Interview mit Sahra Wagenknecht – der beliebtesten Politikerin: „Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?“

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

wagenknecht2013

Eine sehr erfreuliche Nachricht – ihre Unbestechlichkeit, ihr Weitblick und ihr ökonomischer Sachverstand kommen mittlerweile bei der Bevölkerung an.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=56623
Dort auch zum Anhören das Interview mit Albrecht Müller:

https://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/191125_Sahra_Wagenknecht_die_beliebteste_Politikerin_Was_ist_das_wert_NDS.mp3
In der SPD wird z.Zt. diskutiert, keinen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Das ließe Platz für Sahra.
Und hier die Abschrift:

Albrecht Müller (A.M.): Meine Regionalzeitung schreibt am 22. November auf der ersten Seite: „Wagenknecht löst Merkel ab“. Das wäre ja ganz toll, wenn es um die Kanzlerschaft ginge.
Es geht aber um eine Umfrage, wie die NachDenkSeiten am 21.11. schon berichtet haben. Dass Sie auf der Beliebtheitsskala dieser Umfrage Angela Merkel überholt haben, ist bemerkenswert und erfreulich.
Aber: Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?

Sahra Wagenknecht (S.W.): Ich habe mich natürlich sehr über das Umfrageergebnis gefreut, aber man sollte es auch nicht überinterpretieren. In der Umfrage sollen die Befragten mit Punkten bewerten, ob ein Politiker „ihre Interessen vertritt“. Dabei schwanken die Ergebnisse von Woche zu Woche um einige Punkte, was einen schnell um mehrere Plätze nach oben oder unten bringen kann.
Insofern ist der genaue Platz nur eine Momentaufnahme. Was mich wirklich freut, ist, dass ich bei dieser und ähnlichen Umfragen in der Regel gute Ergebnisse erziele. Das zeigt, dass die Politik, für die ich stehe, von vielen Menschen unterstützt wird. Diese Zustimmung ist für mich ein wichtiger Ansporn, mich weiter politisch für andere Mehrheiten und eine Gesellschaft mit mehr sozialem Zusammenhalt und weniger Ungleichheit zu engagieren.

A. M.: Wie könnte Ihre Beliebtheit genutzt werden, um Merkel oder ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger im Kanzleramt abzulösen?

S. W.: Ich werbe in der Linken seit Jahren für einen anderen Kurs, als ihn die derzeitige Parteiführung vertritt. Wir dürfen keine grünliberale Lifestyle-Partei werden, die mit ihren Themen und ihrer Sprache allenfalls noch im Milieu der akademisch gebildeten urbanen Mittelschicht ankommt.
Aufgabe einer linken Partei ist es, die zu vertreten, die um ihren Wohlstand immer härter kämpfen müssen, also die Leidtragenden der neoliberalen Globalisierung, nicht die Gewinner.

Ich will nicht behaupten, dass eine Linke, die sich als konsequenter und populärer Anwalt der unteren Mitte und der Ärmeren profiliert, morgen schon den Kanzler stellen könnte, aber sie wäre in jedem Fall deutlich stärker als die heutige Linkspartei, die leider mit Ausnahme von Thüringen und Bremen ein katastrophales Wahljahr hinter sich hat.

A. M.: Sie sind so etwas wie die Stimme der Vernunft in einem ansonsten abgrundtief unvernünftigen Umfeld.
Mal unterstellt, Ihre Stimme wird weiter gehört, was wären denn die wichtigsten programmatischen Vorhaben?

S. W.: Ich finde es wichtig, sich über die Veränderung klarzuwerden, die in der Ausrichtung linker Politik, ihrer sozialen Basis und ihrer öffentlichen Wahrnehmung in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. In fast allen EU-Ländern.
Nach klassischem Verständnis war die soziale Frage, der Kampf für gute Löhne und soziale Sicherheit Kern linker Politik. Entsprechend hatten die linken Parteien ihre Basis bei denen, die auf einen ordentlich regulierten Arbeitsmarkt, eine gute öffentliche Infrastruktur und einen starken Sozialstaat angewiesen sind.
Alle diese Errungenschaften wurden im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten erkämpft und durch die Globalisierung der Wirtschaft, die Öffnung der Märkte und die EU-Verträge, die den Rückzug des Staates und die Beschränkung seiner Regulierungskompetenz festschreiben, mehr und mehr untergraben.
Diese Entwicklung ist eine existentielle Bedrohung für den Lebensstandard der früheren Wähler linker Parteien.
Für viele ist der soziale Abstieg auch keine bloße Zukunftsangst mehr, sondern bereits bittere Realität. Etwa für diejenigen, die in die neuen Niedriglohnjobs im Servicebereich abgedrängt wurden oder für viele ältere Menschen mit Armutsrenten.

A. M.: Gibt es nur Verlierer?

S. W.: Es gibt auch Gewinner der neoliberalen Globalisierung: dazu gehört hauptsächlich die traditionelle Oberschicht, die über Betriebsvermögen und anderes anlagefähiges Kapital verfügt und ihre Erträge und Vermögen in den letzten Jahren massiv steigern konnte.
Aber es ist wichtig zu verstehen, dass auch die neue urbane Mittelschicht, also diejenigen, die in den neu entstandenen hochqualifizierten und hochbezahlten Dienstleistungsberufen von Finanzen und Beratung bis zu Software, Werbung und Medien arbeiten, in einem gewissen Rahmen zu den Gewinnern gehören. Die meisten dieser Jobs sind im Umfeld großer, international aufgestellter Unternehmen entstanden und oft direkt in transnationale Arbeitszusammenhänge eingebunden. Sie erfordern Fremdsprachenkenntnisse und einen souveränen Umgang mit anderen Kulturen.
Diese neue Mittelschicht, die erst in den letzten Jahrzehnten als eigenständiges soziales Milieu entstanden ist und die hochpreisigen Trendviertel der großen Städte bewohnt, lebt in einer anderen Welt und hat in vieler Hinsicht andere Interessen als der Postzusteller, der ihre Online-Bestellungen die Treppe hochschleppt, die Reinigungskraft, die ihre Haushalte putzt, oder auch der Industriearbeiter in der Kleinstadt, den die Angst umtreibt, dass irgendwann auch sein Betrieb in ein Land mit billigeren Löhnen oder niedrigeren Umweltstandards abwandert und so der vielleicht letzte gutzahlende Arbeitgeber seiner Region verschwindet.

A. M.: Sind das die Wählerschichten, die den linken Parteien abhanden gekommen sind?

S. W.: Die urbanen Besserverdiener sind heute die wichtigste Wählergruppe der Grünen, aber in zunehmendem Maße auch von SPD und Linken. Es ist die Denkweise und Lebenswelt dieses sozialen Milieus, ihre Sicht auf die Globalisierung, die Zuwanderung, die EU und den Nationalstaat, die heute als „links“ gelten, während Ansichten, die früher sozialdemokratischer Mainstream waren, plötzlich unter Nationalismus- oder gar Rassismusverdacht stehen.
Im Ergebnis hält die Mehrheit der Arbeiterschaft und der Ärmeren „links“ heute für eine Ideologie der Herrschenden, der Profiteure der neoliberalen Globalisierung, und hat damit nicht ganz unrecht.
Das ist eine gravierende Fehlentwicklung. Eine Linke, die sich von den benachteiligten Schichten und deren Interessen entfernt, trägt damit auch Mitverantwortung für den Aufstieg der Rechten.
Gleichzeitig zeigt beispielsweise der letzte Wahlkampf der dänischen Sozialdemokratie, dass die Linke mit einer populären und an den Wünschen der Mehrheit orientierten Strategie die Rechtsparteien erstaunlich schnell wieder kleinmachen kann. Das wäre auch in Deutschland möglich.

A. M.: Wie könnte man die Stimme der Vernunft organisatorisch oder medial wirksam bündeln?

S. W.: Es geht darum, sich zunächst einmal bewusst zu machen, was falsch läuft und warum. Einzusehen, dass ehemalige Linkswähler nicht deshalb zur AfD abwandern, weil sie plötzlich zu Rassisten geworden sind, sondern weil sie sich in wesentlichen Teilen des aktuellen linken Politikangebots nicht wiederfinden können.
Man kann beispielsweise nicht gleichzeitig den Nationalstaat für überholt erklären und einen starken Sozialstaat fordern, da es transnational gar keine institutionellen Voraussetzungen – und aktuell auch keine Akzeptanz! – für eine Umverteilung größeren Umfangs und statussichernde soziale Netze gibt.
Aber genau das, die Absicherung des Lebensstandards und nicht eine nackte Existenzsicherung, war mal der Anspruch des deutschen Sozialstaates.
Wer für eine soziale Rückbesinnung linker Politik anstelle identitätspolitischer Modethemen wirbt, hat bei den Medien – zumal den vermeintlich linken – nicht viele Freunde.
Umso wichtiger sind Blogs wie die Nachdenkseiten, Makroskop und andere, um solchen Positionen Öffentlichkeit zu geben.
Ich persönlich habe gerade einen eigenen YouTube-Kanal angemeldet, von dem ich hoffe, dass er viele Abonnenten findet. Ich werde dort in Kürze damit beginnen, ein Mal pro Woche das Zeitgeschehen zu kommentieren und auf Fragen und Anmerkungen zu antworten.

A. M.: Wie geht es mit Aufstehen weiter?

S. W.: Aufstehen hat heute über 150 000 Mitglieder mit wieder leicht steigender Tendenz. Es sind überwiegend Parteilose aus genau den ehemals sozialdemokratischen Milieus, die sich heute von den linken Parteien kaum noch vertreten fühlen. Viele engagieren sich in Ortsgruppen und organisieren Veranstaltungen und Aktionen.
Einigen davon, etwa einer Diskussion zwischen Kevin Kühnert und mir im September, gelingt es, überregional öffentlich wahrgenommen zu werden.
Die entscheidende Aufgabe, eine Bewegung mit sozialen Forderungen auch auf die Straße zu bringen, ist bisher noch nicht eingelöst, bleibt aber hochaktuell.
Gerade mit Blick auf die jüngsten Sozialabrissphantasien der amtierenden CDU-Vorsitzenden kann es bald zu einer dringenden Notwendigkeit werden, sich bundesweit gegen die nächsten Rentenkürzungen oder andere soziale Einschnitte zur Wehr zu setzen.

A. M.: Sehen Sie eine Chance zur Vereinigung aller fortschrittlichen Gruppierungen in unserem Land?

S. W.: Es gibt einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der in der Politik heute keine Stimme mehr hat und von keiner Partei mehr vertreten wird.
Auch die AfD, die teilweise von diesen Menschen gewählt wird, vertritt ja in keinem Fall ihre Interessen und das wissen die meisten auch.
Wenn auf der politischen Linken eine überzeugende Kraft auf den Plan treten würde – ob aus der SPD, aus der Linkspartei oder aus beiden Parteien – die glaubwürdig für eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft streitet, die den Wohlstand der abstiegsbedrohten Mitte absichert, den Niedriglohnsektor austrocknet und die Menschen vor Ausbeutung, Unsicherheit und globalen Renditejägern schützt, wäre das ganz sicher ein Erfolgskonzept.
Im Übrigen brauchen wir auch aus Umweltgründen dringend eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft, einen starken Investitions- und Innovationsstaat und ein Ende der ressourcenverschleißenden Wegwerfproduktion.
Wir müssen über neue Formen des wirtschaftlichen Eigentums reden, die eine solche Neuorientierung ermöglichen. Die Aktiengesellschaft mit ihrer bedingungslosen Orientierung am kurzfristigen Profit ist dafür keine Grundlage.

A. M.: Danke vielmals.

aufstehen oliri

Die Aufstehen!-Gruppe Donau-Ries trifft sich wieder am Dienstag 28.1.2020 um 20:00 in Nördlingen, genauer Ort wird noch bekannt gegeben.

Jochen

Postmaterialistischer Abgrund: wo bleibt der antikapitalistische Kern der Linken?

Interessanter Beitrag aus der Ostflanke der EU in der Juli-IPG. Dort auch eine sehr kontroverse Reaktion in den Diskussionsbeträgen:

http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/die-linke-global-wo-funktioniert-es/artikel/detail/der-postmaterialistische-abgrund-1500/

Auszüge:

Der antikapitalistische Kern der Linken darf nicht durch kleinbürgerlichen Liberalismus, Transgenderrechte und Tierschutz ersetzt werden.

Portrait_Blaha

Dubos Blaha

Von Ľuboš Blaha | 04.07.2016

Ich kritisiere an den europäischen sozialdemokratischen Parteien nun schon seit einigen Jahren, dass sie sich von den Arbeitnehmern entfernt haben und ihre Wertvorstellungen an einer liberalen städtischen Mittelschicht ausrichten. Für mich liegt genau hier die Wurzel der gegenwärtigen Krise der Linken.

Meine Kritik an der liberalen Agenda kommt nicht aus einer konservativen Ecke. Ich habe mehrere philosophische Bücher über Sozialliberalismus und Neomarxismus geschrieben und unterstütze die Agenda der postmodernen Linken, einschließlich ihres Eintretens für die Rechte der LGBTI-Gemeinde. Es ist jedoch auffällig, dass bei linksgerichteten Parteien post-materialistische Themen in den Vordergrund gerückt sind, und zwar häufig zulasten von traditionellen sozialen und wirtschaftlichen Inhalten. Das ist ein strategischer Fehler, der die Linken in ganz Europa teuer zu stehen kommt. Sie büßen damit die traditionelle Wählerschaft aus der Arbeiterschicht ein, und die Wechselwähler aus der Mittelschicht sind kein beständiger Ersatz. Denn diese geben ihre Stimme auch gern mal den Grünen oder aber irgendeiner für einen freien Markt eintretenden neoliberalen Partei.

Der europäische Wähler versteht den Unterschied zwischen linker und rechter Politik schon gar nicht mehr.

Ich verstehe mich als Linker, weil ich für die sozialen Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen, für mehr soziale Gleichheit, einen Sozialstaat und für Wirtschaftsdemokratie kämpfe. In meinen Augen kommt der linken Wirtschaftspolitik ein höherer Stellenwert zu als der kulturellen Linksorientierung. In Zeiten neoliberaler Reformen, die in ganz Europa auf soziale Kompromisse abzielen, ist es für linke Parteien zwingend notwendig, wieder radikalere wirtschaftliche Forderungen zu stellen und diesen Vorrang vor allem anderen einzuräumen. Kurz gesagt brauchen wir mehr sozialökonomischen und weniger kulturliberalen Radikalismus.

In der Slowakei hat die Linke im Grunde ohnehin keine andere Wahl. Würde sie versuchen, die kulturelle und ethische liberale Agenda voranzutreiben, müsste sie damit rechnen, gar nicht mehr ins Parlament gewählt zu werden. Mitteleuropa ist eine sehr viel traditionellere und konservativere Region als Nord- oder Westeuropa. Natürlich muss sich das allmählich ändern. Aber das wird nicht passieren, wenn wir unsere traditionelle Wählerschaft verlieren, die vornehmlich aus trotz Erwerbstätigkeit armen Menschen in den Dörfern und Kleinstädten besteht.

Die Arbeiterklasse war von jeher als Stammwählerschaft das Fundament der Sozialdemokratie. Diese Menschen vertreten häufig konservativere und autoritärere politische Ansichten. Sie zu missachten, wäre der Weg in den Abgrund. Der politische Kampf der Linken muss sich logischerweise gegen das Kapital richten, nicht gegen die Arbeiter.

Es ist deutlich zu beobachten, dass die immer zahlreicher werdenden radikalen oder gar extremistischen Rechtsparteien den Linksparteien die Wähler aus der Arbeiterschicht stehlen. Aber wie konnte es passieren, dass wir uns die Themen des Antikapitalismus und einer alternativen Globalisierung stehlen ließen?! Wie kann es sein, dass wir nicht entschieden gegen die Austeritätspolitik protestieren, die seit Jahren nicht nur die arbeitende Bevölkerung Griechenlands, sondern ganz Europas dezimiert?! Wie ist es möglich, dass wir nicht deutlicher und massiver gegen die sogenannten Freihandels- und Investitionsabkommen wie CETA und TTIP vorgehen, die unser europäisches Sozial- und Umweltsystem zersetzen könnten?!

Der europäische Wähler versteht den Unterschied zwischen linker und rechter Politik schon gar nicht mehr. In Bezug auf Wirtschaftspolitik ist es für ihn wie der Unterschied zwischen Pepsi und Coca Cola, wie es Slavoj Žižek sarkastisch ausdrückte. Meiner Überzeugung nach muss die Linke nach sozial gerechteren Alternativen zum globalen Kapitalismus suchen. Ansonsten ist sie nicht länger die Linke. Der antikapitalistische Kern der Linken darf nicht durch einen kleinbürgerlichen Liberalismus ersetzt werden, der mit Debatten über Transgenderrechte und Tierschutz gewürzt ist. Das Hauptgewicht muss nach wie vor auf dem Kampf gegen den Neoliberalismus liegen.

Unsere Genossen im Westen sind häufig verwundert, dass die zentraleuropäische Linke sich in kulturellen Fragen häufig nicht sonderlich liberal zeigt. Der philosophische Unterschied ist offensichtlich: Während die moderne westliche Linke ihr Programm und ihre Ideologie auf eine konsequente Auslegung und Umsetzung der Menschenrechte (einschließlich der sozialen Rechte) gründet, steht für die mitteleuropäische Linke der soziale Schutz im Vordergrund, darunter auch der Schutz, den der Staat seinen Bürgern gewährt, um sie vor dem Wildwuchs der Märkte zu schützen.

Daraus folgt, dass die Linke in Zentraleuropa in ihrem Kern eher gemeinschaftsorientiert als individualistisch geprägt ist. Das hängt nicht nur mit unserer staatsgeprägten Geschichte zusammen (bis 1989 war der Staatssozialismus offizielles Regime), sondern auch mit unserer konservativeren Kultur (Individualismus und Liberalismus waren eher die Themen der marktfreundlichen rechtsgerichteten Parteien).

Die liberale Linke, wie man sie in Westeuropa kennt, ist in der zentraleuropäischen politischen Landschaft bestenfalls eine Randerscheinung. Wir sprechen hier von lediglich ein paar Tausend Intellektuellen, Aktivisten und Journalisten. Sie sind zwar durchaus lautstark zu vernehmen, weil sie häufig in den Medien erscheinen, aber der Großteil der Gesellschaft, insbesondere der traditionelle Linkswähler aus der Arbeiterschicht, traut ihnen nicht über den Weg. Diese Wähler erwarten den sozialen Schutz vom Staat und von den sozialistischen Parteien; sie erwarten eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, ein faires Arbeitsrecht, die Umverteilung von Reichtum, menschenwürdige Löhne usw. Sie wollen so gut wie gar nichts von der kulturellen liberalen Agenda wissen, sondern erwarten eine sozialistische Wirtschaftsagenda.

Auch bei den Einstellungen zum Multikulturalismus wird ein Unterschied in den Wertesystemen zwischen der west- und der mitteleuropäischen Linken deutlich. Die Zustimmung zu Einwanderung und multikultureller Gesellschaft ist ein selbstverständlicher Bestandteil des Eintretens der westlichen Linken für Toleranz, Vielfalt und universelle Menschenrechte. Angesichts der Tatsache, dass in diesen Gesellschaften seit Jahrhunderten verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften Seite an Seite leben, ist das auch gut nachvollziehbar. Andererseits ist der Verlust an Wählerstimmen für die westlichen sozialdemokratischen Parteien möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass sie den kulturellen Liberalismus zu sehr propagieren, weshalb die konservativeren Wähler der Arbeiterschicht sich eher den rechtsgerichteten Parteien zuwenden.

Zentraleuropa ist in kultureller und religiöser Hinsicht eine weit homogenere Region und zurückhaltender in Sachen Multikulturalismus. Hier geht der Wert der Solidarität nicht auf die universelle Gültigkeit der Menschenrechtserklärung zurück, sondern auf ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft – der slowakischen oder europäischen Gesellschaft. In der slowakischen Linken spiegelt sich diese gemeinschaftsorientierte Bindung wider; sie erinnert eher an das schwedische Konzept der Folkhemmet nach Per Albin Hansson oder Tage Erlanders Vorstellung von der „starken Gesellschaft“. Diese beiden Politiker wollten ein „Volksheim“ für alle Schweden schaffen, was damals vor dem Hintergrund einer homogenen schwedischen Nation erfolgte. Wenn man in der Slowakei von „der Linken“ spricht, meint man eine Vision dieser Art von sozial gerechterer und egalitärer Gesellschaft. Der Multikulturalismus hat einfach nicht denselben automatischen und natürlichen Platz in diesem Narrativ, wie er ihn in der Erzählung der westlichen Linken hat. Allerdings will sich auch niemand einer Debatte verweigern.

Wenn wir nicht darauf beharren, dass es im Zeitalter des globalen Kapitalismus, in dem die neoliberale Wirtschaftsglobalisierung nach und nach den Sozialstaat auflöst, unbedingt notwendig ist, gegen wirtschaftliche Missstände, gegen Armut, Ausbeutung und soziale Ungleichheit zu kämpfen, dann sind alle kulturellen Triumphe wie die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen oder der Rechte von Ureinwohnern irgendwo in Lateinamerika letztlich nichts als Pyrrhussiege.

Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William Robinson führt in seinem Buch Latin America and Global Capitalism ein gutes Beispiel dafür an. Er erzählt die Geschichte einiger lateinamerikanischer Eingeborenenstämme, die nach jahrelangem Kampf durchsetzen konnten, dass ihre kulturellen Rechte von den Regierungen Mexikos, Perus, Ekuadors und Brasiliens verfassungsrechtlich anerkannt wurden, nur um zu erleben, dass ihnen (von denselben Regierungen) die Eigentumsrechte an den historisch ihnen gehörenden Ländereien aberkannt wurden, die dann an multinationale Riesenkonzerne verpachtet wurden. Die stolzen Stämme sind jetzt anerkannt … und stehen vor der Zwangsvollstreckung.

Das ist eine Mahnung, was in den Zeiten eines sozial unsensiblen globalen Kapitalismus wirklich wichtig ist.

Vielleicht sollten wir die traditionellen Werte der alten Linken wieder stärker aufleben lassen und uns weniger auf die post-materialistische Agenda der neuen Linken konzentrieren.

Zumindest ist das die Lehre, die in der Slowakei gezogen wurde, wo eine sozialdemokratische Partei unter der Führung von Robert Fico weiterhin von 25 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird und damit seit zehn Jahren die stärkste Partei im Land ist.

Ľuboš Blaha ist ein neo-marxistischer Philosoph und Politiker aus der Slowakei. Er ist Abgeordneter im Nationalrat für die sozialdemokratische Partei Smer und sitzt dem parlamentarischen Komitee für Europäische Angelegenheiten vor.