mir bei 98 Pro­zent Aus­lastung den besten Profit bringt, und ich überhaupt nicht vorhersagen kann, was im näch­sten Monat ver­kauft werden wird.« Man müsse Fertigungsstätten bauen, die die Schwan­kungen bewältigen und zwar »in Echtzeit«. »Industrie 4.0 sollte man hier als Chan­ce se­hen.«²
Alle Befragungen von Unternehmen zu »Industrie 4.0« fordern Flexi­bilität der Beschäftigten – es geht also auch wieder um das Thema »Arbeitszeit«.

Die Forderungen nach flexiblem Einsatz der Arbeitskräfte klingen stark nach einem Mo­dell, das aus dem Einzelhandel bekannt ist: Kapovaz – die kapazitätsorientierte variable Ar­beits­zeit, oder »Arbeit auf Abruf«, wie es der Gesetzgeber nennt. Je nach Bedarf des Un­ter­nehmens legt der Betrieb fest, wann und mit welcher Stundenzahl der Beschäftigte zu arbei­ten hat. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz schreibt hierfür nur schwache Min­dest­regelun­gen vor.
Der Beschäftigungsvertrag muss eine bestimmte Dauer der wö­chent­lichen und täglichen Arbeitszeit festlegen. Sofern der Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit im Ver­trag nicht festgelegt ist, gelten zehn Stunden als vereinbart. Wenn die Dauer der täg­li­chen Ar­beits­zeit nicht festgelegt ist, hat das Unternehmen die Leistung des Beschäf­tigten jeweils für mindestens drei aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen.
Der Un­ter­nehmer ist also allein vom Gesetz her in der stärkeren Position. Das Modell schei­nen viele Unter­nehmer im Hinterkopf zu haben, wenn von »Arbeiten on demand« die Rede ist.

Maschine steuert Mensch?

Mit Einführung und Umsetzung digitaler Steuerung werden Arbeitsplätze verändert. Die Aus­wirkungen können unterschiedlich sein. Jörg Hofmann, zweiter Vorsitzender der IG Metall, betont die Chancen von »Industrie 4.0«: »Die technischen Möglichkeiten, dezentrale Steue­rungsprinzipien etwa, haben etwas potentiell Emanzipatorisches. Ob beim alters­gerechten Arbeiten, in der qualifizierten Gruppenarbeit in neuen – für den Beschäftigten positiven – Spielarten in der Mensch-Maschine-Kommunikation.«³

Nicht jeder sieht das so positiv: Technik kann Arbeitern zur Vorbereitung, Ausführung und Entscheidungsunterstützung dienen – sie kann aber auch vorgegebene Arbeitsweisen auf­zwingen und erfordert ein hohes Maß an Anpassung. Die Arbeits- und Techniksoziologin Constanze Kurz sieht durch die technologischen Veränderungen eine Aufwertung der Ar­beit, also eine höhere Bedeutung der Beschäftigten im Betrieb. Aber es »kann ein gänz­lich anderer Entwicklungspfad von Industriearbeit nicht ausgeschlossen werden: Die Arbeit wird weiter standardisiert, digital quantifiziert, zu Parametern innerhalb von Algorithmen (um-)­strukturiert und am Ende zum geistlosen Niedriglohnjob«.
Die Menschen wären »Rädchen in einer unmenschlichen Cyberfabrik, ohne nennenswerte Handlungskompetenzen, ent­fremdet von der eigenen Tätigkeit durch eine fortschreitende Dematerialisierung und Vir­tualisierung von Geschäfts- und Arbeitsvorgängen«, erläutert die IG-Metall-Expertin.⁴

Ein aktuelles Forschungsprojekt am Fraunhofer-Institut zeigt, wie die Kooperation zwischen Mensch und Maschine verändert wird. Die Forscher entwickelten eine Sensorhaut, die sich flexibel an die unterschiedlichsten Geometrien anpassen kann.
Einerseits könne das Mess­system »Berührungen schnell und zuverlässig erkennen und damit die Sicherheit der Inter­aktion zwischen Mensch und Roboter erhöhen. Es signalisiert dem Roboter, dass sich der Arbeiter in unmittelbarer Nähe befindet. Der Roboter kann seine Tätigkeit stoppen oder ent­sprechende Ausweichbewegungen durchführen.
Anderseits kann das gleiche System auch als Eingabegerät, eine Art Touchpad am Roboterarm, zur Programmierung benutzt wer­den«, weiß Steffen Wischmann vom Berliner Institut für Innovation und Technik.⁵ All das hat Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen.

Im »Team« mit dem Roboter

Das Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel fördert mit mehr als 12
Das Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel fördert mit mehr als 120 Millionen Euro Vorhaben großer Unternehmen zur Entwicklung »intelligenter« Produktionsmaschinen (Hannover Messe, 13.4.2015) Foto: Ole Spata/dpa

Mit Einführung der Technik ist die wesentliche Frage zu klären, ob die letztendliche Ent­schei­dungsgewalt beim Menschen bleibt. Auch dies sollte Inhalt der Vereinbarung sein, ebenso wie Umstände der Qualifizierung von Beschäftigten und deren Vorbereitung auf die Neuerungen.

Es können Einzelarbeitsplätze entstehen, bei denen die Technik den Menschen steuert, und zur Isolation des Beschäftigten und zu Monotonie führen. Dabei kann der Wechsel von Arbeitstätigkeiten entfallen.
Das Gegenteil ist aber auch möglich: Es entstehen neue For­men der Teamarbeit, da Arbeiter um Roboter oder »smarte Ma­schinen« gruppiert werden. Dabei ergibt sich Regelungsbedarf für den Betriebsrat. »Die Kontaktaufnahme zwischen Menschen und Maschinen wird immer enger (vom Knopfdruck zur Gesten-, Sprachen- oder sogar Atemsteuerung) und die Art der Interaktion intelligenter – bei gleichzeitig zuneh­men­der Ver­netzung von Sensoren, RFID-Funkchips, Aktuatoren und mobilen Rechnern«, er­läutert die Expertin Kurz in ihrem bereits zitierten Beitrag.
Interessant ist die Reaktion des Personal­chefs des Maschinenbauers Trumpf, Stefan Gryg­lewski, auf eine Äußerung von IG-Metall-Funktionär Jörg Hofmann in einem Streitge­spräch: »Meine stille Hoffnung ist, dass wir aus der Logik der Routine und der geringen Taktzeiten ausbrechen und mehr Gestaltungsspiel­räume für Arbeitsanreicherungen und damit verbunden die Nutzung von Produktionsintelli­genz eröffnen.« Gryglewski stellt daraufhin fest: »Solange gilt, dass Standardisierung zu Effizienzvorteilen führt, wird das Hoffnung bleiben.«⁶

Lohnkürzungen

In der Praxis kann dies zur Abqualifizierung erhaltener Arbeitsstellen führen. »Auch mit In­du­strie 4.0 wird es nicht zu einer durchgängigen Automatisierung kommen. Die Unter­neh­men sind vorsichtig wegen der dafür notwendigen Investitionen und der Einschränkung der Flexibilität«, betont Trumpf-Manager Gryglewski in den VDI Nachrichten. »Es wird also wie­ter Mitarbeiter in Automatisierungslücken geben.«
Diese Arbeiten zählen in der Regel zu den einfachsten und monotonsten Tätigkeiten – und werden auch entsprechend entlohnt.

Das Beispiel der Firma DMG Mori Seiki in Bielefeld zeigt, wie Technik Arbeit erleichtern kann. Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine erfolgt »menügeführt«, wie Christian Thönes, Vorstand bei DMG erläutert. So könne jeder »innerhalb von vier, fünf Stunden eine Werkzeugmaschine bedienen. Auch Untrainierte können schnell an komplexe Auf­ga­ben her­angeführt werden.«⁷
Daraus ergibt sich die Frage nach der korrekten Eingrup­pie­rung. Eine niedrigere Entlohnung auf Grund von kurzen Anlernzeiten wird sicher bald For­derung der Unternehmen sein. Die betrieblichen Diskussionen bei Einführung des Entgelt­rahmen­abkommens ERA haben darauf einen Vorgeschmack gegeben.

Überwachung durch Technik

Wenn die Produktion der »Industrie 4.0« als großes Netzwerk organisiert wird, zielt das klar auch auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht es dem Unterneh­men, eine dauernde Überwachung der Arbeitsleistung und des Verhaltens der Beschäftig­ten vorzunehmen. Bei mobiler Assistenz kann der Mensch mit der Produktions­steuerung inter­agieren – und ist per iPad jederzeit verfügbar. Ein solches System soll die Arbeiter bei Ent­scheidungen unterstützen, wird in einer Studie des Frauenhofer-Instituts verklausuliert pro­gnostiziert : »Damit der Mensch mit der Produktionssteuerung oder der Maschine inter­agieren kann, muss die mobile Assistenz zunehmen. Bei einer Fehlermeldung einer Ma­schi­ne kann sich das ›iProductionPad‹ vor Ort vernetzen und den Fehlerspeicher auslesen und in­terpretieren. Das ›iProductionPad‹ kann Temperaturen oder Frequenzen der Ma­schine messen, Anweisungen geben und deren Zustand sehr schnell analysieren und diagnostizieren.«⁸
Möglich wird so die totale Überwachung des Arbeiters, der jederzeit zu orten ist und dessen Verhalten dokumentiert wird.

»Call-Centrifizierung« der Arbeitswelt

In vielen Betrieben sind technisch-organisatorische Veränderungen durch digitale Arbeit im Gange, die seit langem aus Callcentern bekannt sind. Die Technik ermöglicht es, die Be­schäftigten ständig zu überwachen, zu bewerten und zu steuern. Die gleichen Erfahrungen machen Kollegen in anderen Unternehmen: in Verkaufs- und Serviceabteilungen, im sta­tio­nären Einzelhandel, in Versicherungen oder etwa Banken.
Von einer »Call Centrifi­zierung« spricht deshalb Klaus Heß von der Technologie-Beratungs­stelle des DGB in Nordrhein-Westfalen im Periodikum Computer und Arbeit, Heft 9/2014. Eine solche qualitativ neue Kontrolle bedeutet:

Automatisierte Arbeitsverteilung: In Bereichen mit Kundenkontakt haben die Beschäftig­ten keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung, welche Arbeitsvorgänge sie übernehmen. Statt dessen wird die eingehende Arbeit automatisiert durch Workflowsysteme in per­sönliche Arbeitskörbe verteilt und gesteuert.

Kontrolle durch Monitoring: Über das Monitoring werden Beschäftigte sowie Kunden aus­ge­späht, jeder Kundenkontakt wird dokumentiert, durch das Kundenbeziehungsmana­ge­ment nachverfolgt und ausgewertet, also transparent gemacht. Die Aufgaben von Füh­rungs­kräften werden auf das Führen durch Kennzahlen verengt, sie sollen die Beschäf­tigten unter Druck setzen und so auf die Ergebnisse einschwören.

Druck durch Personalreduzierung: Geschäftsprozessoptimierung wird mit Nachdruck voran­getrieben und führt verstärkt zur Einrichtung von standardisierten kundenserviceorientierten Strukturen und Prozessen. Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbei­tungs­dauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten, Antwortzeiten, Prozessdurchlaufzeiten oder Service­level. Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und durch Zeitvorgaben kontrolliert.

Flexibilisierung des Arbeitskräfte-Managements: Das Ziel hierbei ist es, »Luft in den Pro­zessen« zu finden. Es sollen die Aufgaben mit weniger Personal erledigt werden können. Mit Hilfe statistischer Erhebungen und Vorhersagen des Arbeitsanfalls und Kunden­ver­hal­tens sollen stundentaktgenaue Vorgaben des Arbeitsvolumens ermittelt werden, um Per­sonal­kapazitäten, Dienstpläne und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen zu steuern.

Zwar wird der Begriff »Callcenter« vermieden, es ist von Kunden- oder Servicecentern die Rede. Es handelt sich aber nichtsdestotrotz um das Callcenter-Prinzip, wenn es um die Ein­führung solcher organisatorischer und technischer Arbeitssysteme geht und Umstruktu­rie­rungen anstehen. Die digitale Arbeit kann nämlich eine weitere Spaltung der Gesellschaft bedeuten, indem

– eine reduzierte Stammbelegschaft aus hochqualifizierten Experten besteht, also IT-Spe­zi­alisten oder qualifizierten Facharbeitern, die ordentlich nach Tarifvertrag bezahlt werden;

– eine Randbelegschaft etabliert wird, die unsichere Arbeitsverhältnisse in Leiharbeit oder durch Befristung hat – und auf Abruf zur Verfügung stehen muss, wenn von Unter­nehmens­seite Bedarf besteht;

– und indem Menschen, die durch diese Raster fallen, wegen verstärkten Technikeinsatzes ihre Arbeit verlieren oder keinen Ausbildungsplatz erhalten und so zu »Überflüssigen« wer­den, die als Erwerbslose von sozialen Sicherungsmechanismen abhängig sind und durch Hartz-IV-Regelungen unter Druck gesetzt werden.

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir bei der Digitalisierung der Arbeitswelt allenfalls er­ahnen, wohin die Reise geht. Dementsprechend ist es schwer, belastbare politische Hand­lungsoptionen zu entwickeln«, vermeidet Thorben Albrecht, Staatssekretär im Bun­desmini­sterium für Arbeit und Soziales, klare politische Aussagen.⁹
»Industrie 4.0« ist keine Scien­ce-Fiction aus dem Labor. Sie hält längst Einzug in der Wirtschaft. Bosch, Siemens, Festo, Daimler, Volkswagen, und viele andere Unternehmen haben sich mit der Wissen­schaft in gemeinsamen Projekten zusammengeschlossen.
Die Bundesregierung fördert die Vorhaben bislang mit mehr als 120 Millionen Euro und hat weiteres Geld in Aussicht ge­stellt. Auch wenn unklar ist, wie viele Betriebe von diesen Ver­änderungen betroffen sind, zeigen Bei­spiele, wie weit die Entwicklung teilweise schon ist. Das Siemens-Elektronikwerk in Amberg ist komplett digitalisiert, beim Audi-Werk in Ingol­stadt sind intelligente Roboter in Arbeitsabläufe der Teams integriert.

Unternehmensvertreter betonen immer wieder, es werde keine menschenleeren Fabriken oder Büros geben. »Auch von Arbeitgebervertretern ist mitunter zu hören, dass man schließ­lich heute nicht mehr so laut sagen kann, dass es am Ende des Tages um Kosten­ersparnis im Sinne von Stellenabbau geht – und um Planungssicherheit (also Kontrolle)«, so Peter Brandt, gewerkschaftsnaher Berater in Arbeitsorganisationsfragen.¹⁰
Deshalb sind Be­schäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften gefordert:

Ohne klare Gegenwehr, ver­bind­liche Regelungen über Tarifverträge wird die »neue« Arbeitswelt eine der extrem verschärften Kontrolle.

Anmerkungen

1 Frauenhofer-IAO: Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0, S. 71 (www.produktionsarbeit.de)

2 Ebd., S. 69

3 Alfons Botthof/Ernst A. Hartmann (Hg.): Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Springer Verlag, S. 35

www.gegenblende.de, Constanze Kurz: Industrie 4.0 verändert die Arbeitswelt

5 Botthof/Hartmann (Hg.): a. a. O., Anm. 3, S. 158

VDI-Nachrichten vom 4.4.2014: Was passiert mit der Fabrikarbeit?, im Internet: www.vdi-nachrichten.com/Technik-Gesellschaft/Was-passiert-Fabrikarbeit

7 »Wo bleibt der Mensch?«, www.igmetall.de/industrie-4-0-die-rolle-der-beschaeftigten-in-der-intelligenten-13994.htm

8 Siehe Frauenhofer-IAO: a. a. O., Anm. 1, S. 155

9 In: Gute Arbeit im digitalen Zeitalter, bei www.gegenblende.de

10 Peter Brandt: Zukunft der Arbeit in der Industrie 4.0, in: Computer und Arbeit, Januar 2015, S. 14

Marcus Schwarzbach ist Berater in Mitbestimmungsfragen. Er referiert in Seminaren von Personal- und Betriebsräten sowie von Jugend- und Auszubildendenvertretungen.

Aus: Ausgabe vom 23.10.2015, Seite 5 / Inland

Studie: Industrie 4.0 vernichtet 60.000 Jobs

Nürnberg. Die Digitalisierung in deutschen Fabrikhallen, die sogenannte Industrie 4.0, könnte nach Prognosen von Arbeitsmarktforschern bis zu 60.000 Jobs kosten. Zwar dürften mit dem digitalen Wandel in der Produktion in den kommenden Jahren in der BRD rund 430.000 neue Arbeitsplätze entstehen. In derselben Zeit gingen aber voraussichtlich 490.000 meist einfachere Tätigkeiten verloren, wie aus einer am Donnerstag veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht. (dpa/jW)

http://www.boeckler.de/61390_61398.htm

WAS DIE INDUSTRIE 4.0 DEN BESCHÄFTIGTEN BRINGT

Neue Technologien werden die industrielle Produktion grundlegend verändern. Welche Rolle spielen dabei die Arbeitnehmer? Wo liegen Chancen und Risiken?

Wenn es um die Zukunft der Industrie in Deutschland geht, dann ist ein Schlagwort allgegenwärtig: „Industrie 4.0“. Was sich genau dahinter verbirgt, bleibt jedoch häufig unklar. Meistens ist die Rede von einer zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung der Produktion, von der „smarten Fabrik“ oder der Vernetzung von Mensch und Maschine. Manche sprechen gar von der „vierten industriellen Revolution“ oder einem „zweiten Maschinenzeitalter“.

Peter Ittermann, Jonathan Niehaus und Hartmut Hirsch-Kreinsen von der Technischen Universität Dortmund haben sich zum Ziel gesetzt, den Wandel hin zur „Industrie 4.0“ genauer zu untersuchen. In ihrer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Expertise geben sie einen Überblick über den Stand der Debatte. Und sie analysieren, ob die neuen Technologien eher Chance oder Risiko bedeuten – und zwar nicht allein aus einer technologiezentrierten oder betriebswirtschaftlichen Perspektive, sondern mit Blick auf die Beschäftigten.

Es existiere eine „nahezu unüberschaubare Flut von Publikationen, Projekten und Veranstaltungen“ zum Thema. Daraus ergebe sich allerdings „ein sehr uneinheitliches Bild“, konstatieren die Autoren. Die Bandbreite reiche von „idealisierenden Zukunftsvisionen“ bis hin zu „pessimistischen Trendaussagen“. Einig seien sich die Experten darin, dass die neuen Technologien erhebliche Veränderungen nach sich ziehen werden. Eine Einschätzung, die die Dortmunder Wissenschaftler teilen: „Es ist davon auszugehen, dass Industrie-4.0-Systeme im Fall ihrer breiten Durchsetzung die bisherigen industriellen Arbeitswelten nachhaltig verändern werden.“

Die Forscher nennen erste Beispiele aus der Praxis: So wird etwa bei der Würth-Gruppe die Materialversorgung von Arbeitsplätzen mithilfe von Werkzeugkästen gesteuert, die selbstständig Schrauben nachbestellen. Im BMW-Werk in Landshut kommt bei der Qualitätsprüfung von Stoßfängern ein System zum Einsatz, das bestimmte Gesten der Arbeiter deuten kann: Erachtet ein Mitarbeiter ein Teil für gut, wird es nach einer Wischgeste von Robotern weitertransportiert. Beim Maschinenbauer Trumpf steuern Mitarbeiter die Fertigung, ohne direkt danebenstehen zu müssen. Auf Tablets sehen sie Videobilder vom Zustand der Maschinen.

Auch wenn sich die Anwendung der neuen Technologien bislang noch auf wenige Projekte oder Modellfabriken beschränkt, dürfte ihre Verbreitung rasch zunehmen – mit Auswirkungen auf zahlreiche Berufsbilder. Aus Arbeitnehmersicht stellen sich dabei zentrale Fragen: Wie viele und welche Arbeitsplätze könnten durch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung der industriellen Produktion wegfallen? Und welche könnten neu entstehen? Welche Qualifikationen könnten künftig gefordert sein? Und wie kann sichergestellt werden, dass die Rechte der Beschäftigten gewahrt bleiben? Zwar sind zum jetzigen Zeitpunkt noch keine eindeutigen Antworten zu erwarten, die Wissenschaftler haben aber aus der Fülle der Publikationen wesentliche Trends herausgearbeitet:

Arbeitsplätze

Eine Reihe von Studien, insbesondere aus dem angelsächsischen Raum, geht davon aus, dass menschliche Arbeit künftig durch Digitalisierung in weiten Teilen ersetzt werden könnte. Davon betroffen seien nicht nur einfache Tätigkeiten und Dienstleistungen, sondern auch viele qualifizierte Arbeiten wie etwa die von Zahntechnikern, Lehrern oder Immobilienmaklern. Auch die Industrie werde angesichts neuer Fertigungstechnologien wie beispielsweise 3D-Druck von diesem Prozess erfasst.Dem stehen andere Prognosen gegenüber, die von einer Stabilisierung oder sogar einem „Revival“ von Industriebeschäftigung sprechen – gerade für die deutsche Industrie gibt es offenbar einige optimistische Einschätzungen. So geht eine Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group von einem Beschäftigungszuwachs von sechs Prozent über die nächsten zehn Jahre in Deutschland aus. Dieser basiere vor allem auf dem steigenden Bedarf an hochqualifizierten Arbeitern unter anderem in Maschinenbau und Autoindustrie.

Einig sind sich die meisten Beobachter, dass die Jobs von Geringqualifizierten eher bedroht sein werden. Aber selbst das ist keine gesicherte Erkenntnis: Die Forscher zitieren eine Einschätzung, wonach der Einsatz von Datenbrillen oder Tablets in der industriellen Produktion beim Erlernen von Tätigkeiten helfen könnte, so dass auch „weniger gut ausgebildete Menschen qualifizierte Arbeit verrichten“ können.

Qualifikation

Die Verbreitung neuer Technologien dürfte die Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten verändern. In der Forschung ist jedoch umstritten, auf welche Weise dies geschehen wird. Verbreitet ist die Einschätzung, dass es zu einem „Upgrading von Qualifikationen“ kommen wird. Sowohl die IT-Kompetenz als auch die Fähigkeit, eigenverantwortlich und in vernetzten Prozessen zu denken, werde an Bedeutung gewinnen – nicht nur für wenige Spezialisten, sondern in allen Bereichen der Produktion. Nach einer Umfrage des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation gehen rund 80 Prozent der Unternehmen davon aus, dass die Produktionsmitarbeiter für die Anforderungen der Zukunft weiterqualifiziert werden müssen. Besonders profitieren könnten demnach die Facharbeiter, die die Kontrolle über Produktionsabläufe erhalten, unterstützt durch intelligente Systeme. Damit verbunden wäre eine Aufwertung von Industriearbeit insgesamt.

Ein anderer Ansatz geht von einer stärkeren „Polarisierung von Qualifikationen“ aus. Das heißt: Auf der einen Seite könnten anspruchsvolle, hochqualifizierte Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen, auf der anderen Seite nur einfache Arbeiten übrig bleiben. In diesem Szenario wäre eine handverlesene Expertengruppe für die Installation und Wartung der Systeme verantwortlich, während die Mehrheit der Angestellten lediglich ausführende Arbeiten übernähme. Damit verbunden wäre ein Prozess der Dequalifizierung für zahlreiche Beschäftigte. In dem Maße, in dem Maschinen an Autonomie gewinnen, könnten Facharbeiter ihre Handlungskompetenz verlieren. Konkret könnte es sich dabei um Arbeiten der Montage und Überwachung, aber auch um Verwaltungs- und Servicetätigkeiten auf mittlerem Qualifikationsniveau handeln. Welcher Weg der wahrscheinlichere ist – „Upgrading“ oder „Polarisierung“ –, lässt sich bislang nicht absehen. Denkbar wäre auch ein „Hybridszenario“, das zwischen beiden angesiedelt ist.

Arbeitsbedingungen

Eine der wichtigsten Fragen wird lauten, unter welchen Bedingungen die Beschäftigten in der „Industrie 4.0“ arbeiten werden. Zum Beispiel könnte die Entkopplung von Arbeitszeit und Arbeitsort auch in der Industrie zur Regel werden. Weit mehr als bisher könnten sich flexible Formen der Projektarbeit durchsetzen.

Die möglichen Konsequenzen für die Beschäftigten werden in der wissenschaftlichen Literatur widersprüchlich eingeschätzt: Einerseits finden sich Argumente, die für eine Steigerung der Qualität der Arbeit und der Lebensqualität der Beschäftigten sprechen. Hervorgehoben wird etwa, dass flexible Arbeitszeiten eine bessere „Work-Life-Balance“ ermöglichen. Andererseits werden die Risiken diskutiert: beispielsweise fehlende Regulierung, neu entstehende prekäre Arbeitsformen, datenschutzrechtliche Probleme bei personenbezogenen Leistungsdaten sowie Arbeits– und Leistungsverdichtung.
Die Untersuchung der Dortmunder Wissenschaftler zeigt, dass noch längst nicht ausgemacht ist, wie die Arbeit der Zukunft aussehen wird.

Das heißt: Der Wandel ist keineswegs vorgegeben, sondern gestaltbar.

Von entscheidender Bedeutung sei die „Partizipation und Mitbestimmung der Beschäftigten“, so Ittermann, Niehaus und Hirsch-Kreinsen.

Die Studie kann hier komplett herunter geladen werden:

http://www.wiso.tu-dortmund.de/wiso/de/forschung/gebiete/fp-hirschkreinsen/aktuelles/meldungsmedien/20150721-Ittermann-et-al-2015-Arbeiten-in-der-Industrie-4-0-HBS.pdf

Erinnerungen an die Zukunft: Kommentar einer Arbeitsamtsmitarbeiterin 2005

Dieser in der taz am 29.08.2005 erschienene Beitrag ist von einer erschütternden Zukunftsweitsicht.
http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2005/08/29/a0180
Er ist es wert nachgelesen zu werden. Im Pronzip braucht er nur eine einzige Ergänzung, um aktuell zu sein.
Auszüge:

Produktion von Parias

 Bericht aus den Eingeweiden der Arbeitsagentur

VON GABRIELE GOETTLE

„Was für ein glücklicher Tag für alle Arbeitslosen.“ Peter Hartz

Die Vorläufer der Arbeitsämter wurden im Aufwind der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung bereits Ende des 19. Jahrhunderts von der ersten Frauenbewegung gegründet.
Ziel war die Berufsförderung von Frauen und Hilfe für die Arbeitslosen. Staatliche Arbeitslosenpolitik realisierte sich erst 30 Jahre später:

1927 wurde die Reichsanstalt f. Arbeitsvermittlung u. Arbeitslosenversicherung gegründet, um das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusichern.

1933 Gleichschaltung d. Reichsanstalt, Abschaffung d. freien Berufswahl zu Gunsten d. „Lenkung der Arbeitskräfte“, (Einführung v. Arbeitsdienst usw.)

1938 Einführung d. Arbeitspflicht. Nach Kriegsbeginn waren die Arbeitsämter auch i. d. überfallenen und besetzten Ländern für Rekrutierung, Organisation u. Verteilung der Zwangsarbeiter für die Kriegswirtschaft im Reich zuständig.

1952 Neugründung der Bundesanstalt f. Arbeitsvermittlung u. Arbeitslosenversicherung.

1969 Mit d. Verabschiedung d. Arbeitsförderungsgesetzes (mehr Dienstleistungsbehörde) Umbenennung i. Bundesanstalt für Arbeit (mit neuem roten Logo A)

2004 Im Rahmen der Umsetzung d. „3. Gesetzes f. moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV) Umbenennung u. Umorganisierung d. Anstalt in eine Bundesagentur für Arbeit. Kürzung d. Leistungsdauer aus d. Sozialversicherung, Zusammenlegung v. Arbeitslosengeld u. Arbeitslosenhilfe zum Alg II (einer knapp bemessenen Fürsorgeleistung auf Sozialhilfeniveau) für alle Langzeitarbeitslosen; Abschaffung d. freien Berufswahl; Zumutbarkeit jeder Arbeit bis an die Grenze zur Sittenwidrigkeit; 1-Euro-Arbeitspflicht; Anwendung repressiver Mittel mit Zwangscharakter. Härtester Sozialeinschnitt i. d. Nachkriegsgeschichte.

Von den 15 (bis auf eine Frau) männlichen Mitgliedern der Hartz-Kommission, die dieses Gesetzeswerk erarbeitet haben, waren mehr als die Hälfte Wirtschaftsmanager.
McKinsey war auch dabei.

Frau K. ist Beamtin, Anf. 60, und arbeitet in einer Arbeitsagentur in einem der alten Bundesländer. Sie möchte aus nahe liegenden Gründen hier anonym bleiben.

„Sie haben angedeutet, dass Sie zahllose schlechte Erfahrungen seit der Einführung von Hartz IV gemacht haben?“
Frau K. sagt heftig: „Nein, ich mache nicht zahllose, ich mache vor allem eine grundsätzliche, hässliche Erfahrung, und das ist die der Würdelosigkeit. Die ist quasi schon per Gesetz so angelegt und zusätzlich wird sie dann noch durch schlecht qualifizierte Kollegen verschärft.
Dem Arbeitslosen ist seine Würde aberkannt worden … das schlägt natürlich auch auf uns zurück, ich habe eine richtige Wut im Bauch! Und da stehe ich nicht alleine.
Aber es sind hauptsächlich die Älteren, die, so wie ich, vor der Pensionierung stehen, die noch die alte BA- Haltung vertreten, also die Haltung aus den 70er-Jahren, wo sich die BA wirklich noch gekümmert hat um die Arbeitslosen. Und auch in den Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit hatten die Vermittler diese – ich will mal sagen – solidarische Einstellung.
Aber seit eine Reform nach der anderen durch die Behörde jagt, seit es immer mehr um die Verschönerung der Statistik geht, um betrügerische Manipulationen, siehe Jagoda usf., weht bei uns ein ganz anderer Wind. Heute ist es so, dass wir ganz unmittelbar zu Mittätern beim Sozialraub gemacht werden.
Das Ganze wird als größte Arbeitsmarktreform Deutschlands angepriesen, von zwei Millionen neuer Arbeitsplätze war die Rede, ,fördern und fordern‘ lautet die Devise.
Wo gefördert wird in diesem Land, haben wir gesehen, als gleichzeitig mit Hartz IV die 3. Senkung des Spitzensteuersatzes beschlossen wurde. Unten jedenfalls wird ,gefordert‘.

Das Ganze ist zugleich auch eine Vereinigung von zwei Behörden, sozusagen, denn durch den Kompromiss sind die Kommunen mit ins Boot genommen worden.
Das hat natürlich zu enormen zusätzlichen Kosten und Chaos geführt. Mitarbeiter aus den Sozialämtern und viele Mitarbeiter aus der Arbeitsagentur wurden für Hartz IV in die neu geschaffenen ARGEs (Arbeitsgemeinschaften zur Grundsicherung für Arbeitssuchende, oder Arbeitsgemeinschaft SGB II) umgesetzt, dazu kamen noch mal 3.000 Hilfskräfte aus den kurz vor der Pleite stehenden ehemaligen Betrieben, Telekom, Deutsche Bahn, Deutsche Bundespost, da gibt’s ja einen riesigen Beamtenpool, für den man bisher keine Verwendung hatte, nach der Privatisierung. Und so kam es, dass ein beamteter Starkstromtechniker aus Wuppertal plötzlich in Berlin als Sachbearbeiter auftauchte, nach einer Kurzschulung.
In den ARGEs besteht das Riesenproblem vor allem darin, zwei Arbeitskulturen aus zwei unterschiedlichen Behörden zusammenzuführen. Das hat es ja noch nie gegeben in der Geschichte der Bundesrepublik, dass kommunale und Bundesbehörden zusammengeführt werden.
Und wie es bei Beamten ist, einer kämpft gegen den anderen, die eine Arbeitskultur kämpft gegen die andere, angefangen mit der Frage, wie man eine Akte führt, und wer das Sagen hat. In den Händen der BA war das Ganze ja eine glasklare, professionelle Angelegenheit. Damit ist es vorbei.

Die Zeit vom Juni bis Dezember 2004 war der reinste Horror, die Bearbeitung der ersten Anträge auf Alg II, also auf das Arbeitslosengeld II. Es musste in großer Geschwindigkeit gearbeitet werden, Anträge durchsehen, sind alle Unterlagen vorhanden – das ist ja ein 16-seitiger Antrag, zu dem vielfältige Unterlagen beizubringen sind.
Und die Auflage aus Berlin: Am 3. Januar müssen überall die Gelder auf den Konten sein, damit kein politisches Desaster entsteht! Unter diesem Zeitdruck ist unheimlich schlampig gearbeitet worden, es gab 15 Prozent und mehr Ablehnungen. Innerhalb der BA gab es eine heftige Leistungskontrolle, täglich wurde Statistik geführt über die Antragsbearbeitung.
Es wurden Sonderschichten eingeführt, auch Wochenendarbeit, und es gab diese irrsinnigen Probleme mit der Software, die ja bis heute nicht läuft. Also, dass der Laden nicht vollkommen zusammenbrach, ist nur den Mitarbeitern zu verdanken. Und ein kleiner Teil ist hoch motiviert, der denkt trotz aller Überlastung an die Leute draußen.
Ein Hardliner in der Behörde, der kann diesen Übergangszustand nutzen für Härte und Strenge und zum Vorführen der Kunden – wir nennen die Arbeitslosen nämlich Kunden.
Die wohlmeinenden unter den Kollegen können, in aller Stille, die gesetzlichen Vorschriften im Sinne des Kunden auslegen. Die Machtbefugnis ist erschreckend groß.
Also der Punkt ist, und das muss man einfach sagen, der Charakter eines Mitarbeiters entscheidet unter Umständen über Leben und Tod, er kann einen Suizid auslösen.
Er kann jemanden depressiv machen oder einen potenziellen Gewalttäter durch Demütigungen zu einer tickenden Zeitbombe machen. Er hat die Macht, Schicksale zu erzeugen.
Und der andere Punkt ist der Druck, unter dem diese ganze Angelegenheit steht, auch unter dem Druck, die Wahrheit zu verheimlichen. So entsteht ein scharfer Korporationsgeist, wie bei der Polizei, Kritik wird nicht geduldet. Das ist unerträglich! Der politische Druck wird, ausgehend von Berlin, auf die Spitze der Behörde ausgeübt und von da weitergegeben, bis ganz nach unten, bis zum Kunden letztendlich. Und der schweigt und ist erschüttert.

Jeder, der mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten kann, gilt als ,erwerbsfähig‘, das ist sozusagen ein Hauptbestandteil von Hartz IV. Und dadurch, dass es für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger keine Sozialhilfe mehr gibt, sondern Alg II, wurden plötzlich ca. 90 Prozent der Sozialhilfeempfänger, auf einen Schlag sozusagen, zu erwerbsfähigen Arbeitslosen.
Man war stolz auf den Rückgang der Zahl an Sozialhilfeempfängern um 90 Prozent.
Dass durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe natürlich die Arbeitslosenstatistik enorm steigen wird, hat man offenbar nicht erwartet. Da gab’s Geschrei.
Man wollte einfach nicht sehen, die Leute waren ja schon vorher arbeitslos! Es hat aber keinen interessiert, sie waren ja unsichtbar, zu Lasten der Kommunen.
Dazu kommt die Masse der Leute, also der Arbeitslosen, die bisher Arbeitslosenhilfe bezogen haben -Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wurden ja nach SGB III abgehandelt – also die bekommen jetzt auch Alg II. Nur für die Anspruchsberechtigten gibt es weiterhin Arbeitslosengeld I nach SGB III, aber die Anspruchsdauer hat sich stark verringert – auch hier hat man eine dicke Salamischeibe abgeschnitten im Rahmen der Umverteilung von unten nach oben.
Ausgenommen sind für eine Übergangszeit die über 58-Jährigen, sofern sie nach Paragraf 428/SGB III unterschrieben haben, das heißt, sie konnten Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe zu „erleichterten Bedingungen“ beziehen, also Urlaubsanspruch, keine Meldepflicht, keine Eigenbemühungen usw., und dafür müssen sie a) zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Rente gehen und b) als ,Arbeitssuchende‘ weiterhin den Vermittlungsservice der Agentur in Anspruch nehmen, das ist nur so pro forma.
Worum es eigentlich geht, die sind dadurch außen vor, die zählen nicht mehr als Arbeitslose, sondern nur noch als Arbeitssuchende. Das ist der statistische Trick, die fliegen aus der Statistik raus! Dann kommen noch dazu all diejenigen, die in einer Trainingsmaßnahme sind, Leute in Fortbildung und Umschulung.
Die dritte Gruppe, die aus der Statistik verschwindet, ist die mit den 1-Euro-Jobs, der ,Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung‘ Paragraf 16 Abs. B SGB II, wie die Euro-Jobs im Amtsdeutsch heißen – oder auch nur Arbeitsgelegenheiten, Aktiv-Jobs, Zusatz-Jobs, es gibt bundesweit keine Sprachregelung. 200.000 Arbeitslose wurden bereits in 1-Euro-Jobs vermittelt, 600.000 sollen es werden, bundesweit.

Bevor ich näher auf die 1-Euro-Jobs eingehe, möchte ich kurz noch was zum Alg II sagen, nur so zum Grundverständnis. Also die Regelleistung beträgt 345 Euro in den alten Bundesländern einschließlich Berlin Ost, und 331 Euro in den neuen Bundesländern, für einen Singlehaushalt. Diese Kosten trägt der Bund. Die Kosten für die Unterkunft, die maximal 50 Quadratmeter, bei selbst genutzten Eigentumswohnungen 120 Quadratmeter, haben darf für eine Einzelperson, werden von den Kommunen getragen – bis auf die Ausnahmen der Optionskommunen, die noch beides machen. Die Kosten der Unterkunft setzen sich aus Miete und Heizkosten zusammen, plus der üblichen Betriebskosten. Die Kaltmiete soll den Betrag von 245 Euro nicht überschreiten. Die Kosten für Haushaltsstrom und Warmwasserzubereitung sind übrigens in der Regelleistung von 345 Euro bereits enthalten, was ja eigentlich eine Wohnung mit Bad überflüssig macht. Ist ein Bad angemessen? Das müssen Sie selbst entscheiden.
Angemessen ist eines der meistgebrauchten Wörter. Angemessen im Vergleich wozu? Das Wort ist aus der Sozialhilfe mitübernommen worden.
Angemessen ist für jeden Langzeitarbeitslosen künftig der Haushalt eines Sozialhilfeempfängers, weil er dem Alg II zugrunde gelegt wurde. Im Moment gibt es noch zahlreiche Erleichterungen, Zusatzleistungen, Übergangsregelungen, aber ab 2006 ist das vorbei, dann wird es ernst.
Man hat zwar beteuert, man wolle Härten vermeiden, aber gerade die Härten sind ja das Grundprinzip der ,Arbeitsmarktreform‘, die Privatisierung der sozialen Risiken ist auf dem Weg!
Und Alg II ist ja keine Versicherungsleistung, sondern eine steuerfinanzierte … Fürsorgeleistung will ich es mal nennen, ein Almosen eigentlich.
Und Fürsorgezöglinge bzw. Almosenempfänger dürfen sich nicht wundern, wenn sie hart rangenommen werden. Eines der vier Kriterien für Alg II ist ,Hilfsbedürftigkeit‚.
Ein ,EHB‘, also ein erwerbsfähiger Hilfsbedürftiger, der um Almosen ansucht, kann sich nicht gleichzeitig hinstellen und sagen, ich möchte also weiter als Kunstpädagoge arbeiten, das habe ich studiert … Ja soll denn die Allgemeinheit Ihre luxuriösen beruflichen Erwartungen finanzieren, diese Zeiten sind vorbei, Sie müssen sich jetzt schon auch die Finger schmutzig machen, wie jeder andere auch! So. Das zum Beispiel meinte ich mit der Würdelosigkeit.
Also der Hebel, an dem die ganze Sache psychologisch funktioniert, ist ,Hilfsbedürftigkeit‘ und ,Almosenempfänger‚, mit diesem moralischen Druck stopft man den Leuten das Maul.

Also man bekommt diese Sozialleistung nur dann, wenn man hilfsbedürftig ist, und zwar mit der Auflage, diese Hilfsbedürftigkeit durch egal was – wenn nicht aufzuheben, dann wenigstens zu mindern, sozusagen als Gegenleistung, denn es gehört sich einfach so. Zumal es für alle erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen ja auch noch die ,soziale Absicherung‘ gibt.
Auf der Basis der Mindestbeiträge wird von der BA Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung abgeführt, was natürlich das Problem endlos nach hinten verlängert.
In den Job-Centern, in den ARGEs weiß man natürlich genau, dass es, außer für ein paar gesuchte Fachkräfte, keine Arbeitsstellen gibt. Also wird der Kunde, ohne Ansehen der Person sozusagen, in eine Maßnahme nach Paragraf 16 Abs. 3 SGB II gesteckt, in eine Arbeitsgelegenheit, den 1-Euro-Job, beziehungsweise wird in der Behörde gern vom Aktiv-Job oder Zusatzjob gesprochen.
Bleiben wir bei 1-Euro-Jobs, es handelt sich hier um subventionierte Arbeitsverhältnisse, wirklich sinnvoll daran ist lediglich die Sache ,Zusatzjobs und Bildung‘, also wo junge Leute, oft ohne Hauptschulabschluss und Arbeitserfahrung, gefördert werden und rauskommen aus der Lethargie des Nichtstuns. Für viele andere Kunden stellt es sich als 1-Euro-Arbeitsdienst dar.
Als pure Maßnahme. Die so genannten Maßnahmeträger sind meist die Kommunen, Kirchen, Vereine, Wohlfahrtsverbände, Archive, Denkmalpflege, Umweltschutz usw., die können bei den Job-Centern Arbeitskräfte anfordern, für all die Tätigkeiten, die zwar wichtig und notwendig sind, aber auf Grund des Niederganges dieser Republik schlicht und einfach nicht mehr finanziert wurden und sich selbst überlassen waren.
Es gibt so eine Positiv-negativ-Liste – diese Arbeiten sollen nach dem Gesetz ja ,zusätzlich‘ sein und keinen regulären Arbeitsplatz gefährden oder ersetzen – da wurde, in Absprache mit den Handwerkskammern, Unternehmerverbänden, der Wirtschaft, den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden eine Liste erstellt, welche Beschäftigung als Zusatzjob in Frage kommt, und welche nicht. Es gibt nur wenige, die nicht in Frage kommen. Das Kriterium ,im öffentlichen Interesse‘ und ,gemeinnützig‘ lässt sich ja beliebig ausdehnen.
Aus der Arbeitslosenarmee wird so unter der Hand eine Billiglohn-Reservearmee, so wie die Wirtschaft sie braucht. Wir machen dann also mit dem Kunden eine so genannte Eingliederungsvereinbarung über den Zusatzjob, die gilt für 6 Monate, kann verlängert werden, 30 Wochenstunden sollen nicht überschritten werden, damit noch, man höre, Zeit bleibt für Bewerbungen. Und das Schöne, sobald die alle in so einem Zusatzjob sind, gelten die nicht mehr als arbeitslos, sie sind nur ,Arbeitssuchende‘ und werden somit aus der Statistik rausgenommen.

Und damit das auch wirklich klappt, hat man Zumutbarkeitsregelungen erlassen, also zumutbar ist jedem Erwerbsfähigen jede Arbeit, auch bei stark untertariflicher Entlohnung bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit. Zumutbar für reguläre Jobs ist Mobilität bis in ein anderes Bundesland, auch Pendelzeiten bis zu drei Stunden täglich sind zumutbar, wenn Arbeit dadurch zu bekommen ist. Die 1-Euro-Jobber, die den Zumutbarkeitsregelungen besonders unterworfen sind, dürfen als kleinen Anreiz die volle Summe des Zuverdienstes behalten, während die Zuverdienstregelung sonst bei maximal 30 Prozent liegt.
Falls aber das Zuckerbrot nicht zieht, dann haben wir ja noch die Peitsche in Form der Sanktionen, die regelwidrigem Verhalten und unverschämtem Anspruchsdenken ein Ende machen. Wer zum Beispiel die Eingliederungsvereinbarung verweigert, dem wird sie per Verwaltungsakt festgesetzt und es kommt zu einer 30-prozentigen Leistungskürzung.
Bis 100 Prozent bei weiteren Weigerungen. Jugendlichen wird rigoros alles gestrichen. Kosten für Unterkunft und eventuellen Mehrbedarf (bei Diabetes usw.) bleiben erst mal unberührt, schon um Obdachlosigkeit zu verhindern. Jede Strafe gilt für drei Monate. Es können Sachleistungen, Lebensmittelscheine beantragt werden, aber das wird dem Kunden nicht unter die Nase gehalten, wer’s nicht weiß, muss verzichten. Also es gibt eigentlich keinen triftigen Grund, eine Arbeit zu verweigern, außer Sie sind physisch oder psychisch krank, sind also nicht diese Mindestzeit von drei Stunden täglich erwerbsfähig, dann wird das erst mal überprüft, die Behörde hat einen eigenen medizinischen und psychologischen Dienst, da haben Sie sich vorzustellen zur Untersuchung.
Und egal, was an Gutachten von Hausärzten usw. existiert, was an Befunden vorliegt, Sie werden von diesem medizinischen Dienst überprüft und begutachtet. Befindet man Sie als erwerbsunfähig, sind Sie ein Fall fürs Sozialamt, das gibt es für die Nichterwerbsfähigen ja nach wie vor; und für ältere und alte Frauen zum Beispiel, die ganz fürchterlich kleine Renten bekommen, die alle bekommen ,Sozialgeld‘, so heißt es jetzt.

Ich möchte noch hervorheben, dass der typische Alg-II-Empfänger, der EHB, der erwerbsfähige Hilfsbedürftige, längst nicht mehr der stark tätowierte Kunde ist, der mit der Bierflasche in der Warteschlange steht, nein, das ist die Krankenschwester, die Kindergärtnerin, die Verkäuferin, das ist der Industriekaufmann, der kleine Selbstständige. Denn es trifft vermehrt auch den Mittelstand, und zunehmend kommen auch Führungskräfte und Akademiker, die alle dem gleichen Ritual unterworfen werden. Und diese Gruppe ist natürlich von Hartz IV besonders getroffen, denn das gehörte bisher eher nicht so zu den Lebenserfahrungen in diesem sozialen Milieu.
Also stellen Sie sich eine Führungskraft vor, die durch eine Übernahme oder eine Fusion plötzlich ausgebootet wurde, und weil er schon zu alt war, auch keinen Posten mehr gefunden hat. Also die Tür geht auf und da kommt dieser typische erfolgreiche Businessman, wie man ihn von Bildern kennt, der kommt herein, Anfang 50, seit eineinhalb Jahren arbeitslos, jemand, der niemals mit der Bahn zur Arbeit gefahren ist – aber Sie können sich ebenso gut einen Journalisten, einen Arzt oder Juristen denken – und der Mann hat natürlich ein entsprechendes Auto, die entsprechende Wohnung, war vielleicht Kunstliebhaber oder bibliophil, hat kleine Schätze, die entsprechende Wohnung, den entsprechenden Lebensstandard, zwei Kinder auf der Uni, geschieden. Und dieser Mann muss nun einen Antrag auf 345 Euro im Monat stellen, und alles offen legen, alles vorlegen! Er weiß, seit dem 1. Mai gibt es kein Bankgeheimnis mehr. Er hat eine 150 Quadratmeter große Luxuswohnung zur Miete. Er hat Zeitungs- und Buchabos, er geht aus, ins Theater, in die Oper usw., das alles konnte er als Empfänger von Arbeitslosengeld und auch bei der abgestuften Arbeitslosenhilfe zahlen, denn er bezog den Höchstsatz. Mit Hartz IV ist das vorbei. Nun sind all seine Bilder, seine wertvollen Gegenstände und Besitztümer ,in Geld messbare Güter‘, die zu berücksichtigen sind bei der Anrechnung aufs Vermögen, die auf dem ,ortsüblichen Markt‘ veräußert werden müssen. ,Angemessener‘ Hausrat kann behalten werden, also Gegenstände, die zum Wohnen und zur Haushaltsführung ,nötig und üblich‘ sind.
Unter 58 dürfen Sie ein frei verfügbares Vermögen von 200 Euro pro erreichtem Lebensjahr haben, was drüber geht, wird auf die Gesamtbedarfssumme angerechnet. Ein ,angemessenes‘ Auto darf man behalten (Wiederverkaufswert von höchstens 5.000 Euro), Aktien, Fondsanlagen usw. müssen aufgelöst und verwertet werden, auch wenn Verluste entstehen. Also unser Mann wird zuerst sein Vermögen aufbrauchen müssen, wenn das auf null ist, dann würde sein Anspruch wieder aufleben. Das ist natürlich der Moment, wo den Leuten die Tränen in die Augen treten.

Ich will Ihnen die prekäre Lage eines Alg-II-Empfängers mal ganz kurz vor Augen führen, von den 345 Euro bleiben nach Abzug der Heißwasser- und Stromkosten, nach Abzug von Fahrtkosten, Bank- und Praxisgebühren, Grundgebühr für Telefon usw. kaum noch nennenswerte Beträge übrig für Lebensmittel, Tabak, Schwimmbad, Friseur. Da können Sie alles streichen, Zeitung, Bücher, Kultur, Kino, Essen gehen, Kleidung, den schnellen Internet-Zugang, Ihr Auto sowieso. Alg-II-Empfänger mit zu teuren Wohnungen haben ein halbes Jahr Zeit zum Umziehen, irgendwo an den Stadtrand oder in eine Hinterhauswohnung. Also das ist kein Leben, mitten im gesellschaftlichen Reichtum, den diese Herren der Hartz-Kommission ja ganz selbstverständlich und im Übermaß für sich in Anspruch nehmen.
Nein, das ist staatlich verordnetes Vegetieren, jenseits vom normalen – noch normalen – gesellschaftlichen Leben. Was dabei herauskommt, ist die Produktion von Parias. Das ist dem Mittelstand und den gebildeten Schichten immer noch nicht klar, dass die Maßnahmen auch sie erfassen können, deshalb wundert mich eigentlich die Ruhe im Lande.

Sie fragen mich, weshalb ich Ihnen das alles eigentlich erzähle? Die Antwort ist ganz einfach: Ich gehöre zu der Generation, die gelernt hat, dass man zum Unrecht nicht schweigen darf, so wie es die Generation unserer Eltern weitgehend getan hat. Und ich habe schon viel zu lange geschwiegen!
Das Problem ist ja nicht neu, das ging ja schon los, als die Massenarbeitslosigkeit unübersehbar wurde, und keiner von uns durfte den Begriff in den Mund nehmen, ich glaube, damals waren es zwei Millionen, am Ende der Ära Schmidt. Und verdoppelt hat Kohl. Schröder hat größtenteils geerbt und die Sache nun vollends in den Sand gesetzt. Die Rot-Grünen hatten die Chance, was wirklich Modernes zu tun: Einführung eines existenzsichernden, bedingungslosen Grundeinkommens. Das Geld ist da und wird verpulvert. Für den Erhalt von vorsintflutlichen Privilegien. Seit 30 Jahren gibt es keine Demokratie mehr. Auch das fing unter Schmidt schon an, dass ein kanzlerdiktatorischer Staat durchgezogen wird, dass die Verfassung permanent unterhöhlt wird, durch höchstrichterliche Beschlüsse in Karlsruhe, die die Krisenentscheidungen einer der drei Gewalten immer wieder verfassungsmäßig absegnen. Auch das, was der Bundespräsident jetzt zu den vorgezogenen Wahlen gesagt hat, war windelweiches Absegnen. Gleichzeitig gibt der Staat durch Privatisierung viele seiner ureigenen Aufgaben auf, ohne sich legitimieren zu müssen, wozu er denn eigentlich noch da ist in Form einer schwerfälligen, teuren, ineffizienten Bürokratie und Behördenqualle. Es gibt Gerüchte, dass sich die hohen Herren von Gerling und Allianz in Nürnberg die Klinken in die Hand geben, es geht um die Privatisierung der Arbeitslosenversicherung, um die Privatisierung der Bundesagentur letztlich. Zu all dem darf man einfach nicht schweigen, es belastet mich. Ich bin ja nicht gerade eine Revolutionärin, aber ich habe eigentlich ein ganz klares, nennen wir’s mal ,christlich-protestantisches‘ Weltbild, und da geht es zentral um so was wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität.

Und deshalb sehe ich natürlich jeden Tag rot, wenn so eine gewaltige Fehlentscheidung wie Hartz IV von uns Beamten durchgeboxt werden soll. Wir wissen genau, es gibt keine Arbeitsplätze, aber ich stehe unter dem Leistungsdruck, bestimmte Vermittlungszahlen, pro Vierteljahr, pro Halbjahr, pro Jahr zu erbringen. Also bin ich auf das Wohlverhalten, die Fügsamkeit des Kunden total angewiesen. Und dieses Wohlverhalten erzeuge ich, indem ich meinerseits Druck ausübe, oder, was fast noch schlimmer ist, indem ich den Kunden wie einen Menschen behandle. Was aber eigentlich anzustreben ist, er muss vermittelt werden. Und da gibt es eben die ,vermittlungsrelevanten Merkmale‘, die datenmäßig erfasst werden. Es gibt Schlüsselkennziffern, mit denen auch jedes Gespräch, das stattfindet, festgehalten wird, und hinter so einer Kennziffer steht zum Beispiel, ich habe dem Kunden einen Vermittlungsvorschlag für einen Zusatzjob ausgedruckt, damit ist der Tatbestand ,Vermittlungsangebot‘ bereits erfüllt und geht in die Statistik ein, der nächste Schritt ist natürlich, dass der Kunde auch in die Maßnahme eingeschleust wird und aus der Arbeitslosenstatistik verschwindet. Und unsere Auflage ist nun, so viel wie möglich vermittlungsrelevante Merkmale zu erzeugen, denn bis zum 30. 12. sollen alle unter 25 in einer Maßnahme drinstecken, und die über 25 sollen auch vermittelt werden, wie soll das gehen? Achtzig Prozent der Arbeit, die wir täglich machen, geht in die Bewältigung von Verschlüsselung, in die Herstellung der Statistik! Dabei sollen wir uns ,intensiv‘ um die Arbeitslosen kümmern, Fakt ist aber das reinste Chaos in den Jobcentern bundesweit. Gedränge, Schlangen, lange Wartezeiten, überlastete und genervte Sachbearbeiter, verschwundene Akten und Unterlagen, kaum Auskunft, dauernd besetzte Telefonleitungen.

Es gibt so genannte Taktzeiten. In den ,Kundenzentren‘, zu denen bis Ende 2005 alle Arbeitsagenturen verwandelt werden sollen – sieht dann aus wie bei den Banken – sind nur noch drei Minuten vorgesehen, in denen der Kunde abgefertigt sein muss. Für Antragsteller gibt es noch 15 bis 30 Minuten, für den Erstantrag, für 16 Seiten! Wenn’s absehbar ist, er braucht länger, dann nach Hause schicken mit Merkzettel über das, was fehlt, und: ,Der Nächste bitte!‘. Aller Druck, alles, was die Behörde grundsätzlich nicht fähig ist zu leisten, wird gnadenlos auf den Kunden abgewälzt. Und es entsteht auch dadurch so eine brutale Überheblichkeit, die in den internen Gesprächen immer wieder zum Vorschein kommt: Keiner von denen will in Wirklichkeit arbeiten, die wollen nur die Kohle, alles notorische Arbeitsverweigerer, ja wissen denn die Arschlöcher immer noch nicht, dass jede Arbeit zumutbar ist? Bei mir haben die nichts zu lachen, da heißt es fordern! Das ist so der Tenor, und leider muss ich sagen, sind dabei die Frauen die Schlimmeren, zu 80 Prozent bestimmt. Aber es gibt eben auch die andere Seite, die Kritischen, und das werden immer mehr nach dem ersten Schreck über den völligen Umbau der Bundesanstalt. Es ist einfach nicht zu übersehen, was los ist, was vor sich geht. Das Ganze ist ja von Wirtschaftsleuten nach wirtschaftlichen Kriterien kreiert worden, es soll unternehmerisch gedacht und gehandelt werden, marktorientiert. Der Bismarck’sche Sozialversicherungsstaat wird in einen Almosenstaat verwandelt, die sozialversicherten Arbeitslosen in ein Heer von Almosenempfängern und billigen Dienstleistungssklaven. Die können ja keinen ,sozialen Frieden‘ mehr gefährden.

Und was uns, die BA betrifft, unser Unternehmensauftrag ist offiziell Arbeitsvermittlung. Aber nicht die Vermittlung von Arbeit ist das Ziel.
Das eigentliche Unternehmensziel ist der Selbsterhalt der Behörde – wie überall – wenn möglich, die Vergrößerung der Behörde durch bürokratische Mastkuren.
Denn eigentlich macht sie primär eins: Sie macht Statistik. Ihr Auftrag ist, eine positive Statistik zu produzieren. Und so wird sie ganz automatisch zu einer Maschinerie des Betrugs und Selbstbetrugs.
Mit einem riesigen Apparat an Personal, Material, Geld, Gebäuden, Kunden, Fragebögen, Akten kümmern wir uns energisch um die Verbesserung der Arbeitslosenstatistik.
Was ja der reinste Wahnsinn ist, angesichts von inzwischen über sechs Millionen Arbeitslosen – also ich rechne über den Daumen gepeilt die herausgerechneten Arbeitslosen wieder mit rein. Solche Zahlen hatten wir das letzte Mal 1933 und wir wissen, wozu sie geführt haben.
Aber darüber darf nicht gesprochen werden, auch nicht intern, höchstens mal im kleinen Kollegenkreis, oder mal privat mit Kolleginnen, das grenzt nämlich an Hochverrat, und deshalb ist das Thema einfach tabu.
Es ist doch ein Skandal, dass kein einziger von den entscheidenden Leuten es wagt, sich hinzustellen und zu sagen: Okay, wir ziehen das jetzt rigoros durch und wir machen das, weil wir es so haben wollen, nicht weil mit Hartz IV Arbeitsplätze entstehen. Basta! Das wagt keiner.
Das mit den versprochenen Arbeitsplätzen ist natürlich eine Illusion. Es gibt keine Arbeitsplätze und es wird auch keine geben. Nie mehr!
Keiner kennt dieses Dilemma besser als die Behörde.

Das ist die aktuelle Anmerkung: Es gibt mittlerweile diese Arbeitsplätze.
Prekäre Arbeitsplätze, die dann wieder aufgestockt werden müssen.

Jochen