Die Angst ist das Kind der Einsamkeit und der Herrschaft – Roger Garcés über mediale Kriegführung, kollektive Traumata und psychologische Wurzeln von Korruption

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Nach längerer Pause werde ich versuchen, jetzt wieder regelmäßig über mir wichtige Themen zu berichten. Aus Zeitgründen verzichte ich aber darauf, die Texte zur besseren Lesbarkeit einzeln unterschiedlich einzufärben.
Auch ich muß mich ständiger Ohnmachtsgefühle erwehren, die sich aus dem ergeben, was ich derzeit an Kriegsvorbereitungen und Manipulation erlebe.
Lese gerade von Jonas Tögel über kognitive Kriegsführung (Buchbesprechung hier: Jonas_Toegel), dazu passt das Folgende gut. Es macht Hoffnung darauf, dass die Menschlichkeit in kleinen, nicht profitorientierten Gemeinschaften überleben kann:

Ein Gespräch mit Roger Garcés Interview: Carmela Negrete

https://www.jungewelt.de/artikel/476967.psychologie-die-angst-ist-das-kind-der-einsamkeit-und-der-herrschaft.html

Wir werden mit Büchern überflutet, die von Selbsthilfe sprechen, den Nutzen von Entspannung und Achtsamkeit preisen. Sie glauben, dass man damit sozialen Fortschritt erreichen kann. Können Sie mir diese Theorie erklären?

Auf der Suche nach Strategien und Techniken für die klinische Praxis stieß ich bei meinen Recherchen auf das Konzept von Carl Jung zum »Archetyp des Bösen«. Eine Determinante des Bösen sei die Einsamkeit, und diese Einsamkeit verschwinde, wenn wir uns miteinander verbinden. Alles, was mit dem Bösen zusammenhängt, hängt auch mit sehr negativen Emotionen für den Menschen zusammen. Nach dem Sieg von Präsident Hugo Chávez erlebten wir eine intensive Medienkampagne, die Hass und viel Angst, Furcht und Wut erzeugte. Zu diesem Zeitpunkt gründeten wir eine Studiengruppe namens Foro Psicológico, um herauszufinden, was mit den Medien los war und warum die Menschen soviel Wut und Hass empfanden. Wir stellten fest, dass die Medien tatsächlich psychologische Manipulationstechniken anwandten. Das hält bis heute an und hat sich weltweit gegen die Bolivarische Revolution ausgebreitet. Es handelt sich um gezielte psychologische Operationen, einen psychologischen Krieg gegen alles, was die Bolivarische Revolution repräsentiert. Viele Menschen begannen, Hass gegen diesen Prozess zu empfinden, und lehnten ihn vehement ab. Dieser Hass wurde durch einen Prozess der Manipulation erzeugt.

Ist es notwendig, dazu »Fakten« zu erfinden, die man heute gemeinhin als Fake News bezeichnet?

Menschen, die einsam leben und keine Verbindung zu anderen herstellen, konstruieren ihre Realität vom Bildschirm aus. Die Medien liefern das Material für diese Realität. Wenn Sie etwas in den Köpfen der Bevölkerung verankern wollen, müssen Sie es zuerst in einer Schlag­zeile plazieren.
Denken Sie daran, dass die herrschenden Ideen in der Gesellschaft die Ideen der Herrschenden sind. Diese Botschaft wird dann sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag übermittelt. In unseren Gesprächen stellten wir fest, dass eine negative Einstellung gegenüber der Bolivarischen Bewegung verbreitet war. Es gab die Bereitschaft zu glauben, dass alles, was die Regierung tat, falsch war. Dabei gab und gibt es unbestreitbare Erfolge: Die Bolivarische Revolution hat viereinhalb Millionen Wohnungen bereitgestellt, aber das wird einfach ignoriert oder in Frage gestellt. In der Presse hieß es dazu, die Dächer der Häuser würden einstürzen und ähnliches. Im Rahmen einer Regierungskampagne wurden LED-Glühbirnen verteilt, um Energie zu sparen. Die Medien suggerierten jedoch, in diesen Glühbirnen seien Mikrophone versteckt, um die Bevölkerung abzuhören. Es wurden viele Absurditäten behauptet. Als die Misión Vivienda (Programm für öffentliches Wohnungsbau, jW) begann, gab es eine Volkszählung. Die Medien vermittelten der Bevölkerung den Eindruck, ihnen solle ein Obdachloser zugeteilt werden, der dann bei ihnen leben soll. Menschen, die psychologisch nicht auf solche Behauptungen vorbereitet waren und ihre Realität auf Basis des Bildschirms wahrnahmen, wurden unmittelbar in Angst und Besorgnis versetzt. Wir haben dabei eine Methodik identifiziert. Die psychologischen Operationen sind in US-Feldhandbüchern beschrieben.

Sie sprechen auch von »kollektiver Liebe«. Was soll man sich darunter vorstellen?

Der Mensch hat eine doppelte Natur, das Individuum und das Kollektiv. Es gibt sehr interessante Forschungen, die besagen, dass wir eine kollektive Seele besitzen.

Das kann als Liebe verstanden werden, doch eigentlich handelt es sich um die kollektive Natur des Menschen, also genau das, was von Herrschaft verdeckt wird. Die Menschen kommen zusammen, wenn Liebe herrscht, und trennen sich, wenn Wut vorhanden ist.
Die Ansätze der großen Meister der Menschheit, wie zum Beispiel Buddha, betonen die gegenseitige Abhängigkeit, in der wir leben, der wir nicht entkommen können. Doch das westliche Denken neigt dazu, die Struktur der kapitalistischen Dominanz zu legitimieren, indem es das Individuum glauben macht, dass es von der Gesellschaft isoliert ist. Mir gefällt eine Szene aus der Geschichte der Maya in Mexiko sehr gut. Sie grüßten einander mit den Worten: »Ich bin ein anderes Du«, und die Antwort war dann: »Und du bist ein anderes Ich«. Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, die ein solches Maß an Entwicklung erreicht hat, dass sie versteht, dass alle eins sind.
Diese Interdependenz, die Bindung und die Einheit sind Manifestationen dessen, was wir Liebe genannt haben. Die großen Meister wie Jesus, Mohammed, Buddha, Krishna usw. haben verstanden, dass Liebe die einzig mögliche Alternative ist, um eine bessere Welt zu schaffen.

Hat die Linke die Macht der Religion unterschätzt?

Es gibt den bekannten marxschen Satz von der Religion als Opium des Volkes. Aber das Volk ist immer noch religiös, und über den Glauben kann viel Macht ausgeübt werden. Hegel sagte, man könne zwar nicht an Gott glauben, aber man könne Gott auch nicht aus der Analyse herauslassen. Es gibt eine Dimension, die wir erkunden müssen. Der dialektische Materialismus hat die Herrschaftsbeziehungen in der Gesellschaft genauer beschrieben als andere Theorien. Ich glaube aber, dass es eine subjektive Dimension des Menschen gibt, die viele Dinge erklären kann, und wo die Psychologie mit der Philosophie in Kontakt tritt, kann sie uns Hinweise auf das Verhalten des Menschen geben. Wir können es nennen, wie wir wollen: Interdependenz, Bindung, Neigung, Vereinigung, Liebe.
Das kollektive Versprechen des Menschen. Die Angst ist das Kind der Einsamkeit und der Herrschaft. Sie trainiert uns, immer mehr alleine zu leben.

In Spanien gibt es einen korrupten Politiker der Volkspartei PP, der sich auf Reisen mit Schamanen traf und bei seiner Rückkehr gegenüber der Presse behauptete, er sei ein »Geldjunkie« gewesen sei. Glauben Sie, dass Menschen süchtig nach Geld sein können?

Wir haben im Rahmen einer Studie über Korruption festgestellt, dass das Phänomen wichtige psychologische Wurzeln hat. Ideologisierte Werte wie die Verherrlichung des Geldes und die Verbreitung von Luxus sind Teil davon. Innerhalb der Struktur von Organisationen gibt es zwei Arten, Dinge zu tun: die institutionelle Normativität und die dunkle Art und Weise. Diese beiden Normen stehen sich dialektisch gegenüber und schaffen die Möglichkeit, dass Verhaltensweisen entstehen, die den sozialen Normen widersprechen, wie Diebstahl oder Raub. Wir haben eine »Persönlichkeit Delta« identifiziert: das Subjekt, das halb legal, halb illegal agiert. Die Mehrheit der Bevölkerung bewegt sich in dieser Grauzone. Das Delta-Subjekt kann zwischen den beiden Welten jonglieren und ist in der Lage, in die intimsten Ebenen der Struktur einzudringen, um davon zu profitieren. Nicht jeder kann korrupt sein, denn es ist nicht einfach, zwischen den Welten zu jonglieren.
Als ich mit der Policía Metropolitana in Caracas zusammenarbeitete, fiel uns auf, dass diejenigen, die als am korruptesten galten, eine makellose, einwandfreie Karriere gemacht hatten.

In Spanien gibt es seit ein paar Jahren ein Programm für Rehabilitation in den Gefängnissen, um wegen Korruption Verurteilte wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Glauben Sie, dass das ein Weg zum sozialen Fortschritt ist?

Ja, weil die Genesis der Korruption darin besteht, sich etwas anzueignen, was einem nicht gehört, und das ist die Grundlage des Kapitalismus, der darauf basiert, sich die Arbeit der Arbeiter anzueignen, die Mehrwert schaffen.
Ein Mensch, der einem anderen 100 Dollar stiehlt, ist ein Dieb, aber ein Bankier, der ein Haus wegnimmt, handelt legal. Es ist wichtig, dass der Mensch versteht, dass er in Wechselbeziehung lebt, dass er zwischen Verbindung und Veränderung lebt. Wenn Sie die Vorzüge des Gebens kennen würden, würden Sie keine Mahlzeit ohne weiteres für sich behalten. Das Geben ist die Essenz der Großzügigkeit.
Die buddhistische Lehre zeigt uns, was man eine Geschenkwirtschaft nennt. Solange wir nicht verstehen, dass wir in einer kollektiven Dimension des menschlichen Seins leben, in Wechselbeziehung, miteinander verbunden, werden alle anderen Ansätze nicht ausreichen. Die psychologische Dimension des Subjekts muss erweitert werden, und wir müssen verstehen, dass wir zugleich Teil einer Gemeinschaft sind. Der griechische Philosoph Plotin sagte, der Mensch sei eine Amphibie mit zwei Leben: Einerseits sind wir Individuen, andererseits ein Kollektiv. Wir haben einen göttlichen Teil und einen materiellen Teil, und ich glaube wirklich daran.
Diese beiden Naturen in Einklang zu bringen und zu verstehen, dass man nicht alleine ist, wie der Kapitalismus behauptet.

Welche Rolle spielt das kollektive Trauma in Konflikten und Kriegen?

Wir haben vor kurzem eine Arbeit über das kollektive Trauma vorgelegt. Das Konzept des morphogenetischen Feldes, wie es der britische Psychologe Rupert Sheldrake in den 70er Jahren nannte, beschreibt ein Thema, das in der faktischen Naturwissenschaft wenig behandelt wird, aber in spirituellen Ansätzen traditionell präsent ist. Auch bei den Studien des deutschen Psychologen Bert Hellinger zu Familienaufstellungen, einem Bereich, der innerhalb der »orthodoxen« Wissenschaft ebenfalls verteufelt wurde, wird über das transgenerationale Trauma gesprochen.
Ich habe eine Analyse unternommen, in der ich den Sieg von Javier Milei in Argentinien aufgrund eines transgenerationalen Traumas vorhersagte. Nachdem sie mehrere Militärdiktaturen erlebt hatten, in denen es unmöglich war, über erzwungenes Ver­schwindenlassen und Repression durch die Diktatur zu sprechen, und nach der Operation Condor, einem sehr bedeutenden traumatischen Ereignis, hat dieses psychosoziale Trauma, wie es Igna­cio Martín-Baró definierte, drei Ebenen.
Die erste Ebene ist, dass die Person, die das Trauma erleidet – das Opfer – es nicht selbst ausdrückt. Opfer von Menschenrechtsverletzungen teilen sich nicht mit, weil kaum jemand in einer Diktatur Solidarität übt, aus Angst, ebenfalls zum Opfer zu werden. Es wird also zu etwas Unaussprechlichem.
Die zweite Ebene: In der folgenden Generation wird das Trauma unbenennbar. Die Kinder politischer Gefangener oder Verschwundener enthüllen nicht, was ihren Eltern passiert ist, und erleben diesen Mangel als Trauma, das nicht in Worte gefasst werden kann.
In der dritten Generation wird das Trauma dann undenkbar. Es verschwindet als organisches Element im Bewusstsein und wird Teil der Symptomatik. Freud hat das im Grunde schon beschrieben, und es wurde ausführlich untersucht. So werden das Unsagbare, das Unnennbare und das Undenkbare nach mehreren Generationen zu einem angesammelten psychosozialen Trauma.
Eine Gesellschaft wie die argentinische, die sich nicht äußern durfte, stimmt für eine Person, deren charakteristisches Merkmal es ist, im Fernsehen zu schreien und zu brüllen. Unabhängig von dem, was er schreit, wird er zu einem Symbol der imaginären Befreiung dieses Verlangens.

Gibt es Forschung oder Vorschläge, mit irrationalen sozialen Dynamiken umzugehen, wie sie der Krieg selbst darstellt? Ein Individuum geht zum Psychologen, aber was ist mit einer ganzen Gesellschaft?

Die Gesellschaft nimmt es erst nicht wahr. Sie wird sich ihres vergangenen Selbst ohne Rituale nicht bewusst. Es ist auffällig, dass zu den physiologischen organischen Determinanten, die Bluthochdruck auslösen, das Schwarzsein gehört. Nun, man kann sich die Sklaverei vorstellen, die unsere Vorfahren hier in Venezuela so lange Zeit erlebt haben, viele Generationen lang.
Im Fall von Israel und Palästina glaube ich, dass es Gründe gibt, die mit der imperialistischen Expansion der Vereinigten Staaten und Israels zu tun haben. Aber es gibt auch Gründe, die mehr in der Seele des israelischen Volkes zu finden sind, das mit der Schoah etwas Schreckliches erlebt hat.

Psychische und psychosoziale Traumata legitimieren sich auf zwei Ebenen: durch Wiederholung oder Reparation. Es ist wie mit dem misshandelten Kind. Ich habe mit Tätern gearbeitet und weiß, dass letztlich jeder Täter ein misshandeltes Kind war. Deshalb können wir verstehen, dass Soldaten Spaß daran haben, Krankenhäuser in Gaza zu zerstören (das sage nicht ich, sondern sie selbst sagen es in sozialen Netzwerken), dass sie stolz sagen »Schaut, wie wir dieses Krankenhaus zerbombt haben« und dabei lachen. Im Grunde genommen hat es etwas mit der Wiederholung dessen zu tun hat, was ihnen als Gesellschaft widerfahren ist, denn es ist ihnen offensichtlich nicht persönlich widerfahren, sondern ihren Vorfahren.
Es ist also ein psychosoziales Trauma, das sich in den Generationen wiederholt, aber die Eigenschaft hat, das Unsagbare, das Unnennbare zu benennen.

Sie sind auch Künstler und Singer-Songwriter. Glauben Sie, dass künstlerischer Ausdruck auch dazu dienen kann, soziale Traumata zu behandeln?

Kunst hat eine Bedeutung in der Sozialpsychologie. Durch Lieder erreichen wir diesen intimen Punkt, den wir alle als Menschen haben, wo man bei sich selbst ist und eine wichtige Dosis an kritischem Urteilsvermögen hat. Man erkennt zum Beispiel, dass es keine gute Sache ist, einen lebenden Menschen zu verbrennen. Dass es nicht richtig ist, ein Krankenhaus zu bombardieren. Unabhängig von aller Irrationalität, hier ist die Rationalität etwas, das wir schon von Natur aus im Verstand haben. Im Herzen sind wir wir selbst. An diesem »Ort«, dem »Wir selbst«, laufen Prozesse, aus denen Prozesse des Wandels werden können. Weil jeder Prozess, der ein Bewusstwerden beinhaltet, einen Fortschritt beim Menschen bedeutet. Auch wenn die Herrschenden alle Mittel einsetzen, um das Menschliche zu eliminieren.
Es gibt einen Satz von José Martí, dem Apostel der kubanischen Revolution: »Alles wurde bereits gesagt, aber wenn es mit Liebe gesagt wird, ist es, als wäre es das erste Mal.« Diese Verbindung mit dem Göttlichen, mit der Liebe, mit dem, was uns mit der Unschuld, mit der Schönheit in Kontakt bringt, ist das, was uns mit der Menschlichkeit ­verbindet.
Roger Garcés ist klinischer Psychologe, er hat seine Praxis in Caracas (Venezuela). Er hat Studien zur Psychologie der Revolution und Konterrevolution sowie zur Psychologie der Korruption veröffentlicht. Diese Themen erforscht er an der Internationalen Universität für Kommunikation in Caracas.

Über Kommentare auf meinem Blog unter https://josopon.wordpress.com/ würde ich mich freuen.
Jochen

Hinterlasse einen Kommentar