Wirtschaftsexperte Prof.Bofinger: Deutschland ist krank

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein sehr interessanter Aufsatz des Würzburger Wissenschaftlers im sozialdemokratischen IPG-Journal.
Mir fällt die Parallele zu Sahra Wagenknecht letzten Äußerungen zum thema Wirtschaftspolitik ein, insbesondere ihre Kritik der Schuldenbremse.

https://www.ipg-journal.de/rubriken/wirtschaft-und-oekologie/artikel/deutschland-ist-krank-7080/?utm_campaign=de_40_20231031&utm_medium=email&utm_source=newsletter

Schwächelndes Wachstum, wenig Investitionen: Der deutschen Wirtschaft geht die Luft aus. Dabei wäre die richtige Medizin parat.

Zum zweiten Mal hat der Economist Deutschland zumkranken Mann Europaserklärt. 1999, als das Wirtschaftsmagazin diese Diagnose zum ersten Mal stellte, litt das Land unter hoher Arbeitslosigkeit. Es ist allerdings fraglich, ob diese hohe Arbeitslosigkeit auf eine chronische Krankheit hindeutete — oder ob sie nicht nur die unausweichliche Folge des Vereinigungsschocks für die äußerst unproduktive Wirtschaft Ostdeutschlands war.
Dass Westdeutschland mit seinen 61 Millionen Einwohnern es geschafft hat, seine großzügigen sozialen Sicherungssysteme auf 16 Millionen Ostdeutsche auszuweiten und gleichzeitig die marode Infrastruktur im Osten komplett wiederaufzubauen, war damals ein Indiz für seine wirtschaftliche Stärke. In meinem Buch Wir sind besser, als wir glauben stellte ich 2014 die negative Diagnose der deutschen Wettbewerbsfähigkeit in Frage.

Heute dagegen scheint die Diagnose eher zuzutreffen. Ein offensichtlicher Indikator ist die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft. Deutschland ist neben Argentinien das einzige Land, dem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in ihrem jüngsten Ausblick Economic Outlook, Interim Report September 2023 für das laufende Jahr ein schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt vorhersagt. Auch 2024 wird es noch zu den wachstumsschwächsten Ländern gehören.

Natürlich ist man sich in Deutschland dieser Leistungsschwäche bewusst. Als Hauptschuldiger wird in der öffentlichen Diskussion die „Bürokratie“ ausgemacht — also der Staat. Es fragt sich allerdings, ob die deutsche Bürokratie, die tatsächlich oft langsam und ineffizient arbeitet, wirklich als Erklärung für die schwache Wirtschaftsleistung herhalten kann.
Das International Institute for Management Development erfasst die Effizienz staatlichen Handelns jedes Jahr in einem internationalen Ranking. 2023 belegt Deutschlands Bürokratie in diesem Ranking einen nicht gerade überragenden 27. Rang, aber die meisten Kon
kurrenten schneiden nicht viel besser ab: die USA belegen Rang 25, Großbritannien den 28. und China den 35. Platz. Japan, Frankreich, Spanien und Italien liegen sogar noch dahinter.

Auch wenn die deutsche Bürokratie ein Wachstumshemmnis ist, muss es tiefer liegende Probleme geben. Diese sind leicht auszumachen, wenn man die Besonderheiten des „Geschäftsmodells“ der deutschen Wirtschaft unter die Lupe nimmt. Dieses Geschäftsmodell lässt sich in Abgrenzung von denen der Wettbewerber in Form dreier konzentrischer Kreise beschreiben.

Deutschland kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass andere Länder seine Wirtschaft stimulieren.

Der äußere Kreis ist die ausgeprägte Exportorientierung. Seit den 1990er Jahren hat die deutsche Exportquote (das Verhältnis der Ausfuhren zum BIP) sich nahezu verdoppelt. Mit 47 Prozent ist sie weitaus höher als in Frankreich und Großbritannien (29 Prozent), China (20 Prozent) und erst recht in den USA (elf Prozent). In den Zeiten der rasanten Globalisierung kurbelten die Exporte die deutsche Wirtschaft an, und in den hohen Leistungsbilanzüberschüssen bildete sich zugleich die mangelnde Binnennachfrage ab.
Aufgrund des zunehmenden Protektionismus — nicht nur in China, sondern besonders in den USA — fällt der Welthandel inzwischen als Wachstumsmotor aus. Deutschland kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass andere Länder seine Wirtschaft stimulieren.

Der mittlere Kreis des deutschen Wirtschaftsmodells ist die starke Fokussierung auf das verarbeitende Gewerbe: Dessen Anteil an der Wertschöpfung beträgt 19 Prozent und ist damit höher als in den USA (elf Prozent) und mehr als doppelt so hoch wie in Frankreich und Großbritannien (neun Prozent). Für Deutschland, das jahrzehntelang von seiner starken industriellen Basis profitiert hat, ist es jetzt viel schwerer, die hohen Energiepreise und die gebotene Dekarbonisierung der Wirtschaft zu verkraften, als für Länder mit einem starken Dienstleistungssektor. Auf diesem Gebiet leidet Deutschland (ebenso wie die anderen europäischen Länder) daran, dass es kaum über digitale Plattformen verfügt.
Eine Untersuchung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigte kürzlich, dass 80 Prozent des Weltmarktwertes dieser Plattformen auf die USA entfallen – auf China 17 Prozent und auf Europa insgesamt nur zwei Prozent.

Der innere Kreis des deutschen Geschäftsmodells ist Teil des verarbeitenden Sektors: die deutsche Automobilbranche, die sich sehr stark auf China als Absatzmarkt konzentriert. Die Fahrzeugproduktion in Deutschland erreichte ihren Höhepunkt 2017 und liegt heute unter dem Niveau der Zeiten vor dem Finanzcrash von 2008.
Die realen Schwierigkeiten, mit denen Volkswagen auf dem chinesischen Markt zu kämpfen hat, offenbaren die tieferliegenden Probleme der deutschen Autobauer. Sie haben nicht nur zu lange auf den Verbrennungsmotor gesetzt, sondern auch die Bedeutung digitaler Dienstleistungen unterschätzt.
Dass Volkswagen auf eine relativ kleines chinesisches Unternehmen (XPENG) angewiesen ist, um die digitale Performance seiner Autos zu verbessern, zeigt, wie sehr die Zeiten sich wandeln: Früher belieferte Deutschland China mit Spitzentechnologien. Heute exportieren chinesische Batteriehersteller wie CATL Spitzentechnologien nach Deutschland, indem sie hier investieren.

Deutschland ist mit einer grundsätzlichen Infragestellung seines Geschäftsmodells konfrontiert.

Der bei den deutschen Medien (und vielen deutschen Ökonomen) beliebte Befund, die Bürokratie — und die damit zusammenhängenden hohen Steuern — seien Deutschlands Hauptproblem, geht aus den genannten Gründen am Kern der Sache vorbei. Deutschland ist mit einer grundsätzlichen Infragestellung seines Geschäftsmodells konfrontiert, der mit Deregulierung und Steuersenkungen nicht beizukommen ist. Was es braucht, ist eine umfassende Transformation – und die erfordert vor allem ein neues Wirtschaftsparadigma.

In der ökonomischen Debatte gibt allerdings nach wie vor der unerschütterliche Glaube führender Wirtschaftswissenschaftler an die Vorzüge des Marktes den Ton an. Der Schlachtruf der orthodoxen deutschen Ökonomen ist das unübersetzbare Wort Ordnungspolitik. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, fasste dieses Credo kürzlich in wohlformulierte Worte: „Der Staat weiß nicht besser als die Wirtschaftsakteure, wo die zukünftigen Chancen liegen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Politik massiv von Interessengruppen beeinflusst wird. Und die kämpfen oft darum, das Bestehende zu bewahren oder das Tempo des Wandels zumindest einzubremsen.“

Mit der Schuldenbremse macht Deutschland das am wenigsten dringliche Problem zur obersten Priorität.

Die augenfälligste Konsequenz der Ordnungspolitik ist die seit 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Sie schreibt faktisch ausgeglichene Haushalte vor. Dies bedeutet, dass weder die Bundesregierung noch die Regierungen der Bundesländer produktive staatliche Investitionen mit Schulden finanzieren dürfen.
Diese Regel, die es in keinem anderen größeren Land gibt, erhebt die Staatsverschuldung implizit zum wichtigsten Anliegen und ordnet ihm alle anderen Anliegen in der Realwirtschaft unter. Dabei hat Deutschland von allen G7-Staaten mit Abstand die niedrigste Schuldenquote (Verhältnis der Staatsverschuldung zum BIP) – mit der Schuldenbremse macht es also das am wenigsten dringliche Problem zur obersten Priorität.

Unter diesen Umständen wird der Umbau seiner Wirtschaft für Deutschland ein sehr schwieriges Unterfangen. Die Verschuldungsgrenzen verhindern staatliche Investitionen und schränken die fiskalischen Spielräume für Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage ein. Die deutliche Abschwächung der Bautätigkeit infolge der hohen Zinsen wäre eine ideale Gelegenheit für Investitionen in den sozialen Wohnungsbau. Migrationsbedingt ist es in Deutschland sehr schwer bis unmöglich geworden, in größeren Städten Wohnraum zu zumutbaren Preisen zu finden.
Doch beim Sondergipfel zum Thema Wohnungsbau, den die Bundesregierung im vergangenen Monat organisierte, war die Bauministerin Klara Geywitz nicht gewillt oder in der Lage, in diesem Jahr mehr als die ausgesprochen geringe Summe von 1,3 Milliarden Euro in diesem Jahr und 1,6 Milliarden Euro im kommenden Jahr bereitzustellen.

Die notwendige Neuausrichtung der deutschen Industrie auf neue Technologien und Dienstleistungen ist ein Opfer der Schuldenbremse.

Auch die notwendige Neuausrichtung der deutschen Industrie auf neue Technologien und Dienstleistungen ist ein Opfer der Schuldenbremse. Diese Neuausrichtung muss im großem Stil durch Forschungsaktivitäten unterstützt werden, aber die Staatsausgaben in diesem Bereich befinden sich im freien Fall. Das ist umso beunruhigender, als Deutschland in der High-Tech-Forschung schon jetzt keine dominierende Rolle spielt.
Ein kürzlich vom Australian Strategic Policy Institute veröffentlichtes Ranking der Forschungsaktivitäten mit Blick auf 64 innovative Technologien zeigt, dass China auf diesem Gebiet mit Abstand am aktivsten ist, gefolgt von den USA.
Deutschland rangiert hinter Indien, Südkorea und Großbritannien
.

Die mangelnden Staatsausgaben sind aber nicht der einzige Faktor, der die Transformation der deutschen Wirtschaft ausbremst. Während in China und den USA, aber auch in vielen kleineren Ländern der Staat eine maßgebliche Rolle übernimmt, wenn es um die Ausgestaltung des Ökosystems für neue Technologien geht, lehnen viele deutsche Ökonomen „Subventionswettläufe“ vehement und grundsätzlich ab.
Im April empfahlen die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose: „Standort- statt Industriepolitik, Subventionswettläufe anderen überlassen.“ Eine Folge dieses passiven Denkens ist, dass deutsche Autobauer wie Mercedes und Volkswagen ihre Elektrofahrzeugproduktion nach Nordamerika verlagern, weil sie dort in den Genuss der großzügigen Subventionen im Rahmen des amerikanischen Inflation Reduction Act oder der entsprechenden kanadischen Regelungen kommen.

Diesmal liegt der Economist mit seiner Diagnose also richtig: Deutschland ist krank geworden. Doch es könnte geheilt werden, wenn es bereit wäre, seinen Lebensstil zu ändern und die für die Genesung angezeigte Medizin einzunehmen. Die Lebensstiländerung setzt ein neues Denken voraus: Statt eines oft bedingungslosen Vertrauens in die Kräfte des Marktes braucht es eine differenziertere Sicht der Dinge. Der Staat darf nicht nur als Problem betrachtet werden („Bürokratie“), sondern auch als Lösung für Probleme, die die Märkte aus eigener Kraft nicht „lösen“ können.
Die Medizin: staatliche Schulden, eingesetzt als Wachstumsmotor – nicht durch Steuersenkungen und damit einhergehende Transfers, sondern durch mehr staatliche Investitionen, um die Binnennachfrage zu beleben und die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien zu stimulieren.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Wie eine Wagenknecht-Partei den politischen Diskurs grundlegend verändern kann

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Nachdem gestern nacht die Falschmeldung über Focus u.a. lief, Sahra Wagenknecht habe jetzt konkret angefangen mit der Parteigründung, wird inzwischen zurückgerudert.
S.a.
https://www.jungewelt.de/artikel/458714.niedergang-der-linkspartei-ein-bisschen-provozieren.html

Aktuell dazu eine knappe, treffende Einschätzung von Norbert Haering:
n_haeringhttps://norberthaering.de/new/wagenknecht-rosenbusch/
Auszüge:
Bild hat unter Berufung auf Vertraute von Sahra Wagenknecht verkündet, dass die Gründung einer neuen Partei mit ihr als Frontfrau kurz bevorstehe. Schwarzsehern zufolge wird dieses Projekt nur dazu führen, dass die Dominanz einer ganz großen Koalition der extremistischen Mitte über die deutsche Politik noch größer wird. Diese Analyse ist ebenso mutlos wie falsch.

Der in Schweden lebende Fotograf und Journalist Henning Rosenbusch mit 57.000 Followern auf „X“ kommentierte die Meldung der Bild (Zahlschranke) von der bevorstehenden Parteigründung durch die Noch-Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht und ihre noch unbekannten Mitstreiter über den Kurznachrichtendienst folgendermaßen:

„Obwohl ich Wagenknecht achte und mir dies seit Corona gewünscht habe, allein weil es das Ende der Corona-Hardliner Partei „die Linke“ bedeutet, die bei der Beschimpfung von Maßnahmenkritikern und Gentherapie-Skeptikern ganz vorne dabei war, sehe ich das nun mit gemischten Gefühlen. Am Ende stehen sich vermutlich zwei große Oppositionsparteien gegenüber, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Mehr Spaltung und noch schwerer zu organisierender Widerstand gegen die Abschaffung der Grundrechte.
Dies wäre für das Parteienkartell der „Transformation“ eine gute Nachricht.“

In den Kommentaren ergoss sich daraufhin ein Wasserfall an Defätismus: „PsyOp der Ampel“ hieß es da und „kontrollierte Opposition um die AfD zu schwächen.“
Es wird ihr unterstellt: „Sie weiß das. Genau deswegen macht sie das. Und spaltet im Osten die Opposition.“
Ein anderer kritisiert:

„Im Grunde genommen reden wir hier von kontrollierter Opposition. Solange nicht EINE Oppositionpartei eine Mehrheit bekommt bleibt alles wie es ist. Bei den Grünen knallen gerade die Sektkorken.“
Im gleichen Sinne schreibt ein weiterer Schwarzseher: „Sobald man mehr als fünf Parteien hat ist eine Demokratie (mathematisch) eh futsch.“

Sahra Wagenknecht dementierte die Meldung der Bild recht weich mit dem Hinweis, die Entscheidung falle erst in den nächsten Monaten.

Schwächung der AfD

Es gibt wenig Zweifel daran, dass die AfD zu den Parteien gehört, die am meisten Wähler an die neue Partei verlieren könnten – und dass die Ampel und die Union das sehr gern sehen würden. Es ist auch auffällig, wie wenig giftig, ja fast freundlich, über Wagenknecht und ihre Ambitionen in den letzten Monaten in den Medien berichtet und kommentiert wurde, insbesondere im parteinahen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Der frühere scharfe mediale Gegenwind ist fast schon zu Rückenwind geworden. Bis dahin ist die schwarzseherische Analyse richtig.

Falsch wird sie, wenn implizit unterstellt wird, das Parteiestablishment hätte alles unter Kontrolle. Dass man inzwischen sogar auf die Gründung einer Wagenknecht-Partei hoffen muss, damit der Höhenflug der AfD in den Umfragen sich nicht demnächst in deren Machtbeteiligung oder -übernahme zuerst in Ostdeutschland und dann womöglich in Gesamtdeutschland umsetzt, ist ein Zeichen dafür, dass die Kontrolle entgleitet.

Die politische Ausgangslage

Lange Zeit war die AfD eine Partei, wie sie der Mainstream hätte erfinden müssen, wenn es sie nicht schon gäbe. Die Parteien der extremen Mitte konnten in wichtigen Politikfeldern wie Migration und wer deren Lasten trägt, undemokratische Europapolitik, Krieg und Frieden, Wirtschaftskrieg und Energiewende eine Politik weit am Willen einer Mehrheit oder großer Teile der Bevölkerung vorbei betreiben.
Da die AfD oft als einzige dagegen opponierte, konnte man jede Gegenrede als „rechts“ mit Anklang von „rechtsextrem“ verunglimpfen und auf diese Weise so tun, als wäre eine Politik stramm gegen die Interessen der Nichtprivilegierten gleichzeitig links und liberal.

Das hat lange gut funktioniert, aber der Abstand zum Willen der Bevölkerung ist so groß geworden, dass immer mehr Menschen, die wenig mit den von der AfD vertretenen Werten am Hut haben, diese unterstützen, weil sie sie als einzige Opposition wahrnehmen. Daher der bedrohliche Höhenflug der AfD in den Umfragen.
Die Hoffnung auf die Schwächung der AfD durch eine Wagenknecht-Partei als letzter Notnagel heißt in dieser Situation nicht, dass das Parteiestablishment langfristig davon profitieren wird.

Wie sich der Diskurs ändern könnte

Lange Zeit bedeutete ein Argument, das von der AfD vorgetragen wurde, dass keine andere Partei in die gleiche Richtung argumentieren würde.
Seit die AfD immer stärker wird, bemüht sich die Union erkennbar, ihr durch abgeschwächte Übernahme mancher Positionen das Wasser abzugraben und selbst die wetterwendische SPD-Innenministerin Faeser spricht sich nun dafür aus, rechtsstaatliche Prinzipien zu missachten, wenn es um den Kampf gegen „Clankriminalität“ geht – erkennbar um ihre schmalen Chancen im hessischen Wahlkampf ein bisschen aufzupäppeln.

Die Politik fängt an, noch weiter nach rechts zu rücken, um dem rechten Monopol an Opposition zu begegnen.

Wenn es eine Partei gibt, die die extreme Mitte von links kritisiert, kann das grundlegend anders werden. (Ich schreibe kann, weil man bisher nur spekulieren kann, wie die neue Partei aussehen und auftreten wird.) Wenn sie von links kritisiert werden, wird es für Parteien wie die Grünen und die SPD schwerer, unter dem zerschlissenen Mantel ihrer linken Vergangenheit ihre neoliberale, militaristische Politik zu verstecken.
Wenn die Wähler mangels linker Opposition nicht mehr alles für links halten müssen, was die Parteien etwas weniger weit rechts als die AfD von sich geben und beschließen, steigt die Chance enorm, dass sie verstehen, was passiert, und informiert über mögliche Alternativen entscheiden können.
Wenn die neue Partei Erfolg hat, steigt die Chance, dass linke Kräfte in der SPD und bei den Grünen gestärkt werden und liberale in der FDP. Dazu braucht es keine Mehrheit und keine Regierungsbeteiligung.
Die oben zitierten defätistischen Kalkulationen über Machtverhältnisse in Mehrparteiensystemen sind viel zu eindimensional gedacht.

Natürlich wird versucht werden, die neue Partei, wenn sie einmal da ist, mit einer Kombination aus Querfront- und Kommunismusvorwürfen zu diskreditieren. Ob das gut funktionieren wird, ist allerdings noch die Frage. Schließlich kann die neue Partei die neoliberal-rechte AfD-Oppositon ebenso hart kritisieren wie die extreme Mitte und wird es wohl auch tun, jedenfalls dort, wo es wirklich um Fragen von links und rechts geht.

Dazu noch ein recht aktueller Kommentar von S.Wagenknecht:

Sinnloser Wirtschaftskrieg

Sanktionen und Umverteilung

Endlich sieht die Außenministerin es ein: Die vom Westen verhängten Sanktionen schaden Russland nicht. »Eigentlich hätten wirtschaftliche Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen. Das ist aber nicht so.

wagenknecht2018

wagenknecht2018

(…)

Wir haben erlebt, dass mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist«, so Baerbock in einem Interview. Nun ist es alles andere als rational zu erwarten, dass man Konflikte und Kriege durch endlose Waffenlieferungen beenden kann. Und nicht weniger dumm ist es, einen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Rohstofflieferanten zu führen, der sehr wohl massive Schäden anrichtet: bei uns! Die hohen Energiepreise sind Gift für unsere Industrie, Betriebe wandern ab, die Wirtschaft schrumpft wie in keinem anderen Land der G20, es droht eine Deindustrialisierung mit gravierenden Folgen für Arbeitsplätze, Löhne und den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Die Armut wächst, da immer mehr Menschen nicht wissen, wie sie bei gestiegenen Preisen über die Runden kommen sollen. Da die Ampel nichts gegen die Marktmacht und Preistreiberei in einigen Branchen unternommen hat, kam es außerdem zu einer hemmungslosen Umverteilung von unten nach oben: Während die Reallöhne im letzten Jahr um mehr als vier Prozent zurückgegangen sind, konnten sich Dax-Konzerne über einen Rekordgewinn von 171 Milliarden Euro freuen. Über 50 Milliarden Euro an Dividenden werden in diesem und im nächsten Jahr an Aktionäre von Dax-Konzernen ausgeschüttet – rund doppelt soviel wie im Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre.
Und da die Ampel von höheren Steuern auf Konzerngewinne oder Milliardenvermögen nichts wissen will, stehen uns die härtesten Verteilungskämpfe noch bevor.

»Der Staat kann nicht überall fördern und subventionieren«, begründete Finanzminister Lindner seine Kürzungsvorgaben im Haushaltsentwurf u. a. für Bildung, Rente, Gesundheit und Pflege.
Für Soziales oder sinnvolle Investitionen ist angeblich kein Geld da – für endlose Waffenlieferungen an die Ukraine schon.
Fünf Milliarden Euro pro Jahr seien bis 2027 (!) im Haushalt als »Ertüchtigungshilfen« für das ukrainische Militär fest eingeplant, versprach Lindner Mitte August in Kiew, mehr als zwölf Milliarden hat man bereits geleistet.
Doch was hat diese angebliche Hilfe gebracht, außer einer Eskalation der Gewalt? Was außer einer Verschärfung von Armut und Hunger gerade auch in Ländern des Südens? Statt weiter Tod und Zerstörung zu subventionieren, braucht es endlich politischen Druck für einen Waffenstillstand.
Und statt sich von den USA auch noch in Konflikte mit China treiben zu lassen, sollte man sich lieber für eine multipolare Weltordnung mit fairen Handels- und Finanzbeziehungen einsetzen statt für willkürliche Sanktionen.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Sahra Wagenknecht im NachDenkSeiten-Interview: „Natürlich ist auf unserer Kundgebung in Berlin jeder willkommen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Heute ganz aktuell und ausführlich. Gut, dass es die NachDenkSeiten gibt.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=94067
Auszüge:

Sahra Wagenknecht stellt sich den Fragen unserer Leser. Im Interview spricht sie über das Zustandekommen des Manifests, die „armselige Debattenkultur“ in Deutschland und stellt klar, dass sie sich nicht, wie zuvor kolportiert, für einen Ausschluss von AfD-Mitgliedern bei der geplanten Friedenskundgebung am 25. Februar vor dem Brandenburger Tor ausgesprochen hatte.
Zudem geht sie auf die Kritik ein, das Manifest für Frieden würde die Vorgeschichte des Konfliktes ausblenden und Russland einseitig als Aggressor darstellen und skizziert ihren Ansatz für einen ersten Waffenstillstand.
Abschließend beantwortet sie die Frage, die uns in Dutzenden Leserbriefen erreichte: Wann sie plane, ihre eigene Partei zu gründen. Das Interview führte Florian Warweg.

Frau Wagenknecht, Sie haben kürzlich zusammen mit der Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer das „Manifest für Frieden“ initiiert und rufen gemeinsam zur Friedenskundgebung am 25. Februar um 14 Uhr vor dem Brandenburger Tor auf. Können Sie uns verraten, wie es zu dieser Zusammenarbeit kam und wer da auf wen zugegangen ist?

Ich habe mit Alice Schwarzer seit knapp einem Jahr Kontakt. Ich hatte ihr damals geschrieben und mich für ihren Offenen Brief an Scholz bedankt, über den ich unglaublich froh war.
Wir haben uns danach hin und wieder geschrieben, und im Januar, als die Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern hochkochte, kam Alice Schwarzer auf mich zu und sagte: Wir müssen etwas machen. Da war ich natürlich sofort dabei.

Der Spiegel kürte Sie beide zu „Verliererinnen des Tages“ und erklärt, Ihr Aufruf lese sich, als käme er direkt aus der Feder des Kreml-Pressesprechers. In eine ähnliche Kerbe haut die FAZ, dort ist das Manifest eine „Propaganda-Hilfe für Putin“, in der taz wird Ihr Anliegen als „politobszön“ und „amoralisch“ bezeichnet, in der Süddeutschen war mit Verweis auf den Politologen Herfried Münkler von „Komplizenschaft mit dem Aggressor” die Rede.
Die Reaktion von CDU- und Ampel-Vertretern war ähnlich vernichtend, auch aus der eigenen Partei hagelte es massive Kritik.
Wieso reagiert Ihrer Meinung nach der mediale und politische Mainstream mit so viel Häme und geradezu Hass auf eine Petition, die sich für Friedensverhandlungen und einen Stopp der „Eskalation der Waffenlieferungen“ ausspricht, also noch nicht einmal einen generellen Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordert?

Ja, das Niveau der politischen Debatte in Deutschland ist wirklich armselig und die Konformität der großen Medien in dieser Frage einer Demokratie unwürdig. Warum sind sie so?
Die ZDF-Sendung Die Anstalt hatte vor längerer Zeit mal eine sehr aufklärende Sendung über die engen Verbindungen zwischen einflussreichen deutschen Journalisten und U.S.-Think-Tanks.
Und selbst, wo es keine solchen Bande gibt: Die meisten Journalisten leben in der grünen Blase, in der Kriegsbesoffenheit aktuell en vogue ist.

Jetzt sind Sie und Frau Schwarzer ja bei weitem nicht die Einzigen, die derzeit verbal dermaßen angegangen werden, weil sie sich für Friedens-Verhandlungen aussprechen. Man denke nur an die hysterischen Kampagnen gegen Gabriele Krone-Schmalz und Ulrike Guérot.
Wie erklären Sie sich diesen zunehmenden Drang in Politik und Medien, Menschen mit anderen Meinungen und Einschätzungen zum Umgang mit dem Ukraine-Krieg nicht nur zu kritisieren, sondern sie bewusst moralisch abzuwerten? Was bedeutet das für die Debattenkultur in unserem Land?

Wer keine guten Argumente hat, muss es mit Emotion und Moralisierung versuchen. So funktioniert die Cancel Culture ja auch auf anderen Gebieten. Und wie mit den mutigen Frauen Gabriele Krone-Schmalz und Ulrike Guérot umgegangen wird, schafft ein Klima der Einschüchterung.
Tatsächlich haben uns ja auch Einige, die wir als Erstunterzeichner angesprochen hatten, mehr oder minder deutlich gesagt, dass sie zwar unser Anliegen teilen, sich diesem öffentlichen Shitstorm nicht aussetzen möchten. Interessant ist aber, dass trotz des Hasses und der Häme, die über uns ausgekippt wurden, in nur einer Woche eine halbe Million Menschen unser Manifest unterzeichnet haben.
Das übertrifft alle Erwartungen. In Umfragen ist eine Mehrheit für Verhandlungen und gegen die Ausweitung der Waffenlieferungen.
Die Menschen lassen sich von der medialen Propaganda – so muss man es ja leider nennen – Gott sei Dank immer weniger beeindrucken.

Neben der schon erwähnten Kritik, die Ihnen „Kreml-Propaganda“ vorwirft, gibt es auch eine ganz anders geartete Kritik, die der Petition vorwirft, einseitig Russland als Aggressor zu benennen und dabei die Vorgeschichte zu ignorieren, angefangen vom Maidan-Putsch, über den jahrelangen massiven Beschuss ziviler Ziele im Donbass ab 2014 durch die ukrainische Armee bis zur massiven Präsenz von NATO-Beratern und dem Eingeständnis Angela Merkels, Minsk II sei nur Mittel zum Zweck gewesen, um die Ukraine gegen Russland aufzurüsten.
Wie bewerten Sie diese Kritik und mit welchen Argumenten würden Sie diejenigen versuchen zu überzeugen, die erklären, dass sie diesen „grundsätzlich guten Aufruf“ deswegen nicht unterzeichnen können, dies doch noch zu tun?

Wir wissen um die Vorgeschichte des Krieges und ich selbst habe sie öffentlich immer wieder thematisiert. Dieser Krieg wäre verhinderbar gewesen und Teile des politischen Establishments der USA haben es geradezu darauf angelegt, dass der Konflikt militärisch eskaliert.
Es war immer klar, dass Russland nicht hinnehmen wird, dass die Ukraine ein militärischer Vorposten der Vereinigten Staaten wird und dann möglicherweise Raketen an der russischen Grenze stehen, die Moskau in fünf Minuten erreichen können.
Trotzdem ist es meine tiefe Überzeugung: Krieg ist nie eine Lösung. Mit dem Befehl zum Einmarsch hat die russische Führung Völkerrecht gebrochen und sich schuldig gemacht. Das muss man ohne jede Einschränkung verurteilen. Es gibt immer auch andere Wege.
Aber selbst wer das anders sieht: Es geht doch jetzt darum, alle Kräfte zu bündeln, um Druck für einen schnellen Verhandlungsfrieden auszuüben.
Da sollten wir an einem Strang ziehen und brauchen jede Unterschrift – und jeden Kundgebungsteilnehmer am 25. Februar in Berlin.

Kommen wir auf die von Ihnen geplante Friedenskundgebung am 25. Januar vor dem Brandenburger Tor zu sprechen.
Es wird kolportiert, dass Sie AfD-Mitglieder und -Wähler von der Teilnahme an der Kundgebung ausgeschlossen haben. Können Sie das so bestätigen?
In diesem Zusammenhang erreichten uns auch zahlreiche Leserzuschriften, die die Gretchenfrage in Bezug auf die Teilnahme von AfD-Mitgliedern stellen und ganz grundsätzlich fragen, ob es in dieser existenziellen Frage von Krieg oder Frieden nicht geboten sei, mit den Kräften aller politischen Lager zusammenzuarbeiten, ohne dabei alle sonstigen politischen Differenzen zu verschweigen. Was ist Ihre Haltung dazu?

Natürlich ist auf unserer Kundgebung jeder willkommen, der ehrlichen Herzens für Frieden und gegen Waffenlieferungen demonstrieren möchte.
Was wir nicht dulden werden, sind rechtsextreme Flaggen, Embleme und Symbole. Dass so etwas auf einer Friedenskundgebung nichts zu suchen hat, sollte sich eigentlich von selbst verstehen.
Immerhin steht der Rechtsextremismus in der Traditionslinie eines Regimes, das den schlimmsten Weltkrieg seit Menschheitsgedenken vom Zaun gebrochen hat.
Zu der schwachsinnigen Debatte, wir seien „rechtsoffen“, fällt mir ansonsten nur der Hinweis ein, dass nicht der Ruf nach Frieden, sondern die bei vielen unserer Kritiker zu beobachtende Unterstützung von Militarismus und Krieg seit ewigen Zeiten Kennzeichen rechter Politik ist. In diesem Sinne haben wir leider eine „rechtsoffene“ Regierung und die Grünen sind die Schlimmsten darin.

Da wir gerade von Allianzen sprachen. Deutschland ist zweifelsfrei das Schlüsselland in Europa in der Frage Krieg oder Frieden mit Russland.
Gab es beim Verfassen des Manifests aber auch die Überlegung, dieses auf andere europäische Staaten auszuweiten und nicht nur an Olaf Scholz zu richten?
In Frankreich hätte das Manifest beispielsweise vermutlich auch viel Unterstützungspotenzial. Gab es schon Gespräche in diese Richtung, etwa mit Jean-Luc Mélenchon, zu dem Ihr Mann gute Verbindungen unterhalten soll?

Wir haben Mitte Januar zum ersten Mal darüber nachgedacht, eine solche Initiative zu starten, am 10. Februar wurde das Manifest mit 69 prominenten Erstunterzeichnern veröffentlicht, seither tun wir alles, um die Kundgebung auch ohne starke Organisationen im Rücken solide vorzubereiten.
Wir haben in dieser Situation noch keine Möglichkeit gehabt, an einer europaweiten Vernetzung zu arbeiten. Aber es ist eine wichtige Anregung, die wir in Zukunft gern umsetzen werden.

Mehrere Leserzuschriften haben uns erreicht, die sich hilfesuchend an Sie wenden und um Argumentationshilfe für Diskussionen im Bekannten- und Freundeskreis bitten, was denn konkret umsetzbare Vorschläge für einen aktuellen Verhandlungsfrieden zwischen der Ukraine (plus westliche Unterstützer) sowie Russland wären. Was antworten Sie diesen Lesern?

Nach übereinstimmender Aussage des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennet und des türkischen Außenministers gab es im Frühjahr bereits Gespräche und eine so starke Annäherung zwischen Moskau und Kiew, dass ein Friedensschluss in greifbarer Nähe war. Verhindert wurde er damals durch London und Washington.
Kern des Ukraine-Konflikts war immer die Frage einer NATO-Mitgliedschaft, die Frage möglicher westlicher Militärbasen und Raketenrampen.
Im Frühjahr waren die Russen offenbar bereit, sich für ein Zugeständnis in dieser Frage hinter die Linien des 24. Februar 2022 zurückzuziehen. Ob das heute noch möglich wäre, weiß ich nicht.
Mit der Annexion der Regionen Luhansk und Donezk hat Putin Fakten geschaffen, hinter die er kaum zurückgehen wird.
Aber das zeigt doch wieder: Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird ein Kompromiss. Aktuell sehe ich eigentlich nur den Weg, die Frontlinie zunächst einzufrieren und später ein UN-beaufsichtigtes Referendum in diesen Gebieten durchzuführen.

seymour hersh

seymour hersh

In den letzten Tagen sorgte die Recherche des renommierten US-Investigativ-Reporters Seymour Hersh für Furore, in welcher er erklärte, Nord Stream sei auf direkten Befehl des US-Präsidenten Joe Biden gesprengt worden.
Bereits vor der Hersh-Veröffentlichung war offensichtlich geworden, dass die Bundesregierung keinerlei Interesse zeigt, die mutwillige Zerstörung eines der größten und teuersten Infrastrukturprojekte Europas wirklich aufklären zu wollen.
Was ist Ihre Einschätzung der Lage? Kennt die Bundesregierung den Täter, traut sich aber aus diversen Gründen nicht, dies öffentlich kundzutun?

Die Bundesregierung gibt jedenfalls selbst zu, dass sie mehr weiß, als sie öffentlich sagt. Kollegen im Bundestag und auch ich selbst haben sie mehrfach dazu befragt und immer wurde die Antwort verweigert, nicht, weil man vorgab, nichts zu wissen, sondern „aus Gründen des Staatswohls“.
Wer eins und eins zusammenzählen kann, dürfte keinen großen Zweifel daran haben, wer die Pipeline gesprengt hat. Zumal Biden das ja faktisch in der Pressekonferenz mit Scholz angekündigt hat.
Die russisch-deutschen Pipeline-Projekte waren den Amerikanern immer ein Dorn im Auge, schon zu Beginn der Zusammenarbeit in den achtziger Jahren.
Und tatsächlich gibt es auch nur einen großen Profiteur: Alle Experten sind sich einig, dass das nunmehr aus Europa verbannte preiswerte russische Gas in Zukunft nahezu vollständig durch das sehr viel teurere US-amerikanische Flüssiggas ersetzt wird.

Im Zusammenhang mit Nord Stream, dem Sanktionsregime und dem Krieg in der Ukraine erreichten uns viele Leserzuschriften mit einer Frage an Sie, die sich so zusammenfassen lässt:
Wie können wir, Deutschland und EU, uns aus der desaströsen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Hörigkeit und Abhängigkeit von den USA lösen?
Was bräuchte es, um dies überhaupt zu einem realistischen Szenario zu machen?

Also, in erster Linie bräuchte es einen Bundeskanzler mit Rückgrat. Und Koalitionspartner, die ihn dabei unterstützen.
Auf europäischer Ebene sollte die Bundesregierung die Zusammenarbeit mit Ländern wie Frankreich suchen, die sich traditionell ein unabhängigeres, souveränes Europa wünschen.

Die wohl unangenehmste Frage für Sie haben wir uns in alter Tradition für den Schluss aufgehoben. Wie bereits erwähnt, hatten wir im Vorfeld des Interviews unseren Lesern angeboten, uns Fragen an Sie zuzuschicken.
Die Reaktion war geradezu überwältigend, uns erreichten über 350 Fragen. 84 davon, also 24 Prozent der eingegangenen Zuschriften, hatten folgendes Thema in unterschiedlichen Frage-Formulierungen zum Inhalt: „Wann gründen Sie endlich Ihre eigene Partei?“, „Warum haben Sie noch keine eigene Partei gegründet?“, „Was hindert Sie daran, eine neue Partei zu gründen?“, „Wird zu den Europawahlen eine neue Bewegung/Partei unter Mitwirkung von Ihnen antreten, die sich kompromisslos gegen Waffenlieferungen und Sanktionen stellt, oder bleibt es beim Schaulaufen?“.

Das ist eine wichtige Frage, über die ich natürlich, wie viele andere, nachdenke. Es ist ja tatsächlich so, dass es eine riesige Leerstelle im politischen System gibt.
Die Linkspartei fällt als relevante Kraft für Frieden und Gerechtigkeit nach dem Urteil vieler Wähler aus, seit die Parteispitze die woken Grünen kopiert und bei wichtigen Themen Angst vor der eigenen Courage hat.
Insofern wäre da schon Bedarf für eine neue Partei, die rund 30 Prozent der Menschen endlich einmal wieder eine Stimme gibt.
Aber es ist in Deutschland nicht leicht, eine neue Partei zu gründen. Es gibt viele Fallstricke. So ein Projekt ohne solide Vorbereitung zu beginnen, hätte wenig Aussicht auf Erfolg.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Parteitag der Linkspartei: Abschied einer Überflüssigen – Kommentar von Dagmar Henn

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

dagmar henn

dagmar henn

Wieder mal hat Dagmar Henn ins Rote getroffen:
https://de.rt.com/meinung/141952-parteitag-linkspartei-abschied-uberflussigen/
Auszüge:

Eigentlich wollte sich diese Partei neu erfinden. Dafür war die Dekoration auch nicht mehr rot, sondern neuerdings regenbogenfarben.
kuekenpiepsenHeraus kam aber eine Mischung aus Unterwerfung und Halbherzigkeit, die keine Antworten auf die tatsächlichen Probleme zu bieten hat.

Fünfzehn Jahre liegt die Gründung der Linkspartei durch Zusammenschluss inzwischen zurück. Ich war damals auf dem Gründungsparteitag als Delegierte der bayerischen WASG. Der Vereinigung vorausgegangen waren die ersten heftigen Auseinandersetzungen, die oft quer durch die beiden Ausgangsparteien gingen. Einer der Punkte, der bereits damals zu Streit führte, war die Haltung zur NATO. Schon bei der Verabschiedung der programmatischen Eckpunkte gab es damals Versuche, die Formulierung „Ausstieg aus der NATO“ durch die weichere (und weitaus unrealistischere) Version „Auflösung der NATO“ zu ersetzen.

Diese Entwicklung scheint jetzt an ihr Ende gekommen zu sein. Denn es wird zwar betont, man habe „Kritik an der NATO“ (Janine Wissler), oder „Die EU und die NATO haben in Bezug auf Russland und die Ukraine alles falsch gemacht, was man falsch machen kann“ (Gregor Gysi), um dann aber hinterher zu schieben: „Aber es war kein Fehler dabei, der den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine auch nur im Geringsten rechtfertigt.“

Wenn ich Parteitagsreden lausche, zumindest bei der Linken, läuft in meinem Kopf immer eine andere Rede mit, die all das beinhaltet, was hätte gesagt werden müssen. Diesmal war sie so laut, dass es schwierig war, den anderen zuzuhören.
Schließlich ist die Lage des Landes kritisch. Die Inflation steigt in ungekannte Höhen, die Sanktionspolitik droht wirkliches Elend auszulösen, und nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob der stürzende Hegemon USA schnell noch die Menschheit mitreißen kann. Die Ansprüche an Konformität, die gestellt werden, um sich in Deutschland überhaupt noch äußern zu dürfen, verschärfen sich immer weiter, erst bei dem Thema „Corona“, jetzt über den Umweg „Ukraine“.
Es bräuchte wirklich eine Opposition, die dem entgegentritt und all jenen eine Stimme verleiht, die unter der Verbreitung des ökonomischen Chaos wie unter der Corona-Gefangenschaft leiden.

Die Linke kann mit nichts davon dienen. Im Gegenteil, etwa ein Drittel der Delegierten saß mit Maske im Saal. Und was die Sanktionen angeht, gibt es gerade mal zaghafte Kritik, sogar im Leitantrag noch auf völlig verfehlte Art und Weise, weil dort beklagt wird, sie träfen die russische Bevölkerung, aber kein Wort über die deutsche fällt. Man konnte sich gerade noch dazu aufraffen, gegen die hundert Milliarden für die Bundeswehr zu stimmen, aber das ist schon das höchste der Gefühle.

Dabei hat sie sich wirklich ins Zeug gelegt – rednerisch, die Trotzkistin Wissler –, hatte gut geübt, mal ruhiger, mal erregter zu sprechen, steigerte sich sogar so weit hinein, dass ihr einmal kurz die Luft ausging, und die versammelten Delegierten klatschten auch ganz brav, bis hin zu Standing Ovations am Ende.

Geschlossenheit solle – wieder einmal – diese Partei retten. Darauf versuchten sowohl Gysi als auch Wissler sie einzuschwören: keine Auseinandersetzungen über die Medien mehr – als wären es tatsächlich die internen Gefechte gewesen, die den Stimmenanteil bei den Erwerbslosen und den Arbeitern, bei denen die Linke mal ernste Konkurrenz für die SPD war, ins Bodenlose fallen ließen.
Und natürlich richtet sich diese Geschlossenheitsarie vor allem gegen Sahra Wagenknecht, die mit einem Antrag, etwas gemäßigter in Richtung Russland zu polemisieren, scheiterte und die daraufhin – termingerecht zum Parteitag – einen Corona-Kontakt entdeckt hatte.

Wissler hatte am ersten Tag des Parteitags schon erklärt: „Die russische Führung trägt die Verantwortung für diese Eskalation. Der verbrecherische Angriffskrieg ist durch nichts zu rechtfertigen und natürlich gilt unsere Solidarität den Menschen in der Ukraine, die um ihr Leben fürchten.“

Seit Wolfgang Gehrcke sich aufs Altenteil zurückgezogen hat und auch Andrej Hunko abserviert wurde, haben die ukrainischen Antifaschisten, die schon seit acht Jahren um ihr Leben fürchten müssen, in der Linken keine Fürsprecher mehr. 2014 gab es durch Gehrcke und Hunko zumindest noch gelegentlich Berichte darüber, wie es beispielsweise der KP der Ukraine in ‚Bandera’stan ergeht. Oder wenigstens einen humanitären Blick auf den Donbass und tatkräftige Solidaritätsspenden-Transport für den Donbass, kein völliges Abstreiten, sondern Dokumentation des Krieges dort vor Ort.
Kam der Donbass bei Wissler oder Gysi jetzt überhaupt noch vor? Nein, kam er nicht.

Stattdessen wird eine Politik, die über Jahre hinweg jede Chance auf einen Frieden ungenutzt ließ, als „Fehler“ verharmlost, wie Gysi das tat, statt eine gezielte Konfrontationspolitik als solche zu benennen.
Klar, täte man dies, so könnte man sich nicht durch die tagtägliche Beschwörung des „verbrecherischen russischen Angriffskriegs“ mit dem Rest der NATO-Parteien gemein machen, schon gar nicht mit den gemeingefährlich transatlantischen Grünen, mit denen man doch so gerne koalieren würde.

So hebt Wissler mit viel Pathos an: „Wenn Rentnerinnen ihre Wohnungen nicht heizen, weil sie Angst vor der Gasrechnung haben, dann sind das Zustände, mit denen wir uns niemals abfinden können.“ Aber was folgt daraus? Eine Anklage gegen die geopolitischen „Spielchen“, die für diese weiter steigenden Gaspreise gesorgt haben, oder gegen die Sanktionen? Mitnichten.
Das Maximum an Forderungen reicht noch nicht einmal bis zum Niveau der Sozialdemokratie der 1960er; sie fordert eine „staatliche Strompreisaufsicht„, keine Rückkehr zu öffentlicher Stromversorgung oder eine Beendigung der Spekulationen an der Strombörse.

Was gab es nicht alles für Erwartungen bei Gründung dieser Partei? Vorausgegangen waren die Proteste gegen die Einführung von Hartz IV, das zu Recht von vielen als Bruch mit Bürgerrechten und Menschenwürde empfunden wurde, und ein geradezu körperlich spürbares Verlangen in der Gesellschaft, endlich doch der neoliberalen Menschenverachtung entrinnen zu können, was sich viele einige Jahre zuvor von der Wahl Gerhard Schröders zum Kanzler vergeblich versprochen hatten.

Zu diesem Zeitpunkt war die eine Vorgängerpartei, die PDS, nur noch mit zwei Sitzen im Bundestag vertreten – die andere, die WASG, überhaupt nicht. Aber schon nach der ersten erfolgreich absolvierten Bundestagswahl begann das, was der Fluch jeder parlamentarischen Partei ist: die Verteilung und Sicherung von Pfründen und die weitgehende Übernahme des politischen Lebens durch Abgeordnete und deren Apparat.
Der Zeitraum von der euphorischen Gründung bis zum Erstarren betrug nur wenige Jahre. Als ich die Linkspartei im Jahr 2014 verließ, hatte der Landesverband Bayern bereits einige Parteitage ohne einen einzigen inhaltlichen Antrag hinter sich.

Das, was letztlich beschlossen wird, folgt also den Interessen der berufsmäßigen Politiker, die nach wie vor davon träumen, irgendwie ausgerechnet im Schlepptau der Grünen mal regieren zu dürfen; ein Ziel, das sicher mit dazu beigetragen hat, die Stimmen im „Anschlussgebiet Ost“ zu reduzieren, wo der transatlantische Fanatismus noch immer nicht ganz so populär ist.
Der Verlust dieser Wählerbasis machte sich schmerzhaft genug bemerkbar, sodass Gysi die Formulierung „es gab keine Vereinigung, nur einen Anschluss“ für nötig hielt und auch das Westgewächs Wissler einige Worte über endlich fällige Angleichung der Löhne im Osten verlor.

Der Zug ist allerdings längst weitergefahren, und auf der Liste der Ost-West-Differenzen findet sich mittlerweile außerdem eine stärkere Kritik der staatlich verordneten Corona-Maßnahmen wie auch der Wunsch nach einer anderen Politik Russland gegenüber, ganz zu schweigen davon, dass das Anschlussgebiet die Erfahrung eines industriellen Kahlschlags bereits gemacht hat und darum auch klimapolitische Euphorie vermissen lässt.

Wissler liegt voll auf Klima-Linie. Sie hat es sogar verpasst, dass der Versuch, die Zerstörung des Ahrtals auf das Klima zu schieben, gescheitert war, weil herauskam, dass schlichtweg die rechtzeitige Warnung vor der Flut missachtet wurde, und verwendet es als Beispiel für „Folgen des Klimawandels“.

Die katastrophalen Ergebnisse der letzten Wahlen, die die Karriereaussichten der jüngeren Riege, die wie Wissler überproportional aus dem trotzkistischen Flügel „Marx 21“ stammt, zunichte zu machen drohen, sorgen zwar dafür, dass die Frage aufgeworfen wird, „was unser Zweck für die Gesellschaft ist“ (Gysi) oder „wo die Partei im Hier und Heute steht“ (Wissler).
Aber beide Reden gehen ebenso wie die Leitanträge an der Wirklichkeit völlig vorbei. Sie hätten genauso vor fünf Jahren gehalten werden können, sofern man den Kotau vor dem „Angriffskrieg“ streicht, als hätte sich in der Welt nichts geändert. Als zöge nicht gerade die ernsthafteste Krise seit Jahrzehnten heran, das Gewitter, das seit 2008 aufgezogen ist, und als gäbe es keine Gründe, den kommenden Winter zu fürchten.

Es scheint, als wären keinerlei Kapazitäten mehr vorhanden, wirtschaftliche wie geopolitische Gegebenheiten auch nur zu analysieren.

Denn es gibt zwar dekorative Anmerkungen, man sei für „eine gerechte Weltwirtschaftsordnung“ – in Wisslers Rede ebenso wie im Leitantrag –, aber wie diese aussehen soll, wird nicht genauer ausgeführt, ganz zu schweigen von der ausgeblendeten Erkenntnis, dass gerade jetzt eine solche Weltwirtschaftsordnung dabei ist, im Kampf gegen die Hegemonie der USA zu entstehen.

Was auf der Welt geschieht, wird nur noch stückweise wahrgenommen; ein kleiner Blick über den Rand der deutschen Suppenschüssel hätte schon vermitteln können, dass sich die meisten Länder dieses Planeten an den Sanktionen gegen Russland nicht beteiligen, und man hätte nachdenken können, warum das auch bei diversen freudig begrüßten linken Regierungen in Lateinamerika so ist; aber lieber ließ man sich in der üblichen Form durch ukrainische Propagandisten unterhalten, etwa von einer jungen hübschen Frau, die erzählen durfte, wie „Russland einen Vernichtungskrieg führt und Menschen foltert und ermordet.“

Nein_zur_Nato_DDR1957Vergangenen Montag gab es in Brüssel Streiks und eine Demonstration von 80.000 Gewerkschaftern. Dabei ging es nicht nur um Löhne, die mit der Inflation nicht Schritt halten. Es wurde auch gegen die NATO demonstriert. Die Belgier haben keine Hemmungen, zusammenzufügen, was zusammengehört.

Die deutsche Linkspartei hat fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung ihren Parteitag genutzt, um zu belegen, dass sie heute so kein Mensch mehr braucht.
Die gerechte Weltwirtschaftsordnung wird ganz ohne Mitwirken oder Genehmigung von Gysi und Wissler entstehen, und auch ihre leise „Kritik an der NATO“ und der ebenso leise Wunsch nach einer „grundlegenden Veränderung der EU“ werden nichts daran ändern, dass beide, die EU wie die NATO, gerade dabei sind, eine krachende Niederlage zu erleiden, und dass jeder Weg, der in irgendeine Zukunft für Deutschland führt, nur ohne beide begehbar ist. *)

Der letzte Satz in Janine Wisslers Rede war: „Ich will, dass diese Mitglieder wieder stolz auf diese Partei sein können, wenn sie morgens in die Zeitung schauen.“ Für diese universelle Verleugnung der Wirklichkeit gibt es sicher eine kleine Streicheleinheit von den Produzenten der transatlantischen Einheitsmeinung.
Um für die Gesellschaft nützlich zu sein, müsste die Linkspartei heute wenigstens das geistige Niveau der belgischen Gewerkschafter erreichen.

*: das sehe ich etwas zweckoptimistischer. Wir werden innerhalb dieser Bündnisse kämpfen müssen, weil die nicht von selbst zerfallen. Leider werden wir die EU nicht so schnell los noch wird eine sozialistische Umgestaltung dieser neoliberalen Wirtschafts- und Kriegsführungsunion gelingen. Aber was bleibt dann noch ?

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Linke will mehr NATO wagen – Parteivorstand übernimmt rechten Änderungsantrag in eigenen Leitantrag – KLAUS LEDERER GIBT DEN JOSCHKA – Aktuelles Interview mit Sahra Wagenknecht

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

kuekenpiepsenAktuell aus der jungen Welt: Da wollen sich Leute offensichtlich durch Kükenpiepsen ihre berufliche Zukunft in entsprechenden Institutionen der Atlantiker sichern. Wir werden die politische Zukunft dieser Initiatoren im Auge behalten.
Noch mehr Spannungen, die die Linke zu zerreißen drohen – ausgerechnet die letzte im Parlament vertretene, bisher entschlossen pazifistische Partei. Im Anschluss das Interview vom 22.Juni aus der Frankfurter Rundschau.
https://www.jungewelt.de/artikel/428867.linkspartei-im-niedergang-linke-will-mehr-nato-wagen.html
Auszüge:

Von Nico Popp

logo steht kopf

linke steht kopf

Der rechte Flügel der Linkspartei geht unmittelbar vor dem Bundesparteitag aufs Ganze.
Nach jW-Informationen haben Parteivorstand und Antragsberatungskommission am vergangenen Wochenende einen Änderungsantrag zum Leitantrag 3 in den ursprünglichen Antrag übernommen, der darauf zielt, die Partei in der Außenpolitik von der bislang verbindlichen Festlegung auf das Völkerrecht zu lösen.

Der Leitantrag 3 (»Keine Aufrüstung, kein Krieg. Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität«) wurde vielfach bereits in seiner ursprünglichen Form als politisch problematisch empfunden; es liegen mehrere Ersetzungsanträge und zahlreiche Änderungsanträge vor.
Nun hat der Parteivorstand ausgerechnet einen Änderungsantrag, mit dem der Leitantrag politisch noch weiter nach rechts zugespitzt wird, in den eigenen Antrag übernommen; er nimmt damit den Delegierten nebenbei auch die Möglichkeit, über diesen Änderungsantrag gesondert zu diskutieren und abzustimmen.

Der fragliche Antrag, mit dem die Streichung des Satzes »Wir nehmen keine Verletzung des Völkerrechts hin« vorgeschlagen wird, wurde von der Bundestagsabgeordneten Caren Lay, dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer, den stellvertretenden Vorsitzenden des Berliner Landesverbandes Sandra Brunner und Tobias Schulze und anderen eingebracht.

In der Begründung heißt es, das Völkerrecht sei »eine zivilisatorische Errungenschaft«, stehe aber »in bestimmten Fällen mit der Verteidigung der Menschenrechte im Konflikt«. In diesen Situationen – als Beispiele genannt werden Ruanda und Syrien – müsse »man« im »Einzelfall entscheiden«. Andernfalls könne die »Berufung auf das Völkerrecht« und »den Grundsatz der Nichteinmischung« dazu dienen, »nichts gegen die massive Verletzung der Menschenrechte zu unternehmen«.

Inhaltlich ist das nichts anderes als die vollumfängliche Übernahme der Konstruktion der »humanitären Intervention«, mit der »westliche« Staaten in der jüngeren Vergangenheit ihre großen und kleinen Kriege gerechtfertigt haben.
Diese proimperialistische Positionierung war innerhalb von Die Linke bislang auf den rechten Rand der Partei beschränkt, wurde vom Parteivorstand aber nun in den eigenen Leitantrag integriert.
Eine Delegierte des Bundesparteitages sagte am Dienstag im Gespräch mit jW zu dieser Entwicklung, es verdichte sich der Eindruck, dass hier »zwei Züge aufeinander zurasen«.

Mein Kommentar: Man schaue sich an, was derlei „humanitäre Interventionen“ im Geiste Joschka Fischers in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen gebracht haben. Nun ja, die Grünen sind damit groß geworden. Auch in der Linken haben solche „Übungen“ schon 2018 stattgefunden: https://josopon.wordpress.com/2018/08/06/eine-zasur-spitzen-der-linkspartei-geben-orientierung-am-volkerrecht-auf-und-beweihrauchern-islamistische-kopfabschneider-und-rebellen/
Ausgerechnet die russische Regierung argumentiert ja ganz ähnlich mit ihrer „Militäroperation“ zum Schutz der von der Ukraine aus seit 2014 beschossenen Donbass-Republiken. Da wird dann bei uns auf einmal das Völkerrecht hoch gehalten.
Und solche Vögel sind in meiner Partei aufgestiegen ? Mir wird schlecht.

Und hier das aktuelle Interview:

Wagenknecht attackiert Linken-Chefin Wissler: „Wir brauchen frische Gesichter an der Spitze“

Erstellt: 22.06.2022, 19:27 Uhr Von: Fabian Hartmann

https://www.fr.de/politik/sahra-wagenknecht-linke-parteitag-richtungsstreit-parteifuehrung-erfurt-zr-91625341.html

wagenknecht2018

wagenknecht2018

Die Linke in der Krise: Vor dem Parteitag am Wochenende fordert Ex-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht im IPPEN.MEDIA-Interview einen Kurswechsel – für die Linke sei es „die letzte Chance“.

Berlin – Es steht schlecht um die Linke. Die Partei befindet sich in der größten Krise ihrer Geschichte. Die letzten Wahlen: allesamt verloren. Die Umfragewerte: im Keller. Die Partei: zerstritten. Am Wochenende trifft sich die Linke zum Parteitag in Erfurt. Eine neue Spitze soll gewählt und ein Aufbruchssignal gesendet werden. Doch die Gräben in der Partei sind tief. In zentralen Punkten wie dem Umgang mit Russland oder der Frage, für wen die Partei überhaupt Politik macht, stehen sich die Lager unversöhnlich gegenüber. Eine zentrale Rolle im Richtungsstreit spielt Ex-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Im Interview mit IPPEN.MEDIA fordert sie ein klassenkämpferisches Profil der Linken – und mehr Verständnis für Russland. Der Parteispitze wirft sie vor, „mit der bisherigen friedenspolitischen Tradition der Linken“ zu brechen.

Frau Wagenknecht, die Linke hat gerade ihren 15. Geburtstag begangen. Nach Feiern dürfte Ihnen aber nicht zumute sein, oder?

Ich bin immer noch froh, dass es vor 15 Jahren gelungen ist, die Linke zu gründen. Sie hatte bessere Zeiten, sie hatte Erfolge. Wir müssen uns besinnen: Warum haben wir es früher geschafft, viele Wähler zu überzeugen? Bei der Bundestagswahl 2009 kam die Linke auf 11,9 Prozent. 2017 hatten wir immerhin noch einmal über neun Prozent. Das sind Ergebnisse, von denen wir uns weit entfernt haben. Und das, obwohl es in Deutschland viele Menschen gibt, die sich mehr soziale Gerechtigkeit und das Bemühen um die diplomatische Lösung von Konflikten anstelle von Aufrüstung und Kriegsrhetorik wünschen. Das Potenzial ist da. Wir müssen unsere Fehler korrigieren, dann können wir auch wieder erfolgreicher werden.

Die Linke kämpft aktuell gegen die politische Bedeutungslosigkeit an. Wie kommt die Partei aus dieser existenziellen Krise?

Wir brauchen jetzt – und ich glaube, der Parteitag ist die letzte Chance dazu – einen Neuanfang. Wir können nicht auf dem Weg der letzten Jahre weitergehen, denn er hat dazu geführt, dass wir uns immer mehr von den Menschen entfernt haben, für die wir eigentlich da sein sollten: Menschen mit niedrigen Einkommen, mit kleinen Renten, Menschen, die aus ärmeren Verhältnissen kommen und oft nie die Chance hatten, tolle akademische Abschlüsse zu erlangen. Früher haben wir diese Menschen erreicht. Umfragen und Wahlen zeigen, dass uns das heute nicht mehr gelingt. Viele äußern das Gefühl, dass die Linke nicht mehr für sie da ist.

Woran liegt das?

Es hat mit unserer Sprache und unserer Themensetzung zu tun. Es gibt in der Partei eine Konzentration auf kleine Zirkel von Politaktivisten und auf die grünliberalen akademischen Großstadtmilieus.

Sahra Wagenknecht vor Linken-Parteitag: Russland-Sanktionen sind „völlig verrückt“

Die Linke hat es bei der Bundestagswahl nur dank drei gewonnener Direktmandate ins Parlament geschafft. Wenn so wenige Menschen sie wählen: Wird die Linke überhaupt noch gebraucht?

In ihrer derzeitigen Verfassung lautet das Urteil der Wähler offenbar, dass sie sie nicht brauchen. Aber wie gesagt: Eine Partei, die all diejenigen vertritt, die sich derzeit große Sorgen machen, wie sie angesichts extrem steigender Preise mit ihrem Einkommen über den Monat kommen, eine politische Kraft, die all denen eine politische Stimme gibt, die sich wünschen, dass die Ukraine nicht mit immer mehr schweren Waffen beliefert wird, sondern, dass es Verhandlungen und Kompromissbereitschaft gibt, eine Partei, die die völlig verrückten Russland-Sanktionen kritisiert, weil sie vor allem uns selbst schaden, während die russischen Einnahmen sogar steigen – eine solche Partei wird dringend gebraucht. Das ist die Linke aktuell nicht, aber das sollte sie wieder werden.

Auf dem Parteitag in Erfurt tritt auch die bisherige Parteichefin Janine Wissler wieder an. Sie hat gute Chancen, gewählt zu werden, obwohl ihre Bilanz ernüchternd ist. Sieht so ein Neuanfang aus?

Ein Neuanfang ist bekanntlich das Gegenteil von einem „Weiter so“. Ich glaube, wir brauchen frische, überzeugende Gesichter an der Spitze, Persönlichkeiten, bei denen die Leute sagen: Die setzen sich wirklich für uns ein! Am Ende wird der Parteitag entscheiden. Es gibt gute Kandidaten, ich hoffe, dass sie eine Chance erhalten.

Neben Janine Wissler treten die Bundestagsabgeordneten Heidi Reichinnek und Sören Pellmann sowie der EU-Parlamentarier Martin Schirdewan an. Welches Führungsduo wäre Ihnen am liebsten?

Ich werde jetzt keine Kopfnoten verteilen. Die Delegierten werden sich ein Urteil bilden. Sie müssen sich fragen: Wollen sie, dass es so weitergeht wie in den letzten Jahren? Wollen sie Leute an die Spitze wählen, die für Wahlniederlagen stehen oder solche, die wieder mehr Wähler gewinnen können?

Welche Erwartungen haben Sie an die neue Parteiführung?

Die Linke muss an den Alltag der normalen Menschen anknüpfen. Sie muss ihre Sprache sprechen. Und sie muss vor allem ihre sozialen Nöte in den Mittelpunkt stellen. Das macht sich an konkreten Fragen fest: Sind wir dafür, die Preise für Energie und Lebensmitteln zu deckeln, die Spritpreise mit einem Preisdeckel zu senken? Lehnen wir Sanktionen ab, die das Leben der Menschen unbezahlbar machen? Stehen wir weiterhin in der Tradition der Entspannungspolitik Willy Brandts oder kippen wir um und sind jetzt auch für Waffenlieferungen und ein Denken in militärischen Kategorien?

Linken-Parteitag: Sahra Wagenknecht will sich wieder stärker engagieren – wenn die Partei ihren Kurs wechselt

Gerade der Umgang mit dem Ukraine-Krieg spaltet die Partei.

Ich finde, wir müssen alle völkerrechtswidrigen Kriege verurteilen – den russischen Krieg genauso wie die US-geführten Kriege im Irak, in Afghanistan und anderswo. In der Ukraine sehen wir doch: Nicht die Entspannungspolitik, sondern ein Setzen auf Aufrüstung und Konfrontation vonseiten der USA hat diesen Konflikt angeheizt und ist letztlich mitverantwortlich für den Ausbruch des Krieges. Die Linke sollte da nicht immer hasenfüßiger werden. Unsere Kritik an der NATO ist nicht dadurch obsolet geworden, dass Putin einen verbrecherischen Krieg führt.

Die Linke wird als zerstritten wahrgenommen. Welchen Anteil haben Sie daran?

Natürlich ist es ein Problem, dass wir in vielen Fragen gegensätzliche Positionen vertreten. Die einen wollen die Spritpreise senken, die anderen lieber das Auto verbieten. Die einen sagen, das Ölembargo schadet vor allem Deutschland, die anderen wollen sämtliche Öl- und Gasimporte aus Russland einstellen. Wer soll eine Partei wählen, die sich derart widerspricht? Am Ende geht es aber nicht nur darum, einheitliche, sondern vor allem auch vernünftige Positionen zu finden. Wenn man Einigkeit um den Preis herstellt, dass sich noch mehr Menschen abwenden, dass sie weiter das Gefühl haben, ihre Sorgen und Ängste werden nicht zur Kenntnis genommen, dann hat man auch nichts gewonnen.

Sie fallen immer wieder mit Positionen auf, die quer zur Parteilinie liegen. Ihre Kritik an Fridays for Future, Linksliberalismus oder Identitätspolitik bringt die eigenen Genossen regelmäßig zur Weißglut.

Bei der Identitätspolitik und der Orientierung auf das grünliberale Milieu geht es um die Frage: Wie werden wir erfolgreich? Werden wir erfolgreich, wenn wir versuchen, die Grünen zu kopieren und uns vor allem um die gutsituierten Milieus bemühen, in denen die Grünen stark sind? Oder sollten wir uns nicht vielmehr um die Menschen bemühen, die bei allen anderen Parteien keine Stimme mehr haben. Das ist eine Grundsatzentscheidung. In den letzten Jahren haben wir es mit Identitätspolitik und grünen Lifestyle-Themen versucht. Der ausbleibende Erfolg spricht nicht dafür, diesen Weg weiterzugehen.

Welches Angebot können Sie der neuen Parteiführung machen, wie sieht Ihr Beitrag zur Erneuerung und Einigung der Linken aus?

Wir haben den „Aufruf für eine populäre Linke“ gestartet, der mit bisher über 5000 Unterschriften viel Resonanz gefunden hat. Das ist ein Beleg dafür, dass viele das Programm unterstützen, das wir dort vorgeschlagen haben: soziale Gerechtigkeit und die Ablehnung von Aufrüstung und Krieg. Wenn es auf dem Parteitag gelingt, sich personell und inhaltlich neu aufzustellen, dann wird die neue Parteiführung meine volle Unterstützung haben und ich werde mich mit aller Kraft dafür engagieren, die Linke wieder starkzumachen.

Linken-Parteitag: Wagenknechts Änderungsantrag sorgt für Wirbel

Und wenn nicht? Haben Sie auch über einen Austritt aus der Partei nachgedacht?

Ich hoffe, dass es auf diesem Parteitag gelingt, das Runder noch einmal herumzureißen. Es dürfte die letzte Möglichkeit sein.

Mit einem Änderungsantrag zum Parteitag sorgen Sie vorab für Wirbel. Die Parteiführung wollte den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine scharf verurteilen. Sie wollen diese Position mit Verweis auf andere Kriege abschwächen. Warum fällt es Ihnen so schwer, russische Verbrechen klar zu benennen?

Auch in unserem Antrag wird der völkerrechtswidrige Krieg Russlands klar verurteilt. Wir tun nur nicht so, als sei das der erste verbrecherische Krieg auf dieser Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieses Zeitenwende-Gerede machen wir nicht mit. Ihre Lesart unseres Antrags ist übrigens ein typisches Beispiel dafür, wie aus den eigenen Reihen eine völlig verfälschende Darstellung unseres Anliegens in die Öffentlichkeit gebracht wurde, die dann von vielen Journalisten übernommen wird. Wir relativieren nichts. Und es geht uns auch nicht darum, die Ukraine-Solidarität zu streichen.

Worum geht es dann?

Unser Antrag sagt zwei Dinge: Der Krieg Russlands ist verbrecherisch, aber verbrecherische Kriege, bei denen es um Großmachtambitionen und Einflusssphären geht, sind nichts Neues auf dieser Welt. Alle US-geführten Kriege der letzten 30 Jahre waren Kriege um Macht, Einfluss und Profit, um Rohstoffe und Einflusssphären.

Und der zweite Punkt?

Wir sind der Meinung, dass die Linke in der historischen Einordnung des Krieges nicht hinter dem Papst zurückbleiben sollte. Franziskus hat darauf hingewiesen, dass das „Bellen der Nato an Russlands Tür“ zu den Ursachen und Hintergründen dieses Krieges gehört. Der Krieg in der Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen, aber er wäre vermeidbar gewesen. Und ich finde, diese Mitverantwortung des Westens, vor allem der USA, muss eine Linke klar benennen. Die darf sie nicht ausklammern. Das sind die eigentlichen Zielrichtungen unseres Antrags.

Das sehen nicht alle in Ihrer Partei so.

Einige in der Partei wollen in eine ganz andere Richtung. Gerade hat der Parteivorstand der Linken einen Änderungsantrag übernommen. Im Leitantrag soll der Satz „Wir nehmen keine Verletzung des Völkerrechts hin“ gestrichen werden. Dieser Antrag wurde ausdrücklich damit begründet, dass Menschenrechte über dem Völkerrecht stehen. Das bedeutet, dass ihre Verletzung auch dann ein militärisches Eingreifen rechtfertigt, wenn es nicht vom Völkerrecht gedeckt ist. Das ist die klassische Begründung, die die USA für ihre völkerrechtswidrigen Kriege angeführt haben. Dass jetzt auch der Linken-Parteivorstand für sogenannte „Menschenrechtskriege“ ohne UN-Mandat wirbt, entsetzt mich. Das wäre der endgültige Bruch mit der bisherigen friedenspolitischen Tradition der Linken.

Sahra Wagenknecht zu Russlands Krieg: „Ukraine muss auf ihre Nato-Ambitionen verzichten“

Für Sie ist es wichtig, Russland zu verstehen…

Wer die Beweggründe des anderen nicht versteht, der kann Konflikte auch nicht diplomatisch lösen. Verstehen heißt nicht, billigen oder rechtfertigen. Der Krieg in der Ukraine ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Wir müssen aber begreifen, wie es dazu kam – gerade, wenn wir das Sterben möglichst schnell beenden wollen. Ich bin überzeugt, dass das nur durch Kompromissbereitschaft geht.

Was muss die Ukraine tun?

Ein erster wichtiger Punkt ist sicher, dass die Ukraine auf ihre Nato-Ambitionen verzichtet. Wahrscheinlich wird sie auch einen Teil der besetzen Gebiete zunächst ausklammern müssen. Es wäre schon ein großer Fortschritt, den Konflikt einzufrieren, damit es bald einen Waffenstillstand geben kann – das muss das Hauptanliegen sein. Hinsichtlich der jetzt nicht lösbaren Konflikte kann dann in einem sehr langen Prozess nach einer Lösung gesucht werden, aber eben nicht mehr mit Waffengewalt, sondern auf dem Verhandlungsweg. Es ist niemandem gedient, wenn wir die Ukraine über Jahre für einen endlosen Stellungskrieg mit Waffen munitionieren und jeden Tag Hunderte Menschen sterben.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat im Interview mit dem Münchner Merkur gesagt, dass Wladimir Putin Angst vor der Demokratie hat. Daher betreibe er eine Politik, die die Auflösung von Nato und EU zum Ziel hat. Was ist daran falsch? 

Ich weiß nicht, ob Putin dieses Ziel hat. Das ist mir auch relativ egal. Er weiß, dass er die NATO nicht angreifen kann, weil sie ihm militärisch haushoch überlegen ist.

Es sei denn, man provoziert ihn wie aktuell beim Konflikt um Kaliningrad so lange, bis irgendwann vielleicht seine Sicherungen durchbrennen. Das ist hochgefährlich. Was Russland immer kritisiert hat, ist die Nato-Osterweiterung. Auch der heutige CIA-Chef Burns hat noch 2019 darauf hingewiesen, dass die ganze Debatte um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine eine völlig „unnötige Provokation“ Russlands sei. Es wäre klüger gewesen, die russische Kritik ernster zu nehmen und in dieser Frage auf Russland zuzugehen. Wahrscheinlich hätte man den Krieg dadurch verhindern können.

Krieg in der Ukraine: Sahra Wagenknecht fordert von Kiew Kompromissbereitschaft

Ende der Woche entscheiden die 27 EU-Staaten darüber, ob die Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten bekommt. Sollte die Ukraine Mitglied der EU werden?  

Es gibt viele Gründe, warum sie es noch nicht ist. Es gab massive Korruption, Probleme im Umgang mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wenn die Ukraine diese Probleme irgendwann behebt und die wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt, steht einer EU-Mitgliedschaft nichts im Wege. Nur: Im Moment ist das eine völlig sinnlose Frage. Jetzt geht es darum, ob es gelingt, diesen Krieg in überschaubarer Zeit zu beenden – oder ob die Ukraine in ein, zwei Jahren ein völlig zerstörtes, entvölkertes Land sein wird. Wenn die ukrainische Führung letzteres verhindern will, sollte sie sich von völlig unrealistischen Kriegszielen verabschieden. Wenn die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft dazu beitragen könnte, wäre es gut.

Die Frage, ob die Ukraine EU-Beitrittskandidat wird, soll an ihr Entgegenkommen gegenüber Russland geknüpft werden?

Frieden wird es nur durch Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten und durch Verhandlungen geben können. Wenn ich höre, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt, er will alle Gebiete zurückerobern, dann ist das zwar subjektiv verständlich, aber es ist kein realistisches Kriegsziel. Und auch keines, das man vernünftigerweise unterstützen sollte. Denn es bedeutet, diesen Krieg ins Unendliche zu verlängern. 

 

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Interview mit Sahra Wagenknecht: „Ich frage mich, ob Menschen irgendwann von mir enttäuscht sein werden “

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Liebe Leser, ich war jetzt eine Woche auf einem Psychotherapie-Seminar über Ängste auf Langeoog und zuvor auf einem Seminar über die Naturphilosophie Engels‘ im Technischen Museum München. Es gab also jede Menge Input. Verdauen und z.T. noch nachlesen wird mich noch eine weile beschäftigen.
Das Naturphilosophie-Seminar wurde mitgestaltet von dem Kölner Club Dialektik: https://www.club-dialektik.de/Willkommen
Es lohnt sich, da auch einmal reinzuschauen. Eine solche Bildungsreise wird einmal jährlich veranstaltet und in den meisten Bundesländern als Arbeitnehmerweiterbildung gefördert, z.B. mit 5 zusätzlichen Urlaubstagen. In Bayern nicht, die können ja zu ener Wallfahrt gehen.

Und hier das aktuelle Interview im Freitag:

Sahra Wagenknecht: „Ich frage mich, ob Menschen irgendwann von mir enttäuscht sein werden“

https://www.freitag.de/autoren/cbaron/sahra-wagenknecht-im-interview-ich-bin-keine-innerparteiliche-kaempferin/e8f945ba-6981-4443-a00b-188d79b10970

wagenknecht2018

wagenknecht2018

Sahra Wagenknecht glaubt zu wissen, wie die Linke mit ihrem anstehenden Parteitag aus der Krise kommen kann. Im Gespräch mit Christian Baron hinterfragt sie ihre eigene Rolle dabei.

Beinahe hätte höhere Gewalt unser Treffen verhindert. Mit der U-Bahn geht es nicht weiter – Notarzteinsatz. Auf dem Fußweg zum Deutschen Bundestag zeigt sich der zuvor strahlende Berliner Juni plötzlich von seiner hässlichen Seite.

Klatschnass komme ich an, werde an der Pforte jedoch abgewiesen: „Frau Wajenknecht findense jegenüba, wa?“ Ich stapfe hinüber, komme unbeschadet durch die Sicherheits­schleuse – und staune. Wer kann in einem solchen Gebäude auch nur einen klaren Gedanken fassen? Diese Enge in den Fluren! Überall bürokratenholzvertäfelte Wände! All die geschlossenen Türen! Als ich Sahra Wagenknecht endlich gegenübersitze, fängt es draußen zu hageln und zu donnern an. Beste Voraussetzungen für ein Gespräch über eine linke Partei am Abgrund.

der Freitag: Frau Wagenknecht, die Bundesregierung hat mit der CDU/CSU gerade die größte Aufrüstung in der Geschichte der Bundesrepublik beschlossen. Massenproteste wie zu Zeiten des Nato-Doppelbeschlusses sind nicht in Sicht. Warum versagt Ihre Partei aktuell dabei, den Protest gegen den Militarismus zu organisieren und auf die Straße zu bringen?

Sahra Wagenknecht: In den achtziger Jahren gab es eine starke Friedensbewegung. Wichtige Teile der Sozialdemokratie unterstützten die Demonstrationen gegen den Nato-Doppel­be­schluss. Auch die Gewerkschaften waren dabei. So ein Bündnis war in der Lage, große Proteste zu organisieren. Meine Hoffnung ist, dass wir es spätestens im Herbst auch wieder schaffen, viele Menschen gegen Krieg und Aufrüstung auf die Straße zu bringen. Aber das kann nicht eine Partei allein. Und schon gar nicht die Linke in ihrer aktuellen Verfassung, die dafür viel zu schwach ist. Dafür braucht es bekannte parteiunabhängige Persönlichkeiten und möglichst auch einige mobilisierungsstarke Organisationen. Von der SPD ist leider nicht mehr viel zu erwarten. Im Bundestag ist die Linksfraktion aktuell die einzige Kraft, die bei diesem Thema dagegenhält.

Das stimmt nicht. Auch die Fraktion der AfD hat mehrheitlich gegen das „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr gestimmt.

33 AfD-Abgeordnete haben zugestimmt, sechs haben sich enthalten, nur 35 haben mit Nein gestimmt. Soweit der Beschluss von der AfD kritisiert wurde, war das mit einer ganz anderen Begründung. Die AfD ist nicht gegen die Aufrüstung, sondern nur dagegen, die Aufrüstung über Schulden zu bezahlen. Sie fordert, dass sie durch Kürzungen in anderen Etats finanziert wird. Waffen statt Kindergeld, so könnte man diese Position zusammenfassen. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was wir fordern: Wir sagen, dass die 100 Milliarden in der Bildung oder im Gesundheitswesen viel besser aufgehoben wären und Atombomber, bewaffnete Drohnen und anderes schweres Kriegsgerät wirklich das Letzte sind, was unser Land braucht. Dass ausgerechnet SPD und Grüne diese Hochrüstung jetzt umsetzen, ist doch pervers. Die Grünen sind immerhin mal aus der Friedensbewegung hervorgegangen. Heute sind sie im Bundestag die schlimmsten Kriegsbefürworter von allen.

Muss man den Grünen nicht zugutehalten, dass sie mit ihrer veränderten Außenpolitik einen Gutteil der deutschen Bevölkerung repräsentieren? Die hat sich doch auch verändert. Kriegspropagandabegriffe wie „Lumpenpazifismus“ sind plötzlich wieder in Mode – diesmal aber nicht am rechten Rand, sondern in der linksliberalen Mitte.

Die gesellschaftliche Debatte ist in einer Weise gekippt, wie ich mir das noch vor ein paar Jahren nicht hätte vorstellen können. Die aggressivsten Bellizisten kommen heute aus jenem grünliberalen Milieu, das noch vor zwei Jahren lange Debatten über verletzende Sprache führte und meinte, sensible Gemüter vor bösen Worten oder blonden Dreadlocks schützen zu müssen. Verletzung und Tod durch immer mehr Waffen sind für sie offenbar keine relevante Bedrohung, vor der man jemanden in der Ukraine oder anderswo schützen müsste. Im Gegenteil. Sie beschimpfen jeden als Weichei und als Putinisten, der es wagt, gegen die Kriegslogik Verhandlungen und Kompromissbereitschaft auch auf westlicher und ukrainischer Seite einzufordern.

Öffentliche Debatten entwickeln sich auch in Deutungskämpfen. Anstatt sich geschlossen gegen Waffenexporte und pauschalen Russenhass einzusetzen, laviert Ihre Partei in dieser Frage seit Monaten herum. Einige überbieten die Grünen in der Forderung nach schweren Waffen für die Ukraine, andere sind ganz dagegen. Ihr Bundesgeschäftsführer Schindler sagte nach der Landtagswahl in NRW in einer Fernsehsendung, die Ablehnung der Nato in ihrer bestehenden Form sei nicht die Position der Linkspartei – eindeutig eine Lüge. Verlieren Sie nicht an Glaubwürdigkeit, wenn Sie in einer Partei sind mit Leuten, die Grundsätze des eigenen Programms negieren?

Vor allem die Partei verliert dadurch an Glaubwürdigkeit. Das sehen wir ja an den katastrophalen Wahlergebnissen. Natürlich gibt es Punkte im Parteiprogramm, bei denen auch ich darauf bestehen würde, dass eine Pluralität von Meinungen möglich sein muss. Aber die Frage von Krieg und Frieden ist eine Grundsatzfrage. So wie die soziale Frage. In solchen Fragen kann es sich keine Partei leisten, völlig gegensätzliche Positionen zu vertreten. Mindestens 45 Prozent der Bevölkerung sind laut Umfragen gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Wo sollen sie eine politische Vertretung finden, wenn nicht bei uns? Mehr als 50 Prozent haben Angst davor, dass der Krieg sich ausweitet und wir immer mehr hineingezogen werden. Die Politik der Bundesregierung und der Union hat keine überwältigende Mehrheit hinter sich. Es wäre schmählich, wenn wir als linke Partei ausgerechnet in dieser Situation friedenspolitisch umkippen würden. Willy Brandt wusste noch, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht gewinnbar ist, weil man ihn schlicht nicht überleben wird. Inzwischen hat man das Gefühl, Leute wie Anton Hofreiter von den Grünen oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP möchten sich am liebsten in einen Panzer setzen und mit geladenem Rohr gen Russland rollen. Als könnte die Ukraine diesen Krieg gewinnen, wenn wir nur genug Waffen liefern!
Es ist unsere verdammte Pflicht, hier dagegenzuhalten – und ja, auch bezogen auf die Nato immer wieder deutlich zu machen, dass es ein echtes Sicherheits- und Verteidigungsbündnis braucht. Das ist die Nato nicht. Sie ist vor allem ein Hebel US-amerikanischer Geopolitik, ein Instrument zur Durchsetzung von US-Interessen. Die USA tragen eine erhebliche Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine. Nichts rechtfertigt den russischen Überfall, aber die von den USA vorangetriebene Integration der Ukraine in die militärischen Strukturen der Nato erklärt, weshalb er stattgefunden hat.

Gregor Gysi ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, und er hat Sie schon mehrmals öffentlich attackiert für genau diese Nato-kritische Haltung. Benjamin-Immanuel Hoff, der sich zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden wählen lassen will, vertritt die außenpolitischen Positionen von SPD und Grünen. So wie manch anderer Außenpolitiker der Linken auch.

Aus den Landtagsfraktionen der Linken gab es noch keine geschlossene Ablehnung des Öl-Embargos oder der Sanktionspolitik gegen Russland, die hauptverantwortlich sind für die Inflation. Also noch einmal: Was hält Sie in dieser Partei, die aktuell nur noch eine sozial abgefederte Version der Grünen ist?

Ich stimme Ihnen zu: Wenn die Linke diesen Weg fortsetzt, wird sie untergehen. Und sie hätte das dann auch verdient. Aber sehr viele Parteimitglieder unterstützen das nicht. Mit meinen Positionen bin ich ja nicht allein. Darum setze ich mich für eine Rückbesinnung auf unseren Gründungskonsens ein, nicht nur in der Außenpolitik. Eine Partei, die das Gleiche vertritt wie SPD oder Grüne, braucht kein Mensch. Wenn die Leute das Gefühl haben, dass es keine Unterschiede mehr gibt, dann macht sich die Linke überflüssig. Der Druck der öffentlichen Debatte ist gerade in der Kriegsfrage derzeit ziemlich stark, und es braucht Rückgrat, um bestimmte Positionen zu halten. Das bringt offenbar nicht jeder mit.

In Erfurt startet am 24. Juni der Bundesparteitag. Das wäre eine Gelegenheit, in all diesen Fragen eindeutige Beschlüsse zu fassen. Viel hängt davon ab, wer die neuen Vorsitzenden werden. Für beide Posten gibt es Kampfkandidaturen: Janine Wissler gegen Heidi Reichinnek und Martin Schirdewan gegen Sören Pellmann. Wen unterstützen Sie?

Es ist sehr wichtig, dass die Linke mit diesem Parteitag einen Neubeginn schafft. Und das geht nur, wenn Personen gewählt werden, die nicht für ein „Weiter so“ stehen, sondern deutlich machen: Wir wollen wieder vor allem soziale Themen in den Vordergrund stellen, und wir stehen ganz klar zu unseren friedenspolitischen Positionen. Wir sind keine Partei, die Waffenlieferungen oder Aufrüstung befürwortet. Wenn wir weitermachen wie bisher oder sogar in der Friedensfrage ganz kippen, dann wird die Linke verschwinden.

Das steht auch in dem „Aufruf für eine populäre Linke“, *) den Sie unterstützen. Der „Spiegel“ hat dazu geschrieben: „Der Aufruf ist auch als parteiinternes Signal von Wagenknecht zu werten, die eigenen Reihen zu schließen und Präsenz zu zeigen.“ Werden wir beim Parteitag erleben, wie Sie auf offener Bühne den innerparteilichen Gegnern das Zepter aus der Hand reißen, so wie es Oskar Lafontaine beim SPD-Parteitag im Jahr 1995 getan hat?

Was der Spiegel da schreibt, finde ich ein bisschen albern. Es geht mir nicht darum, meine Präsenz zu demonstrieren. Ich freue mich, wie viel Zuspruch der Aufruf schon gefunden hat. Wir hatten schon nach kurzer Zeit über 3.000 Unterstützer, liegen derzeit bei gut 5.000. Das zeigt doch, dass unser Aufruf einen Nerv getroffen hat.
Letztlich geht es um die Frage: Wie muss die Linke sich aufstellen, um wieder diejenigen zu erreichen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen? Wegen der hohen Inflation haben Menschen bis in die gesellschaftliche Mitte hinein große Ängste und Zukunftssorgen. Die Frage von Krieg und Frieden ist in einer Weise auf die Tagesordnung zurückgekehrt, wie das noch vor zwei oder drei Jahren undenkbar war. Deshalb ist es wirklich eine Tragödie, dass die Linke so schwach ist und nur noch so wenige Menschen erreicht. Gerade jetzt bräuchte es eine starke linke Kraft im Bundestag, und wir könnten das sein. Immerhin hatten wir mal fast zwölf Prozent. Da waren wir ein politischer Faktor in Deutschland. Das müssen wir wieder werden.

Einer, der die Partei in Ihrem Sinne führen würde, ist Sören Pellmann. Sein Name fehlt bei den Unterzeichnern des Aufrufs. Wie finden Sie das?

Keiner der vier Kandidaten für den Parteivorsitz hat den Aufruf unterzeichnet. Das finde ich auch in Ordnung, denn sie müssen im Falle einer Wahl Vorsitzende der gesamten Partei sein. Aber bei ihren Bewerbungen haben die verschiedenen Kandidaten ja deutlich gemacht, wofür sie stehen.

Im Aufruf steht auch der Satz: „Unser Ziel ist ein neuer, demokratischer und ökologischer Sozialismus.“ Stehen Sie auch persönlich hinter dieser klaren sozialistischen Rahmung? In Ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Statements der jüngeren Vergangenheit haben Sie die Begriffe „Sozialismus“, „Klassengesellschaft“ oder „Kapitalismus“ gemieden.

Ich wurde als Jugendliche durch Marx-Lektüre eine Linke und ich würde diese Wirtschaftsordnung selbstverständlich immer als Kapitalismus bezeichnen. Der Profit dominiert und entscheidet. Profitstreben ist letztlich auch der Hintergrund fast aller Kriege. Es geht um Rohstoffe, Absatzmärkte, Einflusssphären. Wenn ich das in einer Talkshow sage oder in einer nicht-linken Zeitung, muss ich allerdings viel mehr erklären. Für den Begriff „Sozialismus“ gilt das erst recht. Unser Aufruf richtet sich ja vorrangig an Mitglieder der Partei und Sympathisanten, die meist mit linken Debatten vertraut sind. Nach außen würde ich aber immer versuchen, allgemeinverständlich zu reden. Gerade im Westen existiert immer noch die Vorstellung, Sozialismus sei das, was in der DDR mal existiert hat. Für andere ist es wiederum ein akademischer Begriff, unter dem sie sich nichts vorstellen können. Ich will so über Politik sprechen, dass mich nicht nur Linke verstehen.

Die Linke hat jahrelang Erfolg gehabt als Anti-Neoliberalismus-Partei. Das scheint heute nicht mehr zu funktionieren. Man weiß, wogegen Sie sind, aber nicht, wofür Sie einstehen. Wäre da nicht die Formulierung von Visionen wichtig oder die Entwicklung einer neuen Utopie?

Ich habe in meinem Buch Die Selbstgerechten versucht, ein solches positives Programm zu formulieren. Was uns fehlt, sind gute Identifikationsbegriffe, emotionale Erzählungen. Viele Menschen hören uns durch einen Filter im Kopf, der von den medial vorherrschenden Erzählungen geprägt wird. Und die verkehren viele Begriffe in orwellscher Manier ins Gegenteil. Solidarität heißt demnach: Waffen liefern. Die, die nur noch in militärischen Kategorien denken, geben sich friedliebend. Wer auf einen langen Krieg setzt, handelt angeblich aus Empathie mit den Opfern. Wer Kompromisse auch vom Westen fordert, macht angeblich russische Propaganda. Es ist unglaublich, wie die Realität verzerrt wird, aber es wirkt.

In einem aktuellen Debattenbeitrag in der Tageszeitung „Welt“ fordern Sie erneut eine Fokussierung der Linken auf die soziale Frage. Mir fiel beim Lesen auf, dass Sie sich dabei stark auf Linkskonservative beziehen. Warum finden Sie es strategisch sinnvoll, sich auf diese Gruppe allein zu konzentrieren und die linksprogressiven Wähler zu übergehen? Müsste eine linke Partei nicht beiden Gruppen ein gutes Angebot unterbreiten können?

Ja. Aber das widerspricht sich doch nicht, und das haben wir auch schon geschafft. Bei der Bundestagswahl 2017 haben uns nicht nur weit mehr Geringverdiener gewählt als heute, auch im eher akademischen Milieu der großen Städte hatten wir Spitzenergebnisse. Es gibt auch da eben nicht nur die woke grünliberale Bio-Bohème, sondern sehr viele Menschen, die sich ehrlich mehr sozialen Ausgleich wünschen und auf weniger Begünstigte nicht herabschauen. Wir müssen allerdings zur Kenntnis nehmen: Gerade diejenigen, die heute immer härter um ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssen oder bereits echte Armutserfahrungen haben, stehen zwar häufig wirtschafts- und sozialpolitisch links, kulturell sind sie aber oft eher wertkonservativ. Und das hängt ja sogar zusammen. Ohne gesellschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl, zu dem gemeinsame Werte und Traditionen beitragen, kann es auch keinen Sozialstaat geben.

Trotzdem bleibt die Frage, wer dann noch die Kampagnen in den entsprechenden Bezirken in Berlin und Hamburg machen soll. Wollen Sie die relativ leicht zu mobilisierende Gruppe der jungen Linken aus Ärzte- und Anwaltselternhäusern komplett den Grünen überlassen?

Jeder ist willkommen. Aber wer nur die eigene Meinung gelten lässt, während er jeden Andersdenkenden zum Nazi erklärt, den können wir vielleicht nur noch schwer erreichen.

Die Frage ist halt, was wichtiger ist: ein gutes Standing in der abgeschirmten Twitterblase kleiner aktivistischer Milieus oder breiter Rückhalt bei all den Menschen, die zu vertreten unsere verdammte Aufgabe als Linke ist. Wer ein klares Profil hat, wird vielleicht auch den einen oder anderen verlieren. Aber wer gar kein erkennbares Profil mehr hat oder als Double der Grünen wahrgenommen wird, verliert viel mehr, das haben wir in den vergangenen Jahren gesehen. Der Kurs, sich vor allem um das grün-affine gutsituierte Großstadtmilieu zu kümmern, ist gescheitert.

Offenbar wird generell die Beteiligung an einer Wahl immer mehr ein Merkmal der Gutsituierten, während die finanziell Schwachen kaum mehr wählen. Bei der Landtagswahl in NRW lag die Beteiligung nur bei 55 Prozent, bei Bundestagswahlen enthalten sich mehr als 25 Prozent der Wahlberechtigten ihrer Stimme. Warum bemüht Ihre Partei sich so wenig um Nichtwähler?

Auch in der Linken gibt es einige, die sagen: Die Armen wählen so oder so nicht oder kaum, da ist für uns nichts zu holen. Das finde ich zynisch. Warum wählen arme Menschen überwiegend nicht? Weil sie sich nicht vertreten fühlen. Also kann doch nicht ausgerechnet die Linke sagen: Die wählen nicht, also kümmern wir uns lieber um die Bessergestellten. Bei der Bundestagswahl 1998 übrigens haben überdurchschnittlich viele Ärmere gewählt, damals die SPD. Auch 2017 sind Ärmere noch einmal in größerer Zahl an die Urnen gegangen, da leider hauptsächlich zugunsten der AfD. Das zeigt: Ärmere sind nicht apolitisch. Aber sie wurden schon oft betrogen und sind deshalb besonders skeptisch, was das politische Angebot betrifft. Trotzdem zeigen die Beispiele: Man kann sie als Wähler erreichen, wenn sie den Eindruck haben, es lohnt sich. Die AfD hatte es damals geschafft, sich als Stimme des Protests und der Wut zu inszenieren.

Vergessen Sie da nicht Ihren eigenen Anteil an der Misere? Sie sind zwar nicht mehr in einer Spitzenfunktion Ihrer Partei, aber nach wie vor die populärste und medial präsenteste Linke im Land. Wenn ich mit Linken spreche, die Ihnen inhaltlich sehr zugetan sind, dann höre ich oft auch: „Leider bringt Sahra Wagenknecht sich kaum in parteiinterne Debatten ein und spricht zu wenig mit ihren Unterstützern in der Fraktion und drumherum.“

Ich glaube nicht, dass das so stimmt. Aber richtig ist: Ich bin keine innerparteiliche Kämpferin. Ich glaube, ich kann ganz gut linke Positionen in der Öffentlichkeit vertreten und Menschen gewinnen. Aber ich bin nicht jemand, der besonders geeignet ist, interne Netzwerke zu knüpfen und sich durch unendliche Gespräche eine Mehrheit zu organisieren. Das war ja auch der Grund, aus dem ich irgendwann nicht mehr als Fraktionsvorsitzende weitermachen wollte: weil die ständigen Querschüsse aus der Parteispitze und der mangelnde Rückhalt eine erfolgreiche Politik immer schwerer gemacht haben. Trotz allem hatten Dietmar Bartsch und ich als Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl 2017 immer noch 9,2 Prozent geholt. Damals wurde selbst noch an diesem Ergebnis herumgekrittelt, heute wirkt das wie aus einer anderen Welt.

Wenn man bei Ihren öffentlichen Auftritten im Wahlkampf ins Publikum blickt oder Ihre Social-Media-Präsenz beobachtet, fällt auf: Ihre eigene Popularität ist seit Ihrem Rückzug vom Frak­tionsvorsitz vielleicht sogar noch einmal gestiegen. Unglaublich viele Menschen projizieren ihre Hoffnungen auf eine soziale Wende im Land auf Sie persönlich. Inwiefern belastet Sie das?

Ja, das ist schon belastend, weil ich diese Hoffnungen bisher nicht einlösen konnte. Ich habe oft mit Menschen zu tun, die von mir etwas erwarten, was ich gern leisten würde, aber aktuell nicht kann: ihr Leben ganz real zu verbessern. Als die Linke noch stärker war, gab es Verbesserungen, die mit unserer Existenz zusammenhingen. Ohne die Linke gäbe es vielleicht bis heute noch keinen Mindestlohn. Aber mittlerweile sind wir kein Faktor mehr, der wirklich etwas verändert. Und eine von der Linken dominierte Regierung, ein linker Kanzler steht überhaupt nicht zur Debatte.

Oder eine linke Kanzlerin?

Meinetwegen auch eine linke Kanzlerin. Dann wären wir in einer ganz anderen Situation. Manchmal frage ich mich tatsächlich, ob Menschen irgendwann von mir enttäuscht sein werden, wenn ich ihre Hoffnungen nicht einlösen konnte. Andererseits ist es aber auch diese Unterstützung, die mich immer noch in der Politik hält. Ich habe natürlich, vor allem als ich damals den Burnout hatte, aber auch später, immer wieder darüber nachgedacht, nur noch als Publizistin und Buchautorin zu arbeiten. Das wäre ein sehr schönes Leben, weil ich vieles nicht mehr machen müsste, was mir schwerfällt. Ich könnte auch dann öffentliche Denkanstöße geben. Aber es wäre natürlich das Eingeständnis, dass ich die Hoffnung aufgegeben habe, selbst politisch noch etwas bewegen zu können. In der Abwägung habe ich mich dann trotz des Gegenwinds 2021 entschieden, noch einmal für den Bundestag zu kandidieren.

Ein dreiviertel Jahr nach der für Ihre Partei desaströsen Bundestagswahl mit einem Ergebnis von 4,9 Prozent hat sich die Lage für die Linkspartei weiter verschlechtert. Warum tun Sie sich das noch an?

Ich denke, der Parteitag jetzt ist die vielleicht letzte Chance der Linken, die Weichen noch einmal neu zu stellen. Das ist einer der Gründe, warum ich gemeinsam mit anderen jetzt den Aufruf auf den Weg gebracht habe. Wir wollen nicht kampflos aufgeben.

*: https://populaere-linke.de/jetzt-unterschreiben/
^^^^ Hier unterschreiben ! ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Jochen

Der Niedergang der Linkspartei, die Sehnsucht der Vielen und eine Wiederauferstehung von „aufstehen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es wird immer deutlicher, wie wichtig eine Reaktivierung unserer aufstehen-Bewegung ist.

Im folgenden Artikel aus den NachDenkSeiten wird deutlich gemacht, wie geschickt und erfolgreich das universitäre, neoliberale Geflecht sich innerhalb der Linken ausgebreitet und dabei die alten „Klassenkämpfer“ verdrängt hat. Wie erfolgreich dabei auch die Initiative „unteilbar“ eingesetzt wurde, das kann man in dem Artikel von Dagmar Henn 2018 schon nachlesen: Unteilbar-Aufbruch_ins_Ungefaehre

Der Niedergang der Linkspartei und die Sehnsucht der Vielen

Die Linkspartei ist bei der Bundestagswahl krachend gescheitert und muss um ihr Überleben bangen. Damit sind alle Voraussagen insbesondere linker Kritiker eingetroffen, dass die Linkspartei scheitern werde, wenn sie die sogenannte „Identitätspolitik“ (Gendern, politische Korrektheit, Antirassismus, feministische Themen) weiterhin so betone.
Eine neue „Klassenpolitik“ sei nötig, heißt es von linken Kritikern oft. In dieser Sichtweise steckt ein Denkfehler, meint unser Autor Udo Brandes.

Der Niedergang der Linkspartei wird von ihren (linken) Kritikern häufig damit begründet, dass sie sich viel zu sehr der Identitätspolitik widme, ein Thema, das vor allem einem urbanen akademischen Milieu wichtig sei, aber nicht den klassischen Wählerzielgruppen der Linken.
Diese Identitätspolitik führe u. a. zu der absurden Logik, dass ein schwarzer Arzt sich aufgrund seiner Hautfarbe als gesellschaftlich Benachteiligter sehen könne, ein weißer Arbeiter in der deutschen Fleischindustrie aber aufgrund seiner Hautfarbe als Privilegierter anzusehen wäre.
So müsse man sich nicht wundern, wenn die traditionelle Wählerschaft sich von der Linkspartei abwende. Krankenschwestern, Postboten, Bauarbeiter usw. hätten andere Sorgen als die politische Korrektheit.

Linke Kritiker dieser Entwicklung haben deshalb immer wieder gefordert, dass die politische Kategorie der „sozialen Klasse“ Maßstab linker Politik sein müsse und eine neue, sogenannte „Klassenpolitik“ (= Durchsetzung der Interessen einer Klasse) notwendig sei.
Das würde konkret bedeuten, dass die Linkspartei wieder primär für eine materielle Umverteilungspolitik von oben nach unten steht und die Interessen der unteren, benachteiligten Klassen der Bevölkerung vertritt.

Der Denkfehler dabei

Auch wenn diese Diagnose im Grundsatz stimmt, steckt in dieser Sichtweise doch ein Denkfehler: Identitätspolitik ist bereits „Klassenpolitik“.
Nur eben nicht für die unteren Klassen. Sondern für eine ambitionierte, akademisch gebildete Schicht, die sich von denen „da unten“ abgrenzt und mit Identitätspolitik Klassenkampf von oben betreibt.
Und es sieht so aus, als ob sich in der Linkspartei diese Fraktion durchgesetzt hat und auch zukünftig den Kurs bestimmen wird. Was sich unter anderem daran erkennen lässt, dass die wichtigste Repräsentantin einer wirklichen linken Politik in der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, nach wie vor massiv angegriffen wird. Wie die taz kürzlich berichtete (siehe hier), überlegt die Gruppe in der NRW-Linkspartei, die vergeblich versucht hat, Wagenknecht aus der Partei auszuschließen, einen Gang vor die Bundesschiedskommission der Partei, um ihr Ziel doch noch zu erreichen.
Und inzwischen wird Sahra Wagenknecht sogar allen Ernstes nahegelegt, die Linkspartei zu verlassen und der AfD beizutreten (siehe dazu den Bericht des Spiegels hier), nur weil sie es gewagt hat, die Unlogiken der Coronapolitik öffentlich zu benennen (zum Beispiel, dass Geimpfte genauso die Infektion weitergeben können wie Ungeimpfte).

Eine echte Kursänderung der Linkspartei ist nicht zu erwarten

Wie es derzeit aussieht, wird es in der Linkspartei keine wirkliche Diskussion und Analyse über die Ursachen der krachenden Wahlniederlage geben. Und dann auch keine wirkliche Neupositionierung und Kursänderung.
Mit anderen Worten: Die Linkspartei hat im Grunde mehrheitlich die Entscheidung getroffen, dass sie nicht oder bestenfalls nur nebenbei die Interessen der „Normalo-Arbeitnehmer“ vertreten will. Das heißt: Nicht das Arbeitermilieu und kleinbürgerliche Schichten, die einen eher traditionellen Lebensstil pflegen, sind ihre Hauptzielgruppe, sondern eine gut qualifizierte, urbane Akademikerschicht.

Dementsprechend ist Identitätspolitik auch keine linke Politik, sondern eine Politik für die Interessen einer privilegierten Akademikerschicht.
Die profitiert einerseits wirtschaftlich davon. Andererseits erhöht sie ihren eigenen sozialen Status, indem sie ihren Sprachcode und ihre Moral politischer Korrektheit zum einzig legitimen moralischen Maßstab erklärt.
Was konkret bedeutet, dass die Kultur anderer sozialer Schichten herabgesetzt, abgewertet und teilweise sogar aggressiv bekämpft wird.

Das Gendern ist so etwas wie ein Ausweis der „richtigen“ Gesinnung

Wenn man Identitätspolitik mit dem alten Zunftwesen der Handwerker vergleicht, wird der ökonomische Aspekt sehr schön deutlich.
Bei Wikipedia wird das Zunftwesen u. a. wie folgt beschrieben:

„Das Leben des einzelnen Gruppenmitgliedes wurde von der Zunft entscheidend bestimmt. Nur in dieser Einbindung konnte der Zunfthandwerker seiner Arbeit nachgehen. Die Gemeinschaft der Amtsmeister regelte die Arbeit und Betriebsführung des Einzelnen, die Qualität seiner Produkte, kontrollierte seine sittliche Lebensführung, sicherte ihn in individuellen Notfällen und betete für das Seelenheil ihrer verstorbenen Mitglieder.“

Auf diese Weise waren die Zunftangehörigen wirtschaftlich abgesichert und vor Konkurrenz geschützt. Aber kann man das wirklich mit der gegenwärtigen Identitätspolitik vergleichen?

Ich glaube schon. Jemand wie ich könnte nicht mehr so ohne Weiteres für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten. Also jemand, der darauf besteht, seine Texte in korrektem Deutsch zu schreiben, und sich u. a. weigert, das Partizip Präsens als geschlechtsneutrale Bezeichnung zu verwenden, weil dies sprachlogisch falsch ist (kurze Erläuterung dazu: Ein Fahrradfahrer kann bei einem Unfall ums Leben kommen; aber man kann kein toter Fahrradfahrender sein, weil Tote nach bisherigem Erkenntnisstand nicht mehr Fahrrad fahren können).

Auch bei vielen anderen Institutionen hat sich der Trend zur politischen Korrektheit durchgesetzt, und von Mitarbeitern wird erwartet, sich sprachlich daran anzupassen. Eine kleine Anekdote dazu: Ich habe mal ein Interview mit einem Repräsentanten einer Stadtverwaltung geführt und den Text zur Freigabe an die Pressestelle geschickt. Ich bekam das vorher ungegenderte Interview komplett gegendert zurück. Ich habe es dann natürlich wieder entgendert. So etwas ist kein Einzelfall. Immer mehr Städte führen jetzt sogar gegenderte Verkehrsschilder ein (ein neueres Beispiel siehe hier).

pexels-photo-210600.jpegDarüber hinaus ist Politische Korrektheit auch ein lukratives Geschäftsmodell. Konzerne veranstalten z. B. Antirassismusseminare oder sie beauftragen Coaches mit Trainings für sensible Sprache. Vereine wie „Decolonize Berlin“ werden vom Berliner Senat mit Millionenbeträgen finanziert.

Politisch korrekte Akademiker bestimmen bereits, was gesellschaftlich legitim ist und was nicht

Man kann deshalb inzwischen sagen: Das Milieu der politisch korrekten Akademiker bestimmt sehr weitgehend, was in unserer Gesellschaft legitim ist und was nicht. Oder politologisch gesprochen: Sie haben bereits die kulturelle Hegemonie (Vorherrschaft) erobert oder sind zumindest kurz davor.
Um dies mal an einem Beispiel zu demonstrieren: Svenja Flaßpöhler, die ein kritisches Buch über die zunehmende Sensibilität in unserer Gesellschaft geschrieben hat (siehe dazu meine Rezension auf den NachDenkSeiten hier), kritisiert in ihrem Buch, dass das Wort „Neger“ nicht einmal in einem kritisierenden Kontext mehr gebraucht werden dürfe – und spricht selber immer nur vom „N-Wort“ – in ihrem Buch und ihren Interviews dazu.
Diese gesellschaftliche Praxis ist letztlich die Abkehr von der Aufklärung und die Hinwendung zum magischen Denken. So als wenn ein Wort an sich das Böse in sich tragen könnte. Auch gläubige Katholiken verhielten sich früher so. Der fromme Katholik wagte es nicht, das Wort „Teufel“ auszusprechen, aus Angst davor, ihn damit herbeizuholen. Deshalb sprach man vom „Gott-sei-bei-uns“.

Gendertheorien infrage zu stellen – das kann gefährlich werden

Wer die Theorien der Genderideologen nicht teilt und nicht willens ist, sich diesen sprachlich, in der wissenschaftlichen Arbeit oder im Unternehmensmanagement zu unterwerfen, dem sind im besten Fall Wege für eine Karriere als Akademiker versperrt.
Im schlimmsten Fall aber muss so jemand mit gewalttätigem Mobbing rechnen. So erging es kürzlich der britischen Philosophieprofessorin Kathleen Stock, die an einer Universität in der Nähe von Brighton lehrte.

Sie ist selbst lesbisch und seit langem in der LGBT-Community aktiv (LGBT = die inzwischen auch in Deutschland verbreitete Abkürzung für Lesbians, Gays, Bisexuals und Transgender).
Politisch ordnet sie sich links ein. Nachdem ihr Buch „Material Girls. Why Reality Matters for Feminism“ erschienen war, begann ihr Martyrium. Darin vertrat sie ähnliche Ansichten wie die Schriftstellerin J. K. Rowling (Autorin der Harry-Potter-Romane), die im vergangenen Jahr dafür ebenfalls massive Anfeindungen zu ertragen hatte. Stock kommt in ihrem Buch zu dem Schluss, dass zwar die selbstgewählte Gender-Identität eines Menschen respektiert werden solle. Jedoch lasse sich das biologische Geschlecht von Männern und Frauen nicht ändern (siehe dazu den Bericht der NZZ hier). In einem BBC-Interview (siehe hier) berichtete sie, dass sie auf dem Weg zur Arbeit immer wieder von einem wütenden Mob beschimpft und bedroht wurde. Die Wände eines Fußgängertunnels, den sie auf dem Weg zu ihrem Büro durchqueren musste, waren vollgeklebt mit Hetzplakaten gegen sie. Ebenso die Wände der Toiletten im Uni-Gebäude. Und natürlich wurde im Internet gegen sie gehetzt.
Nach dem Bericht der NZZ bekam Stock von der Universität keine bzw. so gut wie keine Unterstützung. Sie war schließlich mit den Nerven am Ende und gab auf. Wahrscheinlich ist es in Deutschland noch nicht ganz so schlimm. Aber weit davon entfernt sind wir auch nicht. Nicht ohne Grund haben Wissenschaftler jetzt ein Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit gegründet (www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de).

Warum waren identitätspolitische Ideologien so erfolgreich?

Man fragt sich: Wieso konnten sich die Verfechter Politischer Korrektheit bzw. der Identitätspolitik in der Gesellschaft so weitgehend durchsetzen, dass schon fast jede Pommesbude gendert? Ich glaube, es gibt dafür zwei Gründe:

Identitätspolitik, Genderideologie, Politische Korrektheit – das alles ist an den Elite-Universitäten der USA entstanden. Es war dort also von Anfang an eine Ideologie des herrschenden Establishments.
Denn das Establishment dort speist sich zu einem großen Teil aus den Absolventen der US-Elite-Universitäten. Von dort aus wanderte es an die europäischen Universitäten und von dort aus in die Institutionen der Gesellschaft, also Verwaltungen, Medien, Unternehmen usw. Und auch hier ist es eine Ideologie des Establishments.
Und wie Marx und Engels in „Die Deutsche Ideologie“ so schön formuliert haben:

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“

Hierbei ist zum Verständnis ein Begriff der US-amerikanischen Soziologen Barbara und John Ehrenreich nützlich. Sie prägten in den 70er Jahren den Begriff der Professionellen Mittelklasse (im englischen Original: professional-managerial class, kurz: PMC). Dieser besagt einfach formuliert, dass es eine akademisch gebildete Mittelklasse gibt, die die Normen und Werte – und vor allem: Interessen – der herrschenden Klasse im Alltag umsetzt, seien es nun Journalisten, Lehrer, Ärzte, Manager, Juristen usw. Diese Klasse profitiert durch Privilegien (hohes Einkommen, Macht, Ansehen) davon, sich mit der Ideologie der herrschenden Klasse zu identifizieren und diese zu vertreten.

Zum anderen sind identitätspolitische Ideologien geradezu ideal für die neoliberale Machtelite. Denn so können die durch soziale Ungleichheit bedingten Konflikte quasi stillgelegt werden. Denn Gerechtigkeit ist dann ein Problem von „Diversität“, und nicht ein Problem der Benachteiligung sozialer Klassen und der falschen Verteilung.
Was natürlich hochgradig verlogen ist. Denn für einen Fahrer von Amazon ändert sich nichts an den Arbeitsbedingungen und Löhnen, wenn der Vorstand des Konzerns diverser wird. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet die reaktionäre, neoliberale Hillary Clinton ein Anhänger politischer Korrektheit ist.

Es gibt eine Sehnsucht nach echter sozialdemokratischer Politik

Reichtum_umverteilen_2017-09-15Ich bin überzeugt, es gibt in der Bevölkerung eine große Sehnsucht nach einer wahrhaft sozialdemokratischen Politik. Also einer Politik, die den Kapitalismus nicht abschafft, aber ihn im Interesse der Gemeinschaft wirkungsvoll reguliert. Und wichtige Bereiche der Gesellschaft einer kapitalistischen Profitorientierung entzieht. Wie zum Beispiel das Gesundheitswesen, das Bildungswesen, die Energieversorgung, die Müllentsorgung und anderes mehr.
Auf die SPD, die Grünen und die Linkspartei kann man dabei nach meiner Einschätzung aber nicht mehr zählen. Wann immer sie in letzten Jahren an der Macht waren, haben sie neoliberale Politik gemacht oder unterstützt.
Deshalb glaube ich, dass nicht nur die Linkspartei, sondern auch Grüne und SPD sich schon bald in einer Krise wiederfinden könnten. Von den verbesserten Wahlergebnissen der beiden Parteien sollte man sich nicht täuschen lassen. Denn nach dem, was bisher bekannt ist aus den Koalitionsverhandlungen für eine Ampel-Regierung, wird es im Kern ein „Weiter-so“ mit der neoliberalen Politik der letzten Jahre geben.

Was also tun? Braucht unser Land eine neue, wirklich linke Partei? Und wäre das die Lösung? Vielleicht.
Aber es könnte auch sein, dass eine neue linke Partei nach wenigen Jahren wieder von angepassten Funktionären beherrscht wird und keine Alternative mehr darstellt. Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels nannte so eine Entwicklung schon 1907 das „Eherne Gesetz der Oligarchie“. Es besagt, dass Großgruppen wie Parteien aus Effizienzgründen eine Bürokratie aufbauen, deren Spitze sich zu einer oligarchischen Machtelite entwickelt, die eigene Interessen verfolgt, statt die ihrer Basis.
Ich bleibe trotzdem Optimist. Denn wie der Fall der Mauer zeigte: Die Geschichte hält immer wieder Überraschungen bereit.

Mein Kommentar: Offensichtlich hat Robert Michels recht. D.h. dass eine neue politische Kraft sich nicht auf die Organisationsform einer Partei beschränken darf. Da, wo die SPD politisch und kulturell erfolgreich war, wurde sie von einer breiten außerparlamentarischen Bewegung begleitet aus Gewerkschaften, Kulturschaffenden, Akademikern und Studenten.
Nachdem zum Ende der 1970er Jahre diese menschlichen Bindeglieder entwertet, desillusioniert und korrumpiert worden waren, lebte die Bewegung zunächst wieder bei den Grünen auf, nach der neoliberalen und bellizistischen Korruption der rot-grünen Bundesregierung für kurze Zeit bei der Linkspartei.
Offensichtlich bedarf es jetzt einer Neuauflage von aufstehen, um allen diesen neoliberal "versifften"  Parlamentariervereinen eine antikapitalistische Alternative gegenüber zu stellen.
Und dafür stehe ich auch jeden Morgen wieder auf.
 
Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Sahra Wagenknecht bittet um mehr Sachlichkeit: Die meisten Ungeimpften sind alles andere als notorische Impfgegner

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

sahra wagenknecht2017

sahra wagenknecht2017

Zu diesen würde ich mich auch zählen. Siehe hier: https://www.focus.de/politik/deutschland/weitergedacht/weitergedacht-die-wagenknecht-kolumne-bitte-mehr-sachlichkeit-meisten-ungeimpften-sind-alles-andere-als-notorische-impfgegner_id_24398728.html
Es ist gut, dass ihr Mann Oskar Lafontaine mal wieder öffentlich die Frage stellt, warum es in Deutschland ein so schmales Agebot an Impfstoffen gibt und was das mit Korruption zu tun haben könnte.

Der russische Impfstoff Sputnik-V wartet seit über einem Jahr, der chinesische SinoVac seit über einem halben Jahr auf die Zulassung durch die EMA, die von einer ehemaligen Pfizer-Lobbyistin geleitet wird. Zufall?
Statt dessen wird jetzt die Antisemitismuskeule von der ehemaligen Stasi-Mitarbeiterin Kahane gegen alle geschwungenm, die die offizielle Corona-Politik in Frage stellen. Siehe hier: https://reitschuster.de/post/corona-massnahmen-kritiker-als-antisemiten-und-holocaust-relativierer/

Und das RKI nimmt klammheimlich wissenschaftliche Aussagen von der Webseite über die angeblich deutlich geringere Gefahr der ordnungsgemäß Geimpften, andere Personen anzustecken. Damit verschwindet auch die wichtigste Reechtfertigung zur Einführung von 2G und 3G+ -Regeln.
Die Lügen unserer Regierung und deren Mietmäuler gehen weiter. Dazu unten noch ein Kommentar von Tobias Riegel.

Aber nun auszugsweise zu Sahra:

SARS-CoV-2Die vierte Corona-Welle rollt.

Es wird Zeit, zu einem Mindestmaß an Sachlichkeit in der überhitzten Debatte zurückzukehren.

Schon wieder steigen die Inzidenzen. Und mit Ihnen die Nervosität. Der aktuelle Wert liegt bei rund 170 und damit deutlich höher als vor einem Jahr. *)
Auch die Intensivstationen werden wieder voller. Mit gut 2000 Corona-Patienten ist die Belegung zwar noch weit von den Spitzenwerten der zweiten und der dritten Welle entfernt, als 5700 beziehungsweise 5100 Menschen mit schweren Corona-Verläufen intensivmedizinisch betreut werden mussten. Aber die kühle Jahreszeit hat ja auch gerade erst begonnen.

Bundesregierung und RKI stolpern in die vierte Welle mindestens so unvorbereitet wie in alle vergangenen. Wie gut, dass es diesmal einen Sündenbock gibt, mit dem man vom eigenen Versagen ablenken kann: die Ungeimpften.
Gäbe es nicht so viele Menschen, die sich dem rettenden Pieks verweigert hätten, könnten wir längst zur Normalität zurückkehren, so das gängige Narrativ. Wer sich nicht impfen lässt, verhalte sich daher grob unsolidarisch und sei für zunehmende Infektionen, überlastetes Pflegepersonal und womöglich bald auch dafür verantwortlich, dass andere Kranke nicht mehr angemessen versorgt werden können, weil ungeimpfte Corona-Patienten die Intensivstationen verstopfen.

Das alles spricht nicht dafür, dass unsere Impfquote der Kern des Problems ist

Wer so argumentiert, schürt nicht nur Panik, Angst und Hass. Er ignoriert auch wichtige Fakten.
Fangen wir mit der Impfquote an. Das RKI hat Anfang Oktober eine Schätzung veröffentlicht, nach der unter Berücksichtigung der nicht gemeldeten Impfungen rund 84 Prozent der Erwachsenen mindestens einmal geimpft waren. Wenn das stimmt, müssten wir in der erwachsenen Bevölkerung jetzt, rund fünf Wochen später, knapp 84 Prozent doppelt Geimpfte haben. Bei den über 60jährigen wären es dann 89 Prozent, denn da liegt die offizielle Quote 5 Prozentpunkte höher.
Dass wir selbst bei solchen wichtigen – und relativ einfach zu erfassenden – Vorgängen nicht über verlässliche Daten verfügen, ist Teil der Misere, die uns seit anderthalb Jahren begleitet.
Aber nehmen wir mal an, die Schätzung des RKI stimmt. Dann gibt es gerade noch 16 Prozent ungeimpfte Erwachsene, und die meisten davon gehören den jüngeren Jahrgängen an. Mit diesen Werten liegt Deutschland fast auf dem Level von Dänemark, das seit 11. September alle Maßnahmen aufgehoben hat. Dort sind die Inzidenzen ohne 3G oder 2G zwar höher als in Deutschland, aber Klagen wegen überlasteter Intensivstationen hört man nicht.
Auch in Schweden gibt es schon lange keine Einschränkungen mehr, obwohl die Impfquote mit 66 Prozent der Gesamtbevölkerung eher unter der unsrigen liegt.
Die Inzidenz erreicht in Schweden trotzdem nur 59 und in den schwedischen Krankenhäusern herrscht Normalbetrieb.
Das alles spricht nicht dafür, dass unsere Impfquote der Kern des Problems ist.

*: In diesem Zusammenhang muss man auch darauf verweisen, dass der Anstieg der „Inzidenzen“ auch gerade durch die veermehrte zwangsweise Testung von Ungeimpften mitverursacht wird.
Denn immer noch wird die Inzidenz nicht auf den Prozentsatz der Getesteten von der Normalbevölkerung abgeglichen.
Dieser statistische Methodenfehler ist seit einem Jahr bekannt.
Also, wie auch schon bekannt: es wird weiter gelogen….  Hier dazu de Kommentar: https://www.nachdenkseiten.de/?p=77773

Ramelow, Montgomery etc.: Die Tyrannei der Panikmacher

Tobias_RiegelÄrztepräsident Frank Ulrich Montgomery fantasiert von einer „Tyrannei der Ungeimpften“, Ministerpräsident Bodo Ramelow will die Behandlung in Thüringer Kliniken unter Umständen vom Impfstatus abhängig machen.* Die Panikmacher kommen mit ihren inhaltlich falschen und politisch gefährlichen Anschlägen auf die Gesellschaft durch, weil es momentan keine kontrollierenden Instanzen in Medien und Politik mehr gibt. Von Tobias Riegel.

Es gibt zahllose aktuelle Beispiele dafür, in welcher dramatischen Weise sich die Corona-Debatte von rationalen Inhalten verabschiedet hat. Und dafür, wie diese Irrationalität genutzt werden kann, um einfach irgendetwas zu behaupten und mit diesen Behauptungen die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

Hocheskalation: Aus „Pandemie“ wird „Tyrannei“

Auf zwei Beispiele soll hier eingegangen werden: auf die Behauptung des Ärztepräsidenten Montgomery, es gebe eine „Tyrannei der Ungeimpften“. Und auf die folgende Behauptung von Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, aus dem ZDF-Morgenmagazin:

„Wir haben eine Pandemie der Ungeimpften. Und wir werden niemandem mehr garantieren können, der ungeimpft ins Krankenhaus kommt, dass er überhaupt noch in Thüringen behandelt wird.“

Diese gefährliche und inhaltlich unhaltbare Äußerung Ramelows, bei der es um die theoretische Übernahme Kranker durch andere Bundesländer ging**, bezeichnet Norbert Häring in einem Artikel treffend als einen „Extremismus der Mitte“. Zu Montgomerys Behauptung in der Talkshow von Anne Will, es gäbe eine „Tyrannei der Ungeimpften“, ist zu sagen: Die Behauptung stellt die Realität auf den Kopf, sie ist orwellsches „Neusprech“ – denn tatsächlich gibt es eine Tyrannei der Panikmacher. Aber so gefährlich und falsch die Aussage von Montgomery auch ist – innerhalb der medial hergestellten Irrationalität der Corona-Debatte bedeutet sie eigentlich nur die folgerichtige „Hocheskalation“ der Diffamierung von Millionen Menschen: Auf die angebliche „Pandemie der Ungeimpften“ folgt die angebliche „Tyrannei“ durch diese Gruppe. Man kann nur hoffen, dass labile Persönlichkeiten von solcher fast schon „offizieller“ Hetze auf der ganz großen medialen Bühne kein Recht zum Tyrannen-Mord ableiten.

„Offizielle“ Hetze gegen Andersdenkende

Dass die Realität genau andersherum zu beschreiben wäre – nämlich, dass sich aktuell ein vor einigen Monaten unvorstellbarer verbaler Terror gegen andersdenkende (in diesem Fall nicht geimpfte) Bürger entfaltet – das zählt längst nicht mehr: Es gibt fast keine Stimme mehr, die sich traut, gefährlicher Meinungsmache wie der von Montgomery oder Ramelow entgegenzutreten. Die wenigen Versuche, eine Mäßigung zu verlangen, bleiben viel zu sanft, wie etwa im WDR und an anderen Stellen. Als Ergebnis erleben wir eine von fast allen Politikern und großen Medien abgesegnete (also „offizielle“) Hetze gegen Andersdenkende.

Es ist also nicht nur eine politische Verrohung zu beobachten, die sich in völliger Empathielosigkeit gegenüber den Opfern einer unsozialen und in jeder Hinsicht unangemessenen und destruktiven Corona-Politik äußert: Begleitet wird das von einer „hocheskalierten“ sprachlichen Verrohung gegen Andersdenkende, bei der die anfängliche taktische Zurückhaltung nun aufgegeben wird. Die Panikmacher sind zunehmend außer Kontrolle. Skrupel angesichts einer langfristig unberechenbaren Spaltung der Gesellschaft sind nicht zu erkennen.

LINKE lässt Corona-Extremisten gewähren

Ramelow bedient sich einer bewährten Praxis: Die eindringliche Schock-Warnung vor Dingen, die nicht konkret drohen und die selbst im Falle des Eintretens (bisher jedenfalls) keinen Notstand rechtfertigen würden: Die Kliniken in Thüringen waren auch vor Corona oft überlastet. Im Falle der Äußerungen von Ramelow ist es zusätzlich erschütternd, dass er bei solchen Ausfällen keinen Gegenwind aus der eigenen Partei bekommt (falls ich parteiinterne Kritik übersehen haben sollte, wäre ich für Hinweise dankbar). Die kritikwürdige Haltung von großen Teilen der LINKEN zur Corona-Politik war ein wichtiger Aspekt beim schlechten Ergebnis der Bundestagswahl, analysiert wird das aber bisher nicht. Stattdessen duldet etwa die Berliner LINKE-Senatorin für Arbeit und Soziales, Elke Breitenbach, mit dem ihr unterstellten Mark Seibert einen problematischen Leiter des Berliner Corona-Krisenstabs, der gerade wieder durch diesen Tweet auffiel:

———————————————————————————-

Mark Seibert
@markseibert
Für die Ungeimpften muss die Luft dünner werden. Damit meine ich nicht die Sache mit dem Schlauch im Hals. Sondern:
Keine Gastro, keine Bahn, keine Freizeiteinrichtung, kein Museum, kein Theater, kein Kino, keinen Flug, kein Weihnachtsmarkt.
————————————————————————————

„Epidemische Notlage“ und Überwachung beenden

Die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“, alle Impfzwänge und vor allem sämtliche langfristigen Pläne für einen „Gesundheitspass“ und andere Überwachungspraktiken müssten meiner Meinung nach unverzüglich, ersatzlos(!) und unabhängig von der Impfquote gestrichen werden: Sie sind mit den realen Zahlen zu Übersterblichkeit oder Klinikbelegungen und mit dem realen Gefahrenpotenzial von Corona nicht länger zu rechtfertigen – und schon gar nicht angesichts der gravierenden gesellschaftlichen Schäden, die diese unsoziale und hochgefährliche Politik (nicht nur bei den besonders drangsalierten Kindern) verursacht. Eine angebliche Zustimmung der Bürgermehrheit ist angesichts der Panikmache als fragwürdig zu betrachten. Eine Abkehr von der bisherigen Corona-Politik würde ja keineswegs bedeuten, dass man nicht stattdessen sinnvolle Präventionen und Strategien gegen Corona praktizieren könnte.

* 09.11.2021 11:50 Uhr: Der Satz wurde nachträglich präzisiert.
** 09.11.2021 13:30 Uhr: Der Satz wurde nachträglich präzisiert.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Sahra Wagenknecht : „Viele Menschen wenden sich von der Linken ab“ – „Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Zwei Aktuelle Interviews:

A. in der Saarbrücker Zeitung:

Sahra_Wagenknecht2017Viele Menschen wenden sich von der Linken ab

https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/inland/sahra-wagenknecht-viele-menschen-wenden-sich-von-der-linken-ab_aid-55800557
Auszüge:

Die ehemalige Linke-Fraktionschefin im Bundestag beklagt mangelndes Gespür ihrer Partei für Sorgen der unteren Mittelschicht.
Ein möglicher Regierungswechsel im Bund unter Einschluss der Linken hängt nach Überzeugung ihrer ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht von den Parteien im linken Spektrum selbst ab und nicht von der Personalaufstellung der Union.

Von Stefan Vetter

Frau Wagenknecht, sind die Chancen für eine künftige Bundesregierung ohne Unions-Beteiligung mit der Wahl Armin Laschets zum CDU-Chef besser oder schlechter geworden?

WAGENKNECHT Andere Mehrheiten hängen in erster Linie von der Glaubwürdigkeit der linken Parteien und ihrer Kandidaten ab und nicht davon, wer an der Spitze der CDU steht.
Die SPD hat leider die Chance verpasst, jemanden aufzustellen, der überzeugend für mehr sozialen Ausgleich und eine neue Politik werben kann.
Olaf Scholz steht für die Agenda 2020 und die große Koalition, und dadurch eben nicht für höhere Löhne, bessere Renten und einen starken Sozialstaat.

Wäre Ihnen ein CDU-Chef Friedrich Merz lieber gewesen?

WAGENKNECHT Nein. Wenn ein Lobbyist der US-Finanzwirtschaft die Chance auf das Kanzleramt bekommen hätte, wäre das natürlich nicht gut gewesen.

In den aktuellen Umfragen dümpelt die Linke nur zwischen sieben und neun Prozent. Das ist weniger als bei der letzten Bundestagswahl. Woran liegt das?

WAGENKNECHT Einerseits ist es natürlich so, dass die Regierungsparteien, vor allem die Union, in der Corona-Krise deutlich zugelegt haben. Das hat mit Ängsten zu tun und mit der Omnipräsenz der Regierungspolitiker.

armut auf rekordniveau

armut auf rekordniveau

Andererseits muss es uns zu denken geben, dass die Linke in der politischen Debatte kaum noch vorkommt und sich gerade die Menschen von uns abwenden, für die die Linke in erster Linie da sein sollte: Menschen in schlecht bezahlten Berufen oder solche, die jetzt um ihren Arbeitsplatz bangen.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

WAGENKNECHT Das hat mit der Ansprache zu tun und mit der Themenwahl. Das ist das Problem der linken Parteien in ganz Europa.
Sie sind immer stärker zu Parteien der Bessergebildeten und auch der Besserverdienenden geworden.

Wie meinen Sie das?

WAGENKNECHT Ich nenne ein aktuelles Beispiel: In Berlin hat der rot-rot-grüne Senat jetzt beschlossen, dass es eine Migrantenquote von 35 Prozent im öffentlichen Dienst geben soll.
Das geht an den Problemen der meisten Menschen, auch der ärmeren Migranten, völlig vorbei.
Wenn man wirklich etwas für mehr Chancengleichheit tun wollte, müsste man sehr viel mehr Geld in die Schulen der ärmeren Wohnbezirke investieren und sich darum kümmern, dass der Anteil nicht-deutsch sprechender Kinder in keiner Schule 15 Prozent übersteigt.
Stattdessen zu verlangen, dass man für eine Bewerbung im öffentlichen Dienst künftig seine Abstammung nachweisen soll, ist fragwürdig.

Parteichefin Katja Kipping hat erklärt, dass eine sozial-ökologische Wende nur mit einer starken Linken möglich sei. Soll sich die Linke künftig mehr um den Klimaschutz kümmern?

WAGENKNECHT Auch das ist ein Thema, bei dem es entscheidend auf das Wie ankommt. Wer den Grünen nachläuft, die es für verantwortungsvolle Klimapolitik halten, Sprit, Heizöl und Strom zu verteuern, aber E-Porsches und Teslas staatlich zu subventionieren, muss sich nicht wundern, wenn sich Geringverdiener und die untere Mittelschicht abwenden.
Da wird der Verweis aufs Klima eher zum Alibi für eine Umverteilung von unten nach oben.

Das alles klingt nicht gerade so, als ob Sie einen rot-rot-grünen Regierungswechsel nach der nächsten Bundestagswahl für realistisch halten.

WAGENKNECHT Wenn man sich Umfragen anschaut, dann wünscht sich eine Mehrheit der Bevölkerung mehr soziale Gerechtigkeit.
Sie wünscht sich, dass die Corona-Schulden von den wirklich Reichen und nicht vom Normalbürger bezahlt werden.
Es wäre ein großes Versagen von SPD und Linken, wenn es trotzdem am Ende Schwarz-Grün gibt und alles Wer meitergeht wie bisher.

B: Auf Watson:

„Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben. Fridays for Future fand an Gymnasien und Hochschulen statt, aber kaum an Real- und Berufsschulen“

https://www.watson.de/!709255752
Auszüge:

Die Linken-Politikerin spricht im watson-Interview über das Erbe der Ära Merkel, ihren Blick auf Fridays for Future – und darüber, warum diskriminierte Minderheiten aus ihrer Sicht wenig von Diversity und Frauenquoten haben.

Sebastian Heinrich

Im November 2019 lag Sahra Wagenknecht vor Angela Merkel. Ein paar Wochen, bevor die Welt zum ersten Mal von einem neuartigen Coronavirus hörte, war sie zumindest laut einer Umfrage des Instituts Insa Deutschlands beliebteste Politikerin, vor der Bundeskanzlerin. Wagenknecht ist seit fast drei Jahrzehnten auf der politischen Bühne: erst als Vertreterin der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS, einer Vorgängerpartei der Linken, später als Vizechefin der Linkspartei und als Fraktionschefin der Partei im Bundestag. Heute ist sie einfache Bundestagsabgeordnete, aber sie bleibt eine der kontroversesten Linken inDeutschland. Und eine der beliebtesten.

Watson hat mit Sahra Wagenknecht gesprochen. Über das Ende der Ära Merkel und über den neuen CDU-Vorsitzenden. Wagenknecht erklärt, warum sie die Klimaschutzbewegung bisher für ein Elitenprojekt hält – und weshalb sie zu ihrer Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik steht. Und sie fordert, jungen Menschen in der Corona-Krise stärker unter die Arme zu greifen.

watson: Frau Wagenknecht, 2021 geht mit der Kanzlerschaft Angela Merkels nach 16 Jahren eine Ära zu Ende. Wer heute 20 ist, erinnert sich an keine andere Bundeskanzlerin. Wie hat sich Deutschland seit 2005 verändert?

Sahra Wagenknecht: Deutschland ist noch tiefer gespalten, sozial und kulturell. Eine rechte Partei, die es vor Merkel gar nicht gab, ist heute stärkste Oppositionspartei im Bundestag. Und in der Corona-Krise haben sich die Probleme weiter verschärft: Diejenigen, die schon vorher wenig hatten, haben durch die Maßnahmen besonders viel verloren. Auf der anderen Seite ist die Zahl und der Reichtum der Milliardäre weiter gewachsen.

Angela Merkel ist aber nach wie vor in Deutschland enorm beliebt. Weltweit gilt sie als eine Art feministische Ikone. Gibt es auch etwas, das Ihnen an der Kanzlerin gefällt?

Sie macht zumindest nicht den Eindruck, dass sie am Tag nach ihrer Kanzlerschaft in den Aufsichtsrat eines Unternehmens wechseln würde. Sie wirkt persönlich bescheiden. Trotzdem hat sie mit ihrer Politik vor allem einflussreiche wirtschaftliche Interessengruppen bedient.​

coins-currency-investment-insurance-128867.jpegWen meinen Sie damit konkret?

Das aktuellste Beispiel sind die Corona-Hilfen. Kleine Selbstständige und Gewerbetreibende wurden weitgehend im Stich gelassen. Solo-Selbstständige, Freiberufler und Künstler, die seit Monaten nicht mehr arbeiten dürfen, bekommen bis heute keine echte Unterstützung, sondern werden auf Hartz IV verwiesen. Zugleich hat man großen Unternehmen viel Steuergeld hinterhergeworfen, obwohl sie gleichzeitig hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausgezahlt haben.

Sie kritisieren auch die Kurzarbeit. Die hat aber wohl Millionen Menschen vor der Arbeitslosigkeit bewahrt…

Ja, die Kurzarbeit ist sehr vernünftig, damit Beschäftigte ihren Job behalten, wenn das Unternehmen in Schwierigkeit gerät. Gerade im Niedriglohnbereich muss man das Kurzarbeitergeld allerdings aufstocken: Wer vorher in einem Restaurant gearbeitet hat, kann mit 60 oder 67 Prozent des Gehalts kaum überleben. Aber BMW oder VW, die 2020 hohe Dividenden ausgeschüttet haben, hätten mit dem Geld lieber ihre Beschäftigten weiter bezahlen sollen. Es ist fragwürdig, wenn solche Unternehmen Geld vom Staat bekommen.

Welchen Umgang mit der Coronakrise erwarten Sie nun vom frisch gewählten CDU-Chef Armin Laschet?

Armin Laschet hatte in dieser Frage bisher keine klare Linie. Aber letztlich wird die Corona-Politik ohnehin von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten gemacht. Armin Laschet wird da wohl auch in Zukunft keinen Widerspruch anmelden.

Im vergangenen Februar haben Sie in einem Interview gesagt, Friedrich Merz als Kanzler wäre für Deutschland „eine Katastrophe“. Wie erleichtert sind Sie, dass es anders gekommen ist?

Mit Friedrich Merz wäre ein offener Lobbyist der Finanzwirtschaft und des Vermögensverwalters Blackrock möglicherweise der nächste Kanzler Deutschlands geworden. Im Vergleich dazu ist Armin Laschet weniger problematisch. Aber natürlich hoffe ich, dass er die Union in die Opposition führen wird.

Wie blicken sie auf Fridays for Future, die 2019 in wenigen Monaten hunderttausende junger Menschen mobilisiert haben?

Der Klimawandel ist ein Menschheitsthema. Deshalb ist es wichtig, dass eine verantwortungsvolle Klimapolitik gesellschaftliche Akzeptanz findet. Indem große Teile der Klimabewegung sich auf die Forderung nach einer CO2-Steuer fokussiert haben, haben sie aber das Gegenteil erreicht. Wer Sprit, Strom und Öl verteuert, vertieft die soziale Spaltung, weil das die Ärmeren und die untere Mittelschicht besonders trifft, die einen größeren Anteil ihres Gehalts für Heizung, Strom und das Auto ausgeben müssen.

Das heißt, es benachteiligt die ländlichen Gebiete.

Klimapolitisch ist damit auch nichts gewonnen: Menschen im ländlichen Raum, wo kaum noch Züge und Busse fahren, werden weiter ihr Auto benutzen. Und in vielen ländlichen Gebieten gibt es auch keine Alternative zur Ölheizung.

Was wäre die bessere Lösung?

Wir sollten weniger darüber reden, wie wir konsumieren – und mehr darüber, dass wir anders produzieren müssen. Wir haben einen riesigen Verschleiß an Ressourcen dadurch, dass Unternehmen Produkte bewusst so konstruieren, dass sie nach Ablauf der Garantiefrist schnell kaputtgehen und sich nicht reparieren lassen. Das könnte man durch ordentliche Gesetze verhindern.

Das ist aber nur ein kleiner Teil des Problems.

So klein ist der nicht. Wir müssen außerdem über die Globalisierung reden: Die riesigen Containerschiffe, von denen vor Corona Jahr für Jahr mehr unterwegs waren, gehören zu den größten Dreckschleudern. Wer Menschen ein schlechtes Gewissen einredet, weil sie ein altes Dieselauto fahren – und gleichzeitig immer neue Freihandelsabkommen abschließt, ist ein Heuchler. Denn diese Abkommen sorgen dafür, dass immer mehr Produkte, die man hier produzieren und anbauen könnte, aus tausenden Kilometer Entfernung hierher transportiert werden: mit extrem hohen Emissionen.

Fridays for Future selbst verbindet inzwischen den Kampf gegen die Klimakrise mit Kapitalismuskritik, mit der Forderung nach mehr globaler Gerechtigkeit. Was halten sie davon?

Das ist natürlich richtig. Kapitalismus bedeutet, dass nach dem Kriterium gewirtschaftet wird, aus Geld mehr Geld mehr Geld zu machen. Dafür muss man immer mehr und möglichst billig produzieren. Raubbau an der Natur und exzessives Wachstum gehören zur DNA dieser Wirtschaftsweise. Das lässt sich schwer vereinbaren mit Klimaschutz und einer gesunden Umwelt.

Ist Ihnen Fridays for Future durch diesen kapitalismuskritischen Spin sympathischer geworden?

Wenn sich junge Leute für eine andere Wirtschaftsordnung engagieren, ist mir das natürlich sympathisch. Aber Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben. Fridays for Future fand an Gymnasien und Hochschulen statt, aber kaum an Real- und Berufsschulen. Die meisten Jugendlichen kamen aus der gehobenen Mittelschicht. Heute haben Ärmere oft den Eindruck: Wenn die über Klima reden, dann steigen bei mir die Preise, dann wird mein Leben noch härter. Solche Ängste wurden von der Bewegung oft ziemlich kalt abgebügelt.

Ist das ein Vorwurf an die Jugendlichen in der Klimabewegung?

Den Jugendlichen werfe ich das nicht vor. Den Journalisten, die Fridays for Future unkritisch und euphorisch begleitet haben, dagegen schon. In der Klimadebatte wurde Klimaschutz überwiegend zu einer Frage des Lifestyles gemacht. Nach dem Motto: Wer sein Schnitzel bei Aldi kauft, wer einen Diesel statt eines teuren Elektroautos fährt, der macht sich schuldig. Das ist eine überhebliche Debatte, die der Akzeptanz des Klimathemas schadet.

Sie selbst haben 2018 versucht, mit „Aufstehen“ eine eigene politische Bewegung zu gründen. Sie waren damit aber deutlich weniger erfolgreich. Was hat Fridays for Future, was „Aufstehen“ nicht hat?

„Aufstehen“ hat ein ganz anderes Milieu angesprochen. Es ist schwer, die weniger wohlhabende Hälfte der Bevölkerung – Menschen, die nie die Chance hatten, ein Gymnasium oder eine Hochschule zu besuchen – auf die Straße zu bringen. Es wird überhaupt immer schwerer, diese Menschen politisch zu erreichen. Manche wählen aus Verzweiflung rechts, weil sie das Gefühl haben, alle anderen haben sie im Stich gelassen. An diese Menschen richtete sich „Aufstehen“. Und wir hatten ja immerhin in kurzer Zeit 170.000 Anmeldungen.

Woran hat es dann gehapert?

Viele wollten keine Bewegung, sondern eine neue Partei. Es gab da völlig gegensätzliche Erwartungen. Übrigens gibt es „Aufstehen“ auch heute noch. Die Bewegung wird gerade von couragierten jungen Leuten wieder aufgebaut. Siehe hier: https://aufstehen-basis.de/

Ein erklärtes Ziel von „Aufstehen“ war es ja, die politische Linke in Deutschland zusammenzuführen. Wenn man mit jungen linken Menschen in Deutschland spricht, bekommt man aber den Eindruck, dass viele davon ein Problem mit Ihnen persönlich haben, vor allem wegen ihrer Aussagen zur Flüchtlingspolitik. Wie sehr stört Sie das?

Die Rückmeldung hängt vermutlich davon ab, mit wem Sie reden. Also wenn ich an Universitäten aufgetreten bin, hatte ich immer übervolle Hörsäle. Ich habe im letzten Jahr einen eigenen Youtube-Kanal aufgebaut und mittlerweile haben meine Videos hunderttausende Clicks. Auch die dürften eher selten von Usern über 60 kommen. Es gibt Leute, die meinen, dass jeder, der hohe Zuwanderung kritisiert, ein halber Nazi ist. Meist sind das Leute, die in Wohnvierteln leben, wo die Flüchtlinge gar nicht hinkommen, und die auch keine Gefahr laufen, mit ihnen beruflich in Konkurrenz zu treten. Für mich ist ein solches Herangehen nicht links. Es hat dazu beigetragen, dass die linken Parteien heute von Geringverdienern und Nicht-Akademikern kaum noch gewählt werden.

Vielen der Millionen Menschen, die sich nach 2015 für Flüchtlinge engagiert haben, haben Sie mit Ihren Äußerungen aber wohl den Eindruck gegeben: Sahra Wagenknecht findet, dass diese Menschen gar nicht hier sein sollten.

Ich finde, dass Hilfe vor Ort unendlich viel wichtiger ist. Jeder Euro, der vor Ort ausgegeben wird, hilft hundert Mal so vielen Menschen. Die am meisten Bedürftigen schaffen es nie nach Europa. Wir haben dramatische Zustände in Lagern im Libanon. In Kenia gibt es ein riesiges Flüchtlingslager, auch in Jordanien. Da leben Menschen oft schon in der zweiten oder dritten Generation wie in einem Gefängnis: ohne jede Hoffnung und Perspektive. Die UN-Organisationen, die sich um sie kümmern, haben viel zu wenig Geld. Islamistische Terrorgruppen rekrutieren dort ihre Anhänger. Das wird hier in Deutschland alles ausgeblendet

Inwiefern?

Uns interessieren Flüchtlinge erst, wenn sie in Europa sind. Aber es sind die Bessergestellten, die das Geld für die Schlepper aufbringen können. Und es sind übrigens auch die Bessergebildeten, deren Qualifikationen in ihrer Heimat dann schmerzlich fehlen. Wenn man über Flüchtlinge redet, muss man auch über Kriege reden.

Was meinen Sie damit?

Es ist doch kein Zufall, dass die meisten Flüchtlinge, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, aus drei Ländern stammen: Syrien, Irak und Afghanistan. Drei Länder, in denen westliche Staaten ihre Kriege geführt und Kriegsparteien hochgerüstet haben. Und dann fühlen wir uns superedel, wenn wir von den vielen Millionen Menschen, die durch diese Kriege alles verloren haben, einige hier aufnehmen. Wir sollten lieber die Kriegseinsätze beenden und den Wiederaufbau vor Ort unterstützen.

Kriege und Rüstungsexporte kritisieren auch viele andere Menschen. Aber ein Vorwurf, der seit Ihren Äußerungen zur Flüchtlingspolitik immer wieder zu hören ist: Sie vertreten ähnliche Positionen wie die AfD.

Das ist ein besonders dummer Vorwurf. Mich interessiert, was richtig ist, und nicht, was die AfD sagt. Wenn es schneit und die AfD sagt, es schneit, werde ich auch in Zukunft nicht behaupten, dass die Sonne scheint.

Naja, aber wenn Sie nach den Übergriffen während der Kölner Silvesternacht und nach dem Terroranschlag von Berlin genauso wie AfD-Politiker Angela Merkel eine Mitschuld geben, dann finden das eben viele Menschen problematisch.

Und ich finde diese Art der Debatte problematisch. Wenn man Dinge von mir falsch findet, soll man das inhaltlich begründen, nicht damit, mich in eine schräge Nähe zur AfD zu rücken.

Was ist aus Ihrer Sicht die bessere Alternative für die Linke, um der teilweise offen rassistischen Rhetorik der AfD zu begegnen?

Sinnvolle Konzepte vorzulegen, statt die realen Probleme wegzureden. Es lässt sich doch nicht leugnen, dass Zuwanderer für Lohndrückerei missbraucht werden. Und natürlich gibt es auch Konkurrenz um Sozialwohnungen und generell um bezahlbaren Wohnraum. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Recht auf Asyl für Verfolgte unterstützt, aber ebenso für eine Begrenzung der Zuwanderung plädiert. Wer diese Menschen moralisch diffamiert und als Rassisten beschimpft, treibt sie nach rechts.

Corona wird auch 2020 noch lange bestimmen. Viele junge Menschen hat das Coronavirus zwar gesundheitlich nicht so oft getroffen – aber die Coronakrise dafür besonders heftig: Auszubildende, die Angst um ihre Zukunft haben, Studenten, die ihre Nebenjobs verlieren. Was müsste für junge Menschen jetzt am dringendsten getan werden?

Zum einen ist dramatisch, was jetzt an den Schulen passiert. Gerade Kinder aus ärmeren Familien leiden darunter, dass sie nicht mehr in die Klassen dürfen. Home-Schooling funktioniert eben nur, wenn Mama oder Papa entsprechende Unterstützung leisten. Wir brauchen Präsenzunterricht in kleinen Klassen und ordentliche Luftfilter in den Räumen. Im Gegenzug sollte man lieber Unternehmen verpflichten, alle Beschäftigten, bei denen das möglich ist, von zuhause arbeiten zu lassen.

Was ist mit den Studenten?

Studenten, die ihre Nebenjobs verloren haben, brauchen einen Corona-Bonus auf das BAföG, den sie nicht zurückzahlen müssen. Helfen würde auch mehr Unterstützung bei Mietzahlungen, gerade in Städten, wo selbst ein WG-Zimmer richtig teuer ist.

Mehrere Studien zeigen, dass junge Menschen psychisch besonders stark leiden unter der Isolation, den fehlenden sozialen Kontakten. Was soll aus Ihrer Sicht dagegen getan werden?

Man muss versuchen, Präsenzunterricht und Kontakte zuzulassen, wo immer es geht. Klar, unter Einhaltung der Abstandsregeln. Bei Kindern gibt es aus verschiedenen Ländern Studien, dass das Infektionsrisiko deutlich niedriger ist als bei Erwachsenen. Alle Schulen dichtzumachen, nur weil Kinder keine starke Lobby haben, ist eine fragwürdige Strategie. Zumal Kinder und Jugendliche selbst durch Corona kaum gefährdet sind. Die einzige Gefahr ist, dass sie das Virus an Risikogruppen weitergeben.

Wenige Monate vor der Bundestagswahl kommt ihre Partei, die Linke, kaum vom Fleck: In Umfragen pendeln sie zwischen sieben und zehn Prozent, Tendenz momentan eher fallend. Woran liegt das?

Wir sind mehr und mehr zu einer Akademikerpartei geworden, wie viele andere linke Parteien in Europa auch. Der Ökonom Thomas Piketty hat das in seinem jüngsten Buch mit Zahlen belegt. Unsere Parteiführung hat eine Themensetzung und Sprache, die sich vor allem an Studierende und akademisch Gebildete in den Großstädten richtet. Linke Parteien sind aber eigentlich dafür da, sich für die Benachteiligten einzusetzen: für die Menschen, die in harten und in der Regel wenig inspirierenden Jobs arbeiten, die um ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssen, so sie überhaupt welchen haben.

Das heißt, Sie wollen keine Akademiker mehr ansprechen?

Ich freue mich über jeden Gutverdiener, der uns aus sozialen Gründen wählt – aber wir sollten vor allem für die da sein, die sonst gar keine Lobby haben.

Ihre Hauptkritik an den Linken ist seit Längerem, kurz gesagt: Sie kümmere sich zu sehr um Gendersternchen und Klimaschutz – und zu wenig um Arbeitsbedingungen von Menschen mit niedrigen Löhnen und in prekären Bedingungen. Aber ist diese strikte Trennung überhaupt sinnvoll? Auch und gerade Menschen mit wenig Geld werden wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert und bedroht, die Klimakatastrophe betrifft gerade die Ärmsten besonders stark…

Die Frage ist ja nicht, ob man über Klimaschutz und Gleichberechtigung redet, sondern wie. Wenn man Klimapolitik zur Lifestyle-Frage macht und vieles verteuern will, dann muss man sich nicht wundern, dass sich die abwenden, für die das Leben schon in den letzten Jahren immer schwerer geworden ist. Und bei dem identitätspolitischen Rummel um Quoten und Diversity geht es immer nur um bessere Chancen für bereits Privilegierte. Ärmere Frauen oder Einwandererkinder haben heute viel weniger Perspektiven als vor 30 Jahren, die ganze Identitätspolitik nützt ihnen nichts.

Warum nicht?

Wo reden wir denn über Diversity oder über Frauenquoten? Nicht bei Pizzaauslieferern oder Reinigungskräften, da ist das alles sowieso übererfüllt, sondern bei Vorstandsposten in Unternehmen, bei gehobenen Stellen in der Verwaltung oder in den Medien. Um diese Posten konkurrieren Leute aus der gehobenen Mittelschicht. Damit Ärmere endlich wieder echte Aufstiegsmöglichkeiten haben, braucht es ganz andere Hebel.

Welche sind das Ihrer Meinung nach?

Bessere Bildung, höhere Löhne, sichere Arbeitsplätze, einen guten Sozialstaat. Das würde allen aus ärmeren Familien helfen, ganz gleich, ob sie zur Minderheit oder Mehrheit gehören. Das konstruierte Gegeneinander von Minderheit und Mehrheit zerstört sowieso nur die gegenseitige Solidarität.

Wie viel werden Sie persönlich zum Bundestagswahlkampf beitragen? Sie gehen ja selbst offen damit um, dass sie stark mit großen Teilen ihrer Partei fremdeln. Aber andererseits sind Sie eine der bekanntesten und beliebtesten Politikerinnen Deutschlands.

Ich bin Mitglied der Bundestagsfraktion und wenn der NRW-Landesverband das möchte, werde ich wieder über die NRW-Landesliste kandidieren. Ich fremdele ja nicht mit der ganzen Partei, sondern ich kritisiere Dinge, die meiner Überzeugung nach falsch laufen – und mit denen wir Wähler verlieren.

Sie werden also auf jeden Fall wieder für den Bundestag kandidieren? Sie hatten bisher immer gesagt, dass sie das von der Unterstützung ihres Landesverbands abhängig machen.

Nicht auf jeden Fall. Nur, wenn der NRW-Landesverband das möchte und unterstützt.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Wer mehr von Sahra lesen will, kann hier ihren Newsletter abonnieren: http://click.revue.email/ss/c/cTW-oXUF87dBy860_uX82G9rZeujdQD7dGHUTPwH9-zAhiT4VbxgwsZLaths8f1iPiqA-aFo-xD501s_BEP941vJ6VVebn1n8OiDfEFj7SwQTaxzHOs69eeh3WTTYOWkBxlvVVjkR8cfzSOo9a8bWzmu1J7PcaUEixqEUrSSaY0/38r/974lR96fTrmB76llCg7xOw/h29/vU949iFnvqQtSicQrdheL0iArUazZVj2fqOZ4wVEJSE

Jochen

Sahra Wagenknecht zur Annexion der DDR: „Man hätte die industrielle Substanz erhalten müssen“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Sahra_Wagenknecht2017Nachtrag v. 2.10.2020: In der jungen Welt ist ein lesenswerter, sehr kritischer Kommentar aus marxistischer Sicht zu diesem Interview erschienen, siehe unten.
Zu diesem Thema habe ich hier schon einiges gebloggt, erst gestern: https://josopon.wordpress.com/2020/09/30/die-deutsche-einheit-ein-kapitalistisches-ubernahmeprojekt/
sowie hier: https://josopon.wordpress.com/2020/01/13/ostdeutschland-und-die-treuhand-eine-geschichte-einer-annexion-die-den-deutschen-wohl-nicht-zugemutet-werden-sollte/
https://josopon.wordpress.com/2020/07/10/sahra-wagenknecht-im-interview-immer-tiefere-spaltung/ und https://josopon.wordpress.com/2017/10/03/the-dark-side-of-the-wende-was-sich-seit-1990-fur-die-ostdeutschen-verschlechtert-hat/
Sahra Wagenknecht haut in die gleiche Kerbe. Hier Auszüge:

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Tobias Armbrüster

Vor 30 Jahren sind die ostdeutschen Bundesländer der Bundesrepublik beigetreten. Eine Politikerin, die damals noch angehende Studentin war, ist Sahra Wagenknecht.
In den vergangenen drei Jahrzehnten war sie eine der prägnantesten, teilweise eine der umstrittensten Politikerinnen aus den neuen Bundesländern.
Sie hatte in der Linkspartei mehrere Spitzenämter inne. Zuletzt war sie Fraktionschefin im Bundestag.

Tobias Armbrüster: Frau Wagenknecht, wir reden über den 3. Oktober 1990. Wo waren Sie an diesem Tag? Erinnern Sie sich noch?

Wagenknecht: Ja, im Zug. Ich hatte ja damals endlich mein Studium beginnen können und ich habe in Jena studiert, und an dem Tag bin ich nach Jena gefahren.

Armbrüster: War das für Sie eine glückliche Zeit?

Wagenknecht: Ja, es war für mich ambivalent. Auf der einen Seite hatte ich einen wirklich großen persönlichen Vorteil. Ich konnte endlich studieren, was in der DDR für mich nicht möglich war.
Auf der anderen Seite war ich natürlich schon irgendwo auch gespalten, weil ich zu denen gehörte, die sich eigentlich erhofft hatten, dass die DDR einen eigenständigen Weg in dem Sinne geht, dass sie sich reformiert, dass sie eine attraktive Gesellschaft wird, und das hatte sich natürlich mit dem 3. Oktober erledigt, diese Hoffnung.

Armbrüster: Wie haben Sie sich das damals vorgestellt, einen eigenständigen Weg gehen als DDR?

Wagenknecht: Ich hatte auf Reformen in der DDR gehofft. Ich meine, man muss ja sehen: Ich bin ja zu einer Zeit geboren, da stand die Mauer.
Ich kannte die alte Bundesrepublik überhaupt nicht und der Rahmen meines Denkens war damals die DDR.
Das war das Land, in dem ich aufgewachsen war, und deswegen war für mich tatsächlich die Idee, dass man die Gesellschaft dort so verändert, dass man auch keine Mauer mehr braucht, weil die Menschen gerne da leben wollen, weil man ein sozial gerechtes System hat, weil die Wirtschaft funktioniert, statt einer zentralistischen Planung zu unterliegen, dass es Mitbestimmung, Redefreiheit, Demokratie gibt. Das war damals eigentlich die Vorstellung, die ich hatte.

Armbrüster: Es wäre im Grunde alles so gewesen wie in Westdeutschland auch?

Wagenknecht: Nein, nicht genauso, weil ich natürlich schon gehofft habe, dass man eine Wirtschaft aufbauen kann, ohne dass sie auf Ausbeutung und auf großen sozialen Unterschieden beruht. Ich wollte schon eine Wirtschaft, die marktförmig ist, in der es Wettbewerb gibt. Das war völlig klar, dass man das braucht.
pexels-photo-259027.jpegAber es heißt ja nicht automatisch, dass deswegen große Aktienpakete vererbt werden und dass ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft im Grunde sehr reich damit werden kann, von der Arbeit anderer zu leben.
Das wollte ich nicht. Insoweit gab es da schon auch Unterschiede.

Armbrüster: Wie würden Sie das denn heute betrachten? Waren das naive Träumereien?

Wagenknecht: Ja, in der weltpolitischen Konstellation war es wahrscheinlich naiv, weil die Dynamik einfach eine andere war. Ich meine, es gab ja damals viele.
Es gab ja auch im Westen, selbst in anderen Ländern Europas durchaus Leute, die eigentlich darauf gesetzt hatten, dass es nicht so schnell eine Wiedervereinigung gibt.
Zum Beispiel auch in Frankreich hatte man ja eher etwas Sorge, dass Deutschland dann zu groß und zu stark wird.
Es gab ja durchaus auch Stimmen, die einen anderen Weg befürworteten. Aber in der DDR-Bevölkerung selbst war natürlich der Druck sehr, sehr groß.
Man hat die Kaufhäuser gesehen, man wollte die D-Mark, und mit der D-Mark war das im Grunde gelaufen.
Mit einer gemeinsamen Währung zwei Staaten aufrechtzuerhalten, wäre unter den damaligen Bedingungen meines Erachtens ökonomisch überhaupt nicht möglich gewesen.

Armbrüster: Ist es nicht etwas einfach zu sagen, die Leute wollten die D-Mark? Wollten sie nicht lieber eigentlich ein Leben in Wohlstand oder ein unbeschwertes Leben, und das wurde ihnen im Westen vorgelebt?

Wagenknecht: Sie wollten die D-Mark, damit sie sich viele von den Dingen leisten können, die sie vorher einfach nur immer im Westfernsehen gesehen haben, und das war ja auch völlig verständlich.
Das Problem war, dass man ihnen suggeriert hat und ihnen weißgemacht hat: Wenn es eine Eins-zu-eins-Währungsumstellung gibt, dann bekommen sie den westdeutschen Lebensstandard, aber ihre Arbeitsplätze bleiben erhalten.
Und das konnte nicht funktionieren und hat auch nicht funktioniert.
Das heißt, die negativen Seiten, Arbeitslosigkeit, dass viele auch aus ihrer beruflichen Biografie völlig herausgeworfen wurden und auch nie wieder reinkamen – das war ja schon ein Teil der Generation damals der 40-, 50-Jährigen –, das haben natürlich auch viele gar nicht so erwartet und das hat Helmut Kohl*) natürlich auch nicht irgendwie angedeutet, sondern er hat blühende Landschaften versprochen.

Armbrüster: Die blühenden Landschaften kamen nicht sofort. Tatsächlich hat Deutschland, vor allen Dingen Ostdeutschland, einige Jahre, Jahrzehnte lang einen ziemlichen Abstieg erlebt.
Aber zurzeit sehen wir ja eigentlich tatsächlich, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angeglichen haben. Kann man dann heute, 30 Jahre später sagen, es war doch ein Erfolg?

Wagenknecht: Das kommt ein bisschen darauf an, wo man im Osten wohnt und welche berufliche Laufbahn man hinter sich hat. Es gibt natürlich Städte wie Leipzig oder Jena oder andere, wo es wirklich wirtschaftlich relativ gut aussieht.
pexels-photo-1043558.jpegAber es gibt auch Regionen, wo tatsächlich die Arbeitslosigkeit immens ist, im ganzen Wirtschaftsaufschwung auch nicht zurückgegangen ist, wo die Leute sich berechtigt abgehängt fühlen, wo eigentlich jeder weggeht, der qualifiziert ist, wo auch überwiegend dann Ältere leben, und das sind Regionen, wo die Menschen sich natürlich entwertet und auch nicht von der Allgemeinheit irgendwie in ihren Bedürfnissen beachtet fühlen. Es gibt beides!

Armbrüster: Was würden Sie dann sagen, was ist da schiefgelaufen in den letzten 30 Jahren?

Wagenknecht: Ich denke, man hätte am Anfang viel mehr tun müssen, die industrielle Substanz zu erhalten.
Natürlich war ein Teil der Betriebe marode, aber es gab auch Betriebe, die durchaus überlebensfähig waren, die auch vorher schon zum Beispiel nach Westdeutschland geliefert haben.
Und es war ja ein Problem, als dann die Supermärkte quasi an die großen Ketten des Westens angeschlossen wurden: Die gesamten Produkte verschwanden ja von einem Tag zum nächsten – auch die, die die Leute noch gekauft hätten.

Auch durch diese radikale Umstellung eins zu eins – das war natürlich ein absoluter Schock für die ostdeutsche Industrie. Das war eine solche Deindustrialisierung, die im Osten durchgezogen wurde; das hätte man natürlich abfedern können und meines Erachtens auch abfedern müssen.
Das wäre insgesamt sogar dann billiger gewesen, als diese hohe Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Da wären andere Weichenstellungen meines Erachtens sinnvoll gewesen und in vielen Regionen haben wir das bis heute nicht ausgeglichen.

Armbrüster: Aber, Frau Wagenknecht, entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche. Kann man denn wirklich diese Stellschrauben, diese Abläufe bei der Wiedervereinigung vor 30 Jahren, kann man die tatsächlich dafür verantwortlich machen, dass heute, 30 Jahre später, in einigen Regionen es immer noch nicht so ist, wie es sein sollte?

Wagenknecht: Nein, sie sind nicht allein verantwortlich. In 30 Jahren hätte man noch viel tun können, um das wiederum auszugleichen. Das ist natürlich richtig. Es gab ja auch Regionen, denen ging es schlecht, und da haben sich trotzdem irgendwann wieder Betriebe angesiedelt und es ist besser gelaufen.
Aber wir haben ja in Deutschland insgesamt das Problem – das ist ja kein Ostproblem –, dass wir viel zu wenig Industriepolitik haben und dass es Regionen gibt, in Ost wie West, die man völlig alleine lässt.
Da ist nichts und wenn man politisch nicht wirklich sich darum bemüht, entsteht da auch nichts, und man nimmt eigentlich in Kauf, dass da die Infrastruktur verrottet, dass die Ärzte weggehen, dass keine Busse mehr fahren, und am Ende sieht es dann in so einer Region wirklich erbärmlich aus und da kann ja von alleine auch nichts mehr entstehen. Da gibt es auch kein Funknetz, meistens, das richtig funktioniert, kein schnelles Internet, und das sind ja alles Dinge, um die sich die öffentliche Hand kümmern müsste. Das kann man ja nicht einfach dem Markt überlassen. Der Markt richtet das eben nicht!

Armbrüster: Gibt es denn nach wie vor eine typische ostdeutsche Mentalität?

Wagenknecht: Ich glaube nicht. Es gibt sicherlich bei den Älteren – da gehöre ich ja sogar auch schon dazu –, die in der DDR vielleicht noch aufgewachsen sind, da noch irgendwie Lebenserinnerungen haben, gewisse Prägungen, die sich von denen, die das nicht erlebt haben, unterscheiden.
Aber ich glaube nicht, dass es noch eine Mentalität gibt. Dafür gibt es einfach viel zu viele Erlebnisse in den letzten 30 Jahren, die man dann gemeinsam hat.
Viele Menschen sind ja auch von Ost nach West gezogen, andere umgekehrt. Es gibt viele Ehen, wo das zusammengegangen ist. Ich glaube, dass diese Ost-West-Spaltung insgesamt natürlich auch sehr an Bedeutung verliert.
Es gibt sie noch, es gibt sie auch noch in der Lohnhöhe, es gibt sie in dem Ausmaß beispielsweise auch des Niedriglohnsektors. Da gibt es schon noch deutliche Unterschiede. Aber mental, denke ich, baut sich das immer mehr ab.

Armbrüster: Wie erklären Sie sich es dann, dass es in so vielen Bereichen immer noch so große Unterschiede gibt? Sie haben einige erwähnt.
Ihre Partei hat in dieser Woche ein anderes wichtiges Merkmal herausgefunden, dass es in ganz Berlin in allen Berliner Ministerien nur insgesamt vier Top-Positionen gibt, die von Ostdeutschen, von gebürtigen Ostdeutschen besetzt sind.
Wie erklären Sie sich so was?

Wagenknecht: Ja, es war natürlich schon eine Übernahme. Es war ja kein Zusammenschluss, sondern es war ein Anschluss, und der Anschluss hat bedeutet, dass die Eliten aus dem Westen kamen, und das hat man schon sehr, sehr lange auch beibehalten. Das ist ja etwas, was man in der Soziologie untersuchen kann. Eliten reproduzieren sich selbst.
Ich habe das ja zum Beispiel an der Universität erlebt. Man hat damals in Jena im Grunde fast alle Professoren rausgeworfen, und zwar nicht nur die irgendwie verblendeten Ideologen. Da waren wirklich sehr gute Professoren, die Hegel, Kant und so etwas gelehrt haben. Die sind alle rausgeflogen. Es wurde nur westdeutsches Personal eingestellt und die haben dann teilweise auch wiederum so agiert.
Die ersten, die da waren, die kannten ja niemanden im Osten, also haben sie ihre Kollegen aus dem Westen nachgeholt. So ist das in den Betrieben vielfach passiert, so ist das in den politischen Organisationen passiert, und dadurch ist es ja tatsächlich so. Es gibt ja diese Zahl. Ich glaube, 1,4 Prozent aller Führungsfunktionen in Deutschland sind mit Ostdeutschen besetzt.

Armbrüster: Oder, Frau Wagenknecht – entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch mal unterbreche. Das klingt vielleicht tatsächlich provokant, aber man hört so einen Satz oder so eine Bemerkung ja immer wieder: Könnte es vielleicht auch sein, dass die Ostdeutschen einfach zu wenig selbstbewusst aufgetreten sind in dieser Zeit oder dass sie sich irgendwie eingerichtet haben in einer Ecke, wo sie sagen, sie werden sowieso unterstützt?
Wie gesagt: Jetzt nicht meine Meinung, sondern das ist eine Bemerkung, die man immer wieder hört.

Wagenknecht: Nein. Ich glaube, so pauschal ist das natürlich Unsinn. Es gibt im Osten genauso viele Selbstbewusste wie im Westen und umgekehrt gibt es auch genauso viele, die sich vielleicht lieber einrichten.
Das Problem war ja einfach: Das gesamte Leben, die gesamte Art, wie sie ihr Leben gestaltet haben, alles war völlig im Umbruch. Und die, die das in der Hand hatten, das waren natürlich überwiegend Leute, die aus dem Westen kamen.
Da hatten sie kaum eine Chance, in Führungspositionen vorzudringen. Das ist ja nicht eine Frage des Selbstbewusstseins, sondern das war ja die Frage, wer hat damals wirklich den ganzen Prozess gemanagt.

Natürlich hätte man versuchen können, das stärker zu balancieren, auch dieses Belehrende, was ja teilweise doch immer wieder auch mitkam. Wenn man das etwas zurückgehalten hätte, wäre das, glaube ich, für das Gefühl von Einheit und Vereinigung wesentlich besser gewesen. Aber heutzutage spielt auch das meines Erachtens nicht mehr so die zentrale Rolle.
In den Jahren nach der Wiedervereinigung war das schon ein ganz wichtiger Aspekt. Viele Ostdeutsche fühlten sich bevormundet und belehrt und auch von oben herab behandelt – dadurch, dass man ihnen immer wieder sagen wollte, wie sie jetzt zu denken haben und so weiter. Das wird wahrscheinlich heute in der Form nicht mehr so wahrgenommen, aber das war lange Zeit wirklich ein Problem.

Armbrüster: Dann sagen Sie uns noch: Ist dieser kommende Samstag, der 3. Oktober 2020, ist das für Sie ein Tag zum Feiern?

Wagenknecht: Mein persönliches Leben möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie das gelaufen wäre.
Ich hätte natürlich weder meinen Mann kennengelernt noch viele andere Dinge tun können, und insoweit ist es sicherlich auf jeden Fall eine gute Sache, dass Deutschland nicht mehr geteilt ist.
Aber ich denke, wir haben heute, wenn wir über den 3. Oktober und über Einheit reden, auch über die Spaltungen zu reden, die heute ganz tief sind und die sich verstärken, soziale und kulturelle, die unser Land durchziehen, und insoweit finde ich, ein einiges Land sind wir heute eher weniger als vor zehn oder 15 Jahren. Aber das hat mit Ost-West nicht mehr so viel zu tun.

*: Siehe hier: https://josopon.wordpress.com/2017/06/17/warum-es-mir-schwer-fallt-helmut-kohl-nachzutrauern/

Kommentar aus der jungen Welt:

https://www.jungewelt.de/artikel/387442.wendegewinnerin-des-tages-sahra-wagenknecht.html

Wendegewinnerin des Tages: Sahra Wagenknecht

Von Sebastian Carlens

Es ist nicht verboten, dümmer zu werden, als man früher war. Menschen ändern Meinungen, manches vergessen sie, anderes fällt ihnen irgendwann neu ein. So weit, so normal. Nicht normal ist, die eigene Geschichte anhand späterer Erkenntnisse umzuschreiben – so, als hätte man nie was anderes gedacht als das, was einem aktuell in den Ganglien rumort.

Sahra Wagenknecht hat 30 Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass sie zu den Opfern der DDR gehört (Studienverbot!). Wenn sie dem Deutschlandfunk jetzt erzählt, dass sie 1989, im Alter von 20 Jahren und noch zu DDR-Zeiten, bereits »eine Wirtschaft, die marktförmig ist, in der es Wettbewerb gibt«, erträumt hätte, dann ist sie heute dümmer als die Wagenknecht von 1992. Die hatte damals differenzierte Analysen (ganz ohne Verlangen nach dem Markt) zur DDR-Geschichte abgeliefert: Sie fand einen »blühenden Sozialismus«, zu dessen Entwicklung das Land »auf dem besten Wege« war.

Seit Wagenknecht den bräsigen Ludwig Erhard zum Säulenheiligen erhoben hat, hängt sie dem Glauben an, man könne Kapitalismus (sprich »Reichtum«) ohne Zwang zur Profitmaximierung (sprich »Gier«) haben. Das, was sie – wie sie heute glaubt – vor über 30 Jahren in der DDR zu bekommen gehofft hatte, wäre solch ein Wunderding: Markt ohne Kapital.

Wenn die Wagenknecht von heute auch noch findet, dass es keine »ostdeutsche Mentalität« mehr gäbe, dass es dafür »viel zu viele Erlebnisse in den letzten 30 Jahren« gegeben habe, dann hat sie, wenn sie von sich spricht, sicher recht: Sie ist mental, finanziell und mit dem Wohnsitz im Westen gelandet. Es sei doch »eine gute Sache, dass Deutschland nicht mehr geteilt ist«, findet Wagenknecht 2020. Die von 1992 sah das ganz anders, die von 1989 vermutlich auch.

Wenn es ein Recht auf Verdummung gibt, dann gibt es zum Glück noch eins: Das nämlich, diesen Weg nicht mitgehen zu müssen.

Über Kommentare hier  auf meinem Blog  würde ich mich freuen.
Jochen