Die moderne Firma ist eine Diktatur

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Das haben meine Patienten schon lange so erlebt:
https://www.zeit.de/arbeit/2019-02/elizabeth-anderson-unternehmenskultur-egalitarismus-diktatur
Dort auch wichtige Kommentare.
Wir leben in einer Demokratie und verlassen sie jeden Tag, wenn wir ins Büro gehen: Die Philosophin Elizabeth Anderson prangert die Arbeitswelt als Tyrannei an.
Interview: Bernd Kramer 14. Februar 2019, 13:26 Uhr

Auszüge:
ZEIT ONLINE:
Frau Anderson, leben wir in einer Diktatur?

Elizabeth Anderson:
Die meisten Amerikaner leben unter der Diktatur ihrer Arbeitgeber. Denken Sie an die #MeToo-Bewegung, die gezeigt hat, wie verbreitet sexuelle Belästigung im Büro ist. Für mich ist das aber nur die Spitze des Eisberges. Arbeitnehmer erleben am Arbeitsplatz alle möglichen Arten willkürlicher und ihre Würde verletzender Behandlungen.
In Europa mögen Arbeitnehmer besser geschützt sein, aber auch da gibt es sehr verletzbare Gruppen, die leicht zum Opfer werden können, etwa Zeitarbeiter.
Die moderne Firma ist eine Diktatur, eine private Regierung einiger weniger, die nicht gewählt sind, über viele, die keine Mitsprache haben.

ZEIT ONLINE: Aber ein Unternehmen ist etwas anderes als ein Staat. Führt der Vergleich nicht in die Irre?

Anderson: Sicher gibt es Unterschiede. Arbeitgeber können ihre Angestellten ganz offensichtlich nicht wie der Staat ins Gefängnis werfen.
Nichtsdestotrotz: Wir müssen verstehen, dass jede Organisation, die die Aktivitäten ihrer Mitglieder zu koordinieren hat, dafür eine Form der Regierung braucht.
Diese Regierung hat wie jede Regierung eine Verfassung, die demokratisch sein kann oder eben autoritär. Die meisten Firmen tendieren zu einer autoritären Verfassung.

ZEIT ONLINE: Mitarbeiter können immerhin kündigen, wenn sie mit ihren Vorgesetzten unzufrieden sind.

Anderson: Es ist definitiv einfacher, ein Unternehmen zu verlassen als ein Land. Aber das allein reicht nicht aus, um die Rechte der Mitglieder einer autoritären Organisation abzusichern.
Denken Sie an die folgende Situation: Vor dem Ende des Kommunismus gab es innerhalb des Ostblockes zwar die Reisefreiheit. Wer emigrieren wollte, hatte damit aber ausschließlich die Wahl zwischen anderen kommunistischen Diktaturen.
Bei Unternehmen ist es ähnlich. Es gibt in den USA nur sehr wenige wirklich demokratische Firmen, in denen Mitarbeiter das Sagen haben oder zumindest umfangreiche Mitsprache. Die realistischen Exit-Optionen für die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind andere Diktaturen.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir auf der Arbeit gewohnt sind, Dinge zu akzeptieren, die wir einem Staat niemals durchgehen lassen würden.

Anderson: Eine Firma hat selbstverständlich andere Anforderungen zu erfüllen als ein Staat. Die Arbeit der Angestellten muss so koordiniert werden, dass ein bestimmtes Produktionsergebnis oder eine bestimmte Dienstleistung erreicht wird.
Der Staat muss seine Bürger nicht für einen bestimmten Zweck koordinieren. Er muss im Wesentlichen die Freiheit der Bürger sicherstellen und dafür sorgen, dass sie einander nicht auf die Füße treten. Vieles läuft daher sehr indirekt.
Für das, was der Staat leistet, muss er nicht das Leben der Menschen acht Stunden am Tag engmaschig dominieren. Der Staat kann es sich also leisten, mit vergleichsweise sanften Eingriffen vorzugehen.

ZEIT ONLINE: Arbeitgeber nicht?

Anderson: Ihre Befugnisse über die Angestellten sind in der Regel weniger klar definiert und umfassender. Effiziente Arbeitsverträge sind unvollständig, sie spezifizieren nicht alles genau, was von einem Arbeitnehmer vielleicht einmal verlangt wird.
Während der Produktion können alle Arten von Eventualitäten auftreten, die nicht vorherzusehen sind und daher auch nicht im Detail im Arbeitsvertrag geregelt sind. Aber mit dieser Macht geht die Möglichkeit des Missbrauchs einher. Bosse können ihren Angestellten leicht alle möglichen Arten von Befehlen geben – selbst solche, die mit der eigentlichen Arbeit nicht mehr viel zu tun haben oder demütigend sind.

ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?

Anderson: In den Schlachtbetrieben in den USA arbeiten oft Immigranten, die kaum Englisch sprechen und einfach nur glücklich sind, einen Job zu haben. Eine sehr leicht ausbeutbare Gruppe. Einige Betriebe verboten den Schlachtarbeitern, während der Schichten die Toiletten zu benutzen. Die Arbeiter waren also gezwungen, in Windeln zum Dienst zu kommen. Das verletzt ihre Würde.

ZEIT ONLINE: Was Unternehmen dürfen, wird vom Staat reguliert – und der ist zumindest bei uns demokratisch. Sind diese Diktaturen damit nicht doch in irgendeiner Weise legitimiert?

Anderson: Es reicht nicht, dass wir Demokratie über der Unternehmensebene haben. Die staatlichen Behörden haben nur sehr begrenzte Kontrollmöglichkeiten in einem Land mit Tausenden und Abertausenden Firmen. Die Arbeitswelt ist so vielfältig und fragmentiert, dass die Arbeiterinnen innerhalb einer Firma eine Stimme brauchen. Zumindest in den USA ist das aber äußerst selten der Fall.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben: „Viele Geschäftsführer amerikanischer Firmen, die sich selbst für libertäre Individualisten halten, wären überrascht, sich als Diktatoren einer kleinen kommunistischen Regierung geschildert zu sehen.“ Wie kommt es, dass wir die Tyrannei am Arbeitsplatz übersehen? Warum reden wir, wie es in ihrem Buch heißt, so selten davon, wie die Bosse unser Leben beherrschen?

Anderson: Weil wir eine Idee freier Märkte bewahrt haben, die aus einer Zeit stammt, die mit der heutigen nicht zu vergleichen ist. Wir pflegen einen Liberalismus, der ein Überbleibsel einer früheren Ära ist und uns für die Gegenwart blind macht.
Für Adam Smith und andere Vordenker war der freie Markt ein Befreiungsprojekt, das sich gegen den Obrigkeitsstaat, Leibeigenschaft und das Monopol der Zünfte richtete. Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, wirtschaftlich selbstständig zu werden.
Sein eigener Boss zu sein – das war das Versprechen des freien Marktes, nicht Lohnarbeit. Abraham Lincoln sagte einmal, wer sein Leben lang ein abhängiger Arbeiter bleibt, der habe auch einen irgendwie defekten, einen abhängigen Charakter.
Amerika fußt auf dem Traum universeller Selbstständigkeit. Die Amerikaner sollten ein Volk kleiner Farmer, Handwerker und Gewerbetreibender sein.
Eine Angestelltenexistenz war in diesem Gründungsmythos eigentlich nie vorgesehen.

ZEIT ONLINE: Sie gehen sogar so weit zu sagen, der freie Markt war einmal eine linke Idee.

Anderson: Absolut. Eine Gesellschaft selbstständiger Kleinunternehmer ist das Idealbild einer Gesellschaft von Gleichen. Niemand hat einem Boss zu gehorchen.
Auf dem Markt begegnen sich alle auf Augenhöhe.

„Richtet man den Fokus nur auf den Moment, in dem der Arbeiter und der Arbeitgeber den Vertrag unterzeichnen, erscheint es wie ein Geschäft unter Freien und Gleichen.“

ZEIT ONLINE: Warum ist davon so wenig geblieben?

Anderson: Die industrielle Revolution hat die Idee untergraben. Für Adam Smith als Vater des Wirtschaftsliberalismus war es noch unvorstellbar, dass es effizient sein könnte, bestimmte Waren im großen Stil und mit einer riesigen Armee abhängiger Arbeiter zu produzieren. Die Nadelfabrik, die er im Wohlstand der Nationen beschreibt, hat gerade einmal zehn Beschäftigte.
Mit der Industrialisierung konzentrierte sich die Produktion in Großunternehmen, die wirtschaftliche Selbstständigkeit wurde damit für viele unerreichbar.
Das hat sich allerdings nicht ausreichend in unseren politischen Diskursen abgebildet. Wir reden heute von freien Märkten wie zu Smiths Zeiten und übersehen dabei, was wirklich vor sich geht.
Die politische Rhetorik kennt immer nur zwei Alternativen: den freien Markt und die staatliche Kontrolle. Die Firma kommt kaum vor.
Dieses Bild verdeckt, dass die meisten Menschen einen Großteil ihrer wachen Stunden unter der Aufsicht dieser kleinen privaten Regierungen verbringen.

ZEIT ONLINE: Müssten Sie als Egalitaristin sich nicht über die aufkeimende Gig Economy freuen? Statt Mitarbeiter anzustellen, verlassen sichUnternehmen wie Uberoder Amazon Flex auf Freelancer.

Anderson: Die Gig Economy schafft in meinen Augen lediglich ein neues Prekariat.

ZEIT ONLINE: Aber immerhin eines aus lauter Selbstständigen.

Anderson: Rein formell sind diese Menschen vielleicht selbstständig. In Wahrheit sagt ihnen der Arbeitgeber aber oft sehr genau, wie sie ihren Job zu machen haben.

ZEIT ONLINE: Ein großer Teil der Solo-Selbstständigen wäre ja tatsächlich lieber angestellt. So diktatorisch kann die Unternehmenswelt offenbar nicht sein, wenn viele dafür so bereitwillig ihre Freiheit aufgeben.

Anderson: Ein Angestelltendasein hat selbstverständlich Vorzüge, weil der Arbeitgeber sich zum Beispiel an den Kosten für die Sozialversicherung beteiligt.
Wenn das Leben als Selbstständiger prekär ist, ist die Diktatur nun einmal die attraktivere Alternative. Trotzdem bleibt sie eine Diktatur.

ZEIT ONLINE: Vielleicht taugt die Selbstständigkeit schlicht nicht als das linke Ideal, an das Sie in Ihrem Buch erinnern wollen. Statt der Diktatur eines Chefs wären die Menschen dem Markt ausgeliefert, der ebenfalls willkürlich, ungerecht und unvorhersehbar sein kann – kurz: im Ergebnis auch ziemlich diktatorisch.

Anderson: Ich befürworte nicht blind die ursprüngliche vorindustrielle Vision freier Märkte. Sie hat zweifellos viele Fehler. Eine vollkommen unregulierte Marktwirtschaft würde auch für viele kleine Selbstständige eine prekäre Situation bedeuten.
Damit Kleinbauern durch eine Missernte nicht in den Ruin getrieben werden, bräuchte es eine Absicherung. Der Staat müsste in einer Gesellschaft der Selbstständigen für Sicherheit und einen stabilen wirtschaftlichen Rahmen sorgen.
Umgekehrt verdamme ich auch nicht grundsätzlich die Arbeit als Angestellter in einem Unternehmen. Viele Menschen arbeiten gerne mit Kollegen zusammen und wünschen sich stabile soziale Beziehungen, sie wollen nicht heute Aufträge für diesen und morgen für jenen machen.
Und es gibt viele gute Gründe, eine Volkswirtschaft in Unternehmen zu organisieren.

ZEIT ONLINE: Muss man es nicht einfach als Tausch betrachten? Menschen arbeiten bereitwillig unter der Kontrolle eines anderen, dafür sind sie geschützt gegen die ständigen Unwägbarkeiten und Launen des Marktes.

Anderson: Ja, aber wie weit geht dieser Tausch? Wie viel Macht muss einem Chef dafür zugebilligt werden?

ZEIT ONLINE: Ökonomisch geantwortet: Je mehr er mir bezahlt, desto mehr Macht darf mein Chef im Gegenzug über mich ausüben.

Anderson: Und warum beobachten wir dann das Gegenteil? Je mehr Macht Unternehmen über einen Mitarbeiter ausüben kann, desto schlechter ist im Prinzip auch die Bezahlung.
Die Machtposition des Arbeitgebers drückt beides: den Lohn und die Freiheit der Angestellten. In der Praxis gibt es kein Entweder-oder.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie die Tyrannei am Arbeitsplatz eindämmen wollen?

Anderson: Für Amerika wäre es an der Zeit, etwas von Ihnen in Deutschland zu lernen. Eine Form gemeinsamen Managements von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wie im deutschen Modell der Mitbestimmung halte ich für sehr sinnvoll.

ZEIT ONLINE: Der Anteil der Unternehmen mit einem Betriebsrat sinkt hierzulande aber, 2000 waren es 17, inzwischen sind es nur noch 9 Prozent.
Die Demokratie am Arbeitsplatz scheint eine ziemlich brüchige Sache zu sein, nicht nur in den USA.

Anderson: Ich glaube, aus der Geschichte des Egalitarismus kann man eine allgemeine Lehre ziehen: Die Bewegungen für mehr Gleichheiten kommen sehr oft nur in kleinen Schüben, die schnell wieder verebben. Es braucht eine Graswurzelbewegung, und deren Engagement aufrechtzuerhalten, kostet enorm viel Kraft und Mühe. Lässt die Aufmerksamkeit nach, haben Arbeitgeber es leicht, sich politisch zu organisieren und ihre Macht zurückzugewinnen.

Elizabeth Anderson: Elizabeth Anderson, Jahrgang 1959, ist Sozialphilosophin und lehrt an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Im Suhrkamp Verlag ist dieser Tage erschienen: "Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)".
Elizabeth Anderson, Jahrgang 1959, ist Sozialphilosophin und lehrt an der Universität von Michigan in Ann Arbor.
Im Suhrkamp Verlag ist dieser Tage erschienen: „Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)“. © privat

 

Jochen

Noam Chomsky: Sozialismus in Zeiten der Reaktion

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Im Original hier:
https://diefreiheitsliebe.de/politik/sozialismus-in-zeiten-der-reaktion-im-gespraech-mit-noam-chomsky/
Auszüge:

chomsky american dreamObwohl er auf die 90 zugeht, wächst Noam Chomskys Werk immer noch. Und er gibt, zum Glück für die internationale Linke, noch immer Interviews. Wenige Tage vor seinem 88. Geburtstag gab Chomsky ein Interview in seinem Büro in Cambridge, Massachusetts. Das Gespräch führte Vaios Triantafyllou, ein Student an der Universität von Pennsylvania.
Chomsky sprach über alles von Sozialismus, die menschliche Natur und Adam Smith, bis zu Donald Trump. (Das Transkript wurde aus Gründen der Lesbarkeit verdichtet und redigiert.)

Mit Trump im Amt sieht Chomsky eine Zukunft in Bigotterie und Kleinkrämerei. Aber wir haben noch immer die Wahl: „Ob sie gelingen“, sagt Chomsky über die „teile und herrsche“-Taktiken, „hängt von der Art des Widerstands ab, die Menschen wie du dem entgegensetzen.“

Jacobin Mag: Wie sollten Sozialisten über die Beziehung von Reformen zur Humanisierung des bestehenden Produktionssystems (wie es Bernie Sanders vorschlägt) und dem langfristigen Ziel einer gänzlichen Abschaffung des Kapitalismus denken?

Noam Chomsky: Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass der Begriff „Sozialismus“, wie alle Begriffe des politischen Diskurses, mehr oder weniger seine Bedeutung eingebüßt hat. „Sozialismus“ hat mal etwas bedeutet. Wenn wir weit genug zurückblicken, war damit die Kontrolle über die Produktion durch die Produzenten gemeint, die Abschaffung der Lohnarbeit, die Demokratisierung aller Lebenssphären: Produktion, Handel, Bildung, Medien, Arbeiterkontrolle über die Betriebe, gesellschaftliche Kontrolle der Gesellschaft usw. Das hieß „Sozialismus“ früher.

Aber diese Bedeutung hat er keine hundert Jahre beibehalten. Tatsächlich waren die sogenannten sozialistischen Länder die anti-sozialistischten Länder der Welt.
Arbeiter hatten mehr Rechte in den Vereinigten Staaten und in England als in Russland, und dennoch wurde es Sozialismus genannt.

Was Bernie Sanders betrifft, ist er ein anständiger und ehrbarer Mensch, den ich unterstütze. Doch was er als „Sozialismus“ bezeichnet, ist Liberalismus im Stile des New Deal. Wahrscheinlich wären seine aktuellen Forderungen keine große Überraschung für General Eisenhower.
Dass sie als politische Revolution bezeichnet werden, zeigt, wie sehr das politische Spektrum nach rechts gerückt ist – vor allem in den letzten 30 Jahren, seit die neoliberalen Programme institutionalisiert wurden. Was Sanders fordert, ist eine Restauration des New Deal-Liberalismus, was eine sehr gute Sache ist.

Zurück zu deiner Frage, sollten wir uns fragen: Sollten Leute, die sich um andere Menschen, um deren Leben und ihre Bedürfnisse kümmern, versuchen, das bestehende Produktionssystem zu humanisieren, so wie du es sagst? Die Antwort ist: Auf jeden Fall – es ist besser für die Menschen.

Sollten sie sich gleichzeitig weiter für das langfristige Ziel einsetzen, die kapitalistische Organisationsweise der Produktion abzuschaffen? Selbstverständlich. Sie hatte ihre Erfolge. Aber sie basiert auf sehr brutalen Annahmen, unmenschlichen Annahmen.
Die Grundannahme ist, dass eine Klasse von Menschen, kraft ihres Besitzes und ihres Reichtums einer anderen, gewaltigen Klasse befehlen kann.
Und dass diese andere diesen Befehlen zu folgen hat, weil ihnen der Zugang zu Wohlstand und Macht fehlt. Das ist inakzeptabel.

Also, ja, der Kapitalismus sollte abgeschafft werden. Aber es handelt sich hier nicht um Alternativen. Es sind Vorgänge, die zusammengehen.

Jacobin Mag: Eines der Hauptargumente, das gegen Sozialismus vorgebracht wird, ist, die menschliche Natur selbst wäre von Egoismus und Konkurrenzdenken geprägt. Wie würdest du antworten?

Noam Chomsky: Man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus bisher nur eine kurze Periode der menschlichen Gesellschaft darstellt. Es gab nie einen reinen Kapitalismus, sondern immer nur die eine oder andere Variante. Der Grund dafür: Reiner Kapitalismus würde sich sofort selbst vernichten.
Also haben die geschäftstüchtigen Klassen immer massive staatliche Interventionen gefordert, um die Gesellschaft vor den zerstörerischen Effekten der Marktkräfte zu schützen. Es sind oft Geschäftsleute, die hier die Führung übernehmen, weil sie nicht wollen, dass alles zerstört wird.

Es gab also die eine oder andere Form von Staatskapitalismus während einer extrem kurzen Spanne der Menschheitsgeschichte, aber das sagt uns sehr wenig über die menschliche Natur. Bei der Betrachtung menschlicher Gesellschaften und Beziehungen kann man alles finden: Egoismus, Altruismus, Mitgefühl.

Nehmen wir Adam Smith, den Schutzheiligen des Kapitalismus. Was dachte er darüber? Er hielt Mitgefühl für den menschlichen Hauptinstinkt. Man muss sich ansehen, wie er den Begriff der „unsichtbaren Hand“ verwendete. Auf welche Art er diesen Begriff verwendete. Es ist nicht schwer, das heraus zu finden, weil er es maßgeblich zwei mal getan hat: jeweils in seinen beiden Hauptwerken.

Einmal erscheint der Begriff in Wohlstand der Nationen und läuft auf eine Kritik neoliberaler Globalisierung hinaus. Was er sagt, ist, dass wenn England, wenn die Fabrikanten und Kaufleute im Ausland investierten und von dort importierten, Gewinne machen könnten. Doch das wäre schädlich für England. Aber ihr Pflichtgefühl gegenüber ihrem Heimatland reiche aus, so dass es unwahrscheinlich sei, dass sie das täten – geschützt durch eine „unsichtbare Hand“ bliebe England von dem verschont, was wir neoliberale Globalisierung nennen. Das ist das eine Mal.

Das andere Mal benutzt er den Begriff in Theorie der ethischen Gefühle (das nicht oft gelesen wird, doch Smith selbst hielt es für sein Hauptwerk). Er ist ein Egalitarier.
Er glaubte an Gleichheit als Resultat, nicht Gegensätzlichkeit. Adam Smith ist eine Figur der Aufklärung, eine vor-kapitalistische.

Er sagt, wenn, vermutlich in England, ein Landeigner das meiste des Landes besäße und andere Menschen hätten nichts mehr, wo sie leben könnten, so wäre das nicht schlimm – der reiche Landeigner, kraft seines Mitgefühls für andere, würde die Ressourcen unter ihnen verteilen. Mit einer „unsichtbaren Hand“ landeten wir in einer ziemlich egalitären Gesellschaft. Das ist sein Konzept der menschlichen Natur.

Das ist nicht die Art, in welcher „die unsichtbare Hand“ von Leuten gebraucht wird, mit denen man Kurse besucht oder deren Bücher man liest. Das zeigt einen Unterschied in der Doktrin – aber nicht in der menschlichen Natur. Was wir über die menschliche Natur wissen, ist, dass sie all diese Facetten hat.

Jacobin Mag: Denkst du, es ist notwendig, konkrete Vorschläge für eine zukünftige sozialistische Ordnung zu entwerfen, eine solide Alternative, die bei den meisten Menschen Anklang findet?

Noam Chomsky: Ich glaube, viele Menschen haben Interesse an authentischen sozialistischen Langzeitzielen (die nicht das sind, was für gewöhnlich „Sozialismus“ genannt wird). Sie sollten sorgfältig darüber nachdenken, wie so ein Projekt funktionieren sollte – ohne zu sehr ins Detail zu gehen, denn vieles kann nur im Experiment erlernt werden. Und wir wissen auf keinen Fall genug darüber, wie Gesellschaften im Detail geplant werden könnten.
Der große Rahmen aber könnte ausgearbeitet werden und viele der spezifischen Probleme können diskutiert werden.

Und das sollte Teil des allgemeinen Bewusstseins sein. So könnte der Übergang zum Sozialismus stattfinden. Wenn er ein Teil der Erkenntnis, des Bewusstseins und des Strebens einer großen Mehrheit der Bevölkerung wird.

Sehen wir uns als Beispiel eine der großen Leistungen in diese Richtung an, vielleicht die größte: Die anarchistische Revolution in Spanien 1936.
Sie wurde jahrzehntelang vorbereitet: in der der Bildung, im Aktivismus und in den Bemühungen, erlitt manchmal Rückschläge, doch als der Faschismus angriff, hatten die Menschen eine Vorstellung davon, welche Gesellschaftsorganisation sie wollten.

Wir haben auch andere Beispiele. Sagen wir, der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Auswirkung des Zweiten Weltkriegs waren für den größten Teil Europas verheerend.

Doch es brauchte nicht lange, die staatskapitalistischen Demokratien wieder aufzubauen, denn sie waren in den Köpfen der Leute vorhanden.

In anderen Teilen der Welt, die verwüstet wurden, war das nicht möglich. Die Leute hatten kein Konzept im Kopf. Menschliches Bewusstsein macht eine Menge aus.

Jacobin Mag: Syriza kam mit dem Versprechen von Sozialismus an die Macht. Doch schlussendlich kooperieren sie mit der EU und sind auch nicht zurückgetreten, nachdem sie gezwungen wurden, die Austeritätspolitik zu übernehmen. Wie können wir einen ähnlichen Ausgang in Zukunft vermeiden?

Noam Chomsky: Ich denke, die wahre Tragödie Griechenlands – abseits der Brutalität der europäischen Bürokratie, der Brüsseler Bürokratie, und die der nordischen Banken, die wahrlich bestial waren – dass die Griechenland-Krise gar nicht hätte ausbrechen müssen. Man hätte sie verhältnismäßig leicht ganz zu Anfang bewältigen können.

Aber es ist soweit gekommen, und Syriza mit dem erklärten Versprechen ins Amt eingezogen, die Krise zu bekämpfen. Tatsächlich haben sie ein Referendum abgehalten, das Europa entsetzt hat: Der Gedanke, dass es Menschen erlaubt sein sollte, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden, ist schlicht ein Anathema für die europäischen Eliten – wie kann Demokratie nur wirklich gestattet werden (selbst in dem Land, in dem sie erfunden wurde)?

Als Ergebnis dieses kriminellen Akts, Menschen zu fragen, was sie wollen, wurde Griechenland noch mehr bestraft. Die Forderungen der Troika wurden wegen dem Referendum viel harscher. Sie befürchteten einen Dominoeffekt – wenn wir Rücksicht auf die Nöte der Menschen nehmen, könnten andere auf denselben Gedanken kommen und sich die Plage der Demokratie verbreiten. Also müssen wir sie an der Wurzel ausrotten.

Danach hat Syriza kapituliert und seitdem Dinge getan, die ich für inakzeptabel halte.

Du fragst, wie die Menschen darauf antworten sollen? Sie sollten etwas besseres schaffen. Das ist nicht einfach, besonders, wenn sie isoliert sind. Griechenland allein ist in einer sehr verletzlichen Lage. Wenn die Griechen die Unterstützung progressiver linker und populärer Kräfte woanders in Europa gehabt hätten, hätten sie den Forderungen der Troika vielleicht Widerstand leisten können.

Jacobin Mag: Was denkst du über das System, das Castro nach der Revolution in Kuba geschaffen hat?

Noam Chomsky: Ja, was Castros tatsächliche Ziele waren, das wissen wir nicht. Vom ersten Moment an wurde er massiv eingeschränkt durch die raue und grausame Attacke der herrschenden Supermacht.

Wir müssen uns erinnern, dass buchstäblich innerhalb von Monaten, nachdem Castro ins Amt kam, Flugzeuge von Florida aus anfingen, Kuba zu bombardieren.
Innerhalb eines Jahres beschloss die Eisenhower-Administration im Geheimen, aber mit Nachdruck, die Regierung [auf Kuba] zu stürzen.
Danach kam die Invasion in der Schweinebucht. Die Kennedy-Administration war rasend über das Scheitern der Invasion und begann augenblicklich einen großen Terrorkrieg, einen Wirtschaftskrieg, der über die Jahre immer schärfer wurde.

Unter diesen Bedingungen ist es erstaunlich, dass Kuba überlebt hat. Es ist eine kleine Insel direkt vor der Küste einer großen Supermacht, die sie zu zerstören versucht, und war offensichtlich zum Überleben ihre ganze vorherige Geschichte von den USA abhängig. Aber irgendwie haben sie überlebt. Es ist war, dass es eine Diktatur war: viel Grausamkeit, viele politische Gefangene, viele wurden getötet.

Man muss sich vorstellen, dass der US-Angriff auf Kuba ideologisch als absolut notwendig dargestellt wurde, um uns vor den Russen zu verteidigen. Aber sobald die Russen verschwunden waren, wurde der Angriff noch schärfer. Es gab dazu kaum Erklärungen, aber es bestätigt dir, dass die vorherigen Behauptungen Lügen waren, die sie mit Sicherheit waren.

Wenn man sich interne US-Dokumente ansieht, dann wird klar, welche Bedrohung von Kuba ausging. Damals in den 60ern betrachtete das Außenministerium die von Kuba ausgehende Gefahr als Castros erfolgreiche Missachtung der US-Politik, welche auf die Monroe-Doktrin zurück ging.
Die Monroe-Doktrin begründete den Anspruch – sie hatten es damals noch nicht durchsetzen können, aber es war der Anspruch – die westliche Hemisphäre zu beherrschen. Und Castro hatte das erfolgreich infrage gestellt.

Das kann nicht toleriert werden. Es ist, wie wenn jemand sagt, „lasst uns in Griechenland Demokratie einführen“, und wir können das einfach nicht tolerieren, also müssen wir die Bedrohung mit ihren Wurzel ausreißen. Niemand darf erfolgreich den Meister der Hemisphere, eigentlich der Welt, herausfordern – darum diese Rage.

Aber die Reaktionen blieben gemischt. Es gab Errungenschaften, wie das Gesundheitssystem, die Alphabetisierung und so weiter. Der Internationalismus war unglaublich.
Es gibt einen Grund, warum Nelson Mandela nach Kuba reiste, um Castro zu loben und dem kubanischen Volk zu danken, kaum war er aus dem Gefängnis entlassen.
Das ist eine Dritte-Welt-Reaktion, und das verstehen sie.

Kuba spielte eine enorme Rolle bei der Befreiung Afrikas und der Überwindung der Apartheid. Es hat Ärzte und Lehrer in die ärmsten Gegenden der Welt geschickt: nach Haiti, nach Pakistan nach dem Erdbeben, beinahe überall hin. Der Internationalismus ist einfach erstaunlich. Ich denke, so etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

Die Errungenschaften im Gesundheitssystem waren erstaunlich. Die Gesundheitsstatistiken in Kuba waren ähnlich denen in den Vereinigten Staaten – bei diesem Unterschied an Reichtum und Macht.

Auf der anderen Seite gab es eine scharfe Diktatur. Also gab es beides.

Ein Übergang zum Sozialismus? Darüber können wir nicht einmal sprechen. Die Bedingungen machten es unmöglich, und wir wissen nicht einmal, ob das gewollt war.

Jacobin Mag: In den vergangen Jahren sind in den USA zahlreiche Bewegungen entstanden, die die derzeitige soziale und wirtschaftliche Organisationsform kritisieren. Wie dem auch sei: Die meisten haben sich gegen einen gemeinsamen Feind vereint, anstatt sich um eine gemeinsame Vision zu sammeln. Wie sollten wir über die Lage sozialer Bewegungen und deren Fähigkeit, sich zu einen, denken?

Noam Chomsky: Nehmen wir die Occupy-Bewegung. Occupy war keine Bewegung, es war eine Taktik. Man kann nicht für immer in einem Park nahe der Wall Street sitzen. Nicht länger als ein paar Monate.

Es war eine Taktik, die ich nicht voraus gesehen hatte. Wenn mich jemand gefragt hätte, ich hätte davon abgeraten.

Aber es war ein großer Erfolg, ein enormer Erfolg, mit einer großen Auswirkung auf das Denken und Handeln der Menschen. Das ganze Konzept, wie Reichtum konzentriert wird (1 Prozent und 99 Prozent) – das Wissen war sicherlich da, irgendwo im Hintergrund, aber so wurde es nach vorn gekehrt.
Es wurde sogar in den Massenmedien herausgestellt (z.B. im Wall Street Journal) – und es führte zu vielen Formen von Aktivismus, es stärkte Menschen und so weiter. Aber es war keine Bewegung.

Die Linke, in einem übergreifenden Sinne, ist sehr atomisiert. Wir leben in hoch atomisierten Gesellschaften. Die Leute sind ziemlich oft allein: Nur du und dein iPad.

Die großen Organisationszentren, wie etwa die Arbeiterbewegung, wurden ernstlich geschwächt, in den Vereinigten Staaten sehr ernstlich, von der Politik.
Das passierte nicht wie ein Hurrikan. Die Politik wurde so gestaltet, um die Organisationen der Arbeiterklasse zu untergraben.
Der Grund dafür ist nicht nur, dass Gewerkschaften für die Rechte von Arbeitern kämpfen, sondern auch, dass sie einen demokratisierenden Effekt haben.
Es sind Institutionen, in denen Menschen ohne Macht zusammenkommen können, sich gegenseitig unterstützen, etwas über die Welt lernen, ihre Ideen ausprobieren, Programme initiieren können – das ist gefährlich. Das ist wie ein Referendum in Griechenland. Es ist zu gefährlich, um es zu erlauben.

Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass es während des Zweiten Weltkrieges und der Großen Depression einen Aufschwung breiter, radikaler Demokratie gab, überall auf der Welt. Er nahm verschiedene Formen an, aber er war da, überall.

In Griechenland war es die Griechische Revolution. Und sie musste niedergeschlagen werden. In Ländern wie Griechenland wurde sie mit Gewalt nieder gerungen.
In Ländern wie Italien, wo amerikanische und britische Truppen 1943 einmarschierten, wurde er nieder gerungen durch Angriffe auf und die Zerschlagung anti-deutscher Partisanen und die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung.
In Ländern wie den Vereinigten Staaten wurde dieser Aufschwung nicht mit Gewalt niedergeschlagen – der Kapitalismus hat diese Macht hier nicht – aber es wurden, beginnend in den späten 1940ern, große Anstrengungen unternommen, um die Arbeiterbewegung zu unterminieren und zu zerstören. Und es ging weiter.

Das wurde wieder fortgeführt unter Reagan, es wurde fortgeführt unter Clinton, und heute ist die Arbeiterbewegung extrem schwach (in anderen Ländern hat es andere Formen angenommen). Aber das war eine dieser Institutionen, in welcher Menschen zusammen kamen, um gemeinsam zu handeln und mit gegenseitiger Unterstützung, und auch andere solche Institutionen wurden stark dezimiert.

Jacobin Mag: Was können wir von Donald Trump erwarten? Bereitet sein Aufstieg den Boden für eine Neudefinierung und Vereinigung einer sozialistischen Bewegung um eine gemeinsame Vision in den Vereinigten Staaten?

Noam Chomsky: Die Antwort darauf liegt grundsätzlich bei dir und deinen Freunden. Es hängt wirklich davon ab wie Menschen, besonders junge Menschen, reagieren.
Es gibt eine Menge Möglichkeiten, die ergriffen werden könnten. Aber das ist auf keinen Fall zwangsläufig.

Nehmen wir an, was wahrscheinlich geschehen wird. Trump ist extrem unvorhersehbar. Er weiß selbst nicht, was er plant. Aber was passieren könnte, ein Beispiel für ein mögliches Szenario: Viele Menschen, die für Trump gestimmt haben, Menschen aus der Arbeiterklasse, haben 2008 für Obama gestimmt. Sie wurden verführt von Slogans wie „Hope“ und „Change“. Sie haben weder Hoffnung noch Veränderung bekommen, sie wurden desillusioniert.

Dieses Mal haben sie für einen anderen Kandidaten gestimmt, der Hoffnung, Veränderung und eine ganze Reihe toller Sachen versprochen hat. Aber er wird sie nicht liefern. Also, was wird in ein paar Jahren geschehen, wenn er nicht geliefert hat und dieselbe Wählerschaft wieder desillusioniert ist?

Wahrscheinlich macht das herrschende System das, was es unter solchen Umständen für gewöhnlich macht. Unter den noch Verwundbaren einen Sündenbock suchen, um sagen zu können: „Ja, ihr habt nicht bekommen, was wir versprochen haben – und der Grund sind diese wertlosen Menschen, die Mexikaner, die Schwarzen, die syrischen Immigranten, die Sozialschmarotzer. Das sind diejenigen, die alles zerstören. Wir müssen sie verfolgen! Die Schwulen, das sind die Schuldigen!“

Das könnte passieren. Das ist in der Geschichte wieder und wieder passiert mit allen hässlichen Konsequenzen.

Ob sie Erfolg haben werden, liegt an der Art des Widerstands, den Menschen wie du dem entgegensetzen. Die Antwort auf die Frage liegt bei dir, nicht mir.

Veröffentlicht im Jacobin Mag und übersetzt von David Dannys.

 

Jochen

Postmaterialistischer Abgrund: wo bleibt der antikapitalistische Kern der Linken?

Interessanter Beitrag aus der Ostflanke der EU in der Juli-IPG. Dort auch eine sehr kontroverse Reaktion in den Diskussionsbeträgen:

http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/die-linke-global-wo-funktioniert-es/artikel/detail/der-postmaterialistische-abgrund-1500/

Auszüge:

Der antikapitalistische Kern der Linken darf nicht durch kleinbürgerlichen Liberalismus, Transgenderrechte und Tierschutz ersetzt werden.

Portrait_Blaha

Dubos Blaha

Von Ľuboš Blaha | 04.07.2016

Ich kritisiere an den europäischen sozialdemokratischen Parteien nun schon seit einigen Jahren, dass sie sich von den Arbeitnehmern entfernt haben und ihre Wertvorstellungen an einer liberalen städtischen Mittelschicht ausrichten. Für mich liegt genau hier die Wurzel der gegenwärtigen Krise der Linken.

Meine Kritik an der liberalen Agenda kommt nicht aus einer konservativen Ecke. Ich habe mehrere philosophische Bücher über Sozialliberalismus und Neomarxismus geschrieben und unterstütze die Agenda der postmodernen Linken, einschließlich ihres Eintretens für die Rechte der LGBTI-Gemeinde. Es ist jedoch auffällig, dass bei linksgerichteten Parteien post-materialistische Themen in den Vordergrund gerückt sind, und zwar häufig zulasten von traditionellen sozialen und wirtschaftlichen Inhalten. Das ist ein strategischer Fehler, der die Linken in ganz Europa teuer zu stehen kommt. Sie büßen damit die traditionelle Wählerschaft aus der Arbeiterschicht ein, und die Wechselwähler aus der Mittelschicht sind kein beständiger Ersatz. Denn diese geben ihre Stimme auch gern mal den Grünen oder aber irgendeiner für einen freien Markt eintretenden neoliberalen Partei.

Der europäische Wähler versteht den Unterschied zwischen linker und rechter Politik schon gar nicht mehr.

Ich verstehe mich als Linker, weil ich für die sozialen Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen, für mehr soziale Gleichheit, einen Sozialstaat und für Wirtschaftsdemokratie kämpfe. In meinen Augen kommt der linken Wirtschaftspolitik ein höherer Stellenwert zu als der kulturellen Linksorientierung. In Zeiten neoliberaler Reformen, die in ganz Europa auf soziale Kompromisse abzielen, ist es für linke Parteien zwingend notwendig, wieder radikalere wirtschaftliche Forderungen zu stellen und diesen Vorrang vor allem anderen einzuräumen. Kurz gesagt brauchen wir mehr sozialökonomischen und weniger kulturliberalen Radikalismus.

In der Slowakei hat die Linke im Grunde ohnehin keine andere Wahl. Würde sie versuchen, die kulturelle und ethische liberale Agenda voranzutreiben, müsste sie damit rechnen, gar nicht mehr ins Parlament gewählt zu werden. Mitteleuropa ist eine sehr viel traditionellere und konservativere Region als Nord- oder Westeuropa. Natürlich muss sich das allmählich ändern. Aber das wird nicht passieren, wenn wir unsere traditionelle Wählerschaft verlieren, die vornehmlich aus trotz Erwerbstätigkeit armen Menschen in den Dörfern und Kleinstädten besteht.

Die Arbeiterklasse war von jeher als Stammwählerschaft das Fundament der Sozialdemokratie. Diese Menschen vertreten häufig konservativere und autoritärere politische Ansichten. Sie zu missachten, wäre der Weg in den Abgrund. Der politische Kampf der Linken muss sich logischerweise gegen das Kapital richten, nicht gegen die Arbeiter.

Es ist deutlich zu beobachten, dass die immer zahlreicher werdenden radikalen oder gar extremistischen Rechtsparteien den Linksparteien die Wähler aus der Arbeiterschicht stehlen. Aber wie konnte es passieren, dass wir uns die Themen des Antikapitalismus und einer alternativen Globalisierung stehlen ließen?! Wie kann es sein, dass wir nicht entschieden gegen die Austeritätspolitik protestieren, die seit Jahren nicht nur die arbeitende Bevölkerung Griechenlands, sondern ganz Europas dezimiert?! Wie ist es möglich, dass wir nicht deutlicher und massiver gegen die sogenannten Freihandels- und Investitionsabkommen wie CETA und TTIP vorgehen, die unser europäisches Sozial- und Umweltsystem zersetzen könnten?!

Der europäische Wähler versteht den Unterschied zwischen linker und rechter Politik schon gar nicht mehr. In Bezug auf Wirtschaftspolitik ist es für ihn wie der Unterschied zwischen Pepsi und Coca Cola, wie es Slavoj Žižek sarkastisch ausdrückte. Meiner Überzeugung nach muss die Linke nach sozial gerechteren Alternativen zum globalen Kapitalismus suchen. Ansonsten ist sie nicht länger die Linke. Der antikapitalistische Kern der Linken darf nicht durch einen kleinbürgerlichen Liberalismus ersetzt werden, der mit Debatten über Transgenderrechte und Tierschutz gewürzt ist. Das Hauptgewicht muss nach wie vor auf dem Kampf gegen den Neoliberalismus liegen.

Unsere Genossen im Westen sind häufig verwundert, dass die zentraleuropäische Linke sich in kulturellen Fragen häufig nicht sonderlich liberal zeigt. Der philosophische Unterschied ist offensichtlich: Während die moderne westliche Linke ihr Programm und ihre Ideologie auf eine konsequente Auslegung und Umsetzung der Menschenrechte (einschließlich der sozialen Rechte) gründet, steht für die mitteleuropäische Linke der soziale Schutz im Vordergrund, darunter auch der Schutz, den der Staat seinen Bürgern gewährt, um sie vor dem Wildwuchs der Märkte zu schützen.

Daraus folgt, dass die Linke in Zentraleuropa in ihrem Kern eher gemeinschaftsorientiert als individualistisch geprägt ist. Das hängt nicht nur mit unserer staatsgeprägten Geschichte zusammen (bis 1989 war der Staatssozialismus offizielles Regime), sondern auch mit unserer konservativeren Kultur (Individualismus und Liberalismus waren eher die Themen der marktfreundlichen rechtsgerichteten Parteien).

Die liberale Linke, wie man sie in Westeuropa kennt, ist in der zentraleuropäischen politischen Landschaft bestenfalls eine Randerscheinung. Wir sprechen hier von lediglich ein paar Tausend Intellektuellen, Aktivisten und Journalisten. Sie sind zwar durchaus lautstark zu vernehmen, weil sie häufig in den Medien erscheinen, aber der Großteil der Gesellschaft, insbesondere der traditionelle Linkswähler aus der Arbeiterschicht, traut ihnen nicht über den Weg. Diese Wähler erwarten den sozialen Schutz vom Staat und von den sozialistischen Parteien; sie erwarten eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, ein faires Arbeitsrecht, die Umverteilung von Reichtum, menschenwürdige Löhne usw. Sie wollen so gut wie gar nichts von der kulturellen liberalen Agenda wissen, sondern erwarten eine sozialistische Wirtschaftsagenda.

Auch bei den Einstellungen zum Multikulturalismus wird ein Unterschied in den Wertesystemen zwischen der west- und der mitteleuropäischen Linken deutlich. Die Zustimmung zu Einwanderung und multikultureller Gesellschaft ist ein selbstverständlicher Bestandteil des Eintretens der westlichen Linken für Toleranz, Vielfalt und universelle Menschenrechte. Angesichts der Tatsache, dass in diesen Gesellschaften seit Jahrhunderten verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften Seite an Seite leben, ist das auch gut nachvollziehbar. Andererseits ist der Verlust an Wählerstimmen für die westlichen sozialdemokratischen Parteien möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass sie den kulturellen Liberalismus zu sehr propagieren, weshalb die konservativeren Wähler der Arbeiterschicht sich eher den rechtsgerichteten Parteien zuwenden.

Zentraleuropa ist in kultureller und religiöser Hinsicht eine weit homogenere Region und zurückhaltender in Sachen Multikulturalismus. Hier geht der Wert der Solidarität nicht auf die universelle Gültigkeit der Menschenrechtserklärung zurück, sondern auf ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft – der slowakischen oder europäischen Gesellschaft. In der slowakischen Linken spiegelt sich diese gemeinschaftsorientierte Bindung wider; sie erinnert eher an das schwedische Konzept der Folkhemmet nach Per Albin Hansson oder Tage Erlanders Vorstellung von der „starken Gesellschaft“. Diese beiden Politiker wollten ein „Volksheim“ für alle Schweden schaffen, was damals vor dem Hintergrund einer homogenen schwedischen Nation erfolgte. Wenn man in der Slowakei von „der Linken“ spricht, meint man eine Vision dieser Art von sozial gerechterer und egalitärer Gesellschaft. Der Multikulturalismus hat einfach nicht denselben automatischen und natürlichen Platz in diesem Narrativ, wie er ihn in der Erzählung der westlichen Linken hat. Allerdings will sich auch niemand einer Debatte verweigern.

Wenn wir nicht darauf beharren, dass es im Zeitalter des globalen Kapitalismus, in dem die neoliberale Wirtschaftsglobalisierung nach und nach den Sozialstaat auflöst, unbedingt notwendig ist, gegen wirtschaftliche Missstände, gegen Armut, Ausbeutung und soziale Ungleichheit zu kämpfen, dann sind alle kulturellen Triumphe wie die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen oder der Rechte von Ureinwohnern irgendwo in Lateinamerika letztlich nichts als Pyrrhussiege.

Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William Robinson führt in seinem Buch Latin America and Global Capitalism ein gutes Beispiel dafür an. Er erzählt die Geschichte einiger lateinamerikanischer Eingeborenenstämme, die nach jahrelangem Kampf durchsetzen konnten, dass ihre kulturellen Rechte von den Regierungen Mexikos, Perus, Ekuadors und Brasiliens verfassungsrechtlich anerkannt wurden, nur um zu erleben, dass ihnen (von denselben Regierungen) die Eigentumsrechte an den historisch ihnen gehörenden Ländereien aberkannt wurden, die dann an multinationale Riesenkonzerne verpachtet wurden. Die stolzen Stämme sind jetzt anerkannt … und stehen vor der Zwangsvollstreckung.

Das ist eine Mahnung, was in den Zeiten eines sozial unsensiblen globalen Kapitalismus wirklich wichtig ist.

Vielleicht sollten wir die traditionellen Werte der alten Linken wieder stärker aufleben lassen und uns weniger auf die post-materialistische Agenda der neuen Linken konzentrieren.

Zumindest ist das die Lehre, die in der Slowakei gezogen wurde, wo eine sozialdemokratische Partei unter der Führung von Robert Fico weiterhin von 25 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird und damit seit zehn Jahren die stärkste Partei im Land ist.

Ľuboš Blaha ist ein neo-marxistischer Philosoph und Politiker aus der Slowakei. Er ist Abgeordneter im Nationalrat für die sozialdemokratische Partei Smer und sitzt dem parlamentarischen Komitee für Europäische Angelegenheiten vor.

Die globale Ordnung zerbricht – Wird die Barbarei siegen ? – Buchbesprechung

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

DAS ENDE DER MEGAMASCHINE

Geschichte einer scheiternden Zivilisation

scheidler_megamaschine_384_web_neu-eb0e80fc150701_scheidlerEine große Übersicht wird im folgenden Artikel zusammengefasst, weiter unten noch handlungsanweisungen von Eckard Spoo.
Man müsste das besprochene Buch mit den Werken von Naomi Klein und Thomas Piketty zusammen lesen.
http://www.nachdenkseiten.de/?p=26641#more-26641

Warum schreitet die ökologische Zerstörung des Planeten trotz unzähliger Klimagipfel ungebremst voran?
Warum hungern mehr Menschen als je zuvor auf der Erde, obwohl noch nie so ungeheure Reichtümer angehäuft wurden wie heute?
Warum erweisen sich die globalen Eliten als unfähig, die Richtung zu ändern, obwohl ihr Kurs in einen planetaren Crash führt?

Antworten auf diese Fragen liefert der Berliner Autor und Journalist Fabian Scheidler in seinem soeben erschienenen Buch, in dem er die Wurzeln jener Zerstörungskräfte freilegt, die heute die menschliche Zukunft infrage stellen.
Jens Wernicke sprach mit ihm über das „Ende der Megamaschine“ und über Möglichkeiten, gemeinsam einen Ausgang aus der gefühlten Ohnmacht zu finden.

Herr Scheidler, Sie gehen in Ihrem aktuellen Buch der Frage nach, was die Wurzeln der sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen sind, die wir derzeit erleben.
Dazu bürsten Sie einen Großteil der modernen Geschichte gegen den Strich und konstatieren dabei unter anderem, der Neoliberalismus sei gar nicht des Pudels wahrer Kern, sondern stelle nur „die jüngste Phase eines wesentlich älteren Systems, das von Anfang an, seit seiner Entstehung vor etwa 500 Jahren, auf Raubbau gründete“ dar.
Wie kamen Sie auf die Idee – und was meinen Sie, wenn sie von „Megamaschine“ sprechen?

Wenn wir uns mit den globalen Krisendynamiken beschäftigen, den Finanzkrisen, der Verschärfung der Kluft zwischen Arm und Reich und der Biosphärenkrise, dann sprechen wir oft über die letzten 30 Jahren, die Phase des „Neoliberalismus“.
Natürlich ist diese Phase von einem radikalen Angriff auf soziale Rechte und die Umwelt geprägt, aber die Wurzeln der globalen Krisen reichen meines Erachtens wesentlich tiefer. Um diesen angemessen begegnen zu können, brauchen wir daher mehr als eine Rückkehr zu den vermeintlich glorreichen 1960er Jahren.
Wir brauchen eine Transformation, die die Tiefenstrukturen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems erfasst.

In meinem Buch ging es mir darum, diesen Tiefenstrukturen auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was uns eigentlich davon abhält, den dringend notwendigen Wandel einzuleiten. Denn an Wissen über unser dysfunktionales Finanz- und Wirtschaftssystem, den Klimawandel und die strukturellen Ursachen von Armut fehlt es ja wahrlich nicht.

Der Ausdruck „Megamaschine“ ist dabei eine Metapher für ein ökonomisches, militärisches und ideologisches System, das vor etwa 500 Jahren in Europa entstand und sich rasant über die Welt verbreitete. Die historische Bestandsaufnahme zeigt sehr deutlich, dass dieses System von Anfang an mit radikaler Ausbeutung von Mensch und Natur und massiver physischer Gewalt verbunden war.

Ist „Megamaschine“ also gleichbedeutend mit jenem Gesellschaftssystem, das man auch Kapitalismus nennt?

In vieler Hinsicht, ja. Das Wort „Kapitalismus“ erweckt aber oft den Eindruck, es gebe so etwas wie ein selbständiges Wirtschaftssystem und daneben den Staat, das Militär, „freie Medien“ und andere eigenständige Institutionen.
Die historische Analyse zeigt jedoch, dass sich all diese Institutionen von Anfang an co-evolutionär entwickelt haben, dass sie eng miteinander verflochten sind und ohne einander gar nicht existieren können.

Der „freie Markt“ etwa, der so gern von Wirtschaftsliberalen beschworen wird, hat überhaupt nie existiert, selbst nicht in der Hochphase des Liberalismus im 19. Jahrhundert: Unternehmen und Unternehmer waren von Anfang an auf einen starken militarisierten Staat angewiesen, um ihre Eigentumsansprüche auch durchsetzen zu können.
Die „Ursprüngliche Akkumulation“, von der Marx schreibt, war stets damit verbunden, dass Menschen gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurden, dass Widerstand polizeilich und militärisch gebrochen wurde.
Und die wirtschaftliche Expansion Europas war stets auch eine militärische. Die ersten Aktiengesellschaften, die um 1600 gegründet wurden, waren staatenähnliche Gebilde mit hochgerüsteten Militärapparaten, eigenen Söldnerheeren und Flotten: Die 16 Prozent Dividende für die Aktionäre in Amsterdam und London wurden von Anfang an mit Gewalt, einschließlich diverser Völkermorde, erwirtschaftet.

Umgekehrt hätte der moderne Staat – und in den ersten Jahrhunderten war dieser Staat vor allem eine Militärmaschinerie – niemals ohne das private Kapital entstehen können. Die Händler und Bankiers von Genua, Augsburg und Antwerpen liehen Kaisern und Königen das Geld, um ihre Söldnerheere aufzubauen, mit denen nicht nur Kriege geführt, sondern auch Steuern eingetrieben wurden, die der Staat wiederum brauchte, um seine Schulden zu bezahlen und noch mehr Soldaten anzuheuern.
Im Gegenzug zu den Krediten wurden den Händlern und Bankiers dann Monopole zugesprochen, die ihnen erlaubten, ungeheure Kapitalmengen zu akkumulieren, die unter den Bedingungen echter Konkurrenz niemals möglich gewesen wären.

Moderner Staat und Kapital sind also Teil eines Kreislaufsystems, sie sind so etwas wie untrennbare Zwillinge. Das sieht man auch heute daran, dass die meisten der 500 größten Unternehmen der Welt ohne verdeckte oder offene Subventionen gar nicht mehr existieren würden – und zwar nicht nur die Großbanken, die ohne staatliche Rettungsmilliarden längst zusammengebrochen wären, sondern auch große Teile der fossilen Energiewirtschaft, der Autobranche und viele mehr.

Und wenn wir die Destruktivität dieses Systems überwinden wollen, brauchen wir nicht nur andere wirtschaftliche Institutionen und Logiken, wir brauchen auch und vor allem eine Transformation des Staates sowie politischen Systems, um beide aus ihren Verflechtungen mit den großen Konzernen herauszulösen.

„Längst kritisieren auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die ‚Auswüchse‘ des Neoliberalismus und beklagen die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt.
Falsch, sagt David Harvey: Weshalb kommt diesen Leuten denn ‚nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war‘? Die neoliberale Wende, so Harvey, wurde in den 70er-Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten.“

David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus

Sie haben auch die Medien erwähnt. Welche Rolle spielen sie in diesem System?

Neben physischer Macht und struktureller Gewalt – etwa durch Eigentumsverhältnisse und Schulden – spielt ideologische Macht eine zentrale Rolle für das Funktionieren der Megamaschine. Denn die Gewalt, ohne die das System nicht auskommt, braucht Legitimation.

In der Frühen Neuzeit erfüllte diese Funktion vor allem die staatliche und kirchliche Propaganda, die durch den Buchdruck ihre Reichweite noch erheblich erweitern konnte.
In dem Maße, wie der Buchdruck aber billiger wurde, sich sozusagen „demokratisierte“ und revolutionäre Bewegungen die Repression herausforderten, entstanden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zahlreiche kritische Zeitungen und Verlage. Es war die Zeit dessen, was Jürgen Habermas die „bürgerliche Öffentlichkeit“ genannt hat.
Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aber konzentrierte sich das Medieneigentum dann zunehmend in der Hand von immer weniger Magnaten, von Julius Reuter, dem Gründer der ersten Presseagentur, bis zu Alfred Harmsworth, William Hearst – dem Vorbild von „Citizen Kane“ – und Alfred Hugenberg.
Noam Chomsky und Edward S. Herman haben dieses Prozess ausgiebig in ihrem Buch Manufacturing Consent analysiert.

Der Clou dabei ist: Wenn die Presse einfach der Logik des Marktes ausgeliefert wird, dann braucht es kaum noch offizielle Zensur, um das Spektrum der öffentlichen Diskussion auf systemkompatible Positionen einzuengen. Die Eigentümerstruktur, die Abhängigkeit von Anzeigen, die Auswahl der Quellen und der vorauseilende Gehorsam gegenüber mächtigen Interessengruppen filtern unbequeme, nicht systemkonforme Positionen effektiv heraus.
Das können wir auch heute in der deutschen Medienlandschaft an zahlreichenBeispielen sehen, etwa an der verzerrten Berichterstattung über Griechenland oder über die Ukraine-Krise.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass inzwischen fast der gesamte deutsche Zeitungsmarkt sechs Milliardärsfamilien gehört, dann braucht man sich über die Inhalte, die man liest – oder auch nicht liest –, kaum zu wundern.
Diese Pressemacht ist sehr wichtig, denn wenn die Menschen seriös über politische und ökonomische Zusammenhänge informiert würden, könnten die Eliten unter den Bedingungen einer formalen Demokratie ihre Politik, die sich gegen Bevölkerungsmehrheiten richtet, nicht mehr durchsetzen. *)

Und diese „Maschine“ funktioniert nun nicht mehr richtig, sagen Sie… Warum ist das so?

Es gibt sowohl innere als auch äußere Grenzen für die globale Megamaschine. Die inneren Grenzen sind ökonomischer Art.
Seit Mitte der 1970er Jahre haben wir es mit einer strukturellen Krise der Akkumulation zu tun. Damals, nach dem Boom der Nachkriegszeit, gab es einen schweren Einbruch, Großbritannien etwa war praktisch bankrott, ebenso die Stadt New York, es war eine schwere globale Rezession.

Die Antwort darauf war dann das, was wir heute als „Neoliberalismus“ bezeichnen: radikale Umverteilung von unten nach oben; Schwächung der Gewerkschaften und Lohndrückerei; Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer; Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen; Deregulierung und Ausweitung spekulativer Aktivitäten.
David Harvey nennt das „Akkumulation durch Enteignung“. Das trifft es ganz gut.

All diese Mittel waren zwar effektiv, um für einzelne Wirtschaftsakteure Profite zu sichern und zu steigern; auf das Gesamtsystem haben sie aber destabilisierend gewirkt. Spekulation etwa lohnt sich für die Summe der Spekulanten nur, wenn irgendwer auch die Verluste trägt, die beim Platzen von Blasen entstehen.
Und aller neoliberalen Rhetorik von freien Märkten und Risiko zum Trotz, war das von Anfang an die öffentliche Hand, die die Verluste schließlich übernahm und zwar nicht erst seit der Finanzkrise 2008 sondern schon seit den 1980er Jahren, etwa in der großen „Savings and Loans Crisis“ in den USA.
Private Schulden werden so in öffentliche umgewandelt. Und Lohndrückerei hat zur Folge, dass die Kaufkraft der Bevölkerung mehr und mehr schwindet.
Um weiter konsumieren zu können, müssen sich die Bürger dann verschulden. Hier wie dort wächst also die Schuldenlast im System, um den Prozess der Akkumulation noch irgendwie aufrecht zu erhalten.

Hinzu kommt ein anderer Prozess, der die vom neoliberalen Rollback geschaffenen Probleme weiter verschärft: Immer mehr Arbeit wird durch Technik ersetzt, nicht nur in Industrie und Landwirtschaft, sondern durch die Computerisierung auch in den Dienstleistungssektoren der Mittelschicht.
Der Arbeitsgesellschaft geht, global gesehen, die Arbeit aus, das System kann immer weniger Menschen eine Perspektive geben.
Die Folge von dieser doppelten Dynamik ist, dass inzwischen immer mehr Regionen in Massenarbeitslosigkeit versinken.

Das einzige denkbare Gegenmittel gegen diesen Tsunami von Arbeitslosigkeit und Verschuldung würde darin bestehen, gewaltige öffentliche Investitionen in Gang zu setzen, die durch eine massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen aus Kapitalerträgen finanziert werden, und gleichzeitig radikale Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich durchzusetzen.
Aber dagegen kämpfen die ökonomischen Eliten und ihre politischen Helfer natürlich mit aller Kraft an – und verschärfen damit die systemische Krise immer mehr.
Und auch von den Nationalstaaten und ihren jeweiligen politischen Klassen ist hier nicht viel zu erwarten, da sie in der Logik einer sich zuspitzenden Standortkonkurrenz gefangen sind. Je erfolgreicher alle Akteure also ihre kurzfristigen Interessen verfolgen, desto schneller untergraben sie die Grundlagen des Systems, von dem sie selbst sich ernähren, sie sägen sozusagen am Ast, auf dem sie sitzen.

Alles ist also nur ein wirtschaftliches Problem?

Nein es ist weit mehr. Denn neben den inneren Grenzen stößt das System auch an äußere Grenzen.
Die „Megamaschine“ zerstört die globalen lebenserhaltenden Systeme der Biosphäre, von denen sie selbst auf lange Sicht abhängt, und zwar mit atemberaubender Geschwindigkeit. Das betrifft nicht nur das Klima, auf das sich die Kritik gern fokussiert. Wir bewegen uns auch in eine Süßwasserkrise von globaler Tragweite hinein, die im Westen der USA und in Nordchina längst begonnen hat; wir verlieren ein Prozent unserer fruchtbaren Böden pro Jahr; wir haben bereits das schnellste und möglicher Weise größte Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde in Gang gesetzt.
Diese Krisen wiederum lösen schwere soziale, ökonomische und politische Verwerfungen aus. Die Kombination dieser verschiedenen Krisendynamiken bringt eine chaotische Situation hervor, die jeder Idee von „global governance“ Hohn spricht.
Die Megamaschine fährt so in Zeitlupe gegen die Wand, und ihre Steuermänner drehen planlos an verschiedenen Reglern, mit denen sie am Ende alles nur schlimmer machen können.

Eine umfassende Transformation ist daher unvermeidbar, ob wir wollen oder nicht.
Die Frage ist nicht, ob sie kommt, sondern lediglich, wie sie aussehen wird: Wird sie von reaktionären Kräften bestimmt, die ihre Macht und Privilegien mit allen Mitteln weiter aufrecht zu erhalten versuchen, auch um den Preis von Massenverelendung und eines ruinierten Planeten?
Oder können emanzipatorische Kräfte die Krisen und Brüche nutzen, um neue Formen des Wirtschaftens und der politischen Organisation auf den Weg zu bringen?

Im Moment zeichnet sich da eher so etwas wie ein reaktionärer „Coup d’Etat der Konzerne“ ab: Mithilfe von staatlichen und suprastaatlichen Akteuren wie der EU versuchen die ökomischen Eliten, ein neues Rechtssystem zu schaffen, um die Reste demokratischer Kontrolle auszuschalten und so eine Art neofeudales Tributsystem zu errichten, das ihre Profite in einer wankenden globalen Ökonomie sichern soll.

„Investitionsschutz“-Abkommen wie TTIP sind zum Beispiel ein Baustein in dieser Strategie. Die Ausschaltung der Demokratie sowie jeder makroökonomischen Vernunft im Erpressungsspiel gegen Griechenland ist ein anderes Beispiel. Hier sollen die Profite eines eigentlich längst bankrotten Zombiebankensystems gerettet werden, indem ein ganzes Land ausgeblutet und die Zukunft der EU aufs Spiel gesetzt wird.

Immerhin gibt es aber auch Hoffnungsschimmer: Immer mehr Menschen wachen langsam auf und wehren sich gegen diesen „Staatsstreich in Zeitlupe“, wie etwa der Widerstand gegen TTIP zeigt. Aber es sind immer noch viel zu wenige.

Einen wichtigen Teil Ihres Denkgebäudes und Kritiksystems macht auch die Destruktion „zivilisatorischer Mythen“ aus. Das erinnert ein wenig an die Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen und BrechtsFragen eines lesenden Arbeiters“. Wurden Sie hiervon inspiriert? Und: Um welche „Mythen“ geht es Ihnen dabei?

Sie haben zwei großartige, bewegende Texte angesprochen, von Brecht und von Benjamin. Sie sind sehr wichtige Einsprüche gegen eine ideologisch verzerrte Geschichtsschreibung, die Geschichte als ein Ringen großer Männer beschreibt und die Expansion des Westens als eine universale success story von Fortschritt und Zivilisierung verkauft.

In meinem Buch war es mir wichtig, Geschichte aus der Perspektive der Menschen zu erzählen, die unter dem System von Anfang an gelitten haben, die von seinem Räderwerk erdrückt oder traumatisiert wurden. Historiker gehören ja in der Regel zu den wohlhabendsten 10 Prozent der Weltbevölkerung, und neigen daher – bewusst oder unbewusst – dazu, Geschichte aus der Perspektive der Gewinner zu schreiben.

Und aus dieser Perspektive – der Sicht der Herrschenden und Privilegierten – lassen sich die letzten 500 Jahre tatsächlich als ein großes Aufwärts erzählen.
Für die Millionen Indigenen in Nord-, Süd- und Mittelamerika, die in der Conquista und nordamerikanischen Kolonisierung ermordet wurden, oder für die durch Sklavenhandel, Kolonialismus und moderne „Strukturanpassungen“ zerstörten Gesellschaften Afrikas und Südostasiens und für viele andere ergibt sich jedoch eine ganz andere Geschichte. Und wenn man diese Menschen mit einbezieht, die Toten und die Lebenden, dann bricht der Mythos von der heilbringenden zivilisatorischen Mission des Westens in sich zusammen, dann zeigt sich eher so etwas wie der benjaminscheEngel der Geschichte, der auf eine lange Verwüstungsspur zurückblickt.

Zugleich gab und gibt es aber auch massiven Widerstand, der sich gegen die Zumutungen des Systems zur Wehr setzt. Auch wenn es in 500 Jahren nicht gelungen ist, seine Logik zu überwinden – auch der Realsozialismus vermochte das ja nur sehr bedingt und um einen sehr hohen Preis –, so haben diese sozialen Bewegungen uns doch einen wichtigen Spielraum von Freiheiten verschafft, auf dem der Weg in eine umfassende gesellschaftliche Transformation aufbauen kann.

Und die nächsten, ggf. ersten Schritte auf diesem Weg, sollten, könnten Ihrer Auffassung nach welche genau sein? Was täte am dringendsten not?

Überall auf der Welt sind längst Millionen Menschen dabei, Auswege aus der destruktiven Logik der endlosen Kapitalakkumulation zu suchen.
Es geht darum, ökonomische Strukturen wieder in die Hand von Bürgerinnen und Bürgern zu bringen und die Logik des Profits durch eine Logik des Gemeinwohls zu ersetzen.

Die Energiewende von unten ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn Menschen dafür kämpfen, ihre Stromversorgung den fossilen Riesen zu entreißen und sie in eine kommunale Genossenschaft überführen, die mit regionalen erneuerbaren Energien arbeitet, dann ist das nicht nur ein Beitrag zum Ausstieg aus Atomkraft, Kohle und Öl.
Es ist auch eine Selbstermächtigung der Bürger, ein Akt echter Demokratie. Und es ist ein Beitrag zum Ausstieg aus der Logik endloser Geldvermehrung.

So etwas brauchen wir auf allen Ebenen. Es geht darum, uns zu fragen: Was brauchen wir für ein gutes Leben?
Und diese Dinge dann in gemeinwohlorientierten Strukturen bereitzustellen, ob das die Wasser- und Gesundheitsversorgung ist, Ernährung oder Wohnen, ja sogar das Geldsystem. Das bedeutet natürlich auch, bisherige Macht- und Eigentumsverhältnisse herauszufordern.
Das Charmante an einem solchen dezentralen, pluralen Ansatz ist, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst vor Ort praktisch aktiv werden können, Erfolgserlebnisse haben und nicht auf eine abstrakte Revolution irgendwann in der Zukunft warten müssen.

Ein Ausstieg aus der Megamaschine ist machbar, so wie auch ein Atomausstieg machbar war. Das Energiebeispiel zeigt aber auch, dass es einen langen Atem braucht, der Atomausstieg hat immerhin 40 Jahre gedauert.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Fabian Scheidler, geboren 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/M. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen, Theater und Oper. 2009 gründete er mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin Kontext TV, das regelmäßig Sendungen zu Fragen globaler Gerechtigkeit produziert. Zahlreiche Vorträge zu Globalisierungsthemen bei Kongressen von Attac, Deutsche Welle, Greenpeace, Evangelische Akademie u. a. Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus (2009). Programmkoordinator für das Attac-Bankentribunal in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (2010). Als Dramaturg und Theaterautor arbeitete er viele Jahre für das Berliner Grips Theater. 2013 wurde seine Oper „Tod eines Bankers“ am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz uraufgeführt.

*)Aus dem Originalinterview mit Eckhard Spoo:

Wenn aber ein oder zwei Studenten, ein Pfarrer, ein Aktiver von „Pro Asyl“ oder eine Aktive aus einem Umweltverband, ein gewerkschaftlicher Vertrauensmann aus einem Großbetrieb und eine Gewerkschaftssekretärin und der eine oder andere rüstige Rentner sich verabreden, jede Woche oder alle 14 Tage oder wenigstens einmal im Monat an einem Abend alles zusammenzutragen, was ihnen beim Lesen des Blattes aufgefallen ist, und wenn dieser Kreis das Ergebnis in knapper Form auf ein Doppelblatt druckt, um es an belebten Plätzen auszulegen – das würde Aufsehen erregen.
Und wenn sechs Wochen später ein neues, aktuelles Doppelblatt ähnlichen Inhalts erschiene und nach weiteren sechs Wochen wieder, dann könnte vielleicht ein Dramaturg des Staatstheaters oder der Direktor der Volkshochschule zu einer Diskussion mit dem Chefredakteur unter dem Titel „Wie wir Braunschweiger informiert werden (möchten)“ einladen. Oder so ähnlich … oder auch ganz anders.
Die Hauptsache ist, daß selbstbewußte Bürgerinnen und Bürger endlich ihre Rechte geltend machen. Ich bin sicher: Das würde demokratisch gesonnenen Journalisten notwendigen An- und Auftrieb geben.
Meine Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen brauchen, um dem ständigen Druck von rechts oben standzuhalten, persönliches Rückgrat, aber auch gesellschaftlichen Rückhalt.
Medienkritik, die über einmalige Beschwerden hinausgeht, zwingt zur Diskussion unter den Redakteuren und hilft ihnen, sich auf ihren demokratischen Auftrag zu besinnen, also aufklären und sich nicht für Propagandazwecke einspannen zu lassen.