Der überlegene Unterton der Klimamoralisten

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein nachdenklicher Artikel aus dem Neuen Deutschland.
Auch mir ist schon aufgefallen, dass alles Kapitalismuskritische bei FFF ganz schnell unter den Teppich gekehrt wird, wogegen sich in der vergangenheit auch schon Widerstand geregt hat von Sozialisten, die sich an den Rand gedrängt und zensiert fühlen.
Tatsächlich wird innerhalb der FFF-Struktur offensichtlich sehr darauf geachtet, es sich nicht zu sehr mit Konzernen und Banken zu verderben. Noch ärgerlicher ist die verschämte Ausgrenzung von Leuten, die auf Grund ihrer Armut keine Wahlmöglichkeit zwischen Öko und Standard haben, sondern sich mit dem Billigsten zufrieden geben müssen. Zu Recht wird daher FFF von links kritisiert :
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1122782.umweltpolitik-der-ueberlegene-unterton.html
Auszüge:

Wer warum »Zukunft« denken kann: Eine Kritik an »Fridays for Future«.

Von Nadire Y. Biskin

Umweltschutz, besonders auch Klimapolitik, sind heute höchst prominente Themen. Laut der Umweltbewusstseinsstudie des Umweltbundesamtes von 2018 sagen das 64 Prozent, was in etwa dