Sevim Dagdelen (Die Linke) in China: Für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Über die deutsch-chinesischen Beziehungen im Licht der »Zeitenwende«.
Gastvortrag von Sevim Dagdelen an der Shanghai International Studies University

https://www.jungewelt.de/artikel/452038.interessenausgleich-f%C3%BCr-freiheit-frieden-und-gerechtigkeit.html

Auszüge:
Wenn wir über die deutsch-chinesischen Beziehungen 2023 im Licht der Zeitenwende der Emanzipation des globalen Südens sprechen, müssen wir zuallererst über ein wichtiges Buch zum Verständnis der Gegenwart sprechen. Es heißt »The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern Warfare« (1) und ist 2022 in den USA erschienen.

Der Autor ist Nicholas Mulder, ein »Assistant Professor of European Modern History at Cornell University« (2).
Nicholas Mulder zeichnet präzise nach, wie historisch Wirtschafts- und Finanzsanktionen als Waffe im modernen Krieg entwickelt wurden, angefangen im Ersten Weltkrieg und 1919 vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson beschrieben in ihrer Wirkung als »something more tremendous than war« (3).

Es gilt zu konstatieren, dass die USA, die NATO und ihre Verbündeten in Asien, Australien und Europa nicht nur durch die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen an die Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen, sondern auch einen Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, so drückte sich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock aus, »Russland zu ruinieren«. Wirtschaftssanktionen sind ein Mittel der modernen Kriegführung oder, um in Anlehnung an den preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz zu sprechen: Sie sind die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Was aber haben diese Wirtschaftssanktionen gegen Russland mit den deutsch-chinesischen Beziehungen zu tun, und inwiefern fördern sie nach einem mephistophelischen Prinzip eine Zeitenwende und eine Emanzipation des globalen Südens?
»Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft« – so lässt Goethe Mephistopheles seine Wirkung im Buch »Faust« selbst beschreiben.
Dazu muss man wissen, dass die Sanktionen gegen Russland bisher ihre beabsichtigte Wirkung verfehlten. Auch wenn der wirtschaftliche Schaden für Russland sicherlich beträchtlich ist, leiden vor allem die Europäer unter dem Wirtschaftskrieg, allen voran Großbritannien und Deutschland, deren Ökonomien in eine Rezession gerutscht sind.
In Deutschland wird es wohl nach 2022 mit vier Prozent auch in diesem Jahr Reallohnverluste für die Beschäftigten geben. *)

Weil der durchschlagende Erfolg im Wirtschaftskrieg bisher ausblieb, hat man sich jetzt auf eine weitere Ausweitung der Sanktionen versteift. Und hier kommt China ins Spiel.
Denn weil man analysiert, dass auch mögliche Umgehungen der Russland-Sanktionen künftig getroffen werden sollen, hat die EU ein elftes Sanktionspaket aufgelegt, bei dem auch chinesische Firmen getroffen werden sollen.
Zwar wurde einschränkend betont – offenbar um die Reziprozität durch China abzumildern –, es handele sich nur um Sanktionen gegen chinesische Firmen, die nach Russland von der EU aus liefern. Aber überzeugend ist dieses Argument in einer Zeit der globalisierten Produktion nicht wirklich.
Zwar wurde das elfte Sanktionspaket von Ungarn und Griechenland erst einmal gestoppt, um ungarische und griechische Firmen von der eigenen ukrainischen Sanktionsliste löschen zu können, aber vieles spricht dafür, dass dieser Weg von der EU und auch leider von der Bundesregierung unerbittlich weiter verfolgt werden wird, da es die USA sind, die hier insbesondere auf eine Ausweitung der Sanktionen gegen chinesische Unternehmen drängen, aber selbst im Hintergrund bleiben wollen, damit die Reziprozität dann vor allem Europa treffen wird.

Vasallenverhältnis zu USA

Man muss betonen, welches Potential zum gegenseitigen Nutzen ein Ausbau der deutsch-chinesischen Beziehungen haben könnte – im kulturellen, wissenschaftlichen und im Bildungsbereich, aber auch in der Verstärkung der Handelsbeziehungen sowie der Förderung vernetzter Produktionsketten und der dafür erforderlichen Infrastruktur.
Gerade im Bereich der Lese- und Rechtschreibkompetenz für Grundschüler, wo Deutschland immer schlechter abschneidet und weit hinter China zurückgefallen ist, gäbe es, um nur ein Beispiel zu nennen, Möglichkeiten des gegenseitigen Lernens.

Das Haupthindernis aber auf dem Weg zur Förderung der deutsch-chinesischen Beziehungen sehe ich in der mangelnden Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. **)
Gerade im Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine zeigt sich, dass Berlin in Sekundenbruchteilen außenpolitische Entscheidungen Washingtons nachvollzieht und sich, wie an der Frage der Lieferung deutscher Panzer ablesbar, sogar in die erste Reihe des Krieges schieben lässt.
Die Situation in Deutschland erinnert an die Situation im Lateinamerika der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, bei der eine Kompradoren-Bourgeoisie die Interessen von US-Konzernen durchsetzt.
Oft wird dabei auf die massive Präsenz von US-Truppen in Deutschland verwiesen, die seit 78 Jahren stationiert sind, oder auf die engmaschigen transatlantischen Netzwerke in Politik, Medien und Wirtschaft. Aber als alleinige Erklärung für die extreme Willfährigkeit, mit der die deutsche Politik gegenüber den USA oft agiert, reicht dies nicht aus.

Seit 1990 hat der US-Investmentfond Blackrock, mit über zehn Billionen US-Dollar weltweit die größte Gesellschaft verwalteten Vermögens, enorm in Deutschland investiert.
Blackrock ist an allen 30 Dax-Unternehmen entscheidend beteiligt und größter Anteilseigner bei acht von ihnen.
Sicher, Blackrock investiert auch in China, aber in keinem Fall kann von einer derart starken Stellung wie in Deutschland gesprochen werden. Diese Zusammenballung wirtschaftlicher Macht wirkt sich auf politische Entscheidungen in Deutschland aus. Das scheint mir unbestritten.
Hier ist wie im Bereich der NATO ein weites Feld für wissenschaftliche Untersuchungen, inwieweit dieses Investment politisch dazu beiträgt, in ein Vasallenverhältnis Deutschlands gegenüber den USA und vor allem den US-Konzernen übersetzt zu werden.

Prinzip der zwei Schwächen

Im Schach gibt es für die Endspiele eine Regel, die man das »Prinzip der zwei Schwächen« nennt. Diese Regel wird vom Westen in der internationalen Politik weithin nicht beachtet.
Das »Prinzip der zwei Schwächen« besagt folgendes: Manchmal reicht es trotz vorteilhafter Stellung nicht zum Gewinn. Ersteht dem Gegner jedoch mehr als eine Schwäche, dann rückt der Sieg in greifbare Nähe. Denn ein Schachfeldzug an zwei Fronten führt zur Überlastung und am Ende zur Niederlage.
Wenn man sich die Debatte um die Ausweitung der Wirtschaftssanktionen anschaut, dann wird offenbar, wie wenig dieses wichtige Prinzip der zwei Schwächen in der politischen Praxis Anwendung im Westen findet.

Aber wie im Stellvertreterkrieg scheint am Ende das All-In, ein Alles-oder-nichts-Prinzip zu herrschen, bei dem sowohl das Risiko eines Dritten Weltkriegs und zumindest eines Weltwirtschaftskriegs wächst mit möglicherweise verheerenden Folgen für die Bevölkerung auf dem gesamten Globus.
Eine Politik am Roulettetisch aber führt noch sicherer in den absoluten Verlust. Alles, was seit Ende des Zweiten Weltkriegs auch an internationalen Institutionen aufgebaut wurde, um an die Stelle des Krieges die Diplomatie und die Kooperation zu setzen, drohte eingerissen zu werden.
Und auf diese Vernunft, die sich einer Apokalyptik der Spieler verweigert, müssen die deutsch-chinesischen Beziehungen in Gegenwart und Zukunft gründen.

Mit Bezug auf das erzeugte Gegenteil muss man die Emanzipation des globalen Südens als Resultat des Wirtschaftskriegs des Westens ins Kalkül ziehen.
80 Prozent der Welt beteiligen sich nicht an den westlichen Sanktionen.
Immer lauter werden hingegen die Rufe nach eigenen Handelswährungen, da nur diese vor den Drittwirkungen westlicher Sanktionen wie vor der modernen Kriegführung des Westens auf lange Sicht zu schützen scheinen.

Lenin war auch ein Schachspieler. Bekannt sind die Fotos im Exil auf Capri, die ihn im Spiel gegen Maxim Gorki 1908 zeigen. Im Schach gibt es immer die Empfehlung, der Theorie zu folgen.
Aber zugleich gilt der höher gestellte Grundsatz »Tue, was du tun musst«, um eine Praxis und aus ihr eine Theorie zu entwickeln, die auf Gewinn abzielt.
Bei der Verteidigung der russischen Revolution ist dieser höher gestellte Grundsatz voll zum Tragen gekommen, und hier meine ich jetzt nicht nur Lenins neue ökonomische Politik, sondern den Kongress der Völker des Ostens von 1920.
Mit ihm wurde nichts weniger als ein Bündnis der unterdrückten kolonisierten Völker mit der Arbeiterklasse vorgeschlagen.
Ein Bündnis, das auf Emanzipation zielte, um die Sowjetunion zu schützen gegen eine Restauration des Kapitalismus.

Manchmal sind 100 Jahre wie ein Tag. Gegen den Versuch, der Welt ein neokoloniales Korsett mit Stellvertreterkriegen und Wirtschaftskriegen aufzuzwingen, zeigt sich Widerstand im globalen Süden.
Von einem Bündnis der Arbeiterklasse im Westen mit den Völkern des Südens würde die gesamte Welt profitieren, um statt auf Rüstungswahn, wirtschaftlichen Abstieg und Putsche auf Diplomatie, Kooperation und gegenseitigen Interessenausgleich zu setzen: für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt.

Übersetzungsanmerkungen

1 Die wirtschaftliche Waffe. Der Aufstieg von Sanktionen als Instrument moderner Kriegführung
2 Juniorprofessor für moderne europäische Geschichte an der Cornell University
3 etwas Schrecklicheres als Krieg

*: Siehe https://josopon.wordpress.com/2023/05/09/erst-klaut-er-ihnen-30-ihres-bescheidenen-wohlstandes-dann-halt-er-sie-mit-einem-burgerdialog-zum-narr-en-olaf-scholz/

**: https://josopon.wordpress.com/2023/05/19/die-vasallisierung-europas/

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Europas Zukunft: Zehn Varianten des Abstiegs

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

dagmar henn

Ein intelligenter Kommentar von Dagmar Henn:
https://freeassange.rtde.live/meinung/168623-europas-zukunft-zehn-varianten-abstiegs/
Auszüge:

Es wird getan, als ginge es um die Ukraine; in Wirklichkeit geht es um eine Welt ohne Kolonialismus. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in Europa könnte damit gut leben. Aber es fehlt die politische Kraft, um an die Stelle verbissener Verteidigung der alten Ordnung die neue zu setzen.

Überlegungen, wie die ganze gegenwärtige Krise – nicht nur in Bezug auf die ukrainische Front, sondern auf die globale Veränderung – für Europa enden könnte, beginnt man vielleicht am besten mit dem wünschenswerten Ergebnis. Für die weit überwiegende Mehrheit der europäischen Bevölkerungen wäre das eine Eingliederung in eine künftige Weltordnung souveräner Staaten mit gleichen Rechten.

In einer solchen Ordnung würden zwar die enormen Geldflüsse entfallen, die augenblicklich das Ergebnis der westlichen Macht sind, aber von diesen Geldflüssen profitiert nur eine verschwindende Minderheit. Für die allermeisten bieten die enormen, in wenigen Händen konzentrierten Geldbeträge nur Nachteile – um für all dieses Geld eine Verzinsung zu ermöglichen, steigen die Mieten und werden alle möglichen Lebensbereiche, wie das Gesundheitswesen, künstlich kommerzialisiert.

Nur als Beispiel dafür: In Deutschland besitzt gerade ein Prozent der Einwohner Wohnungen, in denen sie nicht selber leben. Darunter sind aber noch ein Menge Menschen, die etwa als Altersvorsorge genau eine Wohnung besitzen, die sie vermieten.
Nur dieses eine Prozent profitiert von den stetig steigenden Mieten. 99 Prozent haben davon einen Nachteil, denn selbst für die Eigentümer von selbstgenutztem Wohnraum wird der mögliche Vorteil eines steigenden Werts durch größere Probleme, dieses Eigentum überhaupt zu bilden, ausgeglichen.

Ein Verschwinden dieser Geldflüsse – was mit einem Bedeutungsverlust von Kolonialstrukturen wie IWF und Weltbank einhergeht – würde die Struktur des internationalen Handels verändern, der in vielen Bereichen heute von der Peripherie ins Zentrum fließt. An die Stelle des Abschöpfens müsste wieder ein Austausch von Gütern treten.
Dabei würde sich natürlich auch die Verteilung der Produktion ändern, weil eine Befreiung von kolonialen Lasten vielerorts eine nachholende Industrialisierung ermöglichen würde. Das heißt, die Rolle der jeweiligen Binnenmärkte würde in allen Ländern zunehmen.

Das klingt für deutsche Ohren, denen jahrzehntelang der Exportweltmeister als Ideal vorgesungen wurde, erst einmal irritierend, aber eine auf den Binnenmarkt konzentrierte Ökonomie ist für abhängig Beschäftigte ein Vorteil, weil die Löhne es ermöglichen müssen, die produzierten Waren auch zu erwerben.

Das wäre alles natürlich noch weit ausführlicher darzustellen; aber nehmen wir es einmal als gegeben an, dass eine Eingliederung auch der europäischen Länder in eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung möglich wäre.
Dennoch sind die politischen Machtverhältnisse augenblicklich derart von den Interessen maximal des obersten Promilles dominiert, das sich mit allen Kräften einer Veränderung der globalen Ordnung widersetzt. Um diese Zustände zu erhalten, wurden die demokratischen Mechanismen weitgehend außer Kraft gesetzt (die EU war dabei ein entscheidendes Mittel) und die öffentliche Meinung einer nie dagewesenen Kontrolle unterworfen. Wie also soll ein Weg von Zustand A in Zustand B möglich sein? Augenblicklich sind – trotz der massiven Proteste wie gerade in Frankreich – keine politischen Kräfte sichtbar, die im Stande wären, an den Machtverhältnissen im Innern des Westens etwas zu ändern.

Aber schließen wir die Möglichkeit nicht völlig aus; eine weitere Zuspitzung mag noch für Überraschungen sorgen.
Doch es gibt noch eine andere Variante, die aus einer westlichen Niederlage resultieren könnte, einen massiven wirtschaftlichen Zusammenbruch. Tatsächlich wäre dieser die zwangsläufige Konsequenz, wenn die erforderliche politische Anpassung an die geänderten globalen Verhältnisse nicht möglich ist.

Dabei sind folgende Punkte wichtig: Wirtschaftskrisen vom Kaliber 2008 oder 1929 sind chaotische Prozesse, und es hat zwar ab 2008 die Möglichkeit gegeben, die Folgen der Krise durch massive Geldschöpfung zu vertagen, aber weder war es möglich, ihre Entstehung zu verhindern, noch wurden die auslösenden Probleme auch nur ansatzweise gelöst.
Das heißt, wenn sich die verschiedenen Faktoren wie extreme Staatsverschuldung (insbesondere in den USA), massive Überbewertungen beispielsweise bei Immobilien und schwindender Einfluss des US-Dollars durch welchen Anstoß auch immer in eine große ökonomische Krise umsetzen, hat keine Regierung der Welt die Möglichkeit, das aufzuhalten.
Allerdings gibt es zwei Faktoren, die es möglich erscheinen lassen, dass diese Krise weitgehend auf den Westen beschränkt bleibt – je geringer der Einfluss des US-Dollars und je stärker die Abkopplung der ökonomischen Zonen, die der Westen mit seinen Sanktionen stetig weiter vorantreibt, desto besser die Chancen für den nichtwestlichen Teil der Welt, von dieser Krise nicht oder nur begrenzt betroffen zu werden.

Der ökonomische Zusammenbruch (denn darum würde es sich für den Westen handeln) ist gewissermaßen der Joker im Spiel, der zumindest partiell unabhängig von den militärischen und politischen Entwicklungen jederzeit auftauchen kann; einzig die Wahrscheinlichkeit des Eintritts steigt im Zeitverlauf beständig.
Dabei ist die wahrscheinlichste Variante eine Mischung aus der Weltwirtschaftskrise 1929 ff. und der deutschen Inflation 1923, also 2008 auf Steroiden mit einer Hyperinflation als Dreingabe. Falls, oder eher, wenn diese ökonomische Krise zuschlägt, dann ist der globale Westen handlungsunfähig, außer in einem einzigen Punkt, der leider ein Problem bleiben wird, solange in den USA die Neocons das Sagen haben – er befindet sich immer noch im Besitz nuklearer Waffen.
Diesen Punkt zu diskutieren, ist allerdings unnütz, das Ergebnis steht fest.

Diese ökonomische Erschütterung wird zwangsläufig, über kurz oder lang, auch das politische Gefüge erschüttern; schlicht deshalb, weil innerhalb des Bestehenden kein Ausweg möglich ist. Das Vertagen der Krisenfolgen wie nach 2008 funktioniert nicht mehr; sollten zu diesem Zeitpunkt noch größere Reste der alten Position des US-Dollars übrig sein, dürften sie sich nach Einsetzen dieser Krise in unvorstellbarer Geschwindigkeit verflüchtigen, schon allein, weil jeder Staat außerhalb des westlichen Kerns bemüht sein wird, in diese Entwicklung nicht mit hineingezogen zu werden.

Wie tief der Absturz wird, und wie lange es zu einer Erholung brauchen wird, hängt nicht nur in diesem rein ökonomischen Szenario davon ab, ob sich ausreichend politische Kräfte finden, die eine Rekonstituierung demokratischer Prozesse tragen und eine ökonomische Anpassung im Interesse der Bevölkerung vorzunehmen im Stande und willens sind.
Die gegenwärtige politische Elite in den europäischen Ländern dürfte dafür vollständig untauglich sein. Wobei die ganzen gegenwärtigen Bemühungen, einen Dissens und die Bildung politischer Gegenkräfte mit allen Mitteln zu verhindern, letztlich absurd sind – weder die globale Veränderung noch die ökonomische Krise werden dadurch verhindert, was bedeutet, dass letztlich dadurch auch die Macht der gegenwärtigen Eliten nicht gesichert werden kann; aber die Entwicklung eines Europas, das der Welt nicht mehr als Kolonialherr gegenübertritt, und damit die Möglichkeit eines Auswegs aus der Krise werden sabotiert.

Legen wir den Joker beiseite und betrachten, welche Entwicklungen auf der politischen Ebene möglich sind – ohne zu vergessen, dass in den meisten Versionen der Joker früher oder später dennoch ins Spiel kommt.

Die erste Version wäre eine lineare Verlängerung der Gegenwart. Die gesamte EU bleibt den USA völlig hörig, die USA selbst setzen ihr „Solange es nötig ist“ auf stetig weiter schrumpfendem Gebiet fort und eröffnen zusätzlich eine zweite Front gegen China, in die sich die EU ebenfalls ziehen lässt. Wenn man die Aussagen beispielsweise des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell liest, ist diese Version durchaus möglich.
Während die Kämpfe in der oder vielmehr um die Ukraine aufrechterhalten werden und langsam Richtung polnischer Grenze geschoben werden, könnte eine Auseinandersetzung zwischen den USA und China sehr schnell eskalieren, schlicht deshalb, weil in einem weitgehend maritimen Konflikt für China gar keine andere Möglichkeit bestünde, als die Flugzeugträgergruppen der USA anzugreifen. Freundliche Hilfe Russlands in der einen oder anderen Art, um auch mit den US-U-Booten umgehen zu können, kann man voraussetzen. Eine schnelle Eskalation hieße eine schnelle Niederlage der USA. Eine derart sichtbare, unverkennbare Niederlage, dass die ökonomische Krise vermutlich auf dem Fuß folgen würde.
Welche Folgen das in den gegenwärtig politisch tief gespaltenen USA hätte, ist schwer vorherzusagen, aber das wirksamste Mittel gegen ein Umschlagen in einen Bürgerkrieg könnte dann der Mangel an Munition sein.
Auf jeden Fall wäre das Resultat ein völliger Glaubwürdigkeitsverlust der einen Seite, und politische Instabilität. In vermindertem Maß gilt das auch für Europa, das zu diesem Zeitpunkt dank der mit Sicherheit eingeführten Sanktionen gegen China in einer Rezession steckt, selbst ohne Aktivierung der großen Krise. Das wäre dann ein langsamerer Abstieg, der aber, gerade weil langsamer, die Kontrolle durch die bestehende Macht verlängert und damit die Bildung politischer Gegenkräfte weiter verzögert.

Version zwei wäre ein mehr oder weniger schneller Rückzug der USA von der ukrainischen Front, um „die Hände frei“ für China zu haben, wie das jüngst der CDU-Verteidigungspolitiker in geradezu freudiger Erwartung formulierte, weil er eine „deutsche Führungsrolle“ in der Ukraine erhoffte. Das sind Untervarianten A und B –
A wäre eine Übernahme der Führung in der EU in Bezug auf die Ukraine durch Deutschland, was eine Verlangsamung zur Folge hätte (Russland hat es nicht eilig, und das deutsche Militär will sich auf keinen Fall in der Ukraine wiederfinden) und womöglich zu Versuchen von EU-Seite führt, das Ganze einschlafen zu lassen; eine realistischere Option, wenn die Grünen nicht länger Teil der Regierung wären. Es ist aber, dank der gründlichen Vorarbeit von Angela Merkel bei Minsk, nicht allzu wahrscheinlich, dass sich Russland auf deutsche Verhandlungspartner einlässt.
Schon der Versuch würde allerdings zu Problemen zumindest mit Polen und den Balten führen, die, gäbe es eine deutsche Regierung mit einem Ansatz von Rückgrat, durch Verweis auf die EU-Subventionen beherrschbar wären; allerdings auch nur, solange die EU als Rahmen existiert. Wenn allerdings die Mittel knapp werden, weil die EU in der Rezession versinkt, fehlt das Mittel, Polen zu kontrollieren, und ein abrupter Wechsel hin zu Untervariante B mit Billigung der USA ist nicht auszuschließen.
B: Das wäre die Eskalation durch den Einsatz polnischen Militärs, um den Krieg selbst dann fortzusetzen, wenn Kiew personell dazu nicht länger im Stande ist. Die bei weitem unberechenbarste Version, zum einen wegen der innigen Nähe der jetzigen polnischen Regierung zu den US-Neocons, zum anderen, weil die Reaktion der Bundesregierung auf polnische Reparationsforderungen, der nicht einmal ein Verweis auf Oberschlesien über die Lippen kam, fürchten lässt, dass sie in diesem Fall zwar zumindest eine Zeit lang das Mitmarschieren verweigern würde, aber nicht im Stande wäre, daraufhin auf Abstand zu gehen. In welchem Fall das Auftauchen des Jokers geradezu einer Erlösung aus einem langen Elend gleichkommen könnte. Außer, es fänden sich noch andere EU-Staaten, die das polnische Spiel nicht mitmachen wollten.

Vermutlich ebenfalls in Richtung der polnischen Variante dürfte es gehen, sollten in der Ukraine Armee und Staat plötzlich zusammenbrechen. Dann würde das Ganze wahrscheinlich mit einer humanitären Erzählung bekränzt, was dafür sorgt, dass Deutschland und Frankreich diesem Marsch in den Sumpf wenig entgegensetzen. Die EU-Spitze wäre ohnehin mit wehenden Fahnen mit dabei. Das Ergebnis wäre eine partielle Umkehrung der ersten polnischen Variante – erst die polnische Intervention, gefolgt vom Rückzug der USA, die sich dann darauf verlassen könnten, den Rest der EU in der Falle zu haben.
Das wäre der langsamste und schmerzhafteste Niedergang, enthielte aber bei einer entsprechenden russischen Reaktion und einem Durchmarsch bis weit in den Westen zumindest die Hoffnung, dass sich das Problem der gegenwärtigen politischen Eliten erledigt hat.

Das größte Risiko für das Bestehen der EU ist die Entwicklung in Frankreich. Dort dürften die Proteste zunehmen, wenn sich die wirtschaftliche Lage in der EU verschlechtert; aber für einen Sturz Macrons und ein Entrinnen aus der Umklammerung durch die EU dürften friedliche Proteste nicht genügen, auch dann nicht, wenn sie mit Generalstreiks kombiniert werden. Das haben die Auseinandersetzungen in der Euro-Krise in Griechenland und Portugal bewiesen. Nicht einmal 12 Prozent der Bevölkerung auf der Straße genügten 2013 in Portugal, auch nur die Regierung zum Rücktritt zu zwingen.
Ein Ende der EU, das die Voraussetzung für eine Rückkehr zu demokratischen Zuständen wäre, würde erfordern, dass mindestens Frankreich oder Deutschland aussteigt; ein Austritt Ungarns würde nicht genügen. Dass der ökonomische Angriff der USA auf Europa Deutschland als erstes Ziel hatte, hat die Binnenverhältnisse sogar stabilisiert, weil die deutsche Dominanz in den letzten beiden Jahrzehnten die Hauptquelle für Unmut war.
Die jetzigen europäischen Politiker dürften eher an diesem Rahmen festhalten, um damit die Möglichkeit ihres Sturzes zu verringern, selbst wenn das ganze Staatenbündnis bis zum Hals im Wasser steht.
Unter diesem Gesichtspunkt wäre die polnische Variante fast vorteilhaft, weil sie die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Zwangsrahmen zerbricht, etwas erhöht.

Gesetzt den Fall, der Krieg in der Ukraine schleppt sich ohne Ausweitung auf China hin bis zu den US-Wahlen, gäbe es noch die Variante, dass ein neu gewählter US-Präsident Donald Trump in Kiew anruft und trocken mitteilt, jetzt gäbe es nichts mehr, was das Problem Ukraine per Zusammenbruch lösen würde.
Die EU-Führung würde vermutlich einige Wochen brauchen, um sich von der Schockstarre zu erholen, aber eine kleinere Version des polnischen Szenarios ist dennoch nicht ausgeschlossen. Allerdings sind die US-Wahlen erst Ende 2024.

Gänzlich unwahrscheinlich ist leider die Version, dass die Führung der EU sich eines Besseren besinnt und sich von den USA abkoppelt. Das würde im Prinzip die weichste Landung ermöglichen – ein Ende der Unterstützung der Ukraine, eine geordnete Auflösung der EU und eine, wenn auch mühsame, Neuorientierung hin auf die multipolare Welt. Der beste Zeitpunkt dafür wäre der Moment, wenn die USA ihren Fokus auf China verschieben. Aber ein Blick auf das Brüsseler Personal genügt, um diese Version ins Reich der Märchen zu verweisen.

Eine wirklich optimistische Variante, nach der in ein, zwei, drei europäischen Ländern die vorhandenen Regierungen entmachtet und die NATO aus dem Land gekegelt wird, um anschließend unter zumindest möglicher Umgehung einer tiefen ökonomischen, politischen und sozialen Krise die Anpassung an die neuen Verhältnisse zu beginnen, ist derzeit nicht sichtbar.

Das ist die wirkliche Tragik der Entwicklung. Denn die europäische Geschichte ist nicht nur eine des jahrhundertelangen Raubes rund um die Welt, der von oben orchestriert wurde; sie ist auch eine Geschichte eines jahrhundertelangen Kampfes von unten um politische Rechte und die politische Macht; ein Kampf, ohne den weder die Idee von Menschenrechten noch von Demokratie noch die des Völkerrechts je geboren worden wäre.
Aber die Erinnerung an diesen Teil der Geschichte, mit seinen Siegen und Niederlagen, seinen Errungenschaften und Widersprüchen, wurde erfolgreich ausgelöscht.

Selbst die Franzosen scheinen vergessen zu haben, wie man die Bastille stürmt.

Mein Kommentar: Irgendwie habe ich hier nicht mitbekomen, wo die eine Version aufhört und die nächste anfängt. Nur den Schluss kann ich vollumfänglich teilen.
Über Eure Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

„Olaf Scholz lügt!“ Fabio De Masi über dessen Cum-Ex-Affäre

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Fabio_de_MasiGanz aktuell aus der Berliner Zeitung eine sehr ausführliche Stellungnahme von Fabio De Masi. Im Anhang demnächst ein aktuelles Interview:
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/dokumentation-skandal-um-warburg-bank-fabio-de-masi-ueber-cum-ex-affaere-olaf-scholz-luegt-li.337303
Auszüge:

Unser Autor legt minutiös die Widersprüche des Bundeskanzlers offen.
De Masi hat im Hamburger Untersuchungsausschuss selbst als Zeuge ausgesagt.

Am 14. April 2023 habe ich als Zeuge vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft (das Landesparlament der Freien und Hansestadt Hamburg) zurCum-Ex-Steuergeldaffäreausgesagt.
MMWarburg_logoIm Mittelpunkt stehen dabei der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Rolle als Erster Bürgermeister von Hamburg in Steuerverfahren der Hamburger Privatbank M.M. Warburg & Co sowie auch der ehemaligen HSH Nordbank.

Worum es geht? Olaf Scholz und der Cum-Ex-Banker

Die Finanzverwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg vollzog nach Intervention der Finanzbehörde (das Hamburger Finanzministerium) 2016 eine spektakuläre Kehrtwende und wollte auf insgesamt etwa 90 Millionen Euro krimineller Cum-Ex-Tatbeute der Warburg-Bank verzichten.
Das Finanzamt für Großunternehmen hatte zuvor in einer umfangreichen rechtlichen Stellungnahme keine andere Möglichkeit als den Einzug der Tatbeute gesehen, um eine steuerliche Verjährung zu unterbinden.
Die nachträgliche Einziehung im Strafprozess war damals noch nicht absehbar.
Der Warburg-Bank, die Cum-Ex-Geschäfte bestritt, hätten auch nach Einziehung immer noch Rechtsmittel offen gestanden. Mittlerweile musste die Bank (nachträglich) die kriminelle Cum-Ex-Tatbeute zurückzahlen, und höchste Gerichte entschieden gegen die Warburg-Bank.

Hamburg vollzog diese Kehrtwende, nachdem Olaf Scholz die Warburg-Gesellschafter Christian Olearius und Max Warburg insgesamt dreimal persönlich traf und mit ihnen das Steuerverfahren besprach. Zu diesem Zeitpunkt wurde gegen Olearius bereits wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt, und es hatte eine Razzia bei der Bank stattgefunden. Ein Referent hatte Scholz vor dem ersten Treffen ausdrücklich vor dem Thema Cum-Ex gewarnt.

Olearius wollte die Rückforderung der Finanzverwaltung verhindern und begründete dies unter anderem mit wirtschaftlichen Risiken für die Bank. Eine steuerliche Verjährung der Tatbeute schien dabei ein eleganter Weg für alle Beteiligten.
Dabei haftete Olearius als Gesellschafter jedoch mit seinem eigenen privaten Vermögen. Es ging bei den Treffen mit Scholz daher auch nie um die Bank, die laut Auffassung der Finanzaufsicht gar nicht bedroht war, sondern um das Privatvermögen eines der reichsten Dynastien Hamburgs.
Dies mutet so an, als würde ein Bankräuber bei seiner Verhaftung sagen: „Ich gebe Euch die Beute nicht wieder, sonst bin ich bankrott!“ Abgesehen davon, dass das nicht angeht, ist es bei einer Steuerforderung so, dass sie entweder besteht oder eben nicht. Eine strauchelnde Bank kann nicht darüber gestützt werden, dass man bestehende gesetzliche Steuerforderungen nicht eintreibt. Die Bank musste später schließlich zahlen; sie ging erwartungsgemäß nicht bankrott.

In einem Indizienprozess wäre Scholz überführt

Drei Treffen eines Ersten Bürgermeisters (im Range eines Ministerpräsidenten) mit einem potenziellen Steuerhinterzieher zu einem laufenden Steuerverfahren sind bemerkenswert. Umso mehr, da Scholz in der ersten Befragung zur Warburg-Affäre am 4. März 2020 im Deutschen Bundestag ausführte, dass er schon immer der Auffassung gewesen sei, dass Cum-Ex-Geschäfte illegal sind und waren, egal wie viele Gutachten irgendwelche Professoren oder Rechtsanwälte produzierten.
Hätte da nicht maximal ein Treffen gereicht, um dies den Cum-Ex-Bankiers mitzuteilen?

Und warum forderte Scholz den Cum-Ex-Bankier Olearius in einem Telefonat auf, eine Verteidigungsschrift der Warburg-Bank, die bereits in der Finanzverwaltung vorlag, an den damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher „kommentarlos“ weiterzuleiten?
Was sollte der Finanzsenator, der das Schreiben mit Unterstreichung der Argumente der Warburg Bank erneut in die Finanzverwaltung reichte, denn mit dem Schreiben machen?
Zumal der Bundeskanzler später selbst einräumte, dass die Weitergabe eines solchen Schreibens in die Finanzverwaltung durch einen Politiker Einflussnahme ist.
Warum forderte der Bundeskanzler Olearius damals sogar auf, sich in dieser Angelegenheit an ihn – Scholz – zu wenden, wie später durch Tagebücher bekannt wurde?

Warum versuchte Olaf Scholz, den Bundestag und die Öffentlichkeit über diese Treffen zu täuschen und konnte sich erst in einer dritten Befragung des Bundestages plötzlich weder an die Treffen noch an das Schreiben erinnern, obwohl er sich zu beidem zuvor noch konkret geäußert hatte? Und warum steht Scholz bis heute zu seinem Mentor, dem ehemaligen Innensenator Alfons Pawelczyk (SPD), der für die Vermittlung der Treffen mit der Warburg-Bank bezahlt wurde?

Herr Olearius, packen Sie aus, es geht um Ihr Vermächtnis!

Auch mich wollte der Warburg-Gesellschafter Christian Olearius gegen Ende meiner Mandatszeit im Bundestag treffen. Ich machte dies öffentlich. Und ich willigte in ein Treffen ein, da ich kein Amt mit Einfluss auf die öffentliche Verwaltung ausübte, sofern sich Olearius dem Hamburger Untersuchungsausschuss stellen würde. Seither habe ich nie wieder von ihm gehört.
Ein Vertrauter von Olearius beschimpfte mich hiernach als charakterlos. Mein Angebot an Herrn Olearius steht weiterhin: Packen Sie aus, es geht um Ihr Vermächtnis!
Dasselbe empfehle ich der Finanzbeamtin Daniela P,, die nun das Bauernopfer wird, sowie dem ehemaligen SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs.
Man hat nur ein Leben. Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun! Ihnen droht womöglich Gefängnis!

Denn das erste Treffen zwischen Scholz und den Bankiers wurde von zwei einflussreichen Mitgliedern der SPD Hamburg arrangiert, einem persönlichen Mentor (dem ehemaligen SPD-Innensenator Alfons Pawelczyk) und einem Strippenzieher von Scholz (dem ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten und Rüstungslobbyisten Johannes Kahrs). Kahrs kassierte später Parteispenden von Warburg, Scholz’ Mentor wurde direkt bezahlt.
Scholz hält Pawelczyk bis heute die Treue. Gegen Kahrs wird in der Warburg-Affäre strafrechtlich ermittelt.

Olaf Scholz räumte trotz entsprechender Nachfragen des Hamburger Senats keines der Treffen mit den Bankiers ein, bis er mit beschlagnahmten Tagebüchern eines Bankiers konfrontiert wurde.
Erst zur dritten Befragung im Bundestag und nach einer erheblichen medialen Welle will der „Aktenfresser“ Scholz angeblich seinen Kalender überprüft haben und beruft sich nunmehr auf Erinnerungslücken.
Dies ist vollkommen unglaubwürdig.

Eine nachgewiesene Einflussnahme des Bundeskanzlers wäre strafbar und müsste das Ende seiner Kanzlerschaft einleiten. Mehr als 70 Prozent der Bundesbürger glauben laut einer Umfrage Scholz in der Warburg-Affäre nicht.
Die gefühlte Wahrheit der Bevölkerung stimmt. Warum das so ist, werde ich im Folgenden darlegen.

Warum ein neuer Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag?

Die kriminellen Cum-Ex-Geschäfte und das Versagen der Politik, diese zu unterbinden, waren vor meiner Zeit im Deutschen Bundestag bereits einmal Thema eines eigenen Untersuchungsausschusses.
Nun soll zusätzlich zum Hamburger Untersuchungsausschuss zur Warburg-Affäre ein weiterer Untersuchungsausschuss hierzu im Bundestag hinzukommen.
Denn längst geht es nicht mehr nur um Olaf Scholz’ Rolle als Erster Bürgermeister, sondern darum, wie er sich als Finanzminister in mehreren Befragungen, die ich im Bundestag 2020 initiiert hatte, in Widersprüche verwickelte.

Da die Vorwürfe gegen Scholz in seine Zeit als Erster Bürgermeister Hamburgs fielen, hat zuvor nur die Hamburger Bürgerschaft einen Untersuchungsausschuss eingerichtet. Jedoch wurde erst durch die Freigabe des geheimen Protokolls einer Befragung im Bundestag öffentlich, dass die von Olaf Scholz bemühten „Erinnerungslücken“ hinsichtlich zunächst verheimlichter Treffen mit Warburg-Bankiers in der Causa Cum-Ex erst sehr spät auftraten.
Denn Scholz schilderte auf meine Nachfrage hin in der zunächst als geheim eingestuften Sitzung des Finanzausschusses des Bundestages am 1. Juli 2020 den Ablauf des zuerst bekannt gewordenen Treffens.
Erst als weitere Treffen bekannt wurden, die er trotz wiederholter Nachfrage zuvor verschwiegen hatte, berief er sich fortan auf Erinnerungslücken. Dieses Muster lässt sich an mehreren Stellen nachweisen.

Uneidliche Falschaussage des Bundeskanzlers?

Gegenüber dem Hamburger Untersuchungsausschuss konnte sich Scholz jedoch an keines der drei Treffen mehr erinnern. Daher stand im Raum, dass er in seiner nunmehrigen Rolle als Bundeskanzler den Hamburger Untersuchungsausschuss belogen hat. Denn im Bundestag hatte er ja eine konkrete Erinnerung geschildert.
Dies würde den Straftatbestand der uneidlichen Falschaussage vor einem Untersuchungsausschuss eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes gemäß § 162 Absatz 2 des Strafgesetzbuches erfüllen.

Eine Falschaussage vor dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages wäre hingegen nicht strafbar, da dieser kein Untersuchungsausschuss ist. Die der grünen Justizsenatorin in Hamburg unterstehende Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Scholz jedoch unter anderen mit der Begründung eingestellt, dass Scholz seine zwischenzeitliche Erinnerung im Bundestag womöglich nur vorgetäuscht habe. So viel zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in Hamburg.

Ich habe seit 2020 die Offenlegung des geheimen Protokolls der zweiten Scholz-Befragung im Bundestag beantragt. Doch es erforderte erst eine Bundestagswahl und den Marsch der CDU/CSU in die Opposition, um dies durchzusetzen.
Ich erhielt dafür 2020 nur von den Grünen Unterstützung, bis die Wirtschaftswoche das Thema kurz vor der Bundestagswahl aufgriff und plötzlich alle dafür waren.
Das Finanzministerium verschleppte jedoch die Freigabe bis über die Wahl hinaus und bestand auf umfangreiche Schwärzungen.
Als FDP und Grüne in die Regierung einzogen, war ihr Interesse an der zuvor selbst geforderten Transparenz auf wundersame Weise erloschen.

Meine frühere Partei kommt in der Warburg-Affäre auf Bundesebene kaum noch vor und hat sich das Thema komplett von der Union aus der Hand nehmen lassen, obwohl diese sich beim Thema Cum-Ex selbst unangenehme Fragen gefallen lassen müsste und ich Olaf Scholz maßgeblich genau in jene Widersprüche verwickelt habe, die nun zur Einsetzung von zwei Untersuchungsausschüssen geführt haben. Ein Trauerspiel!

Parallel ermittelt auch die Staatsanwaltschaft Köln weiter und ließ etwa Kalender von Olaf Scholz aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister und Kommunikation seiner Büroleiterin im Kanzleramt sowie des ehemaligen SPD-Abgeordneten und Warburg-Lobbyisten Johannes Kahrs beschlagnahmen.
Ein weiterer Untersuchungsausschuss könnte daher noch spannend werden. Doch zunächst ist es erforderlich zu verstehen, dass wir bei Cum-Ex-Geschäften über organisierte Kriminalität und damit schwerste Straftaten sprechen.

Wie funktioniert Cum-Ex?

Bei Cum-Ex-Geschäften wurden Aktien rund um den Dividendenstichtag durch institutionelle Investoren (zum Beispiel Fonds oder Banken) in einem Aktien-Karussell verschoben, sodass für den Staat nicht mehr nachvollziehbar war, wer der tatsächliche Eigentümer der Aktien zum Zeitpunkt der Dividendenausschüttung war.
Vereinfacht gesprochen funktioniert dies, wie eine Bierflasche im Supermarkt abzugeben und den Pfand-Bon auf den Kopierer zu legen, um dann mit Freunden an die Supermarktkasse zu gehen und mehrfach Pfand zu kassieren.
Der Unterschied: Ein kopierter Pfandbon wird erkannt. Die Supermarktkasse ist das Finanzamt, und es geht nicht um ein paar Cent, sondern um Milliarden.

Institutionellen Investoren, die über Aktien Anteile an anderen Unternehmen halten, steht nämlich unter bestimmten Voraussetzungen ein Erstattungsanspruch auf gezahlte Kapitalertragssteuer zu, um eine doppelte Besteuerung (auf Ebene des Unternehmens und bei Ausschüttung der Gewinnbeteiligung) zu vermeiden. Depot-Banken (diese verwahren die Aktie im Auftrag der Investoren) stellten dabei den Investoren Bescheinigungen über Abführung der Kapitalertragssteuer aus.

Diese Bescheinigungen wurden aber auch für Investoren ausgestellt, die gar keine Steuer abgeführt hatten. So konnten bei einem schnellen Aktien-Karussell mehrere Erstattungen für eine Aktie beantragt werden.
Wichtig ist dabei auch zu wissen, dass Cum-Ex-Geschäfte illegale Absprachen beteiligter Banken und Fonds erfordern.
Die Behauptung der Warburg-Bank, sie habe nicht gewusst, dass sie Cum-Ex-Gestaltungen vollziehe, ist daher blanker Unfug und von höchsten Gerichten verworfen worden.
Da Milliardensummen an Aktien bewegt wurden, hätten diese Geschäfte ohne den Profit, der unmittelbar aus der Staatskasse kam, Verluste erzeugt. Cum-Ex-Geschäfte ergeben ohne kriminelle Absicht keinen Sinn.

Cum-Ex-ähnliche Geschäfte kosteten etwa eine Million Euro für jede Schule in Deutschland

Da es um sehr hohe Summen ging, war der Steuerschaden aus Cum-Ex-Geschäften auch entsprechend hoch und summierte sich auf etliche Milliarden. Nimmt man zu den Cum-Ex-Geschäften die etwas anders gelagerten Cum-Cum-Geschäfte hinzu, bei der ausländische Investoren inländische Investoren nutzen, um eine Erstattung auslösen, die ihnen nicht zusteht, dürfte der Steuerschaden laut Christoph Spengel, einem renommierten Professor für Steuerlehre an der Universität Mannheim, etwa 30 Milliarden Euro betragen.

Deutschland verfügt über etwa 30.000 Schulen. Dies entspräche also etwa einer Million Euro für jede Schule in Deutschland. Angesichts der Schuldenbremse und der Zinserhöhungen der Zentralbank bezahlen wir teuer für diese Kriminalität der Bankster im Nadelstreifen.

Das Cum-Ex-Netzwerk in der deutschen Politik

Kürzlich hat die CDU/CSU drei Jahre nach Bekanntwerden der Affäre und den drei Befragungen von Olaf Scholz, die ich im Jahr 2020 im Bundestag hierzu initiierte, angekündigt, einen weiteren Untersuchungsausschuss im Bundestag einzurichten. Dies ist ehrenwert, aber leider nicht ganz frei von Ironie.
Denn auch dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Friedrich Merz, dürfte das Thema der Cum-Ex-Aktiendeals nicht völlig fremd sein. Er war unter anderem als Aufsichtsrat für den Vermögensverwalter Blackrock Deutschland tätig, in dessen Münchner Büros im Herbst 2021 eine Durchsuchung der Kölner Staatsanwaltschaft mit Bezug zu Cum-Ex stattfand.
Außerdem saß er seit 2010 im Aufsichtsrat der Düsseldorfer Privatbank HSBC Trinkhaus, die zur britischen HSBC-Gruppe gehört. Bei Vorständen der Düsseldorfer Bank fanden Cum-Ex-Razzien statt.
Und Merz war erst Partner und dann Senior Counsel der Kanzlei Mayer Brown. Diese warb um Kunden mit Cum-Ex-Vergangenheit und schrieb auf ihrer Homepage: „Marktteilnehmer könnten als Resultat aus Cum-Ex-Geschäften wachsenden Rechtsrisiken gegenüberstehen.“ Die Kanzlei wolle ihren Kunden helfen, diesem „Risiko entgegenzuwirken“.

Die FDP wiederum umgarnte den ehemaligen Finanzbeamten und Steueranwalt Hanno Berger, der Milliardäre und Multimillionäre dabei beriet, wie sie mit ihrem Privatvermögen über Fonds von Cum-Ex-Deals profitieren können, die institutioneller Investoren bedürfen.
Hanno Berger, der nach Auslieferung durch die Schweiz vom Landgericht Bonn zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt wurde (er geht gegen das Urteil in Revision, ein weiteres Urteil droht ihm derweil vor einem Gericht in Wiesbaden), „produzierte“ Rechtsgutachten zur Absicherung der organisierten Cum-Ex-Kriminalität. Er pflegte intensive Kontakte zum FDP-Ehrenvorsitzenden Hermann Otto Solms, um etwa auf dem Ticket der FDP Sachverständige in den Finanzausschuss des Bundestages zum Steuerthemen zu hieven, und ließ sich anwaltlich durch den Vizepräsidenten des Bundestages, Wolfgang Kubicki (FDP), vertreten, als dieser noch als Finanzminister einer Jamaika-Koalition gehandelt wurde.

In Nordrhein-Westfalen reichte der engagierte frühere CDU-Justizminister Peter Biesenbach kürzlich Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft Köln ein.
Sein Vorwurf: Das grüne Justizministerium und die Spitze der Kölner Staatsanwaltschaft würden von ihm geschaffene Planstellen nicht mit hinreichend befähigten Ermittlern besetzen.
Denn die komplexen Wirtschaftsstrafverfahren zu Cum-Ex hängen bisher maßgeblich an der engagierten Staatsanwältin Anne Brorhilker.

In Bonn wird zwar ein eigenes Gebäude eigens hierfür errichtet, aber ohne den politischen Willen, ausreichend fähige Ermittler mit den komplizierten Verfahren zu betrauen, werden die Jahrhundertprozesse scheitern.
Auch in Baden-Württemberg setzt die grün-schwarze Koalition bei den Cum-Ex-Geschäften der eigenen Landesbank auf nur einen Ermittler. Die der grünen Justizsenatorin unterstellte Staatsanwaltschaft in Hamburg wiederum hat nicht nur alle Ermittlungen gegen Olaf Scholz wegen einer uneidlichen Falschaussage vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss zur Warburg-Affäre umgehend eingestellt, sondern es musste immer wieder die Kölner Staatsanwaltschaft auf den Plan treten, um Hamburger Cum-Ex-Banken zur Rechenschaft zu ziehen.

Es gäbe also quer durch etliche Parteien genug zu besprechen. Aus meiner Sicht wäre es zumindest mehr als angemessen gewesen, den Untersuchungsauftrag zu erweitern.
Warum etwa nicht die Rolle von Wolfgang Schäuble (CDU) beleuchten, der mit einem Schreiben als Finanzminister 2016 die Untersuchung etlicher Cum-Cum-Geschäfte erschwerte, die sogar noch mehr Schäden als Cum-Ex angerichtet haben.

Nachdem der Bundesfinanzhof auch gegen Cum-Cum-Deals eingeschritten war, schickte das Bundesfinanzministerium am 11. November 2016 ein Schreiben an die Landesfinanzminister, welches die Verfolgung der Cum-Cum-Geschäfte erheblich einschränkte. Dadurch wurde es für die Finanzämter nahezu unmöglich, die Milliarden an illegalen Cum-Cum-Geldern zurückzufordern.

Auch die Rolle des früheren parlamentarischen Staatssekretärs von Wolfgang Schäuble, des späteren Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), ist hier interessant. Ohne diese Erweiterung auf die genannten CDU-Politiker setzt sich der neu einzurichtende Untersuchungsausschuss leichtfertig dem Vorwurf aus, dass das Interesse an der Aufklärung der Warburg-Affäre nur parteipolitisches Theater der Union ist. Dazu sind die im Raum stehenden Vorwürfe jedoch zu ernst.

Die Rolle der HSH-Nordbank

Auftrag des Hamburger Untersuchungsausschusses ist es herauszuarbeiten, ob Olaf Scholz in seiner Zeit als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg auf ein laufendes Steuerverfahren der Hamburger Privatbank Warburg Einfluss genommen hat.

HSH-NordbankMeine Überzeugung ist, dass das Unheil bereits früher seinen Lauf nahm, als die von der Finanzkrise gebeutelte ehemalige Landesbank HSH Nordbank durch Hamburg und Schleswig-Holstein gerettet wurde.
Faule Assets wie etwa Schiffskredite wurden in eine Bad-Bank ausgelagert, während die Rest-Bank verkauft werden sollte. Man holte die Kohlen für mächtige Reeder und Parteispender im hohen Norden aus dem Feuer.
100.000 Euro hatte etwa der Großreeder Heinrich Schoeller der CDU überwiesen, nachdem er von der HSH Nordbank zwischen 2005 und 2008 Kredite über insgesamt rund 1,3 Milliarden Euro erhalten hatte.

Die Landespolitiker standen wegen der Bankenrettung in der öffentlichen Kritik, zumal die Bank während der laufenden Rettung Cum-Ex-Geschäfte betrieb. Diese Forderungen waren jedoch noch nicht steuerlich verjährt.
Die Kapitalertragssteuer wird auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt. Mit anderen Worten: Hätten Hamburg und Schleswig-Holstein beherzt durchgegriffen, hätten sie den Verkaufspreis der Bank belastet, aber nur einen Bruchteil der Einnahmen durch den Einzug von Cum-Ex-Tatbeute erzielt.
Dies muss auch Olaf Scholz klar gewesen sein, der mehrere Treffen mit den Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins hatte, um über Cum-Ex zu sprechen. Dies ging aus Kalendereinträgen von Scholz hervor, die bei einer Razzia gefunden wurden. Die Ermittler stießen dabei auch auf Hinweise für gezielte Löschungen von Terminen im Zusammenhang mit der Warburg-Affäre.

Man hat es damals der HSH Nordbank durchgehen lassen, dass diese nach einer von ihr selbst beauftragten Untersuchung von Clifford Chance 2014 etwa 126 Millionen Euro an Cum-Ex-Tatbeute zurückzahlte.
Hamburg_Commercial_Bank-logo2021 erfolgte dann eine Durchsuchung der Kölner Cum-Ex-Ermittler bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Die tatsächliche Schadenssumme war nämlich vermutlich erheblich höher.
Mit der damaligen Schonung der HSH Nordbank wurde ein gefährlicher Präzedenzfall für die Warburg-Bank geschaffen. So soll auch der Warburg-Gesellschafter Christian Olearius Kontakt zur HSH Nordbank gesucht haben.
Er wollte offenbar nicht hinnehmen, dass eine ehemalige Landesbank geschont wird, aber sein traditionsreiches Hamburger Privathaus bluten muss.

Die Hamburger Finanzverwaltung verzichtet freiwillig auf Steuer-Millionen aus kriminellen Geschäften

Die Ermittler der Kölner Staatsanwaltschaft, die sich in Deutschland schwerpunktmäßig mit sogenannten Cum-Ex-Aktiendeals befassten, nahmen im Januar 2016 Ermittlungen gegen die Warburg-Bank auf und übersandten den Hamburger Behörden Hinweise, wonach die Warburg-Bank zwischen 2006 und 2011 insgesamt etwa 170 Millionen Euro an Erstattungen der Kapitalertragssteuer zu Unrecht erhalten hätte. Teilsummen drohten in den Jahren 2016 und 2017 zu verjähren.

Das Finanzgericht Hessen hatte bereits erste Rechtsprechung dazu etabliert, die den Banken auflegte, nachzuweisen, dass sie Kapitalertragssteuern tatsächlich entrichtet hatten. Auch im Finanzamt für Großunternehmen befasste man sich auf Initiative eines erfahrenen und langjährigen Betriebsprüfers der Warburg-Bank mit dem Vorgang. Er hatte sich als vorbildlicher Staatsdiener in die Cum-Ex-Geschäfte eingearbeitet und kam zu der Überzeugung, dass Hamburg aufgrund der nunmehr stärker gefestigten Rechtsprechung die Cum-Ex-Tatbeute einziehen müsse.

Seine Vorgesetzte, die Finanzbeamtin im Hamburger Finanzamt für Großunternehmen, Daniela P., fertigte später ein umfangreiches Gutachten an, das ebenso auf die Rechtsprechung des Finanzgerichtes Hessen abstellte und nach sorgfältiger Abwägung von Für und Wider den Einzug der Tatbeute empfahl.
Später kamen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes sowie des Bundesverfassungsgerichtes hinzu, die bestätigten, dass Cum-Ex schon immer illegal gewesen sei und eine behauptete Gesetzeslücke mithin nie bestanden hätte. Es sei schlichtweg illegal, Steuererstattungen für Steuern zu beantragen, die man nie gezahlt hat.

Daher informierte die Finanzbeamtin Daniela P. im Finanzamt für Großunternehmen im Februar 2016 ihre Vorgesetzten über die drohenden Rückforderungen in Millionenhöhe sowie das Risiko einer Verjährung.
Im Jahr 2016 ging es zunächst um 47 Millionen Euro, die nach Intervention der Warburg-Bank sowie der Hamburger Politik zum Nachteil Hamburgs in die steuerliche Verjährung liefen, obwohl das Finanzamt nach dem aufwendigen Gutachten die Cum-Ex-Tatbeute zunächst zurückfordern wollte.

Doch die Finanzbehörde – das Hamburger Finanzministerium – bestellte im engen zeitlichen Zusammenhang mit den Treffen von Olaf Scholz mit dem Cum-Ex-Bankier Christian Olearius im Jahr 2016 und der Weiterleitung eines Schreibens von Olearius durch Scholz an den damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher die Finanzbeamtin Daniela P. ein, die daraufhin unter Protest ihrer Betriebsprüfer eine Kehrtwende vollzog und die Millionen nicht mehr einziehen wollte.

Gegen die Beamtin aus Blankenese ermittelt mittlerweile die Kölner Staatsanwaltschaft. Die mit dem Deutschen Journalistenpreis dekorierten investigativen Journalisten Oliver Schröm und Oliver Hollenstein, denen die Aufdeckung der Warburg-Affäre maßgeblich zu verdanken ist, schreiben im Managermagazin: „Als der Fall Warburg 2016 losgeht, erzählt P. ihren Mitarbeitern in einer Sitzung freimütig, sie treffe Katharina Olearius (Anmerkung des Autors: die verstorbene Tochter des Bankiers) am Abend auf einer Petersilienhochzeit.“ Eine Mitarbeiterin schreibt dazu später einen Aktenvermerk. Katharina Olearius ist damals Teilhaberin der Bank, sitzt im Aufsichtsrat.
Bei einer Razzia wurde eine Kommunikation der Finanzbeamtin P. gefunden, in der sie unter Bezug auf die Verjährung der Tatbeute von einem „teuflischen Plan“ spricht und mit der Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten prahlt.
Die Hamburger SPD möchte die Verantwortung mittlerweile allein auf diese Beamtin abwälzen, obwohl sie diese zuvor noch als glaubwürdige Entlastungszeugin für Olaf Scholz ins Feld führte.

Im Jahr 2017 ging es noch einmal um 43 Millionen Euro, die nach dem Willen der Hamburger Finanzverwaltung erneut in die Verjährung laufen sollten, bis das Finanzministerium, damals noch unter Wolfgang Schäuble (CDU), einschritt und Hamburg anwies, die Summe einzuziehen. Es lässt sich nur spekulieren, ob der gewiefte Schäuble dem Sozialdemokraten Scholz damit noch eine Hypothek mit auf den Weg geben wollte. Dies ist aber auch unerheblich, denn die Weisung war absolut richtig.

Die Warburg-Connection der Hamburger SPD

Der Warburg-Gesellschafter Christian Olearius schaltete im Tauziehen um die Warburg-Beute frühzeitig den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten, Strippenzieher und Rüstungslobbyisten Johannes Kahrs sowie den Mentor von Olaf Scholz, den früheren Hamburger Innensenator, Alfons Franz Pawelczyk (SPD), ein. Beide engagierten sich fortan dafür, Treffen zwischen Olaf Scholz und Christian Olearius einzufädeln und die drohenden Rückforderungen des Finanzamtes abzuwenden.
Die zuständige Finanzbeamtin Daniela P., die im Unterschied zu ihren Betriebsprüfern später umkippte und auf die Tatbeute verzichten wollte, hatte laut den beschlagnahmten Tagebüchern von Olearius selbst gegenüber der Bank angemerkt, es könne jetzt nur noch die Politik helfen.

Gegen Kahrs, bei dem auch eine hohe Bargeldsumme im Bankschließfach entdeckt wurde, bei der ein Zusammenhang mit seinen Botendiensten für die Warburg Bank jedoch nicht belegt ist, laufen staatsanwaltliche Ermittlungen.
Kahrs erhielt später von drei mit der Warburg-Bank verbundenen Gesellschaften Spenden für den SPD-Bezirk Hamburg-Mitte. Selbst der von mir persönlich geschätzte Vorsitzende des Hamburger Untersuchungsausschusses zur Warburg-Affäre, Matthias Petersen (SPD), winkte Teile der Spenden im Landesvorstand der SPD Hamburg durch. Pawelczyk wurde für seine Dienste hingegen unmittelbar bezahlt. Beide tauschten sich im engeren zeitlichen Zusammenhang mit den Steuerforderungen gegen die Warburg-Bank mit Olaf Scholz aus.
Den beschlagnahmten Tagebüchern des Bankiers Olearius ist zu entnehmen, dass Pawelczyk Scholz auf das Treffen mit Olearius vorbereiten wolle.

Die Fakten: Die Treffen von Scholz und den Cum-Ex-Bankiers

Was wir nach zwei Presseveröffentlichungen aus den Tagebüchern des Cum-Ex-Bankiers Olearius, drei Befragungen im Bundestag, einer (zunächst verhinderten) Razzia der Kölner Staatsanwaltschaft in Hamburg sowie einem Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft wissen:
Das erste Mal traf Scholz die Bankiers am 7. September 2016 mit einem Referenten aus dem Wirtschaftssenat, der ihn in einer Tischvorlage ausdrücklich vor den Begehrlichkeiten von Olearius beim Thema Cum-Ex warnte. Die beiden weiteren Treffen erfolgten ohne Zeugen. Die Vorlage will der „Aktenfresser“ Scholz, den ich in einer zunächst geheimen Befragung im Bundestag am 1. Juli 2020 nach vorbereitenden Vermerken gefragt hatte, die er, wie auch die Treffen selbst, verschwieg, nunmehr angeblich nicht gelesen haben.
Am 5. Oktober 2016 schickte dann die zuständige Finanzbeamtin Daniela P. einen umfangreichen Vermerk an die Hamburger Finanzbehörde. Darin wird die rechtliche Situation gewürdigt und um Zustimmung gebeten, die Tatbeute von der Warburg-Bank zurückzufordern.

Olaf Scholz empfing drei Wochen später am 26. Oktober 2016 erneut die Warburg-Bankiers im Rathaus. Die Banker übergeben eine siebenseitige Verteidigungsschrift gegen die anstehende Millionenrückforderung des Fiskus, die dem Finanzamt übermittelt wurde.

Etwa zwei Wochen später, am 9. November 2016, greift Olaf Scholz laut den Olearius-Tagebüchern aktiv zum Telefonhörer und ruft den Cum-Ex-Bankier an. Er rät dem Banker, sein Dokument, das dem Finanzamt ja bereits vorlag, „kommentarlos“ (also wohl ohne weitere schriftliche Spuren) an den damaligen Finanzsenator und derzeitigen Ersten Bürgermeister von Hamburg, Peter Tschentscher (SPD), zu schicken.
Dies legt nahe, dass Scholz sich mit Tschentscher hierzu ausgetauscht und diesen vorbereitet hat. Scholz teilt Olearius zudem mit, dass dieser sich in dieser Angelegenheit jederzeit an ihn wenden könne, er „erwarte dies sogar“.

Scholz behauptet später auf meine Nachfrage in der zunächst geheimen Sitzung am 1. Juli 2020, dass bis zu einem Austausch mit dem Bundesfinanzministerium am 16. November 2017 keinerlei Gespräche im Hamburger Senat über die Steuersache Warburg geführt wurden. In einer dritten, nicht-geheimen Befragung des Finanzausschusses des Bundestages am 9. September 2020, die ich wegen weiterer bekannt gewordener Treffen von Scholz mit Olearius ansetzen ließ, will Scholz sich wiederum an einen solchen Austausch mit Tschentscher nicht mehr „erinnern“. Obwohl er sich nicht erinnern könne, wisse er aber genau, dass Tschentscher keinen Einfluss genommen habe.

Später bemerkt Scholz in einer Stellungnahme, die der Journalist Oliver Schröm in seinem Buch „Cum-Ex-Files“ zitiert: Er habe sich die Auffassung von Olearius in dessen Verteidigungsschrift ausdrücklich nicht zu eigen gemacht oder das Papier selbst an die Finanzbehörde weitergeleitet, „da dies allein aufgrund der Tatsache der Weiterleitung durch den Ersten Bürgermeister Anlass zu Interpretationen hätte geben können“.

Tschentscher übermittelt das Dokument mit Unterstreichungen der Argumente der Warburg-Bank in grüner Senatorentinte (grüne Tinte ist in der öffentlichen Verwaltung nur Ministern bzw. Senatoren vorbehalten) und der Aufforderung des Finanzsenators, weiter unterrichtet zu werden, erneut an die Finanzverwaltung. Hiernach wird die Finanzbeamtin Daniela P. am 17. November 2016 in die Finanzbehörde (das Hamburger Finanzministerium) einbestellt.
Eine Beamtenrunde entscheidet dort, keine Steuern von Warburg zurückzufordern – und so Steuerforderungen aus den Cum-Ex-Geschäften teilweise verjähren zu lassen. Damit verzichtet die Stadt Hamburg auf 47 Millionen Euro Steuergutschriften für 2009. Die Betriebsprüfer der Finanzbeamtin laufen gegen die Entscheidung Sturm, die sie für fachlich nicht nachvollziehbar halten.

Damit opfert Scholz seinen Nachfolger. Er sagt nämlich unverblümt, dass sein Finanzsenator Peter Tschentscher allein durch die Tatsache der Weiterleitung des Schreibens Einfluss auf das Steuerverfahren genommen habe. Das wäre strafbar.
In der dritten Befragung am 9. September 2020 wiederum behauptet Scholz, sich an das Schreiben, das Telefonat mit Olearius und die Weiterleitung des Schreibens an Tschentscher nicht erinnern zu können.
Wohlgemerkt das Schreiben, von dem er laut Aussage gegenüber Oliver Schröm wisse, dass er sich dessen Inhalt nicht zu eigen gemacht und das er bewusst nicht selbst in die Behörde geleitet habe.

