Was Mittelschicht genannt wird, ist in Wahrheit schon die Reichenschicht

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

n_haeringDas schreibt Norbert Haering: https://norberthaering.de/news/mittelschicht-oder-reich/
Auszüge:

26. 12. 2020 | Die Bevölkerung hat eine völlig verzerrte Vorstellung davon, wie wenig DurchschnittsbürgerInnen verdienen und haben.
Deshalb darf sich noch zur Mittelschicht zählen, wer eigentlich klar zu den Reichen gehört.
Politik für die sogenannte Mittelschicht wird dann schnell zur Elitenförderung.

Anders als etwa in den USA ist reich zu sein in Deutschland eher peinlich.
pexels-photo-259027.jpegAlle wollen zur Mittelschicht gehören, nicht nur Multimillionäre wie Friedrich Merz (CDU) oder Sehrgutverdiener wie Finanzminister Olaf Scholz (SPD).

Fragt man die Deutschen, wo das Reichsein anfängt, setzen sie die Untergrenze dafür in etwa bei einem monatlichen Nettoeinkommen zwischen 7000 und 10.000 Euro, berichtet Judith Niehues, Leiterin Methodenentwicklung beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Handelsblatt.
Die Deutschen gehen der Expertin zufolge davon aus, dass ein Fünftel der Bevlkerung so viel Geld jeden Monat verdient.

Doch die Realität sieht ganz anders aus: Allenfalls drei Prozent der Haushalte in Deutschland verfügen laut IW über dieses monatliche Nettoeinkommen. Betrachtete man die einkommensstärksten 20 Prozent der Haushalte in Deutschland als reich, dann wäre man bereits mit einem Nettomonatseinkommen von knapp 3000 Euro reich.

Legt man diesen Mastab an, wäre Finanzminister Scholz ohne Zweifel dem Kreis der Reichen zuzurechnen. Der SPD-Politiker hatte krzlich eine Debatte ausgelöst, indem er auf die Interview-Frage, ob er sich als reich bezeichnen würde, geantwortet hatte, er verdiene ganz gut.
Er würde sich aber nicht als reich empfinden, hatte der SPD-Kanzlerkandidat ergänzt.

Als Bundesminister bekommt Scholz nach Angaben des Bundesfinanzministeriums inklusive Zuschläge ein monatliches Gehalt in Höhe von rund 15.500 Euro. Seine Ehefrau, die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst, bezieht rund 14.000 Euro monatlich.
Zusammen kommt das kinderlose Ehepaar also auf knapp 30.000 Euro Bruttoverdienst pro Monat.

Großzügige Mittelschichts-Obergrenzen

Für IW-Expertin Niehues beginnt die obere Mittelschicht beim Eineinhalbfachen des mittleren monatlichen Nettoeinkommens von knapp 2000 Euro und reicht bis zum Zweieinhalbfachen dieses Betrags: Das wären dann knapp 4900 Euro.
Einkommensreichtum beginnt für sie über diesem Schwellenwert. Nur 3,3 Prozent der Haushalte in Deutschland sind einkommensreich nach dieser Definition das Ehepaar Scholz zählt demnach dazu. 15 Prozent der Bevölkerung gehören dagegen laut dieser Definition zur oberen Mittelschicht.

Stefan Bach, Steuer- und Verteilungsexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), verortet die Obergrenze der Mittelschicht noch höher.
Für ihn ist man mit 60.000 Euro netto im Jahr Besserverdiener, ein Zwischenschritt zum Einkommensreichen. Viele darüber fühlen sich sicher noch als Mittelschicht, nicht nur Herr Merz, urteilt Bach.

Bach zieht die Grenze zum Einkommensreichtum dort, wo das oberste Hundertstel der Einkommen beginnt.
Um zu diesem Kreis zu gehören, muss man mindestens 160.000 Euro brutto im Jahr verdienen.
Auch bei dieser Definition zählte Scholz zu den Reichen im Lande.

Noch schwerer ist es, zu den Einkommensreichen zu gehören, wenn man die Reichensteuer zum Maßstab nimmt, die als Alleinstehende ab einem steuerpflichtigen Einkommen von 265.327 Euro einen erhöhten Steuersatz von 45 Prozent zahlen müssen.
Das trifft 163.000 Steuerzahler
oder rund 0,2 Prozent der Bevölkerung.

Wie Haushalte vergleichbar gemacht werden

In der Mitte der Verteilung liegt man nach einer Aufstellung von Bach mit 22.500 Euro Jahresbrutto pro Haushaltsmitglied.
Die genannten Grenzen der Einkommensschichten beruhen auf dem sogenannten äquivalenzgewichteten Haushaltseinkommen pro Person, das die OECD anlegt. Dabei wird das Gesamteinkommen auf alle Haushaltsmitglieder aufgeteilt.

Das erste erwachsene Haushaltsmitglied wird dabei mit eins, jedes weitere ab 14 Jahren mit 0,5 angesetzt, Kinder mit dem Faktor 0,3. Das soll die Ersparnisse in der gemeinsamen Haushaltsführung und geringeren Bedarf der Kinder widerspiegeln und die Haushaltsmitglieder mit Single-Haushalten vergleichbar machen.

Paare teilen also das Gesamteinkommen durch 1,5, um ihre Position in dieser Verteilung zu bestimmen. Ein Paar mit einem Kind teilt das Gesamteinkommen durch 1,8, eines mit zwei Kindern durch 2,1.

Wem die Bedarfsfaktoren der OECD für die Haushaltsmitglieder arg niedrig vorkommen: Das Statistische Bundesamt nennt sie willkürlich gewählt.
Bevor die OECD sie modifiziert hat, lagen sie deutlich höher, die ausgewiesenen Äquivalenzeinkommen pro Haushaltsmitglied also deutlich niedriger.

Vermögend schon mit einem Auto

Die Vermögen sind noch deutlich ungleicher verteilt als die Einkommen. Hier steht eine Mehrheit der Habenichtse einer Minderheit von Menschen mit großen Vermögen gegenber. Dazwischen liegt eine eher schmale wohlhabende Mittelschicht.

Laut einer Untersuchung des beim DIW angesiedelten Sozioökonomischen Panels (SOEP) von Juli reicht ein Nettovermögen nach Abzug der Schulden im Wert eines neuen Mittelklassenautos, um zur vermögenderen Hlfte der Bevölkerung zu gehren: knapp 23.000 Euro.
Die untere Hälfte der Bevölkerung hat insgesamt betrachtet so viele Schulden wie Vermögenswerte.

Mit einem Nettovermögen von 126.000 Euro, also etwa einem halb abbezahlten Haus unterer Preislage gehört man zum reichsten Viertel der Deutschen.
Ein abbezahltes Haus in dieser Preislage (279.000 Euro) reicht für einen Platz unter den reichsten zehn Prozent.
Ein hypothekenfreies Reihenhaus in der Stadt (438.000 Euro), und man gehrt zu den reichsten fünf Prozent. Dann kommt ein größerer Sprung.

Reiche haben ertragreichere Vermögenswerte

pexels-photo-210600.jpegDie Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Fr die unteren Einkommensschichten ist der fahrbare Untersatz meist der wichtigste Vermögenswert.
Darüber, bis dort wo der Reichtum beginnt, besteht das Vermögen überwiegend aus den Wohnungen und Häusern, in denen man wohnt. Hinzu kommen bei den Bessergestellten noch in gewissem Umfang vermietete Immobilien.

Wer zum reichsten Prozent gehört und besonders zu den reichsten 0,1 Prozent, hat dagegen vor allem Betriebsvermögen.
1,3 Millionen Euro muss man netto sein Eigen nennen, um zur erstgenannten Gruppe zu gehören, knapp 5,5 Millionen bringen einen in das reichste Tausendstel der Deutschen.

Typischerweise wirft Betriebsvermögen die höchste Rendite ab, Autos die niedrigste. Ederer, Mayerhofer und Rehm haben in einer Studie aus dem Jahr 2019 nachgewiesen, dass die Durchschnittsrendite der Vermögensanlagen systematisch um so höher ist, je höher das Vermögen ihrer Eigentümer.

Wer wird Millionär?

Der typische Vermögensmillionär sieht so aus, wie ihn die meisten sich vorstellen werden: ein weißer älterer Herr (west-)deutscher Abstammung oder in den Worten des SOEP: Sie sind überdurchschnittlich häufig männlich, haben einen überdurchschnittlichen Bildungsabschluss, sind älter als der Rest der Bevölkerung und haben unterdurchschnittlich häufig einen Migrationshintergrund.

Millionäre haben auch, wenig überraschend, mit über 7600 Euro mtl. ein weit überdurchschnittliches Nettoeinkommen (gewichtetes Haushaltseinkommen) und sparen überdurchschnittlich. Auch deshalb können sie schneller zustäzliches Vermögen akkumulieren als die Nichtmillionäre.

Wenn Millionöre arbeiten, dann in der Regel selbstständig, unternehmerisch oder als Geschäftsführer oder in ähnlicher leitender Position. Diejenigen, die arbeiten, arbeiten mit 47 Stunden pro Woche erheblich mehr als der Durchschnitt. Welcher Anteil der Millionäre arbeitet, schreibt das DIW nicht.

In ihren Persönlichkeitsmerkmalen unterscheiden sich Millionäre vor allem in zwei Eigenschaften von den Nichtreichen. Eine gebräuchliche Einteilung in der Persönlichkeitspsychologie ist das Fünf-Faktoren-Modell. Bei den drei Hauptdimensionen Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Extroversion (Geselligkeit) gibt es laut den Befragungen des SOEP keinen Unterschied. Bei Neurotizismus haben Millionäre etwas höhere Werte.

Aber der einzige große Unterschied bei diesen fünf Merkmalen liegt darin, dass Millionäre deutlich weniger verträgliche Menschen sind. Das jedenfalls ergeben die SOEP-Befragungen. Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft und Einfühlungsvermögen sind demnach bei ihnen im Durchschnitt wenig ausgeprägt.

Den zweiten großen Unterschied gibt es bei einer Eigenschaft, die unter den Großen Fünf nicht separat ausgewiesen ist. Millionäre sind im Durchschnitt sehr risikofreudig. Von ihnen weisen der SOEP-Befragung zufolge 40 Prozent die drei höchsten Werte von acht bis zehn auf. Bei der übrigen Bevölkerung ist der Anteil weniger als halb so hoch.

Ob Millionäre es sich einfach besser leisten können, Risiken einzugehen, weil sie Reserven haben, oder ob sie reich geworden sind, weil sie Risiken eingegangen sind, lässt sich aus der Befragung nicht ablesen.

Fragt man die Millionäre, wie sie reich geworden sind, so sind Arbeit und unternehmerisches Geschick die Hauptfaktoren. Erbschaften, Schenkungen und Glück spielen dagegen nach ihrer Selbstwahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle.

Folgerungen für die Politik

Die Neigung, auch noch Menschen noch zur Mittelschicht zu zählen, die dreimal so viel Geld ausgeben können wie Menschen in der unteren Mittelschicht und die starke Verzerrung der Wahrnehmung dessen, was man normalerweise in Deutschland verdient, bewirken, dass vieles von dem, was als Politik für die Mitte verkauft und wahrgenommen wird, in Wahrheit eine Politik für eine erweiterte Oberschicht ist.
Demgegenber sind soziale Leistungen und Maßnahmen, die in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit einer Schicht von Benachteiligten zugute kommen, tatsächlich Leistungen an die Mittelschicht.

Aktuelles Buch

Buchtitelcampus.de >>

Über Kommentare auf meinem Blog hier würde ich mich freuen.
Jochen

Postmaterialistischer Abgrund: wo bleibt der antikapitalistische Kern der Linken?

Interessanter Beitrag aus der Ostflanke der EU in der Juli-IPG. Dort auch eine sehr kontroverse Reaktion in den Diskussionsbeträgen:

http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/die-linke-global-wo-funktioniert-es/artikel/detail/der-postmaterialistische-abgrund-1500/

Auszüge:

Der antikapitalistische Kern der Linken darf nicht durch kleinbürgerlichen Liberalismus, Transgenderrechte und Tierschutz ersetzt werden.

Portrait_Blaha

Dubos Blaha

Von Ľuboš Blaha | 04.07.2016

Ich kritisiere an den europäischen sozialdemokratischen Parteien nun schon seit einigen Jahren, dass sie sich von den Arbeitnehmern entfernt haben und ihre Wertvorstellungen an einer liberalen städtischen Mittelschicht ausrichten. Für mich liegt genau hier die Wurzel der gegenwärtigen Krise der Linken.

Meine Kritik an der liberalen Agenda kommt nicht aus einer konservativen Ecke. Ich habe mehrere philosophische Bücher über Sozialliberalismus und Neomarxismus geschrieben und unterstütze die Agenda der postmodernen Linken, einschließlich ihres Eintretens für die Rechte der LGBTI-Gemeinde. Es ist jedoch auffällig, dass bei linksgerichteten Parteien post-materialistische Themen in den Vordergrund gerückt sind, und zwar häufig zulasten von traditionellen sozialen und wirtschaftlichen Inhalten. Das ist ein strategischer Fehler, der die Linken in ganz Europa teuer zu stehen kommt. Sie büßen damit die traditionelle Wählerschaft aus der Arbeiterschicht ein, und die Wechselwähler aus der Mittelschicht sind kein beständiger Ersatz. Denn diese geben ihre Stimme auch gern mal den Grünen oder aber irgendeiner für einen freien Markt eintretenden neoliberalen Partei.

Der europäische Wähler versteht den Unterschied zwischen linker und rechter Politik schon gar nicht mehr.

Ich verstehe mich als Linker, weil ich für die sozialen Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen, für mehr soziale Gleichheit, einen Sozialstaat und für Wirtschaftsdemokratie kämpfe. In meinen Augen kommt der linken Wirtschaftspolitik ein höherer Stellenwert zu als der kulturellen Linksorientierung. In Zeiten neoliberaler Reformen, die in ganz Europa auf soziale Kompromisse abzielen, ist es für linke Parteien zwingend notwendig, wieder radikalere wirtschaftliche Forderungen zu stellen und diesen Vorrang vor allem anderen einzuräumen. Kurz gesagt brauchen wir mehr sozialökonomischen und weniger kulturliberalen Radikalismus.

In der Slowakei hat die Linke im Grunde ohnehin keine andere Wahl. Würde sie versuchen, die kulturelle und ethische liberale Agenda voranzutreiben, müsste sie damit rechnen, gar nicht mehr ins Parlament gewählt zu werden. Mitteleuropa ist eine sehr viel traditionellere und konservativere Region als Nord- oder Westeuropa. Natürlich muss sich das allmählich ändern. Aber das wird nicht passieren, wenn wir unsere traditionelle Wählerschaft verlieren, die vornehmlich aus trotz Erwerbstätigkeit armen Menschen in den Dörfern und Kleinstädten besteht.

Die Arbeiterklasse war von jeher als Stammwählerschaft das Fundament der Sozialdemokratie. Diese Menschen vertreten häufig konservativere und autoritärere politische Ansichten. Sie zu missachten, wäre der Weg in den Abgrund. Der politische Kampf der Linken muss sich logischerweise gegen das Kapital richten, nicht gegen die Arbeiter.

Es ist deutlich zu beobachten, dass die immer zahlreicher werdenden radikalen oder gar extremistischen Rechtsparteien den Linksparteien die Wähler aus der Arbeiterschicht stehlen. Aber wie konnte es passieren, dass wir uns die Themen des Antikapitalismus und einer alternativen Globalisierung stehlen ließen?! Wie kann es sein, dass wir nicht entschieden gegen die Austeritätspolitik protestieren, die seit Jahren nicht nur die arbeitende Bevölkerung Griechenlands, sondern ganz Europas dezimiert?! Wie ist es möglich, dass wir nicht deutlicher und massiver gegen die sogenannten Freihandels- und Investitionsabkommen wie CETA und TTIP vorgehen, die unser europäisches Sozial- und Umweltsystem zersetzen könnten?!

Der europäische Wähler versteht den Unterschied zwischen linker und rechter Politik schon gar nicht mehr. In Bezug auf Wirtschaftspolitik ist es für ihn wie der Unterschied zwischen Pepsi und Coca Cola, wie es Slavoj Žižek sarkastisch ausdrückte. Meiner Überzeugung nach muss die Linke nach sozial gerechteren Alternativen zum globalen Kapitalismus suchen. Ansonsten ist sie nicht länger die Linke. Der antikapitalistische Kern der Linken darf nicht durch einen kleinbürgerlichen Liberalismus ersetzt werden, der mit Debatten über Transgenderrechte und Tierschutz gewürzt ist. Das Hauptgewicht muss nach wie vor auf dem Kampf gegen den Neoliberalismus liegen.

Unsere Genossen im Westen sind häufig verwundert, dass die zentraleuropäische Linke sich in kulturellen Fragen häufig nicht sonderlich liberal zeigt. Der philosophische Unterschied ist offensichtlich: Während die moderne westliche Linke ihr Programm und ihre Ideologie auf eine konsequente Auslegung und Umsetzung der Menschenrechte (einschließlich der sozialen Rechte) gründet, steht für die mitteleuropäische Linke der soziale Schutz im Vordergrund, darunter auch der Schutz, den der Staat seinen Bürgern gewährt, um sie vor dem Wildwuchs der Märkte zu schützen.

Daraus folgt, dass die Linke in Zentraleuropa in ihrem Kern eher gemeinschaftsorientiert als individualistisch geprägt ist. Das hängt nicht nur mit unserer staatsgeprägten Geschichte zusammen (bis 1989 war der Staatssozialismus offizielles Regime), sondern auch mit unserer konservativeren Kultur (Individualismus und Liberalismus waren eher die Themen der marktfreundlichen rechtsgerichteten Parteien).

Die liberale Linke, wie man sie in Westeuropa kennt, ist in der zentraleuropäischen politischen Landschaft bestenfalls eine Randerscheinung. Wir sprechen hier von lediglich ein paar Tausend Intellektuellen, Aktivisten und Journalisten. Sie sind zwar durchaus lautstark zu vernehmen, weil sie häufig in den Medien erscheinen, aber der Großteil der Gesellschaft, insbesondere der traditionelle Linkswähler aus der Arbeiterschicht, traut ihnen nicht über den Weg. Diese Wähler erwarten den sozialen Schutz vom Staat und von den sozialistischen Parteien; sie erwarten eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, ein faires Arbeitsrecht, die Umverteilung von Reichtum, menschenwürdige Löhne usw. Sie wollen so gut wie gar nichts von der kulturellen liberalen Agenda wissen, sondern erwarten eine sozialistische Wirtschaftsagenda.

Auch bei den Einstellungen zum Multikulturalismus wird ein Unterschied in den Wertesystemen zwischen der west- und der mitteleuropäischen Linken deutlich. Die Zustimmung zu Einwanderung und multikultureller Gesellschaft ist ein selbstverständlicher Bestandteil des Eintretens der westlichen Linken für Toleranz, Vielfalt und universelle Menschenrechte. Angesichts der Tatsache, dass in diesen Gesellschaften seit Jahrhunderten verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften Seite an Seite leben, ist das auch gut nachvollziehbar. Andererseits ist der Verlust an Wählerstimmen für die westlichen sozialdemokratischen Parteien möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass sie den kulturellen Liberalismus zu sehr propagieren, weshalb die konservativeren Wähler der Arbeiterschicht sich eher den rechtsgerichteten Parteien zuwenden.

Zentraleuropa ist in kultureller und religiöser Hinsicht eine weit homogenere Region und zurückhaltender in Sachen Multikulturalismus. Hier geht der Wert der Solidarität nicht auf die universelle Gültigkeit der Menschenrechtserklärung zurück, sondern auf ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft – der slowakischen oder europäischen Gesellschaft. In der slowakischen Linken spiegelt sich diese gemeinschaftsorientierte Bindung wider; sie erinnert eher an das schwedische Konzept der Folkhemmet nach Per Albin Hansson oder Tage Erlanders Vorstellung von der „starken Gesellschaft“. Diese beiden Politiker wollten ein „Volksheim“ für alle Schweden schaffen, was damals vor dem Hintergrund einer homogenen schwedischen Nation erfolgte. Wenn man in der Slowakei von „der Linken“ spricht, meint man eine Vision dieser Art von sozial gerechterer und egalitärer Gesellschaft. Der Multikulturalismus hat einfach nicht denselben automatischen und natürlichen Platz in diesem Narrativ, wie er ihn in der Erzählung der westlichen Linken hat. Allerdings will sich auch niemand einer Debatte verweigern.

Wenn wir nicht darauf beharren, dass es im Zeitalter des globalen Kapitalismus, in dem die neoliberale Wirtschaftsglobalisierung nach und nach den Sozialstaat auflöst, unbedingt notwendig ist, gegen wirtschaftliche Missstände, gegen Armut, Ausbeutung und soziale Ungleichheit zu kämpfen, dann sind alle kulturellen Triumphe wie die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen oder der Rechte von Ureinwohnern irgendwo in Lateinamerika letztlich nichts als Pyrrhussiege.

Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William Robinson führt in seinem Buch Latin America and Global Capitalism ein gutes Beispiel dafür an. Er erzählt die Geschichte einiger lateinamerikanischer Eingeborenenstämme, die nach jahrelangem Kampf durchsetzen konnten, dass ihre kulturellen Rechte von den Regierungen Mexikos, Perus, Ekuadors und Brasiliens verfassungsrechtlich anerkannt wurden, nur um zu erleben, dass ihnen (von denselben Regierungen) die Eigentumsrechte an den historisch ihnen gehörenden Ländereien aberkannt wurden, die dann an multinationale Riesenkonzerne verpachtet wurden. Die stolzen Stämme sind jetzt anerkannt … und stehen vor der Zwangsvollstreckung.

Das ist eine Mahnung, was in den Zeiten eines sozial unsensiblen globalen Kapitalismus wirklich wichtig ist.

Vielleicht sollten wir die traditionellen Werte der alten Linken wieder stärker aufleben lassen und uns weniger auf die post-materialistische Agenda der neuen Linken konzentrieren.

Zumindest ist das die Lehre, die in der Slowakei gezogen wurde, wo eine sozialdemokratische Partei unter der Führung von Robert Fico weiterhin von 25 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird und damit seit zehn Jahren die stärkste Partei im Land ist.

Ľuboš Blaha ist ein neo-marxistischer Philosoph und Politiker aus der Slowakei. Er ist Abgeordneter im Nationalrat für die sozialdemokratische Partei Smer und sitzt dem parlamentarischen Komitee für Europäische Angelegenheiten vor.

Sozialismus auf Amerikanisch: Bernie Sanders und Wirtschaftspolitik für die Mittelschicht

Was in der EU und Deutschland so keine Entsprechung hat, bis auf J.Corbyn Großbritanniern – :Gute Übersicht hier:

http://www.flassbeck-economics.de/sozialismus-auf-amerikanisch-bernie-sanders-und-wirtschaftspolitik-fuer-die-mittelschicht/

BernieSandersAuszüge:

Amerika befindet sich im Wahlkampftrubel. Der neue Präsident wird zwar erst im November gewählt werden, aber der Wahlkampft ist bereits seit Monaten in Gang. Es geht in dieser Frühphase des politischen Wettbewerbs der Ideen zunächst um die Bestimmung der jeweiligen Spitzenkandidaten der beiden Parteien. Das geschieht in den sogenannten „primaries“ oder „caucuses“, Versammlungen, in denen die jeweiligen Parteianhänger der Republikaner und Demokraten in den einzelnen Bundestaaten ihre Präsidentschaftskandidaten bestimmen. Der Prozess begann am 1. Februar im Bundesstaat Iowa und wird sich bis Mitte Juni hinziehen (hier eine Übersicht).

Bei den Republikanern hat zurzeit der Immobilien- und Casino-Mogul Donald Trump die Nase vorn, der am 9. Februar im Bundesstaat New Hampshire einen deutlichen Sieg einfahren konnte. Bei den Demokraten dagegen hat der „einzige Sozialist im amerikanischen Kongress“, Bernie Sanders, Senator aus dem Bundestaat Vermont, einen Sieg mit rund 20 Prozentpunkten Abstand gegenüber Hillary Clinton errungen, die eigentlich innerhalb der Demokratischen Partei als haushoher Favorit ins Rennen gegangen war. Sie gilt aber auch weiterhin als Favorit. Noch viele Schlachten sind im weiten Land zu führen bis der Sieger, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, endlich ermittelt sein wird – um dann den eigentlichen Wettstreit um die Präsidentschaft führen zu dürfen. Doch die Popularität und das bisherige Abschneiden von Bernie Sanders überascht so manchen Beobachter. Noch vor wenigen Monaten hätte ihm das kaum jemand zugetraut. Sanders trat erst vor kurzer Zeit überhaupt wieder der Demokratischen Partei bei, um sich auf diesem Ticket als Präsident zu bewerben. Er war lange parteiunabhängig und galt für viele als so etwas wie ein unabhängiger sozialistischer Dinosaurier. Jetzt hat dieser einsame Sozialist die Einsamkeit verlassen, um Amerika zu verändern, genauer: um Fehlentwicklungen der letzten 40 Jahre umzukehren. Seine steigende Popularität unter liberalen Amerikanern deutet darauf hin, dass er mit diesem Wunsch vielleicht doch nicht ganz allein ist.

Noch viel krasser ist in der republikanischen Partei zu beobachten, dass sich die amerikanische Gesellschaft in beide Richtungen von der Mitte wegbewegt. Sowohl der frühere Präsident Bill Clinton als auch seine Ehefrau Hillary Clinton und auch der jetzige Präsident Barack Obama sind in der Mitte der Partei angesiedelt. Nach deutschen Maßstäben sind sie in meiner Wahrnehmung allesamt kaum links von Angela Merkel. Sanders dagegen ist Vertreter des linken Flügels der Demokraten. Aus Sicht der extrem Konservativen, welche die republikanische Partei heute beherrschen, wirkt es wohl so, als wolle sich damit schon wieder ein Satan, diesmal ein weißer Jude, um das Präsidentenamt bewerben.

In der Mitte der amerikanischen Gesellschaft scheint sich so einige Frustration angesammelt zu haben. Das ist eigentlich auch wenig verwunderlich, weil die Mittelschicht seit geraumer Zeit der klare Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklungen in Amerika ist. Gemehrt wird nicht mehr der Wohlstand der Nation, sondern in erster Linie Prunk und Vermögen der Mega-Reichen. Warum man rechts von der Mitte ausgerechnet bei einem Multi-Milliardär Segen sucht, dessen besondere Fähigkeit darin zu bestehen scheint, innerhalb von nur fünf Minuten fast den gesamten Rest der Menschheit, merkwürdiges „Englisch“ stammelnd, beleidigen zu können, das vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen. Zuflucht nach links sucht Amerika dagegen neuerdings bei einem „Sozialisten“ – oder zumindest bei einem, der von den Medien als solcher bezeichnet wird. Allerdings bezeichnet sich Bernie Sanders auch selbst als „demokratischer Sozialist“. Der Frust der schwindenden Mittelschicht – mit Drift nach links und rechts – ist dabei auch verbunden mit hochgradiger Frustration über das politische Establishment allgemein. Sowohl Trump als auch Sanders sind Ausdruck dieser Anti-Establishment Bewegung, während jemand wie Hillary Clinton natürlich auch als Sinnbild des Establishments angesehen wird. Sanders erfährt zwar zunehmenden Zuspruch innerhalb der Demokratischen Partei, aber insbesondere unter den „unabhängigen“ (parteilosen), die in Bundestaaten wie New Hampshire ebenfalls ihre Stimme zur Wahl des Spitzenkandidaten abgehen durften, hat Sanders die Favoritin Hillary Clinton klar ausstechen können.

Wofür steht dieser Bernie Sanders nun? Ich habe mir hierzu einmal sein Wahlkampfprogramm angeschaut, das auf seiner Webseite (hier) zu finden ist. Ich will mich hier auf einige seiner wirtschaftspolitischen Kernideen konzentrieren. Auf seiner Webseite findet man unter der Überschrift: Themen/Streitfragen folgende Einleitung:

„Das amerikanische Volk hat eine grundlegende Entscheidung zu treffen. Fahren wir einfach fort mit dem 40-jährigen Niedergang der Mittelschicht und der wachsenden Kluft zwischen den sehr Reichen und allen anderen, oder kämpfen wir für eine fortschrittliche wirtschaftspolitische Agenda, die Beschäftigung schafft, Löhne erhöht, die Umwelt schützt und ein Gesundheitswesen für alle bereit hält? Sind wir bereit dazu, uns der enormen wirtschaftlichen und politischen Macht der Milliardär-Klasse entgegenzustellen, oder sinken wir weiter in eine wirtschaftliche und politische Oligarchie? Dies sind die wichtigsten Fragen unserer Zeit, und die Antworten, die wir darauf geben, werden die Zukunft unseres Landes prägen.“ (“The American people must make a fundamental decision. Do we continue the 40-year decline of our middle class and the growing gap between the very rich and everyone else, or do we fight for a progressive economic agenda that creates jobs, raises wages, protects the environment and provides health care for all? Are we prepared to take on the enormous economic and political power of the billionaire class, or do we continue to slide into economic and political oligarchy? These are the most important questions of our time, and how we answer them will determine the future of our country.”)

Der Aufruf zum Angriff auf die krasse Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen in Amerika ist Nummer eins auf Sanders Liste: „Da läuft etwas zutiefst falsch, wenn eine einzige Familie so viel Vermögen besitzt wie 130 Millionen Amerikaner zusammen. Die Wirklichkeit ist, dass Wall Street und die Milliardär-Klasse 40 Jahre lang die Spielregeln gebogen haben, um Vermögen und Einkommen zu Gunsten der reichsten und mächtigsten Leute dieses Landes umzuverteilen.“(„There is something profoundly wrong when one family owns more wealth than the bottom 130 million Americans. The reality is that for the past 40 years, Wall Street and the billionaire class has rigged the rules to redistribute wealth and income to the wealthiest and most powerful people of this country.”)

Unter den Maßnahmen findet man u.a. folgende geplante Initiativen:

Reiche und Unternehmen sollen ihren fairen Anteil an Steuern leisten. Die Steuerflucht der Großunternehmen ins Ausland soll beendet werden. Eine progressive Erbschaftssteuer sowie eine spezielle Steuer für „Wall Street Spekulanten“ soll eingeführt werden. Der Mindestlohn soll bis 2020 auf $15 angehoben werden. In den nächsten fünf Jahren sollen Infrastrukturinvestitionen in Höhe von $1 Billion durchgeführt werden. Bestimmte Außenhandelsabkommen sollen aufgehoben werden, weil sie amerikanische Jobs kosten und für Lohndruck nach unten sorgen. Benachteiligte junge Amerikaner sollen durch Arbeitsprogramme unterstützt werden. Das Sozialversicherungs- und Gesundheitswesen sollen in mehrfacher Hinsicht ausgeweitet werden. Gewerkschaften sollen gestärkt werden. Große Finanzinstitutionen sollen zerschlagen werden, um das „too big to fail“ Problem zu lösen.

Diese Positionen werden dann mit etwas mehr Details unterfüttert. Weibliche Wähler spricht Sanders vor allem dadurch an, dass er das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ betont und die schlechtere Bezahlung weiblicher Arbeitnehmer beständig zum Thema macht. Besonders unter jungen Wählern schneidet Sanders im Vergleich zu Hillary Clinton deutlich besser ab. Sein Programm betont das Ziel der Senkung von Studiengebühren und Studienkrediten. Das Studium an öffentlichen Colleges und Universitäten soll kostenlos werden. Studienkredite sollen billiger und Stipendien großzügiger werden. Zur Finanzierung ist hierfür die Steuer auf Wall Street Spekulanten vorgesehen.

Allgemein sind in Sanders Programm Steuererhöhungen vorgesehen, die speziell reiche und mega-reiche Bürger stärker belasten sollen. Dies soll insbesondere durch den Abbau heute geltender Steuerbegünstigungen geschehen, die ohnehin allein betuchten Steuerzahlern nützen. Das alles steht im frontalen Gegensatz zu den Plänen der republikanischen Mitstreiter um Donald Trump. Dort will man die ohnehin sehr niedrigen Steuern auf Erbschaften und Kapitalgewinne möglichst ganz abschaffen, was offensichtlich die „top 1 per cent“ nur noch reicher machen würde.

Ist Bernie Sanders schon deshalb ein Sozialist, weil er diese dumme Nummer nicht mehr mitmachen will? Lächerlich! Sanders steht für die wahren Interessen der amerikanischen Mittelschicht, will gesellschaftliche Fairness wieder herstellen. Das kann bestenfalls dann mit Sozialismus verwechselt werden, wenn man dem „trickle down“ Märchen aufgesessen ist, wonach der grenzenlose Reichtumszuwachs der Mega-Reichen irgendwie und irgendwann auch den Rest der Gesellschaft reich machen soll. Dass das nicht so ist, zeigt die Entwicklung der letzten 40 Jahre zwar allzu offensichtlich auf. Aber so mancher Geist ist nachhaltig verblendet worden. Eingelullt von der Massenverdummungsmaschinerie der Medien (kontrolliert von einigen Mega-Reichen), verwechseln viele Normalbürger ihren eigenen Interessen und die Ideale einer freien und fairen Gesellschaft mit den spezifischen Interessen der Milliardär-Klasse.

Jedoch nicht alle. Sanders ruft auf seiner Webseite zu Wahlkampfspenden mit den Worten „Dies ist deine Bewegung“ auf. Anders als die anderen Kandidaten, finanziert er seinen Wahlkampf aus Kleinspenden. Eine Gefolgschaft von immerhin drei Millionen Personen hat er aufzuweisen. Wahlkampf in Amerika ist lang und extrem teuer – und nicht öffentlich finanziert. Allgemein bauen die Kandidaten auf Spenden von Unternehmen und Reichen. Ein höchstes Gerichtsurteil von vor einigen Jahren hat hierzu fast alle Beschränkungen beseitigt. Demokratie ist damit schamlos käuflich und für die Mega-Reichen ist Einfluss auf die politische Macht geradezu billig. Wie in der von extremer Ungleichheit geprägten Wirtschaft gilt damit auch in der Politik: „one dollar, one vote“ statt „one person, one vote“. Trump gewinnt Anhänger mit der Behauptung, er sei nicht käuflich, weil er seinen eigenen Wahlkampf selbst finanziert. Sanders hat selber nur geringes Vermögen. Er setzt auf Spenden von Normalbürgern.

Es mag zunächst verwundern, dass man auf Sanders Webseite zum Thema Haushaltsdefizite und öffentliche Schulden nichts findet. Auch öffentlich spricht er sich nicht für höhere Defizite aus. Gleichwohl hat er sich mit Stephanie Kelton als ökonomische Beraterin eine Vertreterin der „Modern Money Theory“ (MMT) ins Lager geholt. Natürlich wäre es bei all der öffentlichen Hysterie zu diesem Thema politisch unklug, hieraus ein Wahlkampfthema machen zu wollen. Das machen die Konservativen ja ohnehin bis zum Erbrechen – als Erpressungsmittel zum Schrumpfen des Staates (immer mit Ausnahme des Ressorts zur Führung sinnloser Kriege) und für weitere Steuererleichterungen für die angeblich steuerüberbelasteten Mega-Reichen. Aber auch ökonomisch ist hier kein Widerspruch. Haushaltsdefizite sind auch aus MMT Sicht kein wirtschaftspolitisches Ziel. Vielmehr sind sie im hohen Maße endogen, vom Wirtschaftsverlauf bestimmt. Die hohen Defizite seit 2009 waren Reflex der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Haushaltsdefizite zur Zielgröße an sich zu machen, kann eigentlich nur Schaden anrichten; wie in der Eurozone nur zu gut zu sehen ist. Wer dagegen produktive Staatsausgaben erhöht und die Steuerbelastung zu Lasten der Reichen und zu Gunsten der Mittelschicht verschiebt, kann Defizite auch durch mehr Wachstum und Beschäftigung senken. Der „balanced budget multiplier“ war selbst dem Mainstream nicht immer unbekannt. Die Vernunft dieser Überlegungen übersieht nur, wer sie übersehen will oder mittels neoliberaler Ideologie blind gemacht wurde.

Sanders will übrigens umweltfreundliches Wachstum in Amerika. Er unterstützt das Pariser Klimaabkommen. Die republikanischen Kandidaten dagegen wollen allesamt daraus aussteigen. Amerikas Kohleindustrie hat viel Kohle. Überhaupt sprudeln die Spenden der fossilen Energie-, Finanz- und Pharmaindustrien in die Taschen ihrer politischen Interessenvertreter, damit sich auch an den klar zu beobachtenden gravierenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bloß nichts ändern wird. Sanders ruft hier die Mahnung des republikanischen Präsidenten Abraham Lincoln in Erinnerung: „beschließen und sicherstellen, dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von dieser Welt verschwinden möge“ („resolve … that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth”).

Die republikanische Partei hat einige sehr weise Präsidenten hervorgebracht – aber das ist sehr lange her.

Amerika wird im November den nächsten „Führer der freien Welt“ wählen. Es geht dabei um Amerikas Mittelschicht und um eine freie und faire Gesellschaft. Aber auch um vieles mehr. Die immer mehr gespaltene amerikanische Gesellschaft hat dabei tatsächlich in vielfacher Hinsicht eine grundlegende Entscheidung zu treffen. Vielerlei Entwicklungen in Amerika – und natürlich auch und besonders in Europa! – stimmen mich zunehmend sorgenvoll. Kollektiver Wahnsinn scheint immer mehr um sich zu greifen. Bernie Sanders wirkt da wie ein seltener Hoffnungsstrahl. Insbesondere auch, weil der 74-Jährige speziell unter jungen Amerikanern wachsende Popularität genießt.