Nachdem das Bundesfinanzministerium eine erneute Verjährung der Tatbeute in Höhe von diesmal 43 Millionen Euro aus dem Steuerjahr 2010 verhindern will, greift es am 8. November 2017 zu seiner schärfsten Waffe und weist Hamburg schriftlich an, die Tatbeute einzuziehen. Ein solcher Vorgang kommt äußert selten vor. Meine parlamentarische Anfrage im Februar 2018 zu der Häufigkeit solcher Weisungen brachte nur einen weiteren Fall in Hessen zutage.

Die Weisung trifft am 10. November 2017 in Hamburg auf dem Postweg ein. An diesem Tag wird Olaf Scholz die Warburg-Bankiers erneut treffen. In der geheimen Sitzung vom 1. Juli 2020 wird er gegenüber dem heutigen FDP-Staatssekretär Florian Toncar behaupten, er könne sich nicht daran erinnern, wann er von der Weisung erfahren habe, ob in seiner Zeit als Bundesminister der Finanzen oder aus der Zeitung. Dabei hatte er doch den Warburg-Bankier Olearius an dem Tag, als die Weisung in Hamburg per Post eintraf, exakt zu diesem Vorgang getroffen. Dies war Anlass der Befragung im Bundestag.
Tatsächlich fand die Weisung das erste Mal Erwähnung in der Presseberichterstattung des NDR im Januar 2018 und in meiner parlamentarischen Anfrage im Februar 2018. Beides war also nach dem Treffen von Scholz mit Olearius.

Eine Woche später gibt es ein Krisentreffen der Hamburger Finanzverwaltung beim Bundesfinanzministerium. Nach Angaben von Teilnehmern wird es sehr laut. Die Finanzbeamtin Daniela P. widersetzt sich mit Rückendeckung ihrer Vorgesetzten weiter der Weisung.

Am 1. Dezember 2017 erneuert das Finanzministerium die schriftliche Weisung. Diese zweite Weisung war mir in Antworten des Finanzministeriums, die dann unter Olaf Scholz erfolgten, verschwiegen worden. Wahrscheinlich, weil dann noch offensichtlicher gewesen wäre, dass sich keine Finanzbeamtin einer Weisung des Bundesfinanzministeriums ohne politische Rückendeckung über Monate widersetzt.

Die Wahrheit kommt ans Licht: Der Rückblick

Im Februar 2018 hatte ich mit parlamentarischen Anfragen die ungewöhnliche Weisung des Finanzministeriums an die Hamburger Finanzverwaltung thematisiert. Gegen Jahresende erkundigte sich die Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft sodann nach Treffen zwischen Vertretern der Warburg-Bank und dem Hamburger Senat, dem Olaf Scholz als Erster Bürgermeister angehörte, zum Thema Cum-Ex.
Der Senat antwortete wahrheitswidrig, es habe keine derartigen Treffen gegeben.

Im Februar 2020 konfrontierten die Journalisten Oliver Schröm (Norddeutscher Rundfunk), Christian Salewski und Oliver Hollenstein (beide damals Die Zeit) Olaf Scholz mit einem (von drei) Treffen. Dieses Treffen war aber nur das letzte Treffen der drei Treffen zwischen Scholz und den Warburg-Bankiers. Die zwei weiteren Treffen Scholz’ im Jahre 2016 waren damals noch nicht bekannt, da die Journalisten die handschriftlichen Tagebücher anscheinend erst aufwendig auswerten mussten. Scholz schwieg sich gegenüber den Journalisten aus und antworte nicht. Er äußerte sich erst kurz vor Ausstrahlung eines Beitrags in der ARD-Sendung „Panorama“ über die Nachrichtenagentur dpa.

Die Journalisten zitierten aus einem Tagebuch des Bankiers Christian Olearius, das bei einer Razzia beschlagnahmt wurde. Darin wurde über das Treffen des Bankiers mit Olaf Scholz zur Rückforderung der Cum-Ex -Tatbeute und der Weisung des Finanzministeriums am 10. November 2017 berichtet.

Der Bankier schrieb im Tagebuch, Scholz sei zurückhaltend und lasse nicht erkennen, wie er sich verhalten würde. Er vermittle ihm jedoch das Gefühl, er brauche sich keine Sorgen zu machen.
Scholz teile überdies die Auffassung der Warburg-Bank, dass es darum ginge, die Depotbank Deutsche Bank zu schonen. (Vermutlich war gemeint, das Bundesfinanzministerium wolle die Deutsche Bank zu Lasten der Warburg-Bank schonen).
Im Weiteren ging es um Absprachen zwischen Scholz und Olearius zu einem Interview über Hamburg, das der Bankier mit dem Spiegel führen wollte. Er solle sich maßvoll äußern, um Scholz die Bühne bei der Vermarktung des „Wissenschaftsstandortes“ Hamburg zu überlassen.

Dass sich der exzellente Jurist Scholz zurückhaltend verhielt, ist wenig verwunderlich. Dies ist nicht nur seine generelle Art; ein Eingriff in Steuerverfahren wäre überdies strafbar. Da die Journalisten diese Passage aber aus presserechtlichen Gründen nicht zitiert hatten, weil aus Ermittlungsakten nur minimal zitiert werden darf, holte die Warburg-Bank kurze Zeit später zum Gegenschlag aus und behauptete, die Journalisten hätten der Öffentlichkeit entlastende Momente (die zurückhaltende Art von Scholz) verschwiegen.
Diese Öffentlichkeitsarbeit der Warburg-Bank wurde eng mit Scholz’ Umfeld koordiniert. Die Spin-Doktoren der Warburg-Bank und Scholz’ rechte Hand, sein damaliger Staatssekretär und derzeitiger Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, bearbeiteten im Hintergrund überforderte Lokalreporter. Die Zusammenarbeit mit der Cum-Ex-Bank wurde also in bewährter Manier fortgesetzt.
Der Lokalpresse schien dabei nicht aufzufallen, dass man nicht gleichzeitig schweigen und sich zugleich die Rechtsauffassung der Warburg-Bank zu eigen machen kann, wonach es darum gehe, die Deutsche Bank zu schonen. Meine späteren Nachfragen, wie Olearius zu diesem Eindruck gelangte, wollte Scholz nie konkret beantworten.

Da nun offensichtlich wurde, dass der Hamburger Senat die Anfrage der Linksfraktion unwahr beantwortet hatte (was sich Olaf Scholz in einer späteren Sitzung „nicht erklären“ könne), waren die Titelseiten der Hamburger Presse voll von dem Skandal. Ich schlug meiner früheren Partei eine Pressekonferenz und eine Demonstration vor der Hamburger Finanzbehörde vor, die es auf die Titelseiten zahlreicher Zeitungen schaffte.
Scholz’ Nachfolger als Erster Bürgermeister Hamburgs, Peter Tschentscher, warf dem NDR gar später Beeinflussung des Wahlkampfes vor.

Wie Scholz den Bundestag belog

Nach dieser Welle im Bürgerschaftswahlkampf 2020 wusste Scholz, er wird das Thema nicht mehr los. Da er die Kanzlerkandidatur für die SPD anstrebte, war der Vorwurf, kriminelle Banker zu schützen, eine Hypothek.
Ich beantragte als Hamburger Bundestagsabgeordneter und Finanzpolitiker eine Einbestellung des damaligen Finanzministers in den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages. Die anderen Fraktionen schienen das Thema kaum zu beachten. Scholz sagte für den 4. März 2020 zu.

Die Unterrichtung durch den Finanzminister wurde um 12.08 Uhr eröffnet. Die Vorsitzende des Finanzausschusses teilte uns mit, dass Scholz wegen Anschlussterminen die Sitzung um 12.50 Uhr zu verlassen habe.
Ein politischer Taschenspielertrick: Es standen uns somit 42 Minuten bei sechs Fraktionen und einem umfangreichen Eingangsstatement von Herrn Scholz zur Verfügung.
Ich wusste: Ich werde drei bis fünf Minuten einschließlich der Antwort von Scholz ohne Möglichkeit der weiteren Nachfrage haben. Jeder Schuss musste sitzen, und Scholz würde Fragen gesammelt beantworten.

Da die Corona-Pandemie gerade Europa erreicht hatte, ließ sich Scholz ausführlich zu konjunkturpolitischen Fragen aus. Dies war nachvollziehbar, aber eben auch günstig für Scholz.
Zur Warburg-Affäre merkte Scholz an, dass der berichtete Termin stattgefunden habe. Da sei sonst nichts gewesen und nichts zu finden. Über das Gespräch sei durch Medienberichte „alles bekannt“, was es dazu zu berichten gäbe.
Er verwies auf die Veröffentlichung des vollständigen Tagebuchauszugs durch die Warburg-Anwälte, die sein zurückhaltendes Verhalten bei dem Termin unterstrichen hätten.

Sodann durften die Fraktionen in der Reihenfolge ihrer Stärke das Wort ergreifen. Die Union und die SPD versuchten möglichst zeitintensive Fragen zur europäischen Haushaltspolitik zu stellen, um Scholz Zeit zu kaufen.
Die CDU/CSU intervenierte gar später einmal, um zu beanstanden, man dürfe den Finanzminister nicht zu Vorgängen aus seiner Zeit als Bürgermeister oder zu Parteispenden befragen, die Sache der SPD seien. Die AfD und die FDP stellten sodann wenigstens ein paar Fragen zum Sachverhalt. Ich war als Vorletzter an der Reihe. Olaf Scholz war hoch konzentriert, denn er wusste genau, dass ich in der Warburg- Affäre sein schärfster Kritiker war.

Mein erster Satz war ein Zitat: „Junge, komm bald wieder!“ Damit griff ich auf, dass die kurze Befragungszeit bereits bei meinem Vorredner, dem heutigen FDP-Staatssekretär Florian Toncar, für Unmut gesorgt hatte.
Meine erste Frage an Olaf Scholz lautete sodann, ob es üblich gewesen sei, dass er sich in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister mit Personen zu Steuerverfahren getroffen habe, gegen die bereits Ermittlungen wegen schweren Steuerbetrugs liefen, und ob es neben dem einen nunmehr bekannten Treffen mit Herrn Olearius weitere Treffen dieser Art gegeben habe? Es war üblich, die wichtigsten Fragen zu Beginn zu stellen und die weiteren Fragen dem Zeitrahmen zu opfern, falls erforderlich.
Ich fragte zudem nach schriftlichem Austausch der Warburg Bank mit dem Finanzministerium und wessen Entscheidung Scholz richtig fände: die des ihm nunmehr unterstellten Finanzministeriums, Hamburg anzuweisen, die Cum-Ex Tatbeute einzuziehen, oder die Entscheidung Hamburgs, die steuerliche Verjährung in Kauf zu nehmen?
Überdies fragte ich nach dem Austausch mit dem Finanzsenator Peter Tschentscher, den Scholz ebenfalls nicht einräumte, obwohl mittlerweile bei einer Razzia sichergestellte Kalendereinträge dies nahelegten.
Zum Schluss bemängelte ich unrichtige Angaben des Finanzministeriums zu steuerlichen Verjährungen von Cum-Ex-Tatbeute, um Druck auf eine klare gesetzliche Regelung zur nachträglichen Abschöpfung im Strafprozess zu machen, die dann in den kommenden Monaten erfolgen sollte.
Meine Ausführungen versah ich mit dem Hinweis, dass diese weiteren Fragen nur beantwortet werden sollten, falls die Zeit dies erlaube. Danach war die heutige Familienministerin Lisa Paus von den Grünen an der Reihe.
Scholz beantworte daraufhin die Fragen aller sechs Fraktionen gebündelt. Scholz ging auf meine Frage nach weiteren Treffen mit Herrn Olearius nicht ein, sondern wiederholte sein Mantra, dass ihn das Steuergeheimnis an Ausführungen hindere und alles zu dem Treffen bekannt sei. Er konzentrierte sich auf meine letzte Zusatz-Frage nach Vermögensabschöpfung im Strafprozess.
Dabei ist durch Rechtsprechung im Fall des FC-Bayern-Mangers Uli Hoeneß klar etabliert, dass das Steuergeheimnis seine Grenze bei Handlungen der Verwaltung hat, die von öffentlichem Interesse sind.
Niemand wollte über die Steuererklärung der Warburg-Bank diskutieren, sondern wir wollten wissen, wie Scholz mit der Sache befasst war.

In einer der nächsten Obleute-Sitzungen des Finanzausschusses, die gemeinsam die Tagesordnung verabredet, wurde die erneute Vorladung Scholz’ in einer als geheim eingestuften Sitzung in einem abhörsicheren Raum des Bundestages beschlossen, damit er sich nicht mehr hinter dem Steuergeheimnis verstecken könne. Dort könne er dann freier darlegen, was dem Steuergeheimnis unterliegt und worüber er Auskunft geben könne. Auch die SPD fand, dass Scholz etwas zu zugeknöpft gewesen sei und befürwortete den Vorschlag.

Am 2. Juni 2020 schrieb ich zudem eine E-Mail an die Obleute des Finanzausschusses, die später auch dem Handelsblatt zugespielt wurde. Darin beschwerte ich mich über den geplanten Sitzungsablauf, denn Scholz wollte erneut nur in einem engen Zeitrahmen aussagen. Das Handelsblatt zitierte hieraus:
„‚Wenn man die üblichen Begrüßungsrituale und Vorbemerkungen abzieht, ist es bei einer Befragungszeit von 50 Minuten denkbar, dass weder meine Fraktion noch die Grünen überhaupt zur Möglichkeit kommen, Fragen zu stellen. Das ist für mich nicht akzeptabel‘, so De Masi. Schon Anfang März habe sich Scholz bei einer Befragung zu dem Thema mit langen Ausschweifungen aus der Affäre gezogen. Das will De Masi nicht noch einmal zulassen. Der Finanzminister solle deshalb auf ein längeres Eingangsstatement verzichten. Die Anhörung wird zudem als ‚geheim‘ eingestuft, nichts darf nach außen dringen. Das soll verhindern, dass Scholz Aussagen wieder mit Verweis auf das Steuergeheimnis verweigert.“

Im September 2020 – als weitere Treffen mit Olearius bekannt wurden – sollte mir Olaf Scholz über seinen Sprecher öffentlich ausrichten, ich hätte im März wegen meiner Frage zu weiteren Treffen nochmal nachfragen müssen. Dies ist infam.
Denn abgesehen davon, dass Scholz seinen Auftritt mit Schützenhilfe von CDU/CSU und SPD bewusst so angelegt hatte, dass für Nachfragen gar keine Zeit mehr bestand, was ja zu meiner oben zitierten E-Mail führte, hatte er in der Sitzung wiederholt betont, dass alles dazu bereits berichtet sei. Es gab dafür keine Notwendigkeit.
Alle – auch eine direkt nach der Sitzung von einem TV-Team dazu befragte SPD-Abgeordnete – hatten ganz klar verstanden: Es hat keine weiteren Treffen von Scholz mit Herrn Olearius gegeben.
Diese Irreführung der Öffentlichkeit ist daher keine Ungeschicklichkeit. Sie hat Methode.

Geheime Sitzung am 1. Juli 2020

Der ursprünglich anvisierte Termin einer Befragung von Olaf Scholz am 17. Juni 2020 wurde noch einmal auf den 1. Juli 2020 verschoben. Scholz sagte nunmehr zu, sich ausreichend Zeit zu nehmen.
Über den Inhalt dieser rund anderthalb Stunden andauernden Sitzung habe ich bis kürzlich nicht öffentlich sprechen dürfen, da sie der Geheimhaltung unterlag. Denn ich habe Scholz erneut zu weiteren Treffen mit Olearius befragt.
Die mit dem Deutschen Journalistenpreis ausgezeichneten Investigativreporter Oliver Schröm und Oliver Hollenstein haben die Sitzung jedoch unter Mitwirkung des Cicero-Journalisten Ulrich Thiele in ihrem Buch „Die Akte Scholz“ minutiös rekonstruiert. Sie schreiben Folgendes:
„Schließlich erkundigt sich De Masi wie bei der letzten Sitzung, ob Scholz sich noch öfter mit Olearius getroffen habe. Scholz lächelt. Hamburg sei klein, da laufe man sich schon mal über den Weg. Die Grünen-Abgeordnete Lisa Paus ruft dazwischen. Sie will wissen, wie oft sich Scholz und Olearius bei gesellschaftlichen Ereignissen begegnet sind: zweimal, dreimal oder zehnmal pro Jahr? Scholz schmunzelt, erwähnt ein Treffen in der Elbphilharmonie. Er habe auch einmal bei einem Jubiläum der Warburg-Bank eine Rede gehalten.“ Weiter führt Scholz explizit aus, es habe keine regelmäßigen Treffen mit der Warburg-Bank gegeben.

Tatsächlich hatte Scholz (anders als im gestrafften Protokoll dargestellt) nicht nur von einem Jubiläum gesprochen, sondern offengelassen, ob es der 70. Geburtstag von Christian Olearius oder das 220-jährige Jubiläum der 1798 gegründeten Warburg-Bank war. Dies lässt sich daran erkennen, dass ich in der dritten Befragung von Scholz auf diese Passage zurückkam und ihn danach frage, welche der beiden Termine er denn nun gemeint habe? Den Geburtstag (der fand 2012 statt) oder das Jubiläum (2018)? All dies lässt sich nachlesen.
Meine Nachfrage an Scholz nach weiteren Treffen ist im Unterschied zur Nachfrage von Lisa Paus, die damals dazwischenrief, nicht in den öffentlich zitierten Passagen des Protokolls enthalten, konnte aber offenbar von den Journalisten anderweitig verifiziert werden. (Protokolle können nachträglich noch von Sitzungsteilnehmern bearbeitet werden und werden vom Ausschusssekretariat verantwortet. Nicht selten wachen dort emsige Referenten mit Parteibuch über jede Formulierung. Ob das Tonband der Sitzung noch existiert, weiß ich nicht).

Warum ist die Frage, ob es ein Geburtstag oder Jubiläum war, überhaupt relevant? Ganz einfach: Scholz’ Spin-Doktor Wolfgang Schmidt wird später trotz Geheimschutz gegenüber Journalisten behaupten, die heutige Familienministerin habe „falsch“ nachgefragt. Sie hatte nämlich gefragt, ob es nach dem damals bereits bekannten Treffen von Scholz und Olearius (das letzte der drei Treffen) im Jahr 2017 weitere Treffen gegeben habe. Aber die weiteren und verheimlichten Treffen waren ja davor im Jahr 2016.

Diese Spitzfindigkeit ist ja an sich schon dreist genug, denn ich hatte ja bereits zweimal (am 4. März und erneut in der geheimen Sitzung) nach weiteren Treffen gefragt. Außerdem verneint Scholz explizit regelmäßige Treffen mit der Warburg Bank. Aber Scholz hat ohnehin auch für Zeiträume davor, nämlich den 70. Geburtstag von Olearius, geantwortet.

Viel wichtiger aber ist: Scholz legt präzise jede beiläufige Begegnung mit Herrn Olearius offen. Nur die drei Treffen, bei denen es um zig Steuer-Millionen geht, und dass er später sogar aktiv zum Telefon greift, um Olearius zu bitten, sich in der Sache weiter an ihn zu wenden, räumt Scholz erst dann ein, wenn er mit konkreten Belegen konfrontiert wird.
Er spricht bis zum September 2020 an keiner Stelle von einer Erinnerungslücke. Vielmehr betont er in einer der Sitzungen, er könne nicht sagen, weshalb der Hamburger Senat die Treffen nicht offenbart habe. Denn die Kalender lagen ja vor und die Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft hatte nach den Treffen schriftlich gefragt.

Die Nachwirkungen der geheimen Sitzung

Später wird der Staatssekretär und heutige Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, zuständig für Geheimdienste, einen Auszug aus dem geheim eingestuften Protokoll sinnentstellend an Journalisten geben, um seinen Spin zu setzen.

Wir können uns wegen des Geheimschutzes nicht dagegen wehren und selbst über die Sitzung sprechen. Lisa Paus wird nach Bekanntwerden der beiden weiteren Treffen Scholz jedoch öffentlich in einem Tweet der Lüge bezichtigen. Seit ihrer Berufung zur Ministerin hat die von mir sehr geschätzte Kollegin den Tweet gelöscht. Gegenüber dem Journalisten Tilo Jung führt sie aus, sie arbeite nunmehr gut mit Scholz zusammen und sei eben damals in der Opposition im Wahlkampf gewesen (es war jedoch kein Wahlkampf damals).
Ich kenne Lisa Paus gut genug, um zu wissen: Niemals hätte sie einen solchen Vorwurf nur zur Show erhoben. Ihr Kotau ist der Preis der Macht. In solchen Momenten bin ich froh, meine politische Karriere beendet zu haben.

Als ich die Eskapaden von Wolfgang Schmidt vor der Wahl (erneut) skandalisiere, da nun auf einmal öffentliches Interesse besteht, behauptet das Finanzministerium, es könne diesen Verstoß gegen den Geheimschutz nicht aufklären, da Herr Schmidt in Washington weile und wegen der Zeitverschiebung schlafe. Tatsächlich erlaube ich mir die Bemerkung, man könne ihn auf Twitter anschreiben, wo Schmidt, wahrscheinlich mithilfe von Beamten aus dem Ministerium, etwa 20 Stunden am Tag Tweets verbreitet, um für seinen Chef Kohlen aus dem Feuer zu holen. Tatsächlich war er zu diesem Zeitpunkt auf Twitter aktiv.

Ich werde später zur Quelle der Olearius-Tagebücher auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bonnin Berlin-Kreuzberg von einer freundlichen Kriminalkommissarin vernommen (die mich auf mein Aussageverweigerungsrecht als ehemaliger Abgeordneter und Publizist hinwies). Dabei habe ich auch auf den Vorgang um Wolfgang Schmidt hingewiesen, da ich es bemerkenswert fand, wie ungleich der Ermittlungseifer bei diesen Sachverhalten war.

Die Berliner Staatsanwaltschaft wird jedoch trotz meiner Eingabe keine Ermittlungen aufnehmen. Ihre Begründung: Sie könne den Vorgang nicht verifizieren, da es außer einem entsprechenden Tweet des Journalisten Oliver Schröm, der die Passage, die Schmidt verbreiten ließ, per Screenshot veröffentlicht, keine weiteren Belege gebe.
Dabei würde es reichen, Herrn Schröm einzuvernehmen und zu befragen. In meinem Fall war es hinreichend, dass ich einen Auszug aus den Olearius-Tagebüchern veröffentlicht hatte.
Was der Bonner Staatsanwaltschaft entgangen war: Dieser Auszug stammte aus der Hamburger Morgenpost. Die Warburg-Bank hatte ihn selbst veröffentlicht.

Im Sommer 2020 wird es dann eng für Scholz. Die Pleite der Wirecard AG, des einstigen Börsenwunders und insolventen Zahlungsabwicklers aus Aschheim, hält Scholz in Atem. Nun kommen noch zwei weitere Treffen mit Olearius an die Öffentlichkeit. Es herrscht Panik in der Hauptstadt.

Sofort beantrage ich eine dritte Befragung von Scholz. Zusätzlich lasse ich auf dem Kontingent meiner Fraktion eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragen, um der Bevölkerung die Warburg-Story in meinem fünfminütigen Redebeitrag zum „Pinocchio-Gate“ von Scholz detailliert zu erklären. Die Rede wird später bei Markus Lanz immer wieder als Einspieler dienen.
Die SPD nennt mich in einem Zwischenruf gar „unanständig“, weil ich in meiner Rede die Rückzahlung der Warburg-Spenden und ein Verbot von Parteispenden von Unternehmen fordere.

Ein Jahr später gibt es Aufregung um die Razzia bei Johannes Kahrs und mehr als 200.000 Euro Bargeld in dessen Schließfach. Der SPD-Finanzsenator Andreas Dressel wird nun einräumen, dass die Spenden aus „heutiger Sicht“ neu bewertet werden müssten. Ich gehöre zu diesem Zeitpunkt dem Bundestag nicht mehr an. Die SPD distanziert sich von Kahrs.
Doch alle Erkenntnisse über die Warburg-Bank lagen schon zum Zeitpunkt der Spenden auf dem Tisch: Razzia, Ermittlungen, Cum-Ex. Stand heute hat die SPD Hamburg die Cum-Ex-Spenden der Warburg-Bank nie zurückgezahlt.
Vor der Rede befrage ich Scholz öffentlich im Plenum des Bundestages zu seiner Sicht auf die Warburg-Parteispenden. Er antwortet, er lebe nun in Potsdam. Nach seinem Eindruck sei aber in der SPD Hamburg immer alles korrekt verlaufen.

Befragung am 9. September 2020

In der dritten Befragung ereignet sich etwas Kurioses: Scholz wechselt die Strategie. Er bestätigt die Termine und legt nun eine detaillierte Auflistung aller Termine mit Olearius vor (in einer Informationsfreiheitsanfrage wird mir der Hamburger Senat weiterhin keines der Treffen einräumen, obwohl diese bereits presseöffentlich sind). Schriftlich konnten wir diese im Bundestag nicht abfragen, da die Termine ja in seine Zeit als Hamburger Bürgermeister fielen.
Scholz behauptet nun, er habe erst jetzt – nach einer Anfrage in der Hamburger Bürgerschaft, einer Riesenwelle im Bürgerschaftswahlkampf und zwei Befragungen im Bundestag (eine davon mit Geheimschutzvorkehrungen), bei denen insgesamt dreimal nach weiteren Treffen mit Olearius gefragt wurde – in seinen Kalender geblickt.
Jeder Politiker in einem Kreistag würde bei an ihn gerichteten Vorwürfen dieser Art als Erstes in den Kalender blicken. Scholz hat hierfür einen Arbeitsstab, Termine müssen in der öffentlichen Verwaltung veraktet werden.
Als Scholz diese Aussage tätigt, habe ich Blickkontakt mit Abgeordneten und Mitarbeitern der SPD. Sie müssen ihr Lachen unterdrücken ob dieser absurden Ausführungen. Alle im Saal wissen, dass Scholz lügt.

Scholz behauptet nun, er könne sich an keinen der Termine mehr erinnern. Vor jedem Gericht würde dieser Strategiewechsel als unglaubwürdig gekennzeichnet werden. Selbst ein Neurologe äußert sich später und sagt, dass solche chirurgisch-präzisen Erinnerungslücken, die immer nur im Steuerverfahren, aber nie bei anderen Begegnungen mit dem Cum-Ex-Bankier auftreten, nicht mit dem wissenschaftlichen Stand der Forschung vereinbar sind.

Was die Öffentlichkeit damals noch nicht wissen kann: In der geheimen Sitzung im Juli schilderte Scholz auf meine Nachfrage hin noch konkrete Erinnerungen an das zuerst bekannt gewordene Treffen. Er habe sich nur die Einschätzung von Herrn Olearius angehört. Dies habe mittlerweile auch die Presse bestätigt. Persönlich könne er über diese Schilderung hinaus nichts beitragen.
Er führte dort auch aus, dass er nach dem Gespräch keine Veranlassung gesehen habe, in ein laufendes Steuerverfahren einzugreifen. Auch schloss er konkrete Gespräche mit dem Finanzsenator mit Sicherheit aus.

Nun aber benutzt er permanent die Formulierung, er habe an keines der Treffen eine Erinnerung mehr. Um seine neue Strategie abzusichern und die Verheimlichung von drei Treffen zu begründen, betont er nun, dass alle bisherigen Schilderungen im Finanzausschuss auf der Medienberichterstattung beruhten, nicht seinen persönlichen Erinnerungen.
Damit will er offenbar vorbauen, falls das geheime Protokoll öffentlich werden sollte, wo er ja den Fehler gemacht hat, noch eine persönliche Erinnerung zu schildern.

Ich hatte bereits im Jahr 2020 beantragt, das geheime Protokoll zu entstufen, da das Steuergeheimnis nicht berührt sei. Zudem hatte Wolfgang Schmidt, auf ihren Vorwurf der Lüge hin, der aktuellen Familienministerin Lisa Paus entgegnet: „Sollen wir das Protokoll veröffentlichen?“ Das war eine willkommene Steilvorlage für mich. Doch außer den Grünen zog keine Fraktion mit. So dauerte es weitere drei Jahre, bis der Vorgang öffentlich wurde.

Von einem, der auszog, den Mächtigen das Fürchten zu lehren!

Die Warburg-Affäre zeigt, wie leicht sich führende Medien mit Nähe zur Macht um den Finger wickeln lassen, denn kaum eine führende Tageszeitung hat die Widersprüche von Scholz vor der Wahl konsequent aufgearbeitet.

Ich musste in meiner Rolle als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Finanzpolitiker viele Details in einsamen Nachtstunden selbst herausarbeiten, weil meine Fraktion mich in der Ausschussarbeit weitgehend im Stich ließ. Und es gab ja noch mehr Themen: von Schuldenbremse über Steuerreformen, Geldwäsche oder Wirecard. Meine Mitarbeiter arbeiteten wie ich bis zur Erschöpfung. Meinen Sohn sah ich kaum noch, denn 16-Stunden-Arbeitstage waren das Minimum.
Meine Fraktion rollte regelmäßig mit den Augen, wenn ich schon wieder Cum-Ex auf die Tagesordnung des Parlaments setzen wollte. In den Informationsangeboten meiner Partei wurde ich dazu kaum berücksichtigt. Ich durfte zwar häufig im Parlament reden. Aber vor allem, weil mir meine Fraktion über weite Strecken der Legislaturperiode im Finanzausschuss nur geringe Unterstützung gewährte.

Dabei wussten Linke früher einmal, dass die Wirtschaft im Kapitalismus der Schlüssel zu Veränderungen ist. Dies gipfelte darin, dass ich im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages über weite Strecken keinen Stellvertreter hatte und so ohne echte Sommerpause ein Jahr lang fast die Hälfte der Woche nur drei Stunden schlief.
Während ich meine Gesundheit ruinierte, zogen andere die Strippen und fuhren meine Partei an die Wand. Diese Enttäuschung und die zuweilen sehr verlogene politische Konkurrenz führten maßgeblich zu meinem Rückzug aus der deutschen Politik.

Die Phrasen des Kanzlers

Scholz soll auf einer Matinee der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit mit deren damaligen Herausgeber Josef Joffe im Oktober 2018 bekennen, Cum-Ex sei ein steuerpolitischer Skandal.
Bei Transparency International spricht er später gar von einer „Schweinerei!“. Herrn Olearius hat er dies offenbar nicht mitgeteilt.
Noch etwas ist bemerkenswert: In dem Video der Veranstaltung bekennt Scholz, dass es wohl nicht mehr möglich sei, die Cum-Ex-Tatbeute aus bestimmten Altfällen einzutreiben, da diese bereits verjährt sei.

Sein Adlatus Wolfgang Schmidt wird hingegen vor der Bundestagswahl unter Journalisten verbreiten, die Hamburger Finanzverwaltung hätte bereits 2016 gewusst, dass der spätere strafrechtliche Einzug der Cum-Ex-Tatbeute möglich sein werde.
Dies widerspricht nicht nur der öffentlichen Aussage seines Chefs, sondern auch den Hamburger Finanzbeamten selbst.
Warum hat dann Scholz später in der geheimen Sitzung bekräftigt, die Weisung des Bundesfinanzministeriums sei richtig gewesen, wenn Hamburg doch alles richtig gemacht hat?

Herr Joffe ließ später seine Herausgeberschaft von Die Zeit ruhen, da durch einen Brief, den er im Januar 2017 an Max Warburg adressierte, bekannt wurde, dass er den Banker vor den Recherchen der eigenen Redaktion frühzeitig gewarnt hat.
Ein Zitat aus dem Brief lautete: „In unserem Alter gilt: This is no time to fuck around with old friendships.“ Herr Scholz scheint bei seinen Gesprächspartnern, ob Olearius oder Joffe, eine glückliche Hand zu haben.

Herr Scholz ist nunmehr Bundeskanzler, und ich bin wieder ein einfacher Staatsbürger. Dass er trotz seiner Lügen Kanzler wurde, hat weniger mit seiner politischen Leistung als mit der Schwäche seiner Konkurrenz zu tun.

Wie wir durch die Warburg-Affäre Milliarden sicherten

Doch auf eines bin ich heute stolz: Durch einen mutigen Richter und später auch politischen Druck auf die Gesetzgebung wurde es ermöglicht, dass auch steuerlich verjährte Tatbeute noch im Strafprozess eingezogen werden kann.
Die Cum-Ex-Tatbeute kann daher noch gerettet werden. Dies war aber zum Zeitpunkt der Causa Warburg in Hamburg noch nicht absehbar. Es bedurfte erheblichen politischen Drucks und einen Kanzlerwahlkampf, um Olaf Scholz als Finanzminister dazu zu bewegen, auch die rückwirkende Einziehung von steuerlich verjährter Cum-Ex-Tatbeute durch Vermögensabschöpfung dauerhaft rechtlich abzusichern.
Scholz hatte nämlich im Windschatten des Corona-Konjunkturpakets in einer Nacht- und Nebelaktion ein Gesetz eingebracht, das die strafrechtliche Einziehung steuerlich verjährter Cum-Ex-Tatbeute auf sichere Füße stellen sollte.
Jedoch wurde in das Gesetz ein Passus aufgenommen, der besagte, dass dies nicht rückwirkend erfolgen könne. Als ich in einem morgendlichen Briefing der Finanzpolitiker vor der Debatte um das Corona-Konjunkturpaket kritisch nachfragte, warum dies erforderlich sei, entgegnete das Finanzministerium, dies sei verfassungsrechtlich nicht anders möglich.
Später schürten Verfassungsrechtler wie Professor Killian Wegner an dieser Aussage Zweifel. Ich holte ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages ein, das die Zweifel von Wegner unterstützte.
Scholz wurde nun verdächtigt, die Cum-Ex-Banken (erneut?) zu schonen. Der investigative Journalist des Westdeutschen Rundfunks, Massimo Bognanni, der neben Schröm und Hollenstein zu den führenden Cum-Ex-Reportern des Landes zählte, verschaffte der komplizierten Gesetzesmaterie durch Berichterstattung die nötige Aufmerksamkeit.

Das Gesetz konnten wir im Bundestag und Bundesrat durch eine lagerübergreifende Koalition, etwa des ehemaligen Justizministers von Nordrhein-Westfalen Peter Biesenbach (CDU) und meiner Wenigkeit, erheblich verbessern und die Stichtagsregelung streichen. Es war dem Druck der Warburg-Affäre zu verdanken, dass Scholz das Gesetz korrigieren musste und die Staatsanwaltschaften nunmehr genug Zeit erhalten, um die Tatbeute zu sichern.
Auch wenn der grüne Justizminister von Nordrhein-Westfalen der mutigen Kölner Cum-Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker die personelle Unterstützung durch erfahrene Ermittler vorenthält, die für die Jahrhundertprozesse gegen Banken und Fonds nötig wäre.

Die Streichung des Rückwirkungsverbotes bei der Abschöpfung von Cum-Ex-Tatbeute war der größte Erfolg meiner parlamentarischen Karriere. Es hat Milliarden gerettet.
Viele Bürgerinnen und Bürger mögen über die Politik zu Recht enttäuscht sein. Heute kann ich guten Gewissens sagen, dass ich die Kosten meiner Bundestagsdiät mit diesem Engagement wieder hereingespielt haben dürfte.
Auch wenn die Aufklärung über die Warburg-Affäre von parteipolitischen Spielchen und einer großen Portion Verlogenheit gekennzeichnet ist: Allein für diesen Erfolg hat es sich gelohnt, um die Wahrheit zu kämpfen!

Fabio De Masi war zwischen 2014 und 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments und zwischen 2017 und 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages für Hamburg. und machte sich dort bei der Aufklärung von Finanzskandalen – etwa um den Zahlungsdienstleister Wirecard – einen Namen.
Er trat 2021 nicht erneut für den Bundestag an und arbeitet seither an einem Buch über seine Rolle bei der Aufklärung von Finanzskandalen, das im Frühjahr 2024 beim Rowohlt-Verlag erscheinen wird.
Er ist Kolumnist bei der Berliner Zeitung.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Ende des Ukraine-Stellvertreterkrieges: Eine Niederlage, die die Welt verändern wird

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

alexander neu

alexander neu

Aktuelle Analyse von Dr.Alexander Neu. Beide hier geschilderten Ausgänge sind für die deutsche Bevölkerung im Endeffekt nachteilig. Um so wichtiger wäre es, wenn unsere Regierung sich um eine diplomatische ausgleichende Lösung bemühen würde, die eine einvernehmliche Beendigung des Konflikts statt einem Alles-Oder-Nichts anstrebt.
Und hier auszugsweise der Text aus den NachDenkSeiten:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=96345

Eine Niederlage, die die Welt verändern wird

Die Debatten zur bevorstehenden Frühjahrsoffensive der ukrainischen Sicherheitskräfte gegen die russische Armee zwecks Rückeroberung des verlorenen Territoriums laufen heiß. Überschattet wird diese Debatte um die Leaks eingestufter US-amerikanischer Dokumente. Da dieser Krieg ein mehrdimensionaler Krieg ist, mithin also auch ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland, sollen in diesem Artikel die geopolitischen Implikationen der jeweiligen Niederlagen beleuchtet werden. Von Dr. Alexander Neu.

Ungeachtet des Ausgangs der angekündigten Frühjahrsoffensive, ob nun der definitive Showdown oder eine von vielen Offensiven der einen oder der anderen Konfliktseiten, soll im Folgenden über die Konsequenzen einer Niederlage, die irgendwann eine der beiden Konfliktseiten erleiden wird, reflektiert werden. Dabei sollen nicht die Niederlagen bzw. die diversen Formen der militärischen Niederlagen der Ukraine oder Russlands auf dem ukrainischen Schlachtfeld thematisiert werden.
Diesen Aspekt habe ich bereits in einem Beitrag mit dem Titel „Was heißt Sieg oder Niederlage für Russland versus für Ukraine und den Westen? Eine Analyse“ in den NachDenkSeiten im Februar beleuchtet: Der Sieg der einen Konfliktseite ist die Niederlage der anderen Konfliktseite auf dem Schlachtfeld – absolut oder in diversen Abstufungen, wie ich es dort ausgeführt habe.

Da dieser Krieg ein mehrdimensionaler Krieg ist, mithin also auch ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland, vielleicht auch Chinas und anderer Staaten des Globalen Südens, sollen die geopolitischen Implikationen der jeweiligen Niederlagen beleuchtet werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, da die Wirklichkeit nie in klaren Kategorien wirkt.

Szenario 1: Russlands Niederlage

Verlöre Russland den Krieg gegen die Ukraine und somit gegen den Westen, so wäre eine ganze Kettenreaktion von Konsequenzen für Russland und darüber hinaus denkbar, ja sogar in dem einen oder anderen Fall wahrscheinlich.

Erstens würde sich zeigen, dass Russland nicht einmal eine „Regionalmacht“ ist, um es mit den Worten B. Obamas zu benennen. Denn Russland erwiese sich als unfähig, einen Staat unmittelbar an seiner eigenen Grenze militärisch zu besiegen. Einmal von den diversen Unterstützungsmaßnahmen der NATO abgesehen, die tatsächlich bislang das militärische Überleben der Ukraine absichern – zwar zu einem enorm hohen menschlichen und infrastrukturellen Preis -, würde dieses Bild eines russischen Riesen auf tönernen Füßen vorherrschen.
Mit diesem Image als nicht einmal vollwertige Regionalmacht könnten sich Staaten im post-sowjeti­schen Raum (Kaukasus und Zentralasien) ermuntert sehen, neue Partner – vornehmlich im Westen zu suchen. Selbst wenn diese Staaten keinen eigenen Antrieb auswiesen, sich neue Partner zu suchen, könnten sie genötigt werden, sich dem „Sieger“ des Ukraine-Krieges „anzunähern“. Weißrussland wäre der vermutlich erste Kandidat, der in der euro-atlantischen Sphäre aufginge.

Mehr noch, die bislang mehr oder minder latenten Separatismusphänomene (Stichwort: Tschetschenien) insbesondere in der Kaukasusregion könnten wieder Auftrieb gewinnen. Der starke Mann Tschetscheniens, R. Kadyrow, ist zwar – noch – ein treuer Gefolgsmann Putins.

Angesichts dieses besonderen Loyalitätsverhältnisses genießt Tschetschenien eine – im Vergleich zu den übrigen föderalen Subjekten – herausragende Autonomie innerhalb der russischen Föderation. Jedoch könnten bei einer russischen Niederlage die innerrussischen Karten neu gemischt werden.
Dass ein solches Szenario nicht abwegig ist, zeigt die Flexibilität des Vaters und Amtsvorgängers von R. Kadyrow, A. Kadryow. Dieser rief 1994 im allgemeinen Schwächezustand der russischen Staatlichkeit unter B. Jelzin den Dschihad, also den Heiligen Krieg, gegen Russland aus. Später, 1999, wechselte er die Fronten und wurde 2003 zum Präsidenten des russischen Föderationssubjektes Tschetschenien. 2004 starb A. Kadyrow bei einem Anschlag.
Insbesondere das enge Loyalitätsverhältnis zwischen R. Kadyrow und W. Putin sichert den Bestand Tschetscheniens in der russischen Föderation. Was aber, wenn Russland den Krieg und somit auch die Autorität im eigenen Haus verliert? Zumal auch das politische Überleben des gegenwärtigen russischen Präsidenten, W. Putin, dann mehr als fragwürdig erscheint. Selbst wenn R. Kadyrow loyal zur russischen Staatlichkeit stünde, heißt das nicht, dass Kadyrow seine Macht dauerhaft sichern könnte, wenn sein bisheriger Schutzgarant W. Putin wegfiele.
Mit einem erneuten Aufbrechen eines Bürgerkrieges in Tschetschenien könnte ein separatistischer Dominoeffekt entstehen
– zunächst in den föderalen Subjekten des Kaukasus und ggf. darüber hinaus bis hin zur Dismembration der russischen Föderation.

Und tatsächlich wird in westlichen Redaktionsstuben und vielleicht auch Thinktanks und politischen Organisationen über die Zerschlagung der russischen Föderation spekuliert. Die Aussage des US-amerikanischen Verteidigungsministers Austin, „wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu etwas wie diesem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist“, offeriert sehr viel Interpretationsspielraum.
Diese Aussage muss nicht als der Wille zur Zerschlagung Russlands interpretiert werden, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden – oder zumindest als nette Nebenwirkung nicht unwillkommen sein. Andere westliche Akteure reden da bereits Klartext unter dem Begriff „de-colonizing Russia“. So veröffentlichte das US-amerikanische Magazin „The Atlantic“ am 27. Mai 2022 einen Beitrag mit dem Titel „Decolonize Russia“.

Darin wird von „kolonialen Besitztümern“ des Kremls gesprochen und namentlich Tschetschenien, Tartastan, aber sogar Sibirien und die Arktis erwähnt. Der Autor C. Michel fordert, der Westen müsse das 1991 begonnene Projekt (gemeint ist die Auflösung der Sowjetunion) zu Ende führen.
Weiter: Der Kreml müsse sein Imperium verlieren, um das Risiko weiterer Kriege zu vermeiden, womit gedanklich an Austins Forderung der Schwächung Russlands zwecks Verhinderung seiner Kriegsfähigkeit angeknüpft wird.
csce-logoInwiefern diese Forderungen im politischen Washington diskutiert werden, zeigt sich an einem online-briefing unter dem Titel:
„DECOLONIZING RUSSIA – A Moral and Strategic Imperative“veranstaltet am 23. Juni 2022 durch die sogenannte „Commission on Security and Cooperation in Europe“ – auch bekannt als US-Helsinki-Kommission. Einer der Panelisten war der oben bereits erwähnte C. Michel.

Diese Institution ist nicht irgendein Thinktank oder eine regierungsseitig finanzierte NGO. Es handelt sich hierbei um eine staatliche bzw. eine Regierungskommission (csce.gov), deren Mitglieder nahezu vollständig aus den beiden US-Kongresskammern, dem Senat und dem Abgeordnetenhaus, entsandt werden. Sie werden vom US-Präsidenten, dem US-Außen­ministerium, dem Pentagon (US-Verteidigungsministerium), dem Handelsministerium und den Präsidenten des US-Senats sowie dem Sprecher des Repräsentantenhauses bestimmt.
Die US-Helsinki-Kommission beschreibt ihren Charakter als eine „unabhängige US-Regierungs­kommission, welche amerikanische nationale Sicherheit und nationale Interessen voranbringt durch die Förderung von Menschenrechten, militärischer Sicherheit und wirtschaftlicher Zusammenarbeit in 57 Staaten“. Die US-Kommission versteht sich somit als selbstmandatierter Hüter der OSZE und deren Ziele – ist mithin kein OSZE-Organ.

Und diese Kommission debattiert ernsthaft über die Zerlegung Russlands. Dass diese Diskussion über eine Zerschlagung der russischen Staatlichkeit Moskau nicht verborgen bleibt, versteht sich von selbst.
So verkündete Russland jüngst eine aktualisierte außenpolitische Strategie, in der der Westen als „existenzielle Bedrohung” für Russland qualifiziert wird sowie die Absicht, die „Dominanz der Vereinigten Staaten und anderer unfreundlicher Länder in der Weltpolitik“ zu beseitigen.

Die Niederlage Russlands würde einen Prozess beschleunigen und intensivieren, der für Russland ein zentrales Motiv für den Krieg gegen die Ukraine darstellt. Erstens die fortgesetzte NATO-Erweiterung – auch weiter in den post-sowjetischen Raum hinein.
Und zweitens würde die Ukraine zu einem hochgerüsteten anti-russischen Bollwerk mit dem Image, Russland besiegt zu haben, ausgebaut. Westliche, vor allem US-amerikanische und polnische Truppen würden direkt an der Grenze Russlands stationiert werden.
Ein für Russland dauerhaftes Trauma. Bereits jetzt hat sich die NATO mit der Aufnahme Finnlands um weitere 1.300 Kilometer an der russischen Grenze erweitert.

Szenario 2: Niederlage der Ukraine

Die Niederlage der Ukraine wäre auch angesichts des Stellvertreterkrieges eine Niederlage des Westens. Es hätte massive Auswirkungen auf das Image der USA als Supermacht, der NATO als größte und mächtigste Militärallianz der Menschheitsgeschichte, der EU als europäisches Integrationsprojekt und der Ambition, unter Führung der USA ein Juniorglobalplayer zu sein.
Es hätte Auswirkungen im Verhältnis der europäischen, insbesondere der osteuropäischen Staaten zu Russland. Auch wenn die NATO- und EU-Mitgliedsstaaten angesichts des Krieges näher zusammengerückt sind, muss es kein Dauerzustand werden. Diese beiden internationalen Regierungsorganisationen bestehen aus Nationalstaaten mit eigentlich auch jeweiligen nationalen Interessen.
So schert beispielsweise Ungarn immer wieder aus dem Chor aus und unterhält bilaterale Sonderbeziehungen mit Russland, wie jüngst mit der Sicherung zusätzlicher Energieströme, was von den westlichen Partnern nicht mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wird. Doch im Einzelnen:

USA

Der relative Machtverlust der USA im globalen System würde beschleunigt. Nicht zuletzt dürfte der fluchtartige Rückzug der USA aus Afghanistan 2021 dazu beigetragen haben, dass die USA als kein zuverlässiger Schutzfaktor mehr wahrgenommen werden.
Der Einfluss der USA selbst auf historische Verbündete wie Saudi-Arabien nimmt bereits jetzt ab. Saudi-Ara­bien scheint sich auf Verhandlungsinitiative Chinas mit dem Iran auszusöhnen, und plötzlich ist der Frieden für den Jemen möglich. Syrien und das NATO-Mitglied Türkei nähern sich unter russischer Vermittlung wieder an. In beiden Fällen spielen die USA nicht nur keine Rolle, sondern die Vermittlungen unterlaufen sogar die geopolitischen Interessen Washingtons.
Die OPEC+ hat kürzlich beschlossen, die Fördermengen, wie von den USA gefordert, nicht zu erhöhen, sondern, wie von Russland gewollt, abzusenken.
Die De-Dollarisierung, also der Abbau der Nutzung des US-Dollars für den internationalen Handel, nimmt immer schnellere Formen an. Immer mehr Staaten finanzieren ihren bilateralen Handel mit ihren Nationalwährungen. Das Zahlungssystem SWIFT erhält perspektivisch Konkurrenz, sodass die nicht-westliche Welt künftig sich dem Sanktionsdruck der USA auch in diesem Bereich immer mehr zu entziehen vermag, womit das inflationär verwendete Schwert der US-Sanktions­politik zur Disziplinierung unbotmäßiger Staaten an Effektivität verlieren wird.

Mit diesen Maßnahmen schwinden die Einflussmöglichkeiten und gleichsam die Einnahmen der USA, womit sich mittelfristig die Frage stellen wird, ob die USA ihre Militärausgaben (858 Mrd. US-Dollar im laufenden Haushaltsjahr 2023) weiterhin stemmen werden können, ob sie die nahezu 1.000 US-Militärstandorte auf den diversen Kontinenten, mit denen die USA ihre militärische Macht projizieren, weiter unterhalten können, etc.

NATO

Dieser US-amerikanische Machtverlust wirkte sich unmittelbar auf die Kohärenz der NATO aus. Es setzten sich vermutlich zentrifugale Kräfte frei, da das Image der NATO, die diesen Krieg selbst zum Schicksal ihres Seins erklärt hat, als wirkmächtigste Militärallianz in der Menschheitsgeschichte effektiv beschädigt wäre und sodann eine nie dagewesene Legitimationskrise erzeugte.
Wenn 31 Mitgliedsstaaten mit einem Militärbudget von über 1,175 Billionen US-Dollar (Stand 2021), davon alleine die USA 801 Mrd. US-Dollar (Stand 2021), und einem Gesamt-BIP von nahezu 40 Billionen US-Dollar (Stand 2021) im Vergleich zu Russland mit einem Militärbudget von 66 Mrd. US-Dollar (Stand 2021) und einem BIP mit vergleichbar mageren 1,8 Billionen US-Dollar (Stand 2021) eine Niederlage einfahren, dann hinterlässt dies einen katastrophalen Eindruck auf den Rest der Welt.

Europäische Union

Die EU, die sich derweil zunehmend an den USA ausrichtet und sich den US-Vorgaben bereitwillig fügt, müsste sich angesichts einer westlichen Niederlage im Sinne des Aspekts einer echten europäischen Souveränität wohl neu erfinden, will sie nicht in die absolute Bedeutungslosigkeit stürzen.
Vielleicht würden im Falle einer Niederlage die Vorstellungen des französischen Präsidenten E. Macron von einem selbstständigeren Europa dann doch auch konstruktive Debatten in den übrigen europäischen Hauptstädten und in Brüssel entfalten, statt sie durch gesinnungsethische Reflexe als quasi Hochverrat zu brandmarken.
Sollte der künftige US-Präsident wieder D. Trump heißen oder jemand von seinem Typus, müsste diese Debatte in Europa ohnehin nolens volens alsbald geführt werden
. Für ein souveränes und selbstständiges Europa zu sein, heißt nicht gegen die USA zu sein, es sei denn, man betrachtet alles jenseits der Unterwerfung unter die USA als anti-amerikanisch. Dass es solch unterkomplexes Denken gibt, zeigen die gegenwärtigen Reaktionen auf Macrons Äußerungen.

Russland würde als Sieger hingegen vermutlich bestrebt sein, entweder die EU zu zerlegen und zu den europäischen Staaten jeweils bilaterale Beziehungen gemäß den russischen Interessen aufzubauen. Oder aber sich die EU gefügig zu machen, um einen „unfreundlichen“ Akteur dauerhaft auszuschalten.
Eine EU ist weder unter US-amerikanischer noch unter russischer Führung für uns Europäer wünschenswert – unsere Interessen sind bei seriöser Betrachtung weder mit denen Russlands noch mit denen der USA deckungsgleich.

Fazit

Der Epochenwandel von der unipolaren westlichen hin zu einer multipolaren Weltordnung wird durch eine kriegerische Unordnung begleitet.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und der damit einhergehende Stellvertreterkrieg sind eindeutige – zwar nicht zwangsläufige, jedoch erwartbare – Symptome des Epochenwandels. Zugleich manifestiert und beschleunigt der Krieg den Epochenwandel. Selbst wenn Russland den Krieg mit all den oben genannten möglichen Konsequenzen verlieren sollte, scheint mir der Entwicklungsprozess hin zu einer neuen multipolaren Weltordnung, in der China und der Globale Süden als Kraftzentren die internationale Ordnung mitgestalten werden, unaufhaltsam.
Eine Niederlage Russlands würde sicherlich den Transformationsprozess verlangsamen und vor allem China in eine schwierige Situation bringen, da der große Partner im Norden, also Russland, wegfiele
. Ein zerlegtes oder gar ein pro-westliches Russland stellte für China das Worst-case-Szenario in den geo-, sicherheits- und energiepolitischen Entwicklungen dar.

Der Westen würde im Falle einer Niederlage in atemberaubendem Tempo an globaler Macht einbüßen. Internationale Regierungsorganisationen, die aufgrund westlicher Blockade sich den neuen Machtverhältnissen nicht anpassten, würden durch neue internationale Foren und Institutionen unter Führung der BRICS-Staaten marginalisiert.

Schon jetzt sind die G20 relevanter als die G7. Schon jetzt wenden sich immer mehr Staaten aus allen Kontinenten dem BRICS-Format zu.

Beide Maximalziele, die mögliche Zerschlagung der russischen Staatlichkeit auf der einen sowie die „Beseitigung“ der westlichen Dominanz auf der anderen Seite, zeigen zwei Dinge: Erstens, es handelt sich, wie kritische Beobachter von Anfang an feststellten, eben nicht nur um einen ukrainisch-russischen Regionalkrieg, sondern auch und vor allem um einen geopolitischen Weltordnungskrieg zwischen dem Westen und Russland und ggf. weiteren Staaten der nicht-westlichen Welt.
Und zweitens, die Entschlossenheit beider Seiten wirkt wie zwei aufeinanderzu rasende Züge, bei denen jeweils die Bremsen zuvor mit Absicht ausgebaut wurden, um der Gegenseite die eigene Entschlossenheit zu demonstrieren – keine gute Perspektive für den Weltfrieden.

Bei Russland geht es in diesem Konflikt als Minimalziel um die Sicherung des Status als Großmacht sowie den Anspruch, dass seine Sicherheitsinteressen und somit seine staatliche Existenz berücksichtigt werden – maximal um die Beseitigung der westlichen Globaldominanz und, wenn möglich, um die Kontrolle über den post-sowjetischen Bereich und über Europa.

Für den Westen geht es um das Anhalten und bestenfalls Zurückdrehen der Uhr in Richtung der von den USA geführten unipolaren Weltordnung.
Mindestens aber um das staatliche Überleben der Ukraine und ihrer wie auch immer gearteten Anbindung an EU und NATO.

Die Realität einer Niederlage für die eine oder andere Seite wird jeweils irgendwo im breiten Spektrum liegen.

 Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

Wie recht er doch hatte: Fritz Pleitgen über die Ukraine-Krise im Jahr 2014

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus der SChweiz kommt eine Erinnerung:
https://globalbridge.ch/wir-recht-er-doch-hatte-fritz-pleitgen-ueber-die-ukraine-krise-im-jahr-2014/

Auszüge:

(Red.) Fritz Ferdinand Pleitgen, geboren 1938 in Duisburg und gestorben am 15. September 2022 in Köln, war mehr als nur ein prominenter Journalist. Von 1995 bis 2007 war Pleitgen Intendant des Westdeutschen Rundfunks, von 2001 bis 2002 Vorsitzender der ARD und von 2006 bis 2008 Präsident der Europäischen Rundfunkunion EBU. Vor allem aber war er ein blitzgescheiter Beobachter, Analyst und Kommentator.
Im Herbst 2014 schrieb er für die damalige deutsche Vierteljahreszeitschrift DIE GAZETTE einen Beitrag über die Ukraine-Krise unter der Headline «Das EU-Abkommen als Provokation». Hätten die deutschen Politiker diesen Artikel gelesen, zu verstehen versucht und in großer Schrift übers Bett gehängt, wir hätten heute keinen Krieg in der Ukraine.
Es lohnt sich, diesen Artikel heute nochmals zu lesen, um zu verstehen, warum die westlichen politischen Decision-Makers heute eine völlig falsche und vor allem hochgefährliche Politik betreiben.(cm)

Die westlichen Regierungen – und leider auch fast alle westlichen Medien – machen es sich einfach: Die Ukraine-Krise ist allein Putins Werk.
Doch ganz so simpel ist es nicht. Die EU hat mit ihrer Forderung an die Ukraine, sich in ihrer Ausrichtung zwischen der EU und Russland zu entscheiden, die ukrainischen Eigenheiten und Realitäten klar missachtet. Die damit entstandene Zerreißprobe geht aufs Konto der EU.

In der Ukraine-Krise haben wir ein eindeutiges Bild. Die Guten sind im Westen, der Schurke sitzt im Kreml.
Die Sichtweise ist praktisch. Mag die Situation immer komplizierter werden, mögen die Ereignisse eine unfassbare Dynamik entfalten, wir haben ein sicheres Urteil: hinter allem Übel steckt Putin, der russische Präsident. Von Anfang an!

Die Vorwürfe, die gegenüber Wladimir Putin erhoben werden, sind in der Tat schwerwiegend. Die Annexion der Krim, die nach einer Volksabstimmung unter Bedingungen einer militärischen Besetzung durchgezogen wurde, ist mit den Prinzipien KSZE-Schlussakte von Helsinki nicht zu vereinbaren. Das Gleiche gilt für die militärische Unterstützung der Separatisten im souveränen Nachbarstaat Ukraine. Wenn Vorgänge dieser Art akzeptierte Praxis werden, dann geht Europa mit Sicherheit schweren Zeiten entgegen.

Aber wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Wenn sich Historiker künftiger Generationen frei von Emotionen und Vorurteilen mit der Ukraine-Krise beschäftigen sollten, dann werden sie den Westen kaum von erheblicher Mitschuld freisprechen können.
Sie werden, so fürchte ich, mit wissenschaftlicher Kühle feststellen, dass die schwerste Ost/ West-Krise seit dem Berliner Mauerbau durch das Vorhaben der Europäischen Union ausgelöst wurde, ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abzuschließen.

Was hat die EU falsch gemacht? Sie hat, um es mit den Worten des deutschen Sicherheitsexperten Wolfgang Ischinger zu sagen, die Ukraine-Verhandlungen betrieben, als handele es sich um einen Staat wie Island. Wohl wahr!
Der Vergleich macht die Fahrlässigkeit deutlich, mit der die Europäische Union vorgegangen ist. Von allen potenziellen Assoziierungskandidaten war und ist die Ukraine, was die innere Verfassung und die geopolitische Lage angeht, der mit Abstand problematischste.

In dem Land am Dnjepr hat sich zwar seit dem 19. Jahrhundert eine nationale Identität entwickelt, aber geschichtlich, religiös und kulturell ist es alles andere als homogen. Durch die Ukraine verläuft, so der Historiker Heinrich August Winkler, die historische Grenze zwischen dem lateinischen und dem orthodoxen Europa. Der eine und größere Teil will nach Westen, der andere ist eher Russland zugewandt.

Die Ukraine, ein Staat in fragiler Verfassung

Geschichtlich hat das Land seit der Kiewer Rus mit 1 500 Jahren zwar eine beachtliche Strecke zurückgelegt, aber als unabhängige staatliche Einheit ist es mit gut zwei Jahrzehnten noch blutjung und auf Grund seiner Geschichte entsprechend ungefestigt.
Der Ukraine wäre noch einige Zeit zu gönnen gewesen, um zu einer geschlossenen nationalen Identität zu finden. Ein Staat in dieser fragilen Verfassung hätte vernünftigerweise nicht einer extremen Zerreißprobe ausgesetzt werden dürfen.

Verbietet sich deshalb ein Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine? Keineswegs! Es kommt auf die Umstände an.
Das Land gehört zweifelsfrei zu Europa. Es befindet sich in größten wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, es braucht dringend Hilfe. Aber Hilfe für einen Staat ist nicht so einfach.
Die EU hat es bislang nicht geschafft, trotz des Einsatzes von Milliarden Euro das kleine Griechenland aus dem Schlamassel zu holen. *) Wie soll das für die weit größere Ukraine mit ihren noch grundsätzlicheren Problemen funktionieren?

Für eine wirkungsvolle Unterstützung müssten die bestmöglichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Im Fall der Ukraine wurden sie eher abgeschafft.
Das Land benötigt für seine wirtschaftliche Gesundung mit Sicherheit auch den russischen Markt, mit dem es bislang eng verflochten war.
In den Ländern der EU werden sich die ukrainischen Produkte schwer absetzen lassen. Deshalb wäre es ratsam gewesen, für ein Assoziierungsabkommen ein Konzept zu entwickeln, das Russland in einer erträglichen Form mit einschließt.

Nun haben wir Konfrontation statt Gemeinsamkeit. Dass es so gekommen ist, daran trägt nach gängiger westlicher Darstellung und Überzeugung allein Putin Schuld. Stimmt das?
Man muss kein Globalstratege wie Henry Kissinger sein, um zu wissen, dass kluge internationale Politik nicht nur die Interessen der unmittelbar Beteiligten berücksichtigt, sondern auch die des Umfelds.

Kalkül ohne Berücksichtigung des Umfeldes

Der Westen ist über dieses Prinzip in verblüffend sträflicher Weise hinweggegangen. Die Europäische Union hat nicht nur ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, sondern ebenfalls mit Georgien und Moldawien vorbereitet und inzwischen auch politisch abgeschlossen. Dadurch wird der Status quo in Europa einseitig verändert, weil der Westen mit einem Schlag direkt an die Grenzen von Russland vorrückt.
Im vorigen Jahrhundert wäre eine Veränderung des Status quo gleich um mehrere hundert Kilometer ein Kriegsgrund gewesen – für Ost wie für West.

Nach zwei fürchterlichen Weltkriegen und einem zuweilen beängstigenden Kalten Krieg, in dem beide Seiten nicht einen Millimeter ihres jeweiligen Herrschaftsbereichs preisgaben, ist das nonchalante Vorgehen des Westens erstaunlich. Man mag sich wenig Böses dabei gedacht haben, aber Putin hat es sicher getan. Russische Herrscher sind misstrauische Gesellen. Seitdem ihr Land von den Mongolen überrannt wurde, pflegen sie eine chronische Empfindsamkeit in Sicherheitsfragen.

Nicht von ungefähr wird der 4. November in Erinnerung an die Befreiung von den polnischen Besatzern 1612 als ein nationaler Feiertag begangen. 1612, das ist über 400 Jahre her. Daran heute noch mit einem Feiertag zu erinnern, erscheint uns im Westen seltsam.
Aber diese Art von Geschichtspflege ist für Russland symptomatisch. Der Argwohn vor der Gefahr von außen gehört zum Wesen der Moskauer Politik. Zwei Invasionen (Frankreich und Deutschland), die fast zum Untergang des Staates führten, haben das Misstrauen gegenüber dem Westen nachhaltig bestätigt.
Im politischen Umgang mit Moskau sollten diese historischen Erfahrungen der Russen nicht außer Acht gelassen werden.

Empfindsamkeit in Sicherheitsfragen ist nicht allein eine russische Spezialität. Auch die USA zeichnen sich dadurch aus.
Beispiele gibt es dafür genug. Kuba wird seit Jahrzehnten boykottiert, das harmlose Karibik-Inselchen Grenada wurde mit einem Krieg überzogen und gegen die Sandinistas in Nikaragua wurde mit den Contras interveniert, um sich den Kommunismus vom Leib zu halten.

Große Mächte können höchst unangenehme Nachbarn sein. Die Balten und Polen haben überaus schlechte Erfahrungen mit Russland gemacht. Ihr Bedürfnis, endlich in sicheren Verhältnissen zu leben, ist deshalb mehr als verständlich. Entsprechend gerechtfertigt war die Aufnahme in die Nato.
Dadurch steht das westliche Militärbündnis jetzt vor den Toren von St. Petersburg, zumindest politisch. Russland hat das bislang hingenommen, sicher ohne Begeisterung.
Jeder Schritt, der darüber hinausgeht, sollte wohl überlegt und gut abgesprochen sein. Die drei Assoziierungsabkommen sind mehr als ein Schritt, sie sind, um im Bild zu bleiben, ein gewaltiger Satz. Mit Georgien, Moldawien und der Ukraine wechseln gleich drei ehemalige Sowjetrepubliken, die jahrhundertelang von Russland beherrscht wurden, in den Westen; auf eigenen Wunsch.

Für Moskau bedeutet die Entscheidung der drei Nachbarn nicht nur einen schweren Prestigeverlust, sondern auch geopolitisch eine beachtliche Schwächung. Wieso? In den Assoziierungsabkommen geht es zwar im Wesentlichen um Wirtschaft, aber auch um die Abstimmung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, was prompt den russischen Argwohn vor der Einkreisung durch den Westen weckte.

Kiew – Mutter der russischen Städte

Dass sich Georgien und Moldawien in die Obhut der EU begeben, hat Moskau mehr oder weniger hingenommen. Aber die Ukraine im westlichen Lager?
Das war und ist dem Kreml und auch großen Teilen der russischen Bevölkerung zu viel. Die Ukraine ist für Russland nicht ein Land wie jedes andere.
Mit der Ukraine, insbesondere mit dem Osten, verbinden die Russen enge wirtschaftliche und familiäre Beziehungen, vor allem aber gemeinsame Geschichte. Nicht von ungefähr gilt Kiew als die Mutter aller russischen Städte.

Der kritischste Punkt im Tauziehen um die Ukraine zwischen dem Westen und Russland war die Krim mit Sewastopol, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Es war klar, dass der Hafen bei einem Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU quasi unter westliche Kontrolle geraten würde.
Es war auch klar, dass Putin dies niemals zulassen würde. Aber ungeachtet dieses Gefahrenpotentials blieb Brüssel bei seiner unmissverständlichen Alternative für Kiew: entweder EU oder Russland. Ein gemeinsames Konzept wurde nicht ausgelotet. Wie es weitergegangen ist, wissen wir.

Es bietet sich nun an, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Der Westen hat seine Ziele, den Abschluss der Assoziierungsabkommen, durchgesetzt. Die jetzige Führung in der Ukraine hat erreicht, was sie wollte: die Anbindung an die EU.
Der größte Scoop scheint Putin mit der Kaperung der Krim gelungen zu sein.
Auf den ersten Blick also allesamt Gewinner. Aber um welchen Preis?
Die Beziehungen des Westens zu Russland stecken in einer gefährlichen Sackgasse; zu eigenen Lasten und zum Nachteil der internationalen Politik. Zusammenarbeit zur Lösung unerträglicher Krisen, wie in Syrien, findet nicht statt.

Die Ukraine hat über das Assoziierungsabkommen die Krim verloren; ob dauerhaft, wird sich herausstellen. Überdies befindet sie sich in einem mörderischen Bürgerkrieg, um die Herrschaft über den Osten des Landes wiederzugewinnen. Die Wirtschaft geht darüber mehr und mehr zugrunde.
Und Putin? Er hat demnächst den Westen direkt vor seiner Tür, was nicht ohne Auswirkungen auf die künftige Entwicklung Russlands sein wird, was zu einer Frage von „to be or not to be“ werden könnte.
Diese Aussicht macht uns seine Reaktionen sicher nicht sympathischer, aber vielleicht verständlicher.

Die Suche nach Gemeinsamkeiten blieb aus

Angesichts dieser Bilanz lässt sich feststellen, dass von keiner Seite politische Spitzenleistungen vollbracht wurden, zumal Reaktion und Gegenreaktion vorherzusehen waren. Es ist schulbuchmäßig gekommen, wie es nicht hätte kommen dürfen.
Entsprechend hoch sind die Verluste. Statt Gemeinsamkeiten zu suchen, schaukelte man sich gegenseitig in eine gefährliche Krise hoch.
Die westlichen Sanktionen schaden massiv der russischen Wirtschaft, werden Putin aber nicht zum Beidrehen zwingen. Prominente Vertreter der geistigen Elite Russlands äußern zwar beißende Kritik am Kurs des Kremls, doch Putin erhält auch vehemente Zustimmung aus Kunst und Kultur und aus der Bevölkerung sowieso. Mit ihrer entfesselten Propaganda tragen die führenden Medien zu dieser Einstellung entschieden bei.

Russland fühlt sich missverstanden

Das Gefühl, vom Westen auf bösartige Weise missverstanden und verleumdet zu werden, ist nichts Neues in Russland. Selbst Feingeister wie Alexander Puschkin fühlten sich zu heftigen Zurechtweisungen des Westens aufgerufen.
Als 1831 russische Truppen in Warschau brutal gegen den Aufstand polnischer Offiziere und Soldaten vorgingen und deswegen im Westen, insbesondere in der französischen Deputiertenkammer, scharfe Proteste auslösten, feuerte der größte aller russischen Dichter eine Breitseite auf „die Verleumder Russlands“, die es in sich hat. In diesem Gedicht heißt es:

„Die Ihr mit Worten droht, versucht’s nur nicht mit Taten!
Der alte Recke ist nicht auf dem Bett erschlafft!
Greift er zum Bajonett, dann zeigt er seine Kraft.
Reizt Russlands Zaren nicht! Ihr wäret schlecht beraten!
Mag ganz Europa uns bekriegen,
Der Russe weiß, wie stets, zu siegen.“

Ähnlich ist es aus dem Russland von heute zu vernehmen.

Da in der jetzigen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland viel zu verlieren ist, bietet es sich an, das lateinische Sprichwort zu beachten: was immer Du tust, handele klug und bedenke das Ende.
Wir können natürlich zu immer härteren Strafmaßnahmen greifen, auch militärische Optionen wahrnehmen, aber wir müssen davon ausgehen, dass Putin ebenso hart dagegenhalten wird, zumal für ihn mehr auf dem Spiel steht als für den Westen.
Wo das endet, weiß niemand. Sicher ist nur, dass Fragen des Völkerrechts bei einer solchen Entwicklung immer weniger eine Rolle spielen werden.

Nichts ist unmöglich

Meine Hoffnungen ruhen auf der deutschen Regierung. In dem Konflikt mit Russland beweist sie bislang Augenmaß und Weitsicht. Dadurch sind Überreaktionen vermieden und der Kontakt zu Moskau gehalten worden.
Zusammen mit ihren Ukraine-erprobten Partnern Frankreich und Polen sollte die Regierung in Berlin den Westen dazu bringen, gemeinsam mit Moskau drei Ziele anzustreben: Waffenstillstand, demokratische Hoheit Kiews über die Ostukraine und ein vernünftiges Verhältnis zu Russland. Naive Träumerei?
Nichts ist unmöglich! Im Kalten Krieg galt das Problem Berlin als unlösbar und als unberechenbarer Gefahrenherd für einen Atomkrieg. Ständig kam es darüber zu brisanten Ost-West-Krisen. Doch dann setzten sich die vier Siegermächte zusammen und schafften eine Lösung. Die Kriegsgefahr war gebannt und das Leben in der geteilten Stadt wurde erträglich.

Wäre heute ein solcher Durchbruch in der Ukraine-Krise möglich? Sicher, insbesondere der Ukraine wäre es zu wünschen.
Aber ich fürchte, man wird es weiter auf beiden Seiten mit Druck und immer schärferen Strafaktionen versuchen. Das ist bequemer als neue Wege zu gehen, um eine Friedensordnung auszuarbeiten, die allen gerecht wird.

Zum Originalartikel von Fritz Pleitgen in «DIE GAZETTE» Nr. 43 Herbst 2014 als PDF hier anklicken.
Christian Müller, Herausgeber der Plattform «Globalbridge.ch, war damals Chefredakteur der deutschen Vierteljahreszeitschrift «DIE GAZETTE».

*) Ich stelle sehr in Frage, dass die EU mit ihrer Troika das überhaupt wollte. Ein schwaches Griechenland konnte um so besser ausgeplündert werden, z.B. durh FRAPORT, vermittelt von Wolfgang Schäuble.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Paritätischer Armutsbericht 2022: “Zwischen Pandemie und Inflation”

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Siehe: https://www.der-paritaetische.de/themen/sozial-und-europapolitik/armut-und-grundsicherung /armutsbericht-2022-aktualisiert/

Dort auch Methodische Hinweise sowie Fragen und Antworten zum Armutsbericht.
Dabei hatte ich schon 2015 zu berichten:
https://josopon.wordpress.com/2015/05/05/das-zerrissene-land-noch-nie-war-die-armut-in-deutschland-so-hoch-wie-derzeit/

Also, auch mit der „sozialdemokratischen“ Regierung wird es nicht besser.
Auszüge:

Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht.
14,1 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 840.000 mehr als vor der Pandemie.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage und appelliert an die Bundesregierung, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen, das bei den fürsorgerischen Maßnahmen ansetzt: Grundsicherung, Wohngeld und BAföG seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten.

“Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie”, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.

Während 2020 noch die verschiedenen Schutzschilde und Sofortmaßnahmen der Bundesregierung und der Länder dafür sorgten, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs und des rapiden Anstiegs der Arbeitslosigkeit nur relativ moderat anstieg, seien die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie 2021 offenbar voll auf die Armutsentwicklung durchgeschlagen, so die Ergebnisse der Studie.

Auffallend sei ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere Selbständiger (von 9 auf 13 Prozent), die während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten. Armutshöchststände verzeichnen auch Rentner*innen (18,2 Prozent) sowie Kinder und Jugendliche (21,3 Prozent).

Fünf Bundesländer weisen sehr hohe Armutsquoten auf: Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Berlin und das Schlusslicht Bremen, weit abgeschlagen mit einer Armutsquote von 28,2 Prozent. Armutspolitische Problemregion Nr. 1 bleibt dabei das Ruhrgebiet, mit 5,8 Millionen Einwohnerinnen der größte Ballungsraum Deutschlands. Mehr als jeder Fünfte dort lebt in Armut.
In einem Länderranking würde das Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 22,1 Prozent gerade noch vor Bremen auf dem vorletzten Platz liegen.

Galerie:

Armuts- und Wirtschaftsentwicklung

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Armutsquote, SGB II-Quote und Arbeitslosenquote (in %)Armutsbericht_aktualisiert_Grafik_2.png

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Armutsquote (in %) – Ranking nach Bundesländern

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Veränderung der Armutsquote in den Bundesländern 2020-2021 (in %)

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Der Verband fordert die Ampel-Koalition zu rigiden und wirkungsvollen Maßnahmen gegen die rapide steigende Armut in Deutschland auf.
Ulrich Schneider: “Angesichts der Entwicklungen des vergangenen Jahres ist erst recht keine Zeit zu verlieren, um die wachsende Not zu lindern. Die Armut wird nicht nur immer größer, sondern mit den explodierenden Preisen auch immer tiefer. Von zentraler Bedeutung sind eine spürbare Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und Altersgrundsicherung von jetzt 502 auf 725 Euro, eine existenzsichernde Anhebung des BAföG und die zügige Einführung der Kindergrundsicherung.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Zum 10. Todestag von Hugo Chavez: Wegbereiter für eine multipolare Welt

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus der Neuen Rheinischen Zeitung http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28513
Von Elke Zwinge-Makamizile

Am 5. März 2023 war der 10. Todestag von Hugo Chavez. Er wurde nur 59 Jahre alt. Es gab Stimmen, die einen natürlichen Tod bezweifelten, so Evo Morales und Eva Golinger: „Chavez forderte die mächtigsten Interessen heraus und beugte sich nicht. Ich glaube, dass er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ermordet wurde.“ *)
1989 gehörte Chavez zu der Gruppe von Militärs, die die neoliberale Ausbeutung und große Verelendung, gefördert durch den IWF, bekämpfte. Chavez war führend beim blutig niedergeschlagenen Aufstand Caracazo. Er wurde verhaftet. Unter politischem Druck freigelassen, konnte er 1998 mit großer Mehrheit zum Staatspräsidenten gewählt werden. In Venezuela begann der Aufbruch zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
In Europa fielen die Bomben im völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien, ein Türöffner für weitere Kriege. Chavez erste Amtshandlung war die Einbeziehung der Bevölkerung in die Gstaltung einer neuen Verfassung als Grundlage einer neuen gesellschaftlichen Realität.
In einer nie vorher gekannten Partizipation der einfachen Bevölkerung, die ihre Würde zurückbekam, wurde über ein Referendum die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela im Jahre 2000 verabschiedet. Damit war der erste Schritt zur Abkoppelung von den USA, die Lateinamerika als ihren Hinterhof betrachtete und behandelte, vollzogen.
Der Bezug auf Simon Bolivar, Freiheitskämpfer für ein vereintes Lateinamerika gegen die spanische Kolonialmacht, wurde zum Programm einer Entkolonialisierung gegen die Vorherrschaft der USA.
Die USA hat über 100 Interventionen in Lateinamerika durchgeführt, darunter der Putsch gegen die sozialistische Regierung Chiles, auch den Putschversuch gegen Chavez 2002. Es gibt über 40 US-Militärstützpunkte allein in diesem Subkontinent. In der Regierungszeit von Hugo Chavez kamen weitere US-Militärstützpunkte um Venezuela herum (in Kolumbien) hinzu.

Das Programm eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts nahm unter Hugo Chavez Gestalt an. Die Armutsrate wurde heruntergefahren. Es erfolgte eine Alphabetisierung mit der Unterstützung Cubas.
Die Unesco bescheinigte große Fortschritte bei den Milleniumszielen. Die in der Verfassung verankerten partizipativen demokratischen Rechte und Arbeitsrechte wurden schrittweise realisiert.

2004 gründeten Venezuela und Cuba die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA). Es war die Alternative zu der von den USA geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA. ALBA ist ein Bündnis neuartiger wirtschaftlicher Beziehungen durch Kompensationabkommen. Kulturelle und politische Kooperationen werden zur gegenseitigen Stärkung ausgebaut.
Es entstehen neue Finanzstrukturen mit regionaler eigener Währung (der Sucre) und staatlich kontrollierte Banken.
Die Bank des Südens war Vorreiter der später mit den BRICS-Staaten vorangetriebenen Entwicklungsbanken wie die AIIB mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße.

Das ALBA-Bündnis umfasste die fortschrittlichen Länder Bolivien, Nicaragua, Ecuador und Honduras (bis zum US-Putsch) und mehrere karibische Inselstaaten. Mit den BRICS-Staaten und der Shanghai-Kooperation entstand ein bedeutendes Gegengewicht zur unipolaren Welt der USA.
Die von den USA dominierte OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) verlor mit dieser globalen Entwicklung bedeutend an Einfluss.

Eine der letzten Amtshandlungen Hugo Chavez war die Gründung von CELAC (Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten) als souveräne Organisation der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, ohne die USA und Kanada, eine Alternative zur OAS. Die Länder entscheiden laut Satzung souverän über ihre natürlichen Ressourcen und ihre Politik.
Auftrag ist die Bekämpfung von Armut und Hunger, Verzicht auf Nutzung von Atomwaffen und Ablehnung von politischen und militärischen Interventionen von außen (alles Punkte, die sich auch in der Verfassung Venezuelas finden).

CELAC erklärt Lateinamerika zur Zone des Friedens! Nach einer Zeit der Inaktivität ist mit den globalen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse zugunsten einer Kooperation zwischen den Ländern des Südens durch die Zusammenarbeit mit China auch eine Neubelebung von CELAC erfolgt. Die Sanktionen gegen Venezuela und Cuba werden abgelehnt.
Es ist bekannt, dass diejenigen Staaten, die sich der unipolaren Welt, den USA und NATO-Ländern widersetzen wie Cuba, Venezuela, Syrien, Iran, Nordkorea, Belarus und seit 2022 insbesondere Russland mit völkerrechtswidrigen Sanktionen bestraft werden. Zentraler Begriff beim Treffen von CELAC in Buenos Aires dieses Jahr ist die Multipolarität. Die Prinzipien von Nichteinmischung und Selbstbestimmung sind seit der Konferenz von Bandung 1955 völkerrechtliche Prinzipien zur Entkolonialisierung, auch wenn die einzelnen Staaten recht unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen und auch Abhängigkeiten von den USA bedienen.

Noch einmal zu Cuba und Venezuela, zu Hugo Chavez und Fidel Castro! Ihre langjährigen politischen und persönlichen Erfahrungen führten zu den gemeinsamen Erkenntnissen, dass es keine kriminelle Tat gibt, die nicht von den mächtigsten Kräften der USA ausgeführt werden würde, wenn es möglich ist, um im Interesse bestimmter Mächtiger zum Ziel zu kommen.
Zur Zeit der Corona-Plandemie gab es vermutlich mehrere Präsidentenmorde. Und auch die Zerstörung von Nordstream ist ein aktuelles Beispiel.

Gegen die dunklen Kräfte ist Hugo Chavez mit vielen anderen Lebenden und Toten auf diesem Subkontinent ein Leuchtturm für die sich emanzipierenden Staaten und deren Bevölkerungen.
Auch wenn die einheimischen Eliten vernetzt mit den Eliten des Nordens dagegen stehen.

Hugo Chavez unkorrumpierbare politische und moralische Stärke speiste sich unter anderem aus der Anklage: „Der Kapitalismus ist eine höllische Maschine, die jede Minute eine beeindruckende Menge an Armen produziert, 26 Millionen Arme in 10 Jahren sind 2,6 Millionen pro Jahr an neuen Armen, das ist der Weg, auch der Weg zur Hölle.“

Hugo Chavez hat mit der Gründung von ALBA einen bedeutenden Anteil an der wiederbelebten Integration Lateinamerikas und der Karibik im Sinne einer Unabhängigkeitsbewegung gegen die Dominanz des Nordens. Die Süd-Süd-Kooperationen mit neuen Strukturen auf allen Ebenen dynamisierten die Entwicklung der multipolaren Welt.

Dokumentarfilm „Venezuela in guter Verfassung“ von Elke Zwinge-Makamizile
https://youtu.be/fWh3mImekTE

Siehe auch:

Die EU-Verfassung und die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela – Zwei unterschiedliche Einstellungen zum Menschen
http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Europa/verf/zwinge.html

*: Die schwere Krebserkrankung Chavez‘ ist gut dokumentiert, leider finde ich den Link nicht mehr.

Zu diesem Thema hier schon 2 ältere Einträge:
https://josopon.wordpress.com/2020/12/25/venezuela-die-boykottierte-parlamentswahl-der-angekundigte-wirtschaftliche-wiederaufbau-und-das-ende-der-juan-guaido-fiktion/

und

https://josopon.wordpress.com/2019/02/28/faktencheck-venezuela-was-in-deutschen-medien-uber-das-sudamerikanische-land-verbreitet-wird-und-wie-es-tatsachlich-aussieht-ein-staatschef-aus-dem-regime-change-labor/
Jochen

Heiner Holl zum Krieg in der Ukraine

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

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Ein langer, lesenswerter, gut verständlicher Text eines viel wissenden Pädagogen

Wie man den Krieg in der Ukraine auch sehen kann und sollte

H_HollHeiner Holl, 25. 2. 2023

Man kann doch nicht – also einfach mir nichts, dir nichts – ein Nachbarland überfallen, was ich selbstverständlich auch genauso sagen würde, wenn es denn so wäre. Diese auch von mir verurteilte Vorgehensweise der russischen Führung, die natürlich nicht nur aus Putin besteht, habe auch ich nicht kommen sehen und war und bin wie die meisten schlicht fassungslos über das Vorgehen Russlands.
Dies kann aber doch nicht als alleinstehend angesehen werden, wie dies durch die Erfindung einer „Zeitenwende“ durch Scholz und seiner Entourage suggeriert werden sollte; leider bei den meisten Menschen auch erfolgreich. Es gibt schlicht keinen einzigen ernst zu nehmenden Hinweis auf Eroberungsgelüste der Mächtigen in Russland, (der jetzige Krieg in der Ukraine hat zu „Einverleibungen“ geführt, ok, das ist sicher auch ein Fehler der Russen). Falls dir welche bekannt sein sollten, bin ich für jede Info sehr dankbar. *) Dazu thematisiert immer wieder z.B. John J. Maersheimer, einer der profiliertesten, angesehensten, unabhängigen, keineswegs linken US-amerikanischen Ökonomen sehr fundiert nachvollziehbar und überzeugend.
Leute wie Roderich Kiesewetter (MdB, CDU) kann sowas aber nicht anfechten. Er und andere Multiplikatoren werden nicht müde, hartnäckig falsch in dieses Horn des angeblich imperialistischen Putin zu blasen. Frau Stramm-Stillgestanden, sorry Strack-Zimmermann, hat mir auf meine Frage, wo denn ein Beleg für ihre wiederholt geäußerten Behauptungen über die Angriffslust der Russen zu finden sei, geantwortet, sie habe sich auf einen Artikel von Putin vom 12.7.21 bezogen. Er habe sich angeblich in dieser Weise ausgelassen.
Auch nach nochmaligem, zweimaligen Lesen dieses ellenlangen durchaus hochinteressanten Artikels konnte ich beim besten Willen nichts finden, das man auch nur annäherungsweise in diese Richtung interpretieren könnte. Ihre Antwort war dann, sie habe nicht wörtlich zitiert, sie habe „paraphrasiert“, auf deutsch also verfälscht, schlicht gelogen.

Jeffrey Sachs, ein weiterer amerikanischer, bedeutender, angesehener, ernst zu nehmender, höchstrangiger Ökonom, Autor, Politik-Analyst, Russland-Kenner und inzwischen auch vehementer Kritiker der US-Präsidenten und Regierungen der vergangenen Jahrzehnte war es, der schon kurz nach dem terroristischen Anschlag auf die Gas-Pipelines mit eindeutigen Vorwürfen gegen die ach so bessere Biden-Regierung hervorgetreten ist.
Seymour Hersh, der wohl bedeutendste investigative, vielfach ausgezeichnete Journalist, hat inzwischen seine Recherche-Ergebnisse vorgelegt: Es waren die Amis, von langer Hand vorbereitet, nach dem (durch die deutschen Grünen herbeigeführten) Stopp der Gaslieferungen durchgeführt und von der deutschen Regierung demütig schwurbelnd hingenommen – was, beabsichtigt, zu unseren heutigen Energie-Hochpreisen geführt hat. Von solchen Leuten hört man in unserer so wunderbar „freien“ Presse so gut wie überhaupt nichts. Warum wohl? Wie sich unsere Regierung in dieser Sache verhält, ist nicht hinnehmbar. Mit der gebetsmühlenhaft vorgetragenen Lüge von den Gas- und Öl-Liefer-Stopps durch Putin hat sie den Unverschämt
heiten der Kriegsgewinnler Tür und Tor geöffnet. Die Zeche zahlen die „Kleinen“, abgesahnt wird in präzedenzloser Weise durch die Superreichen und tatsächlich Mächtigen – wie dies auch durch Oxfam angeprangert wurde. Folgen: natürlich keine.

Apropos: Putin hat sich immer wieder mal ziemlich – auch ausgiebig – mit der Darstellung der Geschichte Russlands beschäftigt, z.B. in dem bereits erwähnten, von vielen genannten, aber wahrscheinlich von den meisten gar nicht gelesenen Artikel vom 12.7.21, oder in seiner Rede vom 21.2.22 im weltweiten Fernsehen. Große Teile widmet er dabei der Überfall-Geschichte Russlands, als Opfer natürlich.

Dass die Wikinger nicht nur die britische Küste, sondern auch das Gebiet des späteren Russlands heimsuchten, also auch schon Täter waren, sei dahingestellt. Die Waräger (Rurik) haben vor über 1000 Jahren jedenfalls die Kiewer Rus gegründet, der Name Russland kommt daher. Das Gebiet der heutigen Ukraine ist somit das historische Ursprungsland Russlands (ähnlich der Kosovo als Herzland Serbiens).

988 wurde die griechisch-orthodoxe christliche Konfession eingeführt; das Zentrum Russlands als Großfürstentum und schließlich Zarenreich verlagerte sich später nach Moskau.
Im Hochmittelalter wurde Russland mehrere Male auf grausamste Weise von den blutrünstigen Reiterhorden der Mongolen überfallen und jahrhundertelang teilweise besetzt gehalten (die Zeit der „Goldenen Horde“ unter anderem).
Nach den Kreuzzügen in Palästina machten sich die „Deutsch-Herren“ (= Kreuzritter) auf, haben das Baltikum erobert, der Nationalheld Alexander Newski konnte sie besiegen. Die Polen errichteten zusammen mit den Litauern ein Riesenreich, das von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer reichte, inklusive auch zeitweise Moskau. An der russisch besiedelten Schwarzmeerküste hatten sich inzwischen die Osmanen breitgemacht, was dann unter Jekaterina Velikaya, also Katarina der Großen zusammen mit der Krim erobert wurde.
Iwan IV, der angeblich „Schreckliche“, konnte endlich im 16. Jahrhundert die Tataren besiegen und hinauswerfen. Dann kam mehr als ein Krieg von Schweden gegen Russland.
Spätestens 1812 kam der Überfall Napoleons, der Krimkrieg 1853-56 ist dann schon auch von Russland als aggressiv gegen das osmanische Reich zu benennen, England und Frankreich mischten sich auf der Seite der geschwächten Osmanen ein. Es ging keineswegs nur um die Krim; eher fast schon ein kleiner Weltkrieg um Land, Ressourcen und Handelsrouten.
1914, nachdem das Deutsche Reich ihm den Krieg erklärt hatte, ging Russland zum Angriff über, musste aber 1918 die Besetzung und Ausplünderung der Ukraine durch das kaiserliche Deutschland nach dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk hinnehmen, inklusive Hungersnot.
Nach der Oktober-Revolution 1917 kam der Bürgerkrieg und die Überfälle von allen Seiten: Amerika, England, Japan, Finnen, auch deutsche Freikorps durften nicht fehlen, die Bedrohung des revolutionären Russland war absolut existentiell. Die neu entstehende Sowjet-Union konnte alle wieder rauswerfen; Stalin als Nachfolger Lenins setzte jetzt alles daran, seinen Staat mit den bekannten brutalsten Methoden verteidigungsbereit zu machen, besonders gegen Nazi-Deutschland, dessen „Führer“ Hitler schon in seinem „Kampf“ die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ und die Vernichtung der „jüdisch-bolschewistischen Herrschaft“ propagiert hatte.
Die sowjetfeindlichen Kulaken usw. der Ukraine mussten in den 30er Jahren den Holodomor, die große Hungersnot erleiden, aber in ähnlichem Ausmaß litten auch große Gebiete Russlands, es ging eben nicht nur gegen die Ukrainer, wie immer wieder behauptet.
Die bolschewistische Innenpolitik war furchtbar, aber nicht alleine nur gegen die feindlich gesinnten Ukrainer gerichtet. Im Winterkrieg 39/40 griff dann die Sowjetunion den Nachbarn Finnland an, weil die nämlich inzwischen zu Waffenbrüdern der deutschen Nazis zu werden drohten. Die Nazis hatten im Nichtangriffspakt Deutschland-Sowjetunion 1939 den Sowjets Finnland und Ostpolen als Interessensphäre überlassen. Beide Gebiete waren zu Zarenzeiten Teile des russischen Reiches gewesen, Ostpolen sogar mehrheitlich (weiß-)russisch besiedelt. Ohne diesen Angriffskrieg der Sowjets wäre Leningrad im GVK (= Großer Vaterländischer Krieg) kaum zu halten gewesen. Die Zahl der Toten nur in dieser einen sowjetischen Stadt, niedergemacht, meist dem Hungertod überlassen durch die immer noch bei vielen Deutschen als „sauber“ empfundenen Wehrmacht (dass die SS noch schlimmer war, macht es nicht besser) überstieg deutlich eine Million Menschen.
Putins Familie gehört zu den Belagerten, sein älterer Bruder kam um. Selbst wenn sich die Stadt ergeben hätte, wären die Bewohner dem Hunger zum Opfer gefallen. Die Deutschen kannten keinerlei Gnade oder Mitleid. Die Nazis hätten die Kapitulation nicht angenommen; das gleiche Schicksal war für Moskau geplant.

Der Generalplan Ost nannte 30 Millionen dem Hungertod zu überlassende slawische Untermenschen alleine in der Sowjetunion (die Zahl wurde ja fast erreicht). Am 27.1.23 (Gedenktag für die Opfer des Nazi-Regimes) wurden von B. Bas im Bundestag eine große Zahl von Menschengruppen als Opfer des NS-Regimes aufgezählt, alles fürchterliche Tatsachen. Nur: die mit weitem Abstand größte Gruppe der Opfer, nämlich die Russen, kamen nur als „slawische Völker“ vor! Wie tief können intelligente Menschen noch sinken?!? Fast vier Millionen Sowjet-Soldaten haben die Deutschen gezielt allein in deutschen Gefangenenlagern an Seuchen verrecken, meist aber verhungern lassen.

Diese Aufzählung der Überfälle auf Russland im Laufe der Jahrhunderte erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit, ist nur das, was mir ganz spontan zu diesem Thema aus dem Gedächtnis einfällt. Existentielle Bedrohung ist für Russen historisch in die Seele gebrannt.
Sie sehen sich seit dem Bruch der Versprechen, die NATO nicht auszudehnen, wieder in einer akuten existentiellen Bedrohungssituation. Vor allem, weil von Seiten der USA inzwischen praktisch alle Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsverträge gekündigt worden sind, in der Zwischenzeit in Polen und Rumänien Raketenstellungen eingerichtet wurden, die praktisch ohne Vorwarnzeit sowohl Moskau als auch St. Petersburg treffen können. Mit der Ukraine als NATO-Mitglied ist diese Bedrohungssituation deutlich gesteigert, wie dies Rußland immer wieder in aller Dringlichkeit und Deutlichkeit erklärt hat.

Als die Sowjetunion 1962 Atomraketen auf Cuba stationieren wollte – als Antwort auf die Stationierung der US-Jupiter-Raketen in der Türkei, drohte Kennedy sofort mit Atomkrieg. Nur weil Chruschtschow nachgab und die Raketen wieder zurückholte, konnte dieses Weltende vermieden, sprich auf unbestimmte Zeit verschoben werden.

Nachdem also zum wiederholten Mal Russland alleine von den Deutschen überfallen und spätestens 1945 im gesamten von der Wehrmacht im Krieg besetzten Gebiet total zerstört worden war, hat die Sowjetführung unter Stalin schon sieben Jahre nach dem ungeheuerlichen Vernichtungskrieg mit geschätzten 27 Millionen getöteten Sowjetmenschen das Angebot unterbreitet, die Deutschen mögen sich doch bitte schön baldigst wiedervereinigen. Die allereinzigste (!) Bedingung war: (Achtung, aufgemerkt!) kein Beitritt zur NATO! Also Bündnis-Neutralität wie Schweiz, Schweden, Österreich, Jugoslawien usw.
Nein_zur_Nato_DDR1957So stark wurde schon damals die NATO für die damalige Sowjetunion als existentielle Bedrohung empfunden, war sie doch nach dem bekannten Motto der selbsternannten westlichen Hegemonie-Macht USA ausdrücklich gegen die kommunistische Sowjetunion gegründet worden: „Keep the US in, the Sowiets out and the Germans down“, also feindlich gesinnt gegen alles, was zur Konkurrenz werden könnte, alles Linke oder gar Kommunistische sowieso.
Wie leider nicht anders zu erwarten, hat die westdeutsche Regierung dieses Angebot nicht richtig zur Kenntnis nehmen wollen. Die Wiedervereinigung wäre gegen den alleinigen Preis der Neutralität möglich gewesen. Stattdessen ist man 1955 in die NATO eingetreten, im Gegensatz zum ebenfalls in vier Besatzungszonen geteilten Kriegsverliererland Österreich, das sich 1955 problemlos und praktisch ohne nennenswerte Kosten wiedervereinigen konnte. Deutschland hatte hingegen durch die verspätete Wiedervereinigung 1990 astronomische Summen, nämlich mehrere Billionen dafür aufzubringen.

Dass die „Revolution“ der Ostdeutschen friedlich verlief, ist einzig und allein der Tatsache zuzuschreiben, dass Gorbatschow diesen Aufstand nicht mit Waffengewalt niederschlug – nicht, wie immer behauptet wird, den friedlichen Demonstranten.
Alle Besatzungstruppen, auch die sowjetischen zogen 1955 vereinbarungsgemäß aus dem neutralen Österreich ab. In der DDR blieben sie stationiert, mit Atombewaffnung, wie auch in der BRD mit westlichen Besatzungstruppen und allen Möglichkeiten für einen atomaren Weltkrieg z. B. aus Versehen. Mehrere Fälle von fast ausgebrochenen Welt-Atomkriegen sind bekannt.

Erst in diesem Schicksalsjahr 1955 wurde, wegen (!) des Eintritts Westdeutschlands in die NATO, der Warschauer Pakt gegründet, eben weil es der Sowjetunion nicht gelang, einem Gürtel neutraler Staaten als Cordon Sanitaire zu etablieren. So wichtig ist auch heute wieder den Russen eine Pufferzone an den eigenen Grenzen. Die Bundeswehr wurde aufgebaut, nach sehr problematischen Vorstellungen des damaligen Verteidigungsministers Strauß sollte sie auch atomar bewaffnet werden (dieses Ziel hatte er wohl bis zu seinem Tod 1988 im Auge, Wackersdorf wäre dazu der Durchbruch gewesen).
F-35_BomberHeute möchte die BRD unbedingt eine „atomare Teilhabe“ beibehalten, kauft für zig-Milliarden F-35 Atombomber in den USA, um die modernisierten Atombomben in Büchel mit je bis zu ca. 200 kT TNT Sprengkraft im Fall des Falles Richtung Osten zu tragen. Bis Polen würden sie wohl kommen, die Totalzerstörung Mitteleuropas wäre die unausweichliche Folge (die Bomben auf Japan 1945 hatten nur ca. 16kT Sprengkraft, sowas nennt man heute „Mini-Nukes“!).

Die Atomic Scientists haben die „Doomsday Clock“ (Weltuntergangsuhr) immer weiter Richtung Mitternacht geschoben, jetzt, 2023, steht sie auf gerade noch 90 Sekunden vor der Mitternacht der Weltvernichtung durch einen Atomkrieg, der wegen faktisch nicht mehr vorhandener Vorwarnzeit jederzeit auch unbeabsichtigt ausbrechen kann. Einen nicht auszuschlie­ßenden Atomwaffeneinsatz im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg nennen Leute, die sich Politikwissenschaftler deutscher Provenienz nennen, in Talkshows „Quatsch“ und „Blödsinn“, (ja gehts noch?).

Es war der 4-Sterne-US-General Lee Butler, der es treffend vor ca. 30 Jahren so zusammenfasste; „We escaped the Cold War without a nuclear holocaust by some combination of skill, luck and divine intervention …. probably the latter in greatest proportion…….“. (Wir sind im Kalten Krieg davon gekommen ohne einen nuklearen Holocaust – dank einer Kombination aus Geschick, Glück und göttlichem Eingreifen) . . . Göttliches Eingreifen, so weit sind wir schon gekommen, dass nur noch das helfen soll . . .

Beim Klima sind wir damit schon auf dem „richtigen“ Weg, da wird sogar divine intervention nicht mehr viel nützen, obwohl seit Jahrzehnten bekannt ist, was notwendig wäre oder gewesen wäre, um unseren Nachkommen eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen, nur: die Profite waren und sind immer wichtiger.

Nach dem Ende der Sowjetunion zogen die Russen ihre Truppen aus allen (!) Ländern des Ostblocks zurück, Comecon, die Wirtschaftsgemeinschaft des Ostblocks, zerfiel in viele Nationalstaaten, die Sowjetunion ebenfalls, der Warschauer Pakt wurde aufgelöst. Die SPD hat im Dezember 1989, also kurz nach dem Mauerfall in ihrem neuen Grundsatzprogramm, gültig bis 2007, die Auflösung des Warschauer Pakts (WP) gefordert, aber eben auch der NATO, ja der NATO! Übrigens auch Frankreich unter Mitterand. Ein neues Sicherheitssystem für ganz Europa inklusive Russlands wurde vorgeschlagen. (Der WP ist weg, der eigentliche Sinn und Zweck der NATO ist mit dem Verschwinden der Sowjetunion auch weg. Was macht die NATO? Sie verschwindet nicht, sie wendet sich ihren seitdem „beliebten“ „out of area“-Einsätzen zu. Inzwischen weitet sie ihren Wirkungskreis auf den indopazifischen Raum aus, schließlich gilt es, langfristig auch China als Konkurrent auszuschalten.)
Diese Zerschlagung des Ostblocks in viele kleinere Teile war ganz im Sinne der westlichen Hegemoniemacht USA. Der Truppenabzug der Russen erfolgte jedoch einzig und alleine, weil die West-Mäch­tigen Gorbatschow und Jelzin hochheilige Eide geschworen hatten, die NATO „not one inch“ nach Osten auszudehnen (die dazu zahlreich! verfügbaren öffentlich zugänglichen, aber hartnäckig abgestrittenen Dokumente sind bei der GWU **) in Washington jederzeit abrufbar, Überraschung!: es sind viele!).

Gorbatschow „schenkte“ dem Westen die ganze DDR, die sogar auch in die NATO durfte, mit der leider kaum überraschenden Folge, dass die Versprechen innerhalb kurzer Zeit samt und sonders gebrochen wurden, vom Westen natürlich.

Um nicht weiter abzuschweifen: Wenn ich diesen Angriffskrieg verurteile, wie alle außer den Putin-Schwurblern, dann komme ich jedenfalls trotzdem nicht umhin, der unmittelbaren Vorgeschichte ein näheres Augenmerk zu widmen. Das Völkerrecht gilt nicht nur für Russland, wie es scheinen mag, sondern für alle, sogar für die US-Amerikaner, die sich nachweislich einen Dreck um dieses Völkerrecht scheren, offensichtlich und erklärtermaßen machen, was sie wollen. Hauptsache ist, es dient letztendlich ihren wirtschaftlichen und Hegemonie-Interessen. Eine von der amerikanischen Regierung offiziell aufgestellten Liste der über 250 militärischen Eingriffe seit 1991 weltweit, kleineren und größeren Ausmaßes – sehr vieles davon alles andere als völkerrechtssauber – ist frei zugänglich, eine Lektüre dieser zwar sicher nicht vollständigen (die regime changes fehlen nämlich darin), aber aufschlussreichen Dokumente wäre allen Interessierten – und erst recht Interessepflichtigen – sehr zu empfehlen. Wenigstens z.B. die Irak-Kriege, die Feldzüge gegen Afghanistan, Libyen, Syrien und auch weitere sind hoffentlich vielen bekannt, (es blieben nach Eingreifen der NATO, oder ihrer Mitglieder, ausnahmslos zerstörte failed states übrig).
Der Kosovo-Krieg 1999 ist vielen schon aus dem Blickfeld entschwunden, liegt ja schon 25 Jahre zurück. Es war die verteidigungsfreudige, mit ihren 50 Jahren ohne ursprüngliche Sinnsetzung verbliebene NATO, die sich auch hier völkerrechtswidrig und brutal mit Angriffen auf die Infrastruktur und die Bevölkerung von ganz Serbien, unter aktiver Beteiligung der deutschen Bundeswehr, höchst unrühmlich hervorgetan hat. Die Kosovo-Albaner der sog. UCK waren bis etwa Ende 1998 offiziell Terroristen, ab Januar 1999 plötzlich Freiheitskämpfer. Scharping als deutscher Verteidigungs-, sorry völkerrechtwidriger Angriffskriegsminister, hat mit völlig unglaubwürdigen Lügen wie die von einer „Hufeisen“-Strategie des sicher alles andere als harmlosen Milosevich die erfolgreiche Hetze betrieben. Kürzlich hat unser Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk (ÖRR) seine Rolle so charakterisiert „Scharping planschte lieber im Pool, als sich um einen anstehenden Auslandseinsatz zu kümmern“, wie tief kann dieser ÖRR noch sinken? Und dies, ohne dass das überhaupt auffällt.
Wie sehr die Verteidigerrolle der NATO durch die Offensivrolle in den Hintergrund gedrängt wurde, ist leicht und fundiert nachlesen, Daniele Ganser wäre hier eine brauchbare Quelle, den man folgerichtig als „Verschwörungstheoretiker“ diffamiert. Joschka Fischer als grüner AA-Chef legte noch was drauf mit seinem „Nie wieder Auschwitz“, was bestenfalls als eine strafbewehrte Verniedlichung des Holocausts einzustufen wäre. Aber wen schert es, wenn man – wie heute wieder – so den grünen Pazifismus gründlich abstreifen kann.
Die deutsche Kohl-Regierung hatte schon 1991 eine höchst ungute Rolle gespielt, die Sezessionsbestrebungen von Slowenien und Kroatien ohne Absprache mit den europäischen EU- und NATO-Partnern umgehend durch die staatliche Anerkennung durch Außenminister Genscher belohnt, worauf die jugoslawische Zentralregierung militärisch eingriff (Putin hat sich das bei der Anerkennung der Donbas-Republiken zum Vorbild genommen, hat sich dafür aber immerhin acht Jahre Zeit genommen). Der Balkankrieg der 90er Jahre begann, nahm einen grausamen Verlauf mit u.a. Bombardierung von Sarajewo, dem Massaker von Srebreniza und der Vertreibung von ca. 200.000 Serben aus der kroatischen Krajina, nur einen Monat nach Srebreniza durch die noch reichlich ustascha-faschistischen Kroaten. Wie viele bei dieser Vertreibung umgekommen sind, wurde nie und nirgends auch nur gefragt, geschweige denn untersucht.
Im Kosovo, einer serbischen Provinz, dem historischen Herzland Serbiens, wurden die jugoslawischen Ordnungskräfte immer massiver von der terroristischen UCK angegriffen, was z.B. Milosevich schon am 28.6.1989 (600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld = Kosovo Polje) zum Anlass nahm, den Serben im Kosovo seine Unterstützung gegen die albanischen Kosovaren zuzusagen („Ab jetzt werdet ihr Kosovo-Serben nicht mehr geschlagen“).

Schon in den 80er Jahren den Kosovo-Serben wurde durch ihre muslimischen albanischen Mit-Kosovaren dermaßen zugesetzt, dass weit über 100.000 Serben die Provinz verließen. Im Endeffekt war das Hauptziel erreicht, nämlich die Zerstückelung Jugoslawiens und die Auslöschung des letzten Restes sozialistischer Regierung in Europa. In diesem Sinne ist auch die Zerschlagung des Ostblocks und der Sowjetunion, zukünftig auch Russlands zu sehen, wenn es nach dem Willen der USA geht. Schlussendlich wurde auch das Kosovo als eigenständiger Staat durch den Westen anerkannt, allerdings im Gegensatz zur Krim ohne eine Volksabstimmung, was Obama allerdings doch fälschlich behauptete.
Inzwischen sind die meisten jetzt selbständigen Teile Jugoslawiens Mitglieder der NATO und damit unter der Kontrolle der westlichen Konzerne.

Dieses „Verteidigungs“-Bündnis, das sich vor allem seit Ausschaltung der Sowjetunion durch eine ganze Reihe von völkerrechtswidrigen Angriffskriegen meist für Ressourcen wie Öl usw. – auszeichnete, wurde vier Jahre nach Gründung der UNO ins Leben gerufen, was eigentlich den Weltfrieden sichern sollte. Der Völkerbund war vor dem zweiten Weltkrieg unter tatkräftiger deutscher Hilfe ausgeschaltet worden; es sieht nicht gut aus, dass Weltkrieg III verhindert werden kann. Die UNO ist unter dem Vetorecht der fünf Atomnationen Amerika, Russland, Frankreich, Großbritannien und China zum zahnlosen Tiger verkommen.
Die NATO strickt eifrig an ihren Plänen, das jetzige Russland so zu schwächen, dass es das Haupt nicht mehr zu erheben in der Lage sein kann. Das große Projekt der Zerstückelung des heutigen Russlands in viele kleinere, nach Nationalitäten orientierten Kleinstaaten steht spätestens seit den veröffentlichten Ideen des einflussreichen Z. Brzezinski auf der Tagesordnung, um sie der Reihe nach unter amerikanische Kuratel zu stellen und wie ein erlegtes Stück Großwild auswaiden zu können. Es leuchtet sehr wohl ein, dass sich die imperiale Hegemoniemacht USA die riesige Landmasse (den halben Erdteil) mit 17 Mio. qkm der heutigen russischen Föderation, voller ausbeutbarer wertvoller Ressourcen, mit nur ca. 145 Mio. Einwohnern praktisch menschenleer, als „fetten Braten“ nicht entgehen lassen.
Erst als der dem Westen willfährige Jelzin sich den Nachfolger Putin Ende 1999 geholt hatte, wurden diese schon ziemlich konkret gewordenen Pläne – zur Wiedervorlage – ad acta gelegt. Seitdem ist Putin der „Böse“. Mit dem Alkoholiker Jelzin hatten die Strippenzieher im Westen leichtes Spiel. Die Wiederwahl Jelzins 1996 wurde mit Dollarmilliarden durch Clinton sichergestellt, um die begonnene Ausplünderung durch Oligarchen und multinationale Konzerne fortsetzen zu können, das einfache Volk erlebte eine sehr schlimme Zeit von Entbehrungen, Verlust der staatlichen Ordnung, bis hin zu Versorgungskrisen, in Teilen Hungersnöte. Den Kapitalismus mit seinen angeblich segensreichen Auswirkungen aufgepfropft zu bekom­men, hat die heutigen Russen ziemlich geprägt, einer der Gründe, warum Putin so viel Unterstützung hat.

Die NATO wird weiter als Verteidigungsbündnis verkauft, da z.B. unsere Bevölkerung immer so gut wie alles glaubt, auch dieses. Erstaunlich viele fachkundige Menschen in den USA, so intellektuelle Größen wie Noam Chomsky, George F. Kennan, Jack Matlock, William Burns usw. warnten immer wieder, dass durch die NATO-Erweiterung nach Osten, entgegen allen Versprechen, eine hochgefährliche Situation entstehen könne. Trotz aller Warnungen wurden 1999 Polen, Ungarn und die Tschechei in die NATO aufgenommen, 2004 die bal­tischen Republiken, die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien – in sehr vielen dieser Staaten feiert der jeweils eigene Nationalismus fröhliche Urstände, in der Ukraine als bereits auserwählter NATO-Kandidat besonders heftig. Seitdem stehen immer wieder auch deutsche Soldaten direkt an der russischen Grenze, ähnlich nahe an Petersburg/Leningrad wie vor 80 Jahren die verbrecherische Hitler-Wehrmacht.

Putin, der noch in seiner vor dem Bundestag mit stehenden Ovationen des gesamten Hauses gehaltenen Rede am 25.9.2001 sehr konstruktive und friedenssichernde Vorschläge gemacht hatte, hat 2007 bei der Sicherheitskonferenz in München in aller Klarheit gesagt, dass es so nicht weitergehen könne und die Ausdehnung des NATO-Gebietes auf die Ukraine eine nicht hinnehmbare existentielle Bedrohung Russlands darstellen würde. Jelzin hatte schon 1997 davor gewarnt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.

2008 hat trotzdem Bush jr. in Bukarest, gegen den erbitterten Widerstand von Merkel(!) und Sarkozy, durchgedrückt, dass nicht nur der Ukraine, sondern auch Georgien eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, jedoch ohne klare Fristangabe. Wie sagte doch eine bedeutende Politperson bei ihrem Abschied am 2.12.21 geradezu beschwörend: „Ich möchte dazu ermutigen, auch zukünftig die Welt immer auch mit den Augen des anderen zu sehen, also auch die manchmal unbequemen und gegensätzlichen Perspektiven des Gegenübers wahrzunehmen, sich für den Ausgleich der Interessen einzusetzen.“ Genau dieses Argument kam auch 2008 in Bukarest – beides von A. Merkel. Ihre Zapfenstreichrede 2021 kam nicht mal drei Monate vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Diese wichtige Merkel-Aus­sage wurde aber – überhaupt nicht erstaunlich – von niemanden auf Seiten der Medien auch nur wahrgenommen: zitiert wurde sie nirgendwo, weder Print noch Funk oder Fernsehen. Aufgefallen ist er in der Friedensbewegung, die leider bundesweit nicht in der Lage ist, breite Medienaufmerksamkeit zu erreichen.
Wie konnte Frau Merkel nur darauf kommen, mit dieser dringenden Mahnung, die eigentlich eine banale Selbstverständlichkeit ist, in Erinnerung bleiben zu wollen? Wahrscheinlich haben die zuständigen Stellen doch nicht alles getan, den Krieg zu verhindern, vielleicht eher, diesen sogar provokativ herbeizuführen. Fragen über Fragen.

Anfang August 2008 glaubte der Präsident von Georgien, Saakaschwili, durch massiven Beschuss der seit Jahren abtrünnigen, russlandfreundlichen Provinz Südossetien die NATO animieren zu können, ihm bei dieser vom Zaun gebrochenen Aggression beizustehen. In Südossetien standen damals russische Friedenstruppen, die die Spannungen an der heiklen Grenze eindämmen sollten. Zur Verteidigung herangeholte russische Truppen sind dann erst in Georgien einmarschiert, fast bis Tiflis vorgedrungen. Innerhalb von fünf Tagen war dieser Spuk vorbei – die NATO hatte nicht eingegriffen, die russischen Truppen zogen sich zurück. Noch heute wird dieses Ereignis immer wieder als Angriff der Russen auf Georgien dargestellt, obwohl alles längst durch internationale Gremien als Angriff des neuen NATO-Kandidaten Georgien richtiggestellt worden ist. Wen interessiert schon die Wahrheit, wenn der Russ‘ immer der Böse sein soll und muss.

2010 kam in der Ukraine durch demokratische Wahl V. Janukovich als Präsident an die Macht, der die engen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland im Gegensatz zu seinem EU-freundlichen Vorgänger V. Juschtschenko aufrechterhalten und die Ukraine, sogar laut Verfassung, neutral halten wollte. Juschtschenko war aus der „orangenen“ Revolution von 2004 als Sieger hervorgegangen, er hatte die Annäherung an den Westen gesucht, was durch die von Janukovich demokratisch einwandfrei gewonnene Wahl zunächst auf die lange Bank geschoben war.
Weil mit Präsident Janukovich die Ukraine den Fängen des westlichen „Werte“-Kapitals zu entgleiten drohte, wurde massiv mit Dollar-Milliarden (V. Nuland, US-Staatssekretärin, nannte 2014 fünf Mrd. $, eine geradezu astronomische Summe für solche Zwecke) dafür gesorgt, dass die nationalistischen Kräfte in der Ukraine auch militärisch aufgebaut wurden, heute wird das elegant über NGOs, die sich harmlos anhören, erledigt. Bis 2014 wurden so z.B. die Nazi-Nachfolger, die Bandera-Anhänger beim „Rechten Sektor“, die Swoboda-Partei, die Asow-Leute usw. soweit aufgebaut, dass der Putsch vom Februar 2014 gelingen konnte.

„Slava Ukraini“ – so grüßt man heute wieder allgemein in der Ukraine, was zu deutsch am treffendsten mit „Sieg Heil!“ zu übersetzen wäre, die hartgesotteneren Nazis grüßen mit „Geroyam Slava“ zurück (= Ruhm den Helden, gemeint sind die ukrainischen Nazis, die bis ca. 1955 z.B. unter Bandera nazitreu gegen die Sowjets gekämpft haben. Sie haben sich im 2. WK eifrigst am Juden-, Polen-, Kommunisten-Massenmord aktiv beteiligt). Heute nennt man sowas üblicherweise Terroristen, aber was ist heute schon üblich, erst recht, wenn es gegen Linke geht?)
Diese Patrioten haben es geschafft, dass die Ehrendenkmäler für Sowjettruppen, sehr viele Ukrainer darunter, geschleift werden, dagegen werden die protzigen Denkmäler für Bandera und seine Nazischergen wieder errichtet, Nazi-Straßennamen ersetzen in großer Zahl die früheren, heute unliebsamen Namen der Befreier, wie Bundespräsident R. von Weizsäcker am 8.5.1985 im Bundestag sie zu nennen wagte. Wer heute in Deutschland „Sieg Heil!“ ruft, kann im Knast landen, der ukrainische Nazi-Gruß ist täglich aus dem Munde des ukrainischen Präsidenten zu hören, auch deutsche höchstrangige Politiker entblöden sich nicht, das gleiche zu tun. Sind die so dumm, oder so unwissend, oder beides oder gar Schlimmeres?

Als Ende 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU zur Unterschrift anstand, was sogar auch Janukovich anfänglich befürwortete, machte Putin die ukrainische Regierung darauf auf­merksam, dass die von der EU geforderte Einstellung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland voraussichtlich zu erheblichen Schwierigkeiten führen würde. Stattdessen stellte er sogar einen 17 Mrd. Dollar-Kredit in Aussicht, Präsident Janukovich machte daraufhin einen Rückzieher und unterschrieb nicht. Zur Erinnerung: Die Alt-Kanzler Schmidt, Kohl, Schröder, der Ex-EU-Kommissar Verheugen, der Braunschweiger Ex-Regierungspräsident Lange, Ex-Außenminister Genscher, Ex-Entwicklungsminister Eppler, Ex- EU-Kommissionspräsident Juncker, der US-Ökonom Maersheimer und sicher noch viele andere haben alle dieses Assoziierungsabkommen als sehr gefährlich erkannt und dringendst davor gewarnt, die Ukraine auf diese Weise von Russland zu entfremden. Die Vorgaben Brzesinskis waren aber gewichtiger, der gesagt hatte: Die Ukraine ist der Dreh- und Angelpunkt, um Russland entscheidend zu schwächen, ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht mehr. Auch Kissinger riet dazu, den Frieden durch die Neutralität der Ukraine zu erhalten. Damit wäre ja die Ukraine offen nach beiden Seiten geblieben und würde auch als Pufferstaat dienen können.

Dieser nur allzu begründete Rückzieher führte zu zunächst friedlichen Pro-EU-Demon­stra­tionen auf dem (Euro-)Maidan, dem großen prächtigen Platz in Kiew, vorwiegend getragen durch die von den US-Amerikanern unterstützten Neonazis, die teilweise sogar mit Nazi-Hakenkreuzen marschierten. Die Proteste eskalierten allerdings bis Februar 2014, als dann auch Vertreter des Westens versuchten, die Gemüter zu kühlen. Steinmeier, Fabius und Sikorski, alle drei Außenminister ihrer Länder Deutschland, Frankreich und Polen berieten mit Präsident Yanukovich, Klitschko und anderen; sogar dem Ober-Nazi Tyanibok (berühmtes Zitat dieses Neo-Nazis aus Wikipedia: „Ukrainische Patrioten kämpften gegen Russen, gegen die Deutschen, gegen Judenschweine und sonstiges Gesindel, welches uns den ukrainischen Staat wegnehmen wollte! Man muss endlich die Ukraine den Ukrainern geben!“) und kamen tatsächlich zu einem Kompromiss, der die gewalttätigen Proteste beenden sollte.
Allerdings hatten die Nazi-Protestler inzwischen dafür gesorgt, die Stimmung auf dem Maidan „explodieren“ zu lassen. Es gab plötzlich massiven Scharfschützenbeschuss aus den Obergeschossen von zwei durch die Aufständischen beherrschten Gebäuden, dem Konservatorium und einem Hotel. Es wurde unterschiedslos in die Menge der Demonstranten und Ordnungskräfte geschossen, gezielt auf Menschen. Es müssen mindestens drei Scharfschützen gewesen sein, die laut unbestätigten Berichten (le verità nascoste, leider nur italienisch, deshalb hierzulande nicht zur Kenntnis genommen) aus Georgien geholt und vor Ort mit Präzisionswaffen ausgerüstet wurden.

Professionell und nachvollziehbar wurde dieser Massenmord mit über 100 Opfern und zahlreichen Verletzten nie aufgeklärt. Die ukrainischen Nazis schoben alles Präsident Janukovich in die Schuhe, der daraufhin Morddrohungen erhielt und sich über Charkow, den Donbas und die Krim nach Russland absetzen konnte. Seine Absetzung als Präsident erfolgte eindeutig rechtswidrig, weil die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten wurden.

Vorher hatte V. Nuland („Fuck the EU“), damals wie heute Vize-Außenministerin der USA und für die Ukraine und den Coup zuständig, zusammen mit US-Botschafter Pyatt die Weichen für die neue Putsch-Regierung gestellt: Statt Klitschko sollte Jazeniuk Ministerpräsident werden, drei seiner Minister kamen aus den Reihen der radikalen Neo-Nazis, insgesamt ein klassischer Regime-Change à la USA und alles andere als demokratiekonform.
Wenn also vorher eher die mehrheitlich russischsprachigen Ukrainer aus dem Osten und Süden des Landes politisch führend waren, waren jetzt die extrem nationalistischen ukrainisch-sprachigen aus dem Westteil am Ruder. Eine Situation, die in diesem Vielvölkerland aus Russen, Ukrainern, Rumänen, Ungarn und Polen immer wieder zu Spannungen geführt hatte.

Wenige Tage später wurde Turtschinow als (nicht gewählter) Übergangspräsident installiert, vom jetzt Neonazi-dominierten Parlament u.a. ein Gesetz erlassen, das die russische Sprache im Verkehr mit Behörden praktisch verbot (das allerdings vom Übergangspräsidenten T. dann doch nicht in Kraft gesetzt wurde. Später kamen aber sehr wohl Vorschriften gegen die russisch-sprachigen Ukrainer). Schon dieses Gesetz gegen den offiziellen Gebrauch der russischen Sprache brachte die überwiegend russisch-sprachigen und dem Regimewechsel kritisch entgegenstehenden Donbas-Oblaste Donezk und Lugansk dermaßen auf die Palme, dass sie umgehend die Unabhängigkeit von der Zentralregierung erklärten und die Gründung ihrer Volksrepubliken vorbereiteten und durchführten – der Zündfunke für den Bürgerkrieg im Donbas. Dieser Bürgerkrieg, intern ausgetragen in den neu gebildeten Volksrepubliken DNR und LNR, wurde bald von den Separatisten „gewonnen“, jedenfalls hatten sie ab jetzt die Entscheidungsgewalt. Inwieweit dabei russische Einmischung eine Rolle gespielt hat, ist völlig unklar.

Putin seinerseits erkannte, dass die seit 1783 auf der Krim stationierte russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol durch Maßnahmen einer neonazilastigen Zentralregierung mit NATO-Aspirationen in Kiew bald auf NATO-Territorium liegen könnte und bereitete eine Volksabstimmung vor, die am 16.3.2014 mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an Russland ausging. Diese Volksabstimmung hatte u.a. dadurch einen friedlichen Verlauf, weil Putin dafür gesorgt hatte, die auf der Krim stationierten ukrainischen Militärtruppen durch die aus Sewastopol ausschwärmenden dort stationierten russischen Soldaten, als „grüne Männchen“ ohne Rang- und Hoheitsabzeichen getarnt, insbesondere die Kasernen des ukrainischen Militärs abriegelten. Die ukrainischen Soldaten konnten noch wollten eingreifen.
Erstaunlicherweise wurde diese Sezession/Annexion der Krim zwar kritisiert, aber doch ziemlich klaglos im Westen hingenommen. Noch 2015 nahm die deutsche Wirtschaft, gestützt von der GroKo-Bundesregierung in Zusammenarbeit mit Gazprom die Nord-Stream2-Gas­leitung in Angriff. Von einer möglichen Einschränkung der Energielieferungen aus Russland war nie die Rede, schließlich hatte man sich im Westen auf die billigen Energielieferungen langfristig eingestellt.
Die Grünen maulten zwar unisono mit den USA, das war’s dann aber auch schon. Diese Gaslieferungen waren ja konstitutives Element des deutschen Energie-Wende-Plans gedacht als Übergangslösung für den Ausfall der Atom- und Kohleenergie, auf die man durchaus sinnvollerweise zur Klimarettung verzichten wollte.

Da vor allem die immer noch schwachen ukrainischen Regierungstruppen sich z.T. auch weigerten, mit militärischer Gewalt gegen die separatistischen Landsleute vorzugehen, wurden die meist aus der West-Ukraine stammenden Milizen des Nazi-Asow-Regiments geholt, die ohne Vorbehalte gegen die Russen des Donbas vorzugehen bereit waren. Ab 14.4.2014 wurden also die Separatisten von außen beschossen. Das anfängliche Vorrücken der Separatisten konnten gestoppt werden, alles spielte sich aber vorerst auf dem Gebiet des Donbas ab.

Zu welchen Verbrechen die Faschisten der Ukraine fähig sind, zeigte sich am 2.5.2014 in Odessa. Mehrere Dutzend Maidan-kritische Demonstranten wurden von diesen Rechtsextremen am und im brennenden Gewerkschaftshaus ums Leben gebracht. Auch diese Verbrechen wurden nie aufgeklärt.

Den eigentlichen Startschuss zum Krieg in der Ukraine gab die ukrainische Regierung am 14.4.2014. (Nicht der 24.2.22, als die russischen Truppen in die Ukraine einmarschierten, ist Auslöser dieses verheerenden Schlachtens). Ab diesem Tage wurden die Donbas-Volksrepu­bliken mit schwerer Artillerie massiv beschossen. Rücksicht auf zivile Bevölkerung, Infrastruktur, Schulen oder Krankenhäuser gab es nicht.
Dieser Beschuss dauerte als Krieg niederer Intensität bis Mitte Februar 2022 an. Von internationaler Seite wurde versucht, durch Waffenstillstandsabkommen Minsk 1, und nach dessen Scheitern Minsk 2, die Feindseligkeiten einzudämmen. Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland konnten sich tatsächlich auf dem Papier einigen. Vor allem aber von ukrainischer Seite wurden diese Vereinbarungen nicht eingehalten. Die pflichtvergessenen Garantiemächte D und F kümmerte das wenig.
Als Ergebnis dieses Beschusses niedrigen Niveaus ist mit geschätzten insgesamt ca. 14.000 Toten und erheblichen Zerstörungen im Donbas zu benennen. A. Merkel hat im Dezember 2022 offen zugegeben, dass die Minsk-Abkommen für den Westen den versteckten Zweck hatten, der Ukraine genügend Zeit zu verschaffen, um aufzurüsten. Vor allem mit US-Hilfe massiv vorangetrieben, wurden tausende junge ukrainische Soldaten von amerikanischen Ausbildern militärisch trainiert. In den Minsk-Abkommen war u.a. sogar vorgesehen, den Donbas-Oblasten eine schon länger geforderte weitgehende Autonomie mit freien Wahlen zuzugestehen, was in einer bis spätestens Ende 2015 neu auszuarbeitenden ukrainischen Verfassung festgezurrt werden sollte. Über die Krim sollte erst nach ca. 15 Jahren weiterverhandelt werden, die schweren Waffen sollten umgehend zurückgezogen werden.

2019 stand wieder die Präsidentschaftswahl in der Ukraine an. Der Oligarch Poroschenko, der 2014 zum Präsidenten gewählt worden war, und neben anderen W. Selenski waren Kandidaten. Selenski trat mit dem Plan an, im Donbas endlich Frieden zu schaffen, die extreme – übrigens auch heute immer noch weitgehend bestehende – Korruption zu bekämpfen. Nach der Wahl, die Selenski mit großer Mehrheit gewinnen konnte, war von Frieden im Donbas bald nicht mehr die Rede, schlicht weil der rechte Sektor Selenski mit dem Tode bedrohte. Schnell war er von seiner Friedensabsicht abgerückt. Angeblich hat es in der Korruptionsfrage Fortschritte gegeben. Die Ukraine ist aber immer noch als das mit weitem Abstand korrupteste Land Europas eingestuft, nur Russland steht in dieser Rangfolge noch schlechter da.

Selenski hat sich schon 2014 auch wie folgt geäußert: „In the East and in Crimea the people want to speak Russian. Leave them alone, just leave them alone. Legally provide them the right to speak Russian. Language should never divide our country. I am of Jewish heritage, I speak Russian. I am a citizen of Ukraine. I love this country and I don’t want to be part of another. Russia and Ukraine are brotherly people, I know many millions, thousands of people who live in Russia and who are wonderful.
We are one colour, one blood, we understand each other, irrespective of language. „

(Russland und Ukraine sind Brudervölker, wir sind eine Farbe, ein Blut, wir verstehen einander, unabhängig von Sprache.)

Selenskis Militärberater O. Arestovych gab noch vor der Wahl 2019 ein gespenstisch beeindruckendes, längeres Interview mit seiner Sicht auf die kommenden Jahre. Seine Voraussagen sind mit überraschend hoher Genauigkeit Wahrheit geworden. Die Ukraine, deren Führungselite das Land in die NATO führen wollte, müsse erst einen verheerenden Krieg mit Russland durchmachen, der in den Jahren 2020 bis 2022 – und zwar mit „99,9%iger Wahrscheinlichkeit“ – stattfinden würde. Ohne diesen Krieg hätte die Ukraine keinerlei Chance, in die NATO aufgenommen zu werden, denn durch diesen Krieg solle Russland so weit geschwächt werden, dass es die Weigerung, die Ukraine für die NATO „frei“ zu geben, aufgeben müsse.
Die dafür notwendige Ausstattung mit modernen Waffen würde von den USA und den westlichen Staaten geliefert werden. Die USA hatten und haben natürlich ein großes Interesse daran, Russland niederzuringen, ohne mit eigenen Soldaten, also direkter Beteiligung der NATO selbst antreten zu müssen.

Die Rechtslastigkeit der Regierungen der Nach-Maidan-Zeit, also auch der Selenski-Regierung, zeigt sich nur zu deutlich in den zahlreich verbotenen oppositionellen Parteien, Zeitungen, Fernsehstationen usw. Opposition findet in der Ukraine schlicht nicht mehr statt, Demokratie sieht anders aus. Davon hört man hier im Westen allerdings so gut wie nichts, die Unterdrückung der Opposition in Russland füllt hingegen die Gazetten; auch hierzulande ist es praktisch höchst ungehörig, wenn nicht klammheimlich verboten, sich kritisch zum Ukrainekrieg zu äußern. Vom Westen sind inzwischen fast alle kulturellen, sozialen, wissenschaftlichen und sportlichen Kontakte mit der russischen Seite gekappt worden, russische Künstler in Deutschland mussten sich z.B. vom russischen Vorgehen in der Ukraine schriftlich distanzieren, sonst waren sie ihren Job los.

Im März 2021 verkündete Selenski, militärisches Ziel sei, die gesamte Ukraine, den Donbas und die Krim zurückzuerobern, das Jahr 2021 war der Vorbereitung dieser Rückeroberung gewidmet. Putin legte noch im Dezember 2021 auf Anforderung der USA seine Vorschläge für Verhandlungen vor, im Wesentlichen wollte er die garantierte Neutralität der Ukraine, die Nicht-Ausdehnung der NATO, den Rückzug der westlichen Truppen aus den früheren Ostblockstaaten.
Der Westen ging nicht darauf ein, Verhandlungen aufzunehmen, kanzelte das Papier als unerfüllbar ab. Schon im Januar massierte Selenski seine Truppen an der Kontaktlinie zum Donbas und ab dem 15.2.22 setzte wieder extrem massiver Beschuss auf den Donbas ein, bis zu vierzigmal heftiger als im Durchschnitt der vorausgegangenen Zeit (alles fein säuberlich von der OSCE dokumentiert). Sechs Tage später, am 21.2.22 erklärte Putin, die Donbas-Volks­republiken würden als unabhängige Staaten anerkannt, am 22.2.22 wurde dieser Beschluss in der russischen Duma abgesegnet, ein Beistandspakt wurde ratifiziert, die Volksrepubliken forderten daraufhin die russische Hilfe an. Am 24.2. 22 wurde dann, wie bekannt, der schon seit acht Jahren andauernde Ukraine-Krieg mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine wesentlich ausgeweitet.

Der Krieg begann also nicht am 24.2.22, wie uns die westlichen Medien glauben machen wollen, sondern mit dem militärischen Eingreifen des ukrainischen Militärs am 14.4.2014 gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Donbas-Republiken, nach einer jahrzehntelangen Vorgeschichte, die mindestens bis 1990 zurückreicht.

In den Tagen vor dem Einmarsch befand sich Putin quasi in einer Dilemma-Situation: greift er angesichts des massiven Beschusses des Donbas durch die ukrainische, von den Amis kriegsbereit hochgerüstete Armee nicht ein, muss er mit massivem Druck der eigenen Bevölkerung rechnen, marschiert er aber doch ein, ist er international endgültig unten durch. Der Einmarsch war tatsächlich dermaßen umfangreich und erdrückend, so dass anscheinend von russischer Seite fest damit gerechnet wurde, die ukrainische Führung setze sich ins Ausland ab und die Ukraine ergebe sich nach wenigen Tagen, wie 2008 in Georgien, um die zu erwartenden großen Schäden und Opfer zu vermeiden.
Selenski und seine Führungsriege jedoch gaben nicht klein bei, der Regierungschef blieb in Kiew. Nach wenigen Tagen wurden die ersten Waffenstillstandsverhandlungen in Belarus aufgenommen, die Ende März in Istanbul tatsächlich zu einer Einigung führten. Diese unterschriftsreife Einigung wurde dann aber doch nicht von der Ukraine angenommen. Sie war von Erdogan vermittelt worden, dem türkischen Ministerpräsidenten, und enthielt die Kompromisse, die Selenski und Putin eingegangen waren, um die Ausweitung des Krieges zu verhindern, im Wesentlichen, was schon im Minsk II-Abkommen 2015 erreicht, aber nicht eingehalten worden war. Der israelische Ex-Minister­präsident Bennett hatte seinerseits schon kurz vorher mit beiden Seiten getrennt Gespräche geführt, mit guten Aussichten auf einen Verhandlungserfolg, was dann auch in das Istanbuler Papier mit einging.

Vor Kurzem hat Bennett bestätigt, dass unter Druck der USA dieser Verhandlungsabschluss eines Waffenstillstands nicht zustande kam, er sei gezielt blockiert worden. B. Johnson wurde umgehend nach Kiew geschickt, um eine Übereinkunft zu verhindern und den Ukrainern zu versichern, sie würden alles bekommen, was sie an Waffen und Material benötigen, um die russischen Truppen aus dem Land zurückzudrängen, den gerade anlaufenden Krieg also militärisch zu gewinnen. Auch Deutschland und Frankreich wollten laut Bennett dieses Abkommen nicht. Frau Baerbock sprach aus, worum es eigentlich ging: Russland zu ruinieren.
Inzwischen ist sie noch deutlicher geworden: Wir sind im Krieg mit Russland. Der Westen liefert Waffen, inzwischen immer mehr und immer tödlichere, schickt aber die Menschen der Ukraine in die blutige Schlacht. Seit diesem Zeitpunkt kann leider die Situation getrost als völlig verfahren bezeichnet werden. Eine Lösung scheint nicht in Sicht, die Zahl und das Ausmaß der Schäden und Opfer auf beiden Seiten nehmen immer weiter zu und vor allem Selenski weigert sich jetzt strikt zu verhandeln, solange russische Truppen sich noch auf ukrainischem Boden befänden.
Die militärischen Ergebnisse und Vorstellungen der russischen Seite sind auch nicht gerade dazu angetan, einen Verhandlungserfolg, so es denn zu Verhandlungen kommen würde, für wahrscheinlich oder möglich zu halten. Eine Ausweitung zu einem neuen, dritten Weltkrieg kann leider nicht ausgeschlossen werden.

USA-NATO führt übrigens nicht nur den Stellvertreterkrieg gegen Rußland in der Ukraine, die Ukrainer sind die Leidtragenden, das Kanonenfutter, sondern auch gegen Europa und speziell gegen Deutschland als Konkurrenten, erlassen – sogar mit Billigung der „Bündnispartner“ .- massive Sanktionen gegen Rußland, die aber vor allem genau die eigenen Verbündeten treffen, sprengen laut Seymour Hersh am 26.9.22 die vier gewaltigen Pipelines der Nord Stream. Angeblich völlig unschuldig.
Jetzt soll der Sicherheitsrat der UNO diesen Terrorakt untersuchen (Jeffrey Sachs, Ray McGovern). D, S, Dk, N hüllen sich in Schweigen, also (und es würde mich nicht wundern, wenn genau das rauskommen würde) ein demütig hingenommener Terrorangriff durch einen angeblich Verbündeten.
Eigentlich ein kriegerischer Akt, ein Fall für Artikel 5 des Nato-Vertrags durch die Führungsmacht dieser Nato gegen Deutschland und Europa.
Zig Mrd Verluste an Investition, Zwang zum Kauf der maßlos überteuerten Ersatz-Energie, Inflation, usw. USA offiziell „very gratified“ (V. Nuland) durch Pipelinesprengung, die angeblich völlig ungeklärt ist (Aliens??).
Biden selbst hatte, sogar in Anwesenheit des begossenen Pudels Scholz, die Zerstörung der Leitungen am 7.2.22 angekündigt. Verkackeimern können wir uns wirklich selber, dazu brauchen wir die Amis nicht. Oder soll jetzt der Rest der Nato gemeinsam die USA militärisch angreifen und dort Ordnung schaffen?!?…………..

Dieser lange Text enthält leider keine Querverweise. Wer so etwas möchte, dem sei das aktualisierte Buch von Thomas Röper empfohlen, in dem sehr ausführlich zitiert wird.

*: Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.

**; George-Washington-University

Jochen

Caitlin Johnstone: Angst vor Dissens – noch mehr narratives Management der USA

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aus Caitlins eigenem Blog habe ich schon einiges veröffentlicht:
https://josopon.wordpress.com/2023/01/10/die-australische-journalistin-caitlin-johnstone-ich-unterstutze-westliche-werte-mehr-als-der-westen-selbst/
https://josopon.wordpress.com/2022/05/18/ein-ausgezeichneter-podcast-der-australischen-journalistin-caitlin-johnstone-auf-deutsch-zum-thema-propaganda-und-meinungsmache/
https://josopon.wordpress.com/2022/09/28/redefreiheit-ist-belanglos-solange-propagandisten-bestimmen-was-die-menschen-sagen/

Hier auf RT deutsch aktuell, wie sie zur „Putin-Propagandistin“ gestempelt wurde.
https://pressefreiheit.rtde.live/meinung/162394-es-ist-nicht-sorge-vor/

Es ist nicht die Sorge vor „Russlands Einflussnahme“, sondern die Angst vor Dissens

Jeden Tag als eine Propagandistin Russlands abgestempelt zu werden, weil man die US-Außenpolitik kritisiert, ist wirklich seltsam. Aber ein Vorteil dessen ist eine nützliche Perspektive darauf, was die Leute all die Jahre gemeint haben, als sie uns vor den Gefahren der „russischen Propaganda“ warnten.
Ich selber weiß, dass ich keine Propagandistin Russlands bin. Ich werde nicht von Russland bezahlt, ich habe keine Verbindungen nach Russland, und bevor ich 2016 als politische Kommentatorin in Erscheinung trat, habe ich mir sehr wenig Gedanken über Russland gemacht.

Meine Meinungsartikel über das westliche Imperium erscheinen manchmal in russischen Medien, weil ich alle meine Texte zur Weiterverbreitung freigebe. Aber meine Texte waren immer etwas, das ich aus eigenem Antrieb geschrieben habe, ohne dass ich sie erst jemandem vorlegen musste. Ohne dafür bezahlt zu werden oder Bedingungen unterworfen zu sein.
Ich bin buchstäblich nur eine gewöhnliche westliche Zeitgenossin, die ihre politischen Meinung im Internet teilt, und diese Meinung stimmt nun mal nicht mit jenen des US-Imperiums überein.

Doch seit Jahren beobachte ich, wie Leute mit dem Finger auf mich zeigen, als Beispiel dafür, wie „russische Propaganda“ funktioniert. Dies hat dazu beigetragen, mein Verständnis für die Panik vor dem „russischen Einfluss“ zu schärfen, die in den vergangenen Jahren aufgekommen ist.
Und es hat mir die Erkenntnis darüber gebracht, wie ernst diese Panik genommen werden muss.

Dies ist einer der Gründe, warum mich die Berichterstattung von Matt Taibbi über das Projekt Hamilton 68 nicht überrascht hat: Eine Informationsoperation, die vom Washington-Sumpf betrieben und von imperialistischen Denkfabriken unterstützt wird, die im Laufe der Jahre Hunderte – wenn nicht Tausende – von völlig herbei fantasierten Geschichten über einen angeblichen Einfluss Russlands in den sozialen Medien hervorbrachte.

Hamilton 68 gab vor, sich auf die Spur der Versuche Russlands zu machen, das westliche Denken in den sozialen Medien zu beeinflussen.
Aber Twitter fand schließlich heraus, dass diese „Russen“, die von Hamilton 68 verfolgt wurden, tatsächlich größtenteils echte, hauptsächlich US-amerikanische Menschen waren, die zufällig Dinge äußerten, die nicht perfekt mit dem Konsens in Washington, D.C. zusammenpassten.

Diese Menschen waren oft rechtskonservativ ausgerichtet, umfassten aber auch Leute wie den Redakteur bei Consortium News Joe Lauria, der von den Rechtskonservativen dermaßen weit entfernt ist, wie nur irgend möglich.
Hamilton 68 spielte eine massive Rolle dabei, das Feuer der öffentlichen Hysterie über den russischen Online-Einfluss anzufachen, aber während sie dies taten, gaben sie vor, das Verhalten russischer Einflussoperationen zu verfolgen. In Wirklichkeit verfolgten sie abweichende Meinungen.

Eines der verrücktesten Dinge, die heute in der Welt passieren, ist die Art und Weise, wie der Westen durch westliche Propaganda einer Gehirnwäsche unterzogen wird, damit er wegen russischer Propaganda in Panik gerät, also über etwas, das im Westen keine sinnvolle Existenz hat. Bevor RT in Großbritannien verboten wurde, zog es satte 0,04 Prozent des gesamten britischen Fernsehpublikums an. Russlands viel zitierte Kampagne auf Facebook zur Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahlen hatte größtenteils nichts mit der Wahl zu tun und beschränkte sich laut Facebook auf „ungefähr eine von 23.000 Inhalten“.

Untersuchungen der New York University über russisches Troll-Verhalten auf Twitter im Vorfeld der Wahlen 2016 haben „keine Hinweise auf einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber der russischen Einflusskampagne im Ausland und Änderungen in Einstellungen, Polarisierung oder Wahlverhalten“ ergeben.
Eine Studie der Universität von Adelaide ergab, dass trotz aller Warnungen vor russischen Bots und Trollen nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine seither die überwältigende Mehrheit des nicht organischen Verhaltens auf Twitter antirussischer Natur war.

Russland übt im Wesentlichen keinen Einfluss darauf aus, was im Westen gedacht wird, aber wir alle sollen wegen „russischer Propaganda“ hysterisch werden, während westliche Oligarchen und Regierungsbehörden uns ständig mit Propaganda zutexten, die darauf abzielt, unsere Zustimmung zu jenem Status quo herbeizuführen, von dem sie profitieren.

Trotzdem hören wir aus dem westlichen Imperium noch immer Forderungen nach noch mehr narrativem Management, wie ein kürzlich im Magazin American Purpose erschienener Artikel mit dem Titel „The Long War of Ideas“ (Der lange Krieg der Ideen) belegt, der von Leuten wie Bill Kristol beworben wird. Der Autor Davind Lowe fordert eine Wiederbelebung von Taktiken des Kulturkriegs der CIA, die während des Kalten Krieges angewendet wurden.
Jeden Tag predigt ein weiterer liberaler Politiker von der Notwendigkeit, mehr zu tun, um den russischen Einfluss zu bekämpfen und die US-amerikanischen Köpfe vor „Desinformation“ zu schützen. Auch wenn uns immer wieder gezeigt wird, dass sie in Wahrheit wollen, dass die Stimmen des Widerspruchs zum Schweigen gebracht werden.

Das sehen wir an den kontinuierlichen Bemühungen, die Zensur im Internet zu vertiefen;
an der verlogenen, neu entstandenen „Faktenprüfer“-Industrie; an den Aufrufen, die finanziellen Mittel für die formellen Propagandaorganisationen der US-Regierung wie Radio Free Europe/Radio Liberty und Radio Free Asia zu erhöhen;
an der Art und Weise, wie in den vergangenen Jahren abweichende Meinungen über Russland gewaltsam aus den westlichen Medien entfernt wurden;
an der Art und Weise, wie vom Imperium verstärkt Troll-Operationen auf den Weg gebracht werden, um Kritiker der US-Außenpolitik online niederzubrüllen;
an der Art und Weise, wie Zensur per Algorithmen gesteuert wird, was zu einer der wichtigsten Methoden geworden ist, um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen.
Dabei wird behauptet, dass diese massive Eskalation von Propaganda, Zensur und Online-PsyOps nötig sind, um den „russischen Einfluss“ zu bekämpfen, während die einzigen Einflussoperationen, denen wir in irgendeiner Weise ausgesetzt sind, immer nur westlichen Ursprungs sind. Und sie wollen noch mehr davon einsetzen.

Unsere Herrscher sind eigentlich nicht besorgt über „Russlands Einfluss“, sie sind besorgt über Dissens. Sie befürchten, dass die Öffentlichkeit dem „Wettbewerb der Großmächte“, dem sie uns auf absehbare Zeit unterwerfen wollen, nicht zustimmen wird, wenn sie keinen massiven Einfluss auf unser Denken ausüben können.
Sie wissen, dass wir sonst erkennen würden, dass unsere Interessen durch die Wirtschaftskriegsführung, die explodierenden Militärausgaben und durch das zunehmende nukleare Risiko beschädigt werden, was zwangsläufig mit diesem „Wettbewerb“ einhergehen wird, bei dem Russland unterworfen und der Aufstieg Chinas gestoppt werden soll.

Sie propagieren die Bedrohung durch ausländische Propaganda, um weitere Propaganda zu rechtfertigen.
Wir werden dazu manipuliert, Absichten zuzustimmen, denen kein gesunder Menschenverstand jemals ohne ausgiebige Manipulation zustimmen würde.

Übersetzt aus dem Englischen.

Caitlin Johnstone ist eine unabhängige Journalistin aus Melbourne, Australien.
Ihre Webseite findet sich hier https://caitlinjohnstone.com/ und man kann ihr auf Twitter unter @caitoz folgen.

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Star-Journalist Seymour Hersh: Wie die USA Nord Stream gesprengt haben

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Thomas Röper hat den Artikel frisch, heute um 0:24 Uhr übersetzt:
https://www.anti-spiegel.ru/2023/die-details-werden-bekannt-wie-die-usa-nord-stream-gesprengt-haben/
Auszüge:
Seymour Hersh ist eine journalistische Legende, denn er hat bei der Aufdeckung der meisten Skandale der US-Regierung seit dem Vietnamkrieg mitgewirkt. Schon 1969 wurde er weltbekannt, als er während des Vietnamkriegs Kriegsverbrechen der US-Armee aufdeckte. 2004 publizierte er zum Folterskandal der US-Armee während des Dritten Golfkrieges im irakischen Abu-Ghuraib-Gefängnis, er war es, der als erster die wahre Geschichte über die Ermordung von Bin Laden veröffentlicht hat, er deckte politische Morde unter der Regierung von Bush und Obama auf, die Liste seiner Enthüllungen ist unglaublich lang.

Natürlich hat er sich damit keine Freunde gemacht, aber er scheint das sportlich zu sehen, denn er sagte dazu einmal:

„Es gab noch nie einen Präsidenten, der mich leiden konnte. Ich nehme es als Kompliment“

Das dürfte spätestens jetzt auch für Präsident Biden gelten, denn Hersh hat einen langen Artikel veröffentlicht, in dem er berichtet, wie die Biden-Regierung die Sprengung Nord Streams seit 2021 vorbereitet hat und wie dieser Akt von Staatsterrorismus umgesetzt wurde.

Ich habe diese Einleitung über Hersh geschrieben, weil ich darauf hinweisen will, dass Enthüllungen von Seymour Hersh ernst genommen werden sollten. Das gilt auch für diese über die Sprengung von Nord Stream.

Dass die USA hinter der Sprengung stecken, dürfte niemanden überraschen. Für mich ist die Geschichte von Hersh aber noch aus einem weiteren Grund ein Schock: Einige Wochen nach der Sprengung hat sich jemand bei mir gemeldet, der behauptet hat, Soldat bei dem Manöver BALTOPS 22 gewesen zu sein und der gesehen haben will, wie ausgesprochen arrogant aufgetretene Spezialtaucher aus den USA auf dem Kriegsschiff, auf dem er gedient hatte, genau am Ort der späteren Sprengung das Anbringen von Minen „geübt“ hätten.
Diese Taucher seien zu seinem Schiff gebracht worden, nur für die „Übung“ im Bereich der Pipelines an Bord gewesen, hätten den Kontakt mit allen anderen Besatzungsmitgliedern gemieden, und seien dann wieder mit dem Hubschrauber abgeholt worden. Nach der Explosion der Pipelines einige Wochen später war er sich sicher, dass das die Männer waren, die die Sprengladungen angebracht hatten.
Leider konnte er für seine Geschichte keine Belege liefern und wollte anonym bleiben, weshalb ich nicht darüber berichtet habe, denn er konnte mir nicht Belastbares geben. Aufgrund einer Geschichte von jemandem, der seine Identität nicht preisgibt und keine Belege für seine Geschichte liefern kann, schreibe ich natürlich keinen Artikel.
Nach dem Artikel von Hersh bin ich jedoch sicher, dass dieser Informant, der sich damals bei mir gemeldet hat, die Wahrheit gesagt hat, weil seine Geschichte exakt zu dem passt, was Hersh veröffentlicht hat.

Ich habe den Artikel von Hersh komplett übersetzt. Seinen Originalartikel finden Sie hier. Im Anschluss an die Übersetzung habe ich noch die ersten Reaktionen der US-Regierung auf den Artikel von Hersh zusammengestellt.

Beginn der Übersetzung:

Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline ausgeschaltet hat

Die New York Times nannte es ein „Mysterium“, aber die USA haben eine verdeckte Seeoperation durchgeführt, die geheim gehalten wurde – bis jetzt

Das Tauch- und Bergungszentrum der US-Marine befindet sich an einem Ort, der so obskur ist wie sein Name – an einem ehemaligen Feldweg im ländlichen Panama City, einer heute boomenden Ferienstadt in Florida, 70 Meilen südlich der Grenze zu Alabama.
Der Komplex des Zentrums ist so unscheinbar wie sein Standort – ein trister Betonbau aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der an eine Berufsschule im Westen Chicagos erinnert. Auf der anderen Seite der heute vierspurigen Straße befinden sich ein Münzwaschsalon und eine Tanzschule.

Das Zentrum bildet seit Jahrzehnten hochqualifizierte Tiefseetaucher aus, die einst amerikanischen Militäreinheiten auf der ganzen Welt zugeteilt waren. Sie sind in der Lage, technische Tauchgänge durchzuführen, um sowohl das Gute zu tun – C4-Sprengstoff zu verwenden, um Häfen und Strände von Trümmern und nicht explodierten Sprengkörpern zu befreien – als auch das Schlechte, wie das Sprengen ausländischer Ölplattformen, das Verschmutzen von Einlassventilen für Unterwasserkraftwerke und die Zerstörung von Schleusen an wichtigen Schifffahrtskanälen.
Das Zentrum in Panama City, das über das zweitgrößte Hallenbad Amerikas verfügt, war der perfekte Ort, um die besten und wortkargsten Absolventen der Tauchschule zu rekrutieren, die im vergangenen Sommer erfolgreich das taten, wozu sie 260 Fuß (ca. 85 Meter) unter der Oberfläche der Ostsee befugt gewesen waren.

Im vergangenen Juni brachten die Marinetaucher im Rahmen eines weithin bekannten NATO-Sommermanövers namens BALTOPS 22 die fernausgelösten Sprengsätze an, die drei Monate später drei der vier Nord-Stream-Pipelines zerstörten, so eine Quelle mit direkter Kenntnis der Einsatzplanung.

Zwei der Pipelines, die unter dem Namen Nord Stream 1 bekannt sind, haben Deutschland und weite Teile Westeuropas seit mehr als einem Jahrzehnt mit billigem russischen Erdgas versorgt. Ein zweites Paar von Pipelines, Nord Stream 2 genannt, war bereits gebaut, aber noch nicht in Betrieb. Nun, da sich russische Truppen an der ukrainischen Grenze sammelten und der blutigste Krieg in Europa seit 1945 drohte, sah Präsident Joseph Biden in den Pipelines ein Mittel für Wladimir Putin, Erdgas für seine politischen und territorialen Ambitionen zu instrumentalisieren.
Adrienne Watson, eine Sprecherin des Weißen Hauses, antwortete auf Anfrage dazu in einer E-Mail: „Das ist falsch und völlig frei erfunden.“ Tammy Thorp, eine Sprecherin der CIA, schrieb ebenfalls: „Diese Behauptung ist komplett und völlig falsch.“

Bidens Entscheidung, die Pipelines zu sabotieren, kam nach mehr als neun Monaten streng geheimer Debatten innerhalb der nationalen Sicherheitscommunity in Washington darüber, wie dieses Ziel am besten zu erreichen sei. Die meiste Zeit über ging es nicht um die Frage, ob die Mission durchgeführt werden sollte, sondern darum, wie sie durchgeführt werden konnte, ohne dass bekannt wird, wer dafür verantwortlich war.

Es gab einen wichtigen bürokratischen Grund, sich auf die Absolventen der Tauchschule des Zentrums in Panama City zu verlassen. Die Taucher gehörten ausschließlich der Marine an und nicht dem amerikanischen Kommando für Sondereinsätze, dessen verdeckte Operationen dem Kongress gemeldet und der Führung des Senats und des Repräsentantenhauses – der so genannten Gang of Eight – im Voraus mitgeteilt werden müssen. Die Biden-Administration tat alles, um undichte Stellen zu vermeiden, als die Planung Ende 2021 und in den ersten Monaten des Jahres 2022 stattfand.

Präsident Biden und sein außenpolitisches Team – der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, Außenminister Tony Blinken und Victoria Nuland, die Unterstaatssekretärin für Politik – hatten sich klar und deutlich gegen die beiden Pipelines ausgesprochen, die von zwei verschiedenen Häfen im Nordosten Russlands nahe der estnischen Grenze Seite an Seite auf einer Länge von 750 Meilen unter der Ostsee hindurch verlaufen und an der dänischen Insel Bornholm vorbeiführen, bevor sie in Norddeutschland enden.

Die direkte Route, die den Transit durch die Ukraine umging, war ein Segen für die deutsche Wirtschaft, die in den Genuss eines Überflusses an billigem russischem Erdgas kam – genug, um ihre Fabriken zu betreiben und ihre Häuser zu heizen, während die deutschen Verteilerunternehmen überschüssiges Gas mit Gewinn in ganz Westeuropa verkaufen konnten. Maßnahmen, die auf die US-Regierung zurückgeführt werden könnten, würden gegen das Versprechen der USA verstoßen, den direkten Konflikt mit Russland zu minimieren. Geheimhaltung war unerlässlich.

Von Anfang an wurde Nord Stream 1 von Washington und seinen anti-russischen NATO-Partnern als Bedrohung der westlichen Vorherrschaft angesehen. Die dahinter stehende Holdinggesellschaft, die Nord Stream AG, wurde 2005 in der Schweiz in Partnerschaft mit Gazprom gegründet. Gazprom ist ein börsennotiertes russisches Unternehmen, das enorme Gewinne für seine Aktionäre erwirtschaftet und von Oligarchen beherrscht wird, von denen bekannt ist, dass sie im Bannkreis Putins stehen.
Gazprom kontrollierte 51 Prozent des Unternehmens, während sich vier europäische Energieunternehmen – eines in Frankreich, eines in den Niederlanden und zwei in Deutschland – die restlichen 49 Prozent der Aktien teilten und das Recht hatten, den nachgelagerten Verkauf des preiswerten Erdgases an lokale Verteiler in Deutschland und Westeuropa zu kontrollieren. Die Gewinne von Gazprom wurden mit der russischen Regierung geteilt, und die staatlichen Gas- und Öleinnahmen machten in manchen Jahren schätzungsweise bis zu 45 Prozent des russischen Jahreshaushalts aus.

Amerikas politischen Befürchtungen waren real: Putin würde nun über eine zusätzliche und dringend benötigte wichtige Einnahmequelle verfügen, und Deutschland und das übrige Westeuropa würden von preiswertem, aus Russland geliefertem Erdgas abhängig werden – und gleichzeitig die Abhängigkeit Europas von Amerika verringern.
Tatsächlich ist genau das passiert. Viele Deutsche sahen Nord Stream 1 als Teil der Erlösung der berühmten Ostpolitik des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt, die es Nachkriegsdeutschland ermöglichen würde, sich selbst und andere europäische Nationen, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren, zu rehabilitieren, indem es unter anderem billiges russisches Gas als Treibstoff für einen florierenden westeuropäischen Markt und eine florierende Handelswirtschaft nutzen würde.

Nord Stream 1 war nach Ansicht der NATO und Washingtons schon gefährlich genug, aber Nord Stream 2, dessen Bau im September 2021 abgeschlossen wurde, würde, wenn die deutschen Aufsichtsbehörden zustimmen, die Menge an billigem Gas verdoppeln, die Deutschland und Westeuropa zur Verfügung stehen würde. Die zweite Pipeline würde außerdem genug Gas für mehr als 50 Prozent des jährlichen Verbrauchs in Deutschland liefern. Die Spannungen zwischen Russland und der NATO eskalierten ständig, unterstützt durch die aggressive Außenpolitik der Biden-Administration.

Der Widerstand gegen Nord Stream 2 flammte vor der Amtseinführung Bidens im Januar 2021 auf, als die Republikaner im Senat, angeführt von Ted Cruz aus Texas, während der Anhörung zur Bestätigung Blinkens als Außenminister wiederholt die politische Bedrohung durch billiges russisches Erdgas ansprachen. Bis dahin hatte ein geeinter Senat erfolgreich ein Gesetz verabschiedet, das, wie Cruz zu Blinken sagte, „[die Pipeline] in ihrem Lauf aufhielt“. Die deutsche Regierung, die damals von Angela Merkel geführt wurde, übte enormen politischen und wirtschaftlichen Druck aus, um die zweite Pipeline in Betrieb zu nehmen.

Würde Biden den Deutschen die Stirn bieten? Blinken bejahte dies, fügte aber hinzu, dass er die Ansichten des neuen Präsidenten nicht im Einzelnen erörtert habe. „Ich kenne seine feste Überzeugung, dass Nord Stream 2 eine schlechte Idee ist“, sagte er. „Ich weiß, dass er möchte, dass wir alle uns zur Verfügung stehenden Überzeugungsmittel einsetzen, um unsere Freunde und Partner, einschließlich Deutschland, davon zu überzeugen, das Projekt nicht weiterzuverfolgen.“

Einige Monate später, als der Bau der zweiten Pipeline kurz vor dem Abschluss stand, lenkte Biden ein. Im Mai verzichtete die US-Regierung in einer erstaunlichen Kehrtwende auf Sanktionen gegen die Nord Stream AG, wobei ein Beamter des Außenministeriums einräumte, dass der Versuch, die Pipeline durch Sanktionen und Diplomatie zu stoppen, „schon immer aussichtslos“ gewesen sei.
Hinter den Kulissen drängten Beamte der Regierung Berichten zufolge den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selensky, der zu diesem Zeitpunkt von einer russischen Invasion bedroht war, dazu, den Schritt nicht zu kritisieren.

Das hatte sofortige Folgen. Die Republikaner im Senat, angeführt von Cruz, kündigten eine sofortige Blockade aller von Biden nominierten Kandidaten für Außenpolitik an und verzögerten die Verabschiedung des jährlichen Verteidigungshaushaltes über Monate hinweg bis tief in den Herbst hinein. Politico bezeichnete Bidens Kehrtwende in Bezug auf die zweite russische Pipeline später als „die eine Entscheidung, die Bidens Agenda wohl noch mehr gefährdet hat, als der chaotische militärische Rückzug aus Afghanistan.“

Die Regierung geriet ins Trudeln, obwohl sie Mitte November einen Aufschub in der Krise erhielt, als die deutschen Energieregulierungsbehörden die Genehmigung für die zweite Nord Stream-Pipeline aussetzten. Die Erdgaspreise stiegen innerhalb weniger Tage um 8 Prozent, da in Deutschland und Europa die Befürchtung wuchs, dass die Aussetzung der Pipeline und die wachsende Möglichkeit eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine zu einem sehr unerwünschten kalten Winter führen könnten. In Washington war nicht klar, wo Olaf Scholz, der neu ernannte deutsche Bundeskanzler, steht. Monate zuvor, nach dem Fall Afghanistans, hatte Scholz in einer Rede in Prag öffentlich die Forderung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach einer eigenständigeren europäischen Außenpolitik unterstützt – ein klarer Hinweis darauf, dass man sich weniger auf Washington und dessen unberechenbares Handeln verlassen sollte.

Während dieser ganzen Zeit hatten sich die russischen Truppen an den Grenzen der Ukraine stetig und bedrohlich verstärkt, und Ende Dezember waren mehr als 100.000 Soldaten in der Lage, von Weißrussland und der Krim aus anzugreifen. In Washington wuchs die Besorgnis, und Blinken schätzte, dass diese Truppenstärke „in kurzer Zeit verdoppelt werden könnte“.

Die Aufmerksamkeit der Regierung richtete sich wieder einmal auf Nord Stream. Solange Europa von den Pipelines für billiges Erdgas abhängig blieb, befürchtete Washington, dass Länder wie Deutschland zögern würden, die Ukraine mit dem Geld und den Waffen zu versorgen, die sie brauchte, um Russland zu besiegen.

In diesem unruhigen Moment beauftragte Biden Jake Sullivan, eine ministerien-übergreifende Gruppe zusammenzustellen, die einen Plan ausarbeiten sollte.

Alle Optionen sollten auf den Tisch gelegt werden. Aber nur eine würde sich durchsetzen.

PLANUNG

Im Dezember 2021, zwei Monate bevor die ersten russischen Panzer in die Ukraine rollten, berief Jake Sullivan eine Sitzung einer neu gebildeten Arbeitsgruppe ein – Männer und Frauen aus den Stabschefs, der CIA, dem Außen- und dem Finanzministerium – und bat sie um Empfehlungen, wie auf Putins bevorstehende Invasion zu reagieren sei.

Es war das erste einer Reihe von streng geheimen Treffen in einem sicheren Raum im obersten Stockwerk des Old Executive Office Building, das an das Weiße Haus angrenzt und in dem auch das President’s Foreign Intelligence Advisory Board (PFIAB) untergebracht war. Es gab das übliche Hin- und Hergerede, das schließlich zu einer entscheidenden Vorfrage führte: Würde die Empfehlung, die die Gruppe dem Präsidenten übermittelte, reversibel sein – wie eine weitere Schicht von Sanktionen und Devisenbeschränkungen – oder irreversibel – also kinetische Aktionen, die nicht rückgängig gemacht werden könnten?

Den Teilnehmern wurde laut der Quelle mit direkter Kenntnis des Prozesses klar, dass Sullivan beabsichtigte, dass die Gruppe einen Plan für die Zerstörung der beiden Nord-Stream-Pipelines ausarbeiten sollte – und dass er die Wünsche des Präsidenten übermittelte.

In den folgenden Sitzungen erörterten die Teilnehmer die Optionen für einen Angriff. Die Marine schlug vor, ein neu in Dienst gestelltes U-Boot einzusetzen, um die Pipeline direkt anzugreifen. Die Luftwaffe diskutierte den Abwurf von Bomben mit verzögertem Zünder, die aus der Ferne gezündet werden könnten. Die CIA vertrat die Ansicht, dass der Angriff in jedem Fall verdeckt erfolgen müsse. Allen Beteiligten war klar, was auf dem Spiel stand. „Das ist kein Kinderkram“, sagte die Quelle. Wenn der Angriff auf die USA zurückgeführt werden könnte, „ist das eine Kriegshandlung“.

Damals wurde die CIA von William Burns geleitet, einem sanftmütigen ehemaligen Botschafter in Russland, der in der Obama-Regierung als stellvertretender Außenminister gedient hatte. Burns ermächtigte rasch eine Arbeitsgruppe der Agentur, zu deren Ad-hoc-Mitgliedern zufällig jemand gehörte, der mit den Fähigkeiten der Tiefseetaucher der Marine in Panama City vertraut war. In den nächsten Wochen begannen die Mitglieder der CIA-Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung eines Plans für eine verdeckte Operation, bei der Tiefseetaucher eingesetzt werden sollten, um eine Explosion entlang der Pipeline auszulösen.

So etwas war schon einmal gemacht worden. Im Jahr 1971 erfuhr der amerikanische Geheimdienst aus noch unbekannten Quellen, dass zwei wichtige Einheiten der russischen Marine über ein im Ochotskischen Meer an der russischen Fernostküste verlegtes Unterseekabel miteinander kommunizierten. Das Kabel verband ein regionales Marinekommando mit dem Hauptquartier auf dem Festland in Wladiwostok.
Ein handverlesenes Team von Mitarbeitern des US-Geheimdienstes CIA und der National Security Agency (NSA) wurde irgendwo im Großraum Washington zusammengetrommelt und arbeitete unter Einsatz von Marinetauchern, umgebauten U-Booten und einem Tiefsee-Rettungsfahrzeug einen Plan aus, mit dem es nach vielen Versuchen und Irrtümern gelang, das russische Kabel zu lokalisieren. Die Taucher brachten ein ausgeklügeltes Abhörgerät auf dem Kabel an, das den russischen Datenverkehr erfolgreich abfing und mit einem Abhörsystem aufzeichnete.

Die NSA erfuhr, dass hochrangige russische Marineoffiziere, die von der Sicherheit ihrer Kommunikationsverbindung überzeugt waren, ohne Verschlüsselung mit ihren Kollegen plauderten. Das Aufzeichnungsgerät und das dazugehörige Band mussten monatlich ausgetauscht werden, und das Projekt lief ein Jahrzehnt lang munter weiter, bis es von einem 24-jährigen zivilen NSA-Techniker namens Ronald Pelton, der fließend Russisch sprach, aufgedeckt wurde. Pelton wurde 1985 von einem russischen Überläufer verraten und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Russen zahlten ihm nur 5.000 Dollar für seine Enthüllungen über die Operation sowie 35.000 Dollar für andere russische Daten, die er zur Verfügung stellte und die nie veröffentlicht wurden.
Dieser Unterwassererfolg mit dem Codenamen Ivy Bells war innovativ und riskant und lieferte unschätzbare Erkenntnisse über die Absichten und Planungen der russischen Marine.

Dennoch war die ministerien-übergreifende Gruppe anfangs skeptisch, was die Begeisterung der CIA für einen verdeckten Tiefseeangriff anging. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen. Die Gewässer der Ostsee wurden von der russischen Marine stark patrouilliert, und es gab keine Ölplattformen, die als Deckung für eine Tauchoperation genutzt werden konnten. Müssten die Taucher nach Estland fahren, direkt über die Grenze zu den russischen Erdgasverladedocks, um für den Einsatz zu trainieren? „Das wäre ein Ziegenfick“, wurde der Agentur gesagt.
Während „all dieser Planungen“, so die Quelle, „sagten einige Mitarbeiter der CIA und des Außenministeriums: ‚Macht das nicht. Es ist dumm und wird ein politischer Albtraum, wenn es herauskommt.’“

Dennoch berichtete die CIA-Arbeitsgruppe Anfang 2022 an Sullivans ministerien-übergreifende Gruppe: „Wir haben eine Möglichkeit, die Pipelines zu sprengen.“

Was dann kam, war verblüffend. Am 7. Februar, weniger als drei Wochen vor der scheinbar unvermeidlichen russischen Invasion in der Ukraine, traf sich Biden in seinem Büro im Weißen Haus mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, der nach einigem Wackeln nun fest auf der Seite der Amerikaner stand. Bei der anschließenden Pressekonferenz sagte Biden trotzig: „Wenn Russland einmarschiert … wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“

Zwanzig Tage zuvor hatte Staatssekretärin Nuland bei einem Briefing des Außenministeriums im Wesentlichen dieselbe Botschaft verkündet, ohne dass die Presse darüber berichtet hätte. „Ich möchte Ihnen heute ganz klar sagen“, antwortete sie auf eine Frage, „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 so oder so nicht vorankommen.“

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Mehrere an der Planung der Pipeline-Mission beteiligte Personen zeigten sich bestürzt über die ihrer Meinung nach indirekten Anspielungen auf den Angriff.
„Es war, als würde man eine Atombombe in Tokio auf den Boden legen und den Japanern sagen, dass wir sie zünden werden“, sagte die Quelle. „Der Plan war für die Optionen, die nach der Invasion ausgeführt und nicht öffentlich bekannt gegeben werden sollten. Biden hat es einfach nicht kapiert oder ignoriert.“

Bidens und Nulands Indiskretion, wenn es denn eine solche war, könnte einige der Planer frustriert haben. Aber sie schuf auch eine Gelegenheit. Der Quelle zufolge waren einige hochrangige CIA-Beamte der Ansicht, dass die Sprengung der Pipeline „nicht länger als verdeckte Option betrachtet werden konnte, weil der Präsident gerade bekannt gegeben hatte, dass wir wüssten, wie man es macht.“
Der Plan, Nord Stream 1 und 2 zu sprengen, wurde plötzlich von einer verdeckten Operation, über die der Kongress informiert werden musste, zu einer geheimen Geheimdienstoperation mit militärischer Unterstützung der USA herabgestuft. Nach dem Gesetz, so die Quelle, „gab es keine rechtliche Verpflichtung mehr, den Kongress über die Operation zu informieren. Alles, was sie jetzt tun mussten, war, es einfach zu tun – aber es musste immer noch geheim sein. Die Russen haben eine hervorragende Überwachung der Ostsee.“

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe der Agentur hatten keinen direkten Kontakt zum Weißen Haus und wollten unbedingt herausfinden, ob der Präsident ernst meinte, was er gesagt hatte, also ob die Mission nun genehmigt war. Die Quelle erinnerte sich: „Bill Burns kam zurück und sagte: ‚Tut es.’“

DIE OPERATION

Norwegen war der perfekte Ort für die Basis der Mission.
In den letzten Jahren der Ost-West-Krise hat das US-Militär seine Präsenz in Norwegen, dessen Westgrenze 1.400 Meilen entlang des Nordatlantiks verläuft und oberhalb des Polarkreises an Russland grenzt, erheblich ausgeweitet.
Das Pentagon hat durch Investitionen in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar in die Modernisierung und den Ausbau von Einrichtungen der amerikanischen Marine und der Luftwaffe in Norwegen hoch bezahlte Arbeitsplätze und Verträge geschaffen, die vor Ort nicht unumstritten waren. Zu den neuen Arbeiten gehörte vor allem ein fortschrittliches Radar mit synthetischer Apertur weit im Norden, das tief in Russland eindringen kann und gerade zu dem Zeitpunkt in Betrieb genommen wurde, als die amerikanischen Geheimdienste den Zugang zu einer Reihe von Langstrecken-Abhörstationen verloren, mit denen sie in China hinein lauschen konnten.

Ein neu eingerichteter amerikanischer U-Boot-Stützpunkt, der seit Jahren im Bau war, wurde in Betrieb genommen, und mehr amerikanische U-Boote konnten nun eng mit ihren norwegischen Kollegen zusammenarbeiten, um eine große russische Nuklearstation 250 Meilen östlich auf der Halbinsel Kola zu überwachen und auszuspionieren. Die Amerikaner haben außerdem einen norwegischen Luftwaffenstützpunkt im Norden erheblich ausgebaut und der norwegischen Luftwaffe eine Flotte von Boeing-Poseidon-Patrouillenflugzeugen zur Verfügung gestellt, um die Langstreckenspionage gegen Russland zu verstärken.

Im Gegenzug verärgerte die norwegische Regierung im November letzten Jahres die Liberalen und einige gemäßigte Abgeordnete im Parlament mit der Verabschiedung des ergänzenden Abkommens über die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich (SDCA). Das neue Abkommen sieht vor, dass die US-Justiz in bestimmten „vereinbarten Gebieten“ im Norden für amerikanische Soldaten zuständig ist, die außerhalb des Stützpunktes eines Verbrechens beschuldigt werden, sowie für norwegische Bürger, die beschuldigt oder verdächtigt werden, die Arbeit auf dem Stützpunkt zu stören.
Norwegen gehörte zu den Erstunterzeichnern des NATO-Vertrags im Jahr 1949, in den Anfängen des Kalten Krieges. Heute ist der Generalsekretär der NATO Jens Stoltenberg, ein überzeugter Antikommunist, der acht Jahre lang norwegischer Ministerpräsident war, bevor er 2014 mit amerikanischer Unterstützung auf seinen hohen NATO-Posten wechselte. Er war ein Hardliner in Sachen Putin und Russland und hatte seit dem Vietnamkrieg mit den amerikanischen Geheimdiensten zusammengearbeitet. Seitdem genießt er volles Vertrauen. „Er ist der Handschuh, der zur amerikanischen Hand passt“, sagte die Quelle.

Zurück in Washington wussten die Planer, dass sie nach Norwegen gehen mussten. „Sie hassten die Russen und die norwegische Marine war voller hervorragender Matrosen und Taucher, die seit Generationen Erfahrung in der hochprofitablen Tiefsee-Öl- und Gasexploration hatten“, sagte die Quelle. Außerdem konnte man darauf vertrauen, dass sie die Mission geheim halten würden. (Die Norweger könnten auch andere Interessen gehabt haben. Die Zerstörung von Nord Stream – falls die Amerikaner es schaffen sollten – würde es Norwegen ermöglichen, weitaus mehr eigenes Erdgas nach Europa zu verkaufen).

Irgendwann im März flogen einige Mitglieder des Teams nach Norwegen, um sich mit dem norwegischen Geheimdienst und der Marine zu treffen. Eine der wichtigsten Fragen war, wo genau in der Ostsee der beste Ort für die Anbringung des Sprengstoffs ist. Nord Stream 1 und 2, die jeweils über zwei Pipelines verfügen, waren auf ihrem Weg zum Hafen von Greifswald im äußersten Nordosten Deutschlands größtenteils nur eine Meile voneinander entfernt.

Die norwegische Marine fand schnell die richtige Stelle in den flachen Gewässern der Ostsee, nur wenige Meilen vor der dänischen Insel Bornholm. Die Pipelines verliefen in einem Abstand von mehr als einer Meile entlang eines Meeresbodens, der nur 260 Fuß tief war. Das wäre in Reichweite der Taucher, die von einem norwegischen Minenjäger der Alta-Klasse aus mit einem Gemisch aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium aus ihren Tanks tauchen und C4-Sprengladungen an den vier Pipelines anbringen würden, die mit Betonabdeckungen versehen sind. Es wäre eine mühsame, zeitraubende und gefährliche Arbeit, aber die Gewässer vor Bornholm hatten einen weiteren Vorteil: Es gab keine größeren Gezeitenströmungen, die das Tauchen erheblich erschwert hätten.
Nach ein paar Nachforschungen waren die Amerikaner einverstanden.

An diesem Punkt kam wieder einmal die obskure Tiefseetauchergruppe der Marine in Panama City ins Spiel. Die Tiefseeschulen in Panama City, deren Schüler an den Ivy Bells teilnahmen, werden von den Elite-Absolventen der Marineakademie in Annapolis, die in der Regel nach dem Ruhm streben, als Seal, Kampfpilot oder U-Boot-Fahrer eingesetzt zu werden, als unerwünschtes Hinterland angesehen. Wenn man ein „Black Shoe“ werden muss, also ein Mitglied des weniger begehrten Überwasserschiffkommandos, gibt es aber zumindest immer einen Posten auf einem Zerstörer, Kreuzer oder Amphibienschiff. Am wenigsten glamourös ist die Minenkriegsführung. Ihre Taucher erscheinen nie in Hollywood-Filmen oder auf den Titelseiten populärer Zeitschriften.
„Die besten Taucher mit Tieftauchqualifikationen sind eine enge Gemeinschaft, und nur die allerbesten werden für die Operation rekrutiert und darauf hingewiesen, dass sie sich darauf einstellen müssen, zur CIA nach Washington gerufen zu werden“, sagte die Quelle.

Die Norweger und Amerikaner hatten einen Ort und die Agenten, aber es gab noch eine weitere Sorge: Jede ungewöhnliche Unterwasseraktivität in den Gewässern vor Bornholm könnte die Aufmerksamkeit der schwedischen oder dänischen Marine auf sich ziehen, die darüber berichten könnten.

Dänemark gehörte ebenfalls zu den ursprünglichen NATO-Unterzeichnern und war in Geheimdienstkreisen für seine besonderen Beziehungen zu Großbritannien bekannt. Schweden hatte einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt und sein großes Geschick bei der Verwaltung seiner Unterwasserschall- und Magnetsensorsysteme unter Beweis gestellt, mit denen es erfolgreich russische U-Boote aufspürte, die gelegentlich in den entlegenen Gewässern der schwedischen Schären auftauchten und zum Auftauchen gezwungen wurden.

Die Norweger schlossen sich den Amerikanern an und bestanden darauf, dass einige hochrangige Beamte in Dänemark und Schweden in allgemeiner Form über mögliche Tauchaktivitäten in dem Gebiet unterrichtet werden mussten. Auf diese Weise konnte ein höherer Beamter eingreifen und einen Bericht aus der Befehlskette heraushalten und so die Pipeline-Operation isolieren. „Was ihnen gesagt wurde und was sie wussten, waren absichtlich unterschiedliche Dinge“, sagte die Quelle (die norwegische Botschaft, die um einen Kommentar zu dieser Geschichte gebeten wurde, hat nicht geantwortet).

Die Norweger waren der Schlüssel zur Überwindung anderer Hürden. Es war bekannt, dass die russische Marine über eine Überwachungstechnologie verfügte, die in der Lage war, Unterwasserminen aufzuspüren und auszulösen. Die amerikanischen Sprengsätze mussten so getarnt werden, dass sie für das russische System als Teil des natürlichen Hintergrunds erscheinen würden – was eine Anpassung an den spezifischen Salzgehalt des Wassers erforderte. Die Norweger hatten eine Lösung.

Die Norweger hatten auch eine Lösung für die entscheidende Frage, wann die Operation durchgeführt werden sollte. Seit 21 Jahren veranstaltet die amerikanische Sechste Flotte, deren Flaggschiff in Gaeta (Italien) südlich von Rom stationiert ist, jedes Jahr im Juni eine große NATO-Übung in der Ostsee, an der zahlreiche Schiffe der Alliierten aus der gesamten Region teilnehmen. Die aktuelle Übung, die im Juni stattfinden soll, wird als Baltic Operations 22 oder BALTOPS 22 bezeichnet. Die Norweger schlugen vor, dass dies die ideale Tarnung für das Verlegen der Minen sein würde.

Die Amerikaner lieferten ein entscheidendes Element: Sie überzeugten die Planer der Sechsten Flotte, das Programm um eine Forschungs- und Entwicklungsübung zu erweitern. An der Übung, die von der Marine bekannt gegeben wurde, war die Sechste Flotte in Zusammenarbeit mit den „Forschungs- und Kriegsführungszentren“ der Marine beteiligt. Bei der Übung, die vor der Küste der Insel Bornholm stattfinden sollte, sollten Taucherteams der NATO Minen verlegen, während die konkurrierenden Teams die neueste Unterwassertechnologie einsetzten, um die Minen zu finden und zu zerstören.

Das war sowohl eine nützliche Übung als auch eine raffinierte Tarnung. Die Jungs aus Panama City würden ihre Arbeit tun, und die C4-Sprengsätze würden bis zum Ende von BALTOPS22 an Ort und Stelle sein, mit einem 48-Stunden-Timer versehen. Alle Amerikaner und Norweger würden bei der ersten Explosion schon lange weg sein.

Die Tage zählten herunter. „Die Uhr tickte, und wir waren kurz davor, die Mission zu erfüllen“, sagte die Quelle.

Und dann: Washington überlegte es sich anders. Die Bomben würden immer noch während BALTOPS gelegt werden, aber das Weiße Haus befürchtete, dass ein Zeitfenster von zwei Tagen für ihre Detonation zu kurz vor dem Ende der Übung sein würde, und es wäre offensichtlich, dass Amerika beteiligt war. Stattdessen hatte das Weiße Haus eine neue Anfrage: „Können sich die Jungs vor Ort etwas einfallen lassen, um die Pipelines später auf Kommando zu sprengen?“

Einige Mitglieder des Planungsteams waren verärgert und frustriert über die scheinbare Unentschlossenheit des Präsidenten. Die Taucher in Panama City hatten wiederholt geübt, C4 an den Pipelines anzubringen, wie sie es bei BALTOPS tun würden, aber nun musste das Team in Norwegen einen Weg finden, um Biden zu geben, was er wollte – die Möglichkeit, einen erfolgreichen Ausführungsbefehl zu einem Zeitpunkt seiner Wahl zu erteilen.
Mit einer willkürlichen Änderung in letzter Minute beauftragt zu werden, war etwas, womit die CIA vertraut war. Allerdings wurden dadurch auch erneut Bedenken hinsichtlich der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der gesamten Operation geäußert.

Die geheimen Befehle des Präsidenten erinnerten auch an das Dilemma der CIA in den Tagen des Vietnamkriegs, als Präsident Johnson angesichts der wachsenden Anti-Vietnamkriegsstimmung die Agentur anwies, gegen ihre Charta zu verstoßen, die ihr ausdrücklich verbot, innerhalb Amerikas zu operieren, indem sie die Führer der Kriegsgegner ausspionierte, um festzustellen, ob sie vom kommunistischen Russland kontrolliert wurden.
Die Agentur willigte schließlich ein, und im Laufe der 1970er Jahre wurde deutlich, wie weit sie zu gehen bereit war. Nach den Watergate-Skandalen enthüllten Zeitungen, dass die Agentur amerikanische Bürger ausspionierte, dass sie an der Ermordung ausländischer Staatschefs beteiligt war und die sozialistische Regierung von Salvador Allende untergrub.

Diese Enthüllungen führten Mitte der 1970er Jahre zu einer Reihe dramatischer Anhörungen im Senat unter der Leitung von Frank Church aus Idaho, bei denen deutlich wurde, dass Richard Helms, der damalige Direktor der Agentur, akzeptiert hatte, dass er verpflichtet war, die Wünsche des Präsidenten zu erfüllen, auch wenn das einen Verstoß gegen das Gesetz bedeutete.
In einer unveröffentlichten Zeugenaussage hinter verschlossenen Türen erklärte Helms reumütig, dass „man fast eine unbefleckte Empfängnis hat, wenn man etwas auf geheime Anweisung eines Präsidenten tut“. „Ob es nun richtig ist, dass Sie es haben sollten, oder falsch, dass Sie es haben sollen, [die CIA] arbeitet nach anderen Regeln und Grundregeln als jeder andere Teil der Regierung.“ Damit erklärte er den Senatoren, dass er als Leiter der CIA für die Krone und nicht für die Verfassung arbeite.

Die Amerikaner, die in Norwegen im Einsatz waren, arbeiteten mit der gleichen Dynamik und begannen pflichtbewusst mit der Arbeit an dem neuen Problem – der Fernzündung des C4-Sprengstoffs auf Bidens Befehl. Die Aufgabe war viel anspruchsvoller, als man in Washington angenommen hatte. Das Team in Norwegen konnte nicht wissen, wann der Präsident den Knopf drücken würde. Würde es in ein paar Wochen, in vielen Monaten oder in einem halben Jahr oder länger sein?

Das an den Pipelines angebrachte C4 würde durch eine Sonarboje ausgelöst, die kurzfristig von einem Flugzeug abgeworfen wird, aber das Verfahren erforderte modernste Signalverarbeitungstechnologie. Die an den vier Pipelines angebrachten Geräte zur zeitlichen Verzögerung könnten versehentlich durch die komplexe Mischung von Meeresgeräuschen in der stark befahrenen Ostsee ausgelöst werden – von nahen und fernen Schiffen, Unterwasserbohrungen, seismischen Ereignissen, Wellen und sogar Meerestieren. Um das zu vermeiden, würde die Sonarboje, sobald sie an Ort und Stelle ist, eine Abfolge einzigartiger tieffrequenter Töne aussenden – ähnlich denen einer Flöte oder eines Klaviers -, die vom Zeitmessgerät erkannt und nach einer voreingestellten Verzögerung von mehreren Stunden den Sprengstoff auslösen würden. („Sie wollen ein Signal, das robust genug ist, damit kein anderes Signal versehentlich einen Impuls senden kann, der den Sprengstoff zündet“, erklärte mir Dr. Theodore Postol, emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und nationale Sicherheitspolitik am MIT. Postol, der als wissenschaftlicher Berater des Chefs der Marineoperationen im Pentagon tätig war, sagte, das Problem, dem sich die Gruppe in Norwegen wegen Bidens Verzögerung gegenübersah, sei eine Frage des Zufalls: „Je länger der Sprengstoff im Wasser ist, desto größer ist das Risiko eines zufälligen Signals, das die Bomben auslöst“)

Am 26. September 2022 warf ein P8-Überwachungsflugzeug der norwegischen Marine bei einem scheinbaren Routineflug eine Sonarboje ab. Das Signal breitete sich unter Wasser aus, zunächst zu Nord Stream 2 und dann zu Nord Stream 1. Wenige Stunden später wurde der Hochleistungs-C4-Sprengstoff ausgelöst und drei der vier Pipelines wurden außer Betrieb gesetzt. Innerhalb weniger Minuten konnte man sehen, wie sich Methangas, das in den stillgelegten Pipelines verblieben war, an der Wasseroberfläche ausbreitete, und die Welt erfuhr, dass etwas Unumkehrbares geschehen war.

FALLOUT

Unmittelbar nach dem Bombenanschlag auf die Pipeline behandelten die amerikanischen Medien den Vorfall wie ein ungelöstes Rätsel. Russland wurde wiederholt als wahrscheinlicher Schuldiger genannt, angespornt durch kalkulierte Indiskretionen aus dem Weißen Haus – ohne dass jemals ein klares Motiv für einen solchen Akt der Selbstsabotage jenseits einfacher Vergeltung gefunden wurde. Als sich einige Monate später herausstellte, dass die russischen Behörden in aller Stille Kostenvoranschläge für die Reparatur der Pipelines eingeholt hatten, bezeichnete die New York Times diese Nachricht als „Erschwerung der Theorien darüber, wer hinter dem Anschlag steckt.“
Keine große amerikanische Zeitung ging auf die früheren Drohungen gegen die Pipelines ein, die von Biden und Staatssekretärin Nuland ausgesprochen wurden.

Während nie klar war, warum Russland versuchen sollte, seine eigene lukrative Pipeline zu zerstören, kam eine aufschlussreichere Begründung für die Aktion des Präsidenten von Außenminister Blinken.
Auf einer Pressekonferenz im vergangenen September zu den Folgen der sich verschärfenden Energiekrise in Westeuropa befragt, beschrieb Blinken den Moment als einen potenziell guten:

„Es ist eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Energie als Waffe zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne zu entziehen. Das ist sehr bedeutsam und bietet eine enorme strategische Chance für die kommenden Jahre, aber in der Zwischenzeit sind wir entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass die Folgen all dessen nicht von den Bürgern in unseren Ländern oder in der ganzen Welt getragen werden.“

Kürzlich äußerte sich Victoria Nuland erfreut über das Scheitern der neuen beiden Pipelines. Bei einer Anhörung des Ausschusses für auswärtige Beziehungen des Senats Ende Januar sagte sie zu Senator Ted Cruz: „Wie Sie bin auch ich, und ich denke, die Regierung ist sehr erfreut zu wissen, dass Nord Stream 2 nun, wie Sie sagen, ein Haufen Metall auf dem Grund des Meeres ist.“

Die Quelle sah Bidens Entscheidung, mehr als 1.500 Meilen der Gazprom-Pipeline zu sabotieren, während der Winter näher rückte, wesentlich nüchterner. „Nun“, sagte er über den Präsidenten, „ich muss zugeben, dass der Kerl Eier hat. Er hat gesagt, er würde es tun, und er hat es getan.“

Auf die Frage, warum die Russen seiner Meinung nach nicht reagierten, antwortete er zynisch: „Vielleicht wollen sie die Möglichkeit haben, dasselbe zu tun, was die USA getan haben.“

Es war eine schöne Tarngeschichte“, fuhr er fort. „Dahinter steckte eine verdeckte Operation, bei der Experten vor Ort eingesetzt wurden und Geräte, die mit einem verdeckten Signal arbeiteten.“

„Der einzige Makel war die Entscheidung, es zu tun.“

Ende der Übersetzung

Die Reaktionen der USA

Bleibt noch hinzuzufügen, dass die Geschichte von der US-Regierung sofort dementiert wurde. Die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates sagte auf Anfrage der russischen Nachrichtenagentur TASS:

„Das ist eine absolute Lüge und totale Fiktion.“

Ein Pentagonsprecher antwortete auf Anfrage der russischen Nachrichtenagentur TASS:

„Die USA haben nichts mit der Explosion von Nord Stream zu tun.“

Die westlichen Medien sind an der Geschichte bisher anscheinend nicht interessiert. US-Außenminister Blinken und NATO-Generalsekretär Stoltenberg haben nach der Veröffentlichung des Artikels von Hersh eine gemeinsame Pressekonferenz in Washington gehabt, aber die westlichen Journalisten haben nicht nach Nord Stream gefragt.
Auf der Pressekonferenz durften amerikanische Journalisten insgesamt vier Fragen stellen, aber keine von ihnen betraf das Thema. Sie fragten nach dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien, nach Flugzeugen für die Ukraine, nach der chinesischen Bedrohung für die USA und die NATO und nach dem chinesischen Ballon über den USA sowie nach den Aussichten für einen Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO.

Der Originalartikel ist hier einsehbar:
https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream

Und hier die Fortsetzung der Geschichte:

https://josopon.wordpress.com/2023/02/09/nord-stream-von-usa-gesprengt-wer-hatte-je-zweifel-daran-eine-kriegserklarung-an-deutschland/

Die Kriminalgeschichte von Viktoria Nuland wurde schon vor 2 Jahren hier schön beschrieben:
https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509771/Staatsstreiche-und-Kriege-Seit-30-Jahren-ist-Victoria-Nuland-aktiv-nun-soll-sie-wiederkommen

Staatsstreiche und Kriege: Seit 30 Jahren ist Victoria Nuland aktiv – nun soll sie wiederkommen

US-Präsident Joe Biden zufolge soll die US-Diplomatin Victoria Nuland eine wichtige Rolle in der künftigen US-Außenpolitik spielen. Seit 30 Jahren zeichnet sie sich als aktive Unterstützerin von Putschen, Umstürzen und Kriegen gegen andere Staaten aus. Eine Dokumentation ihrer „Erfolge“

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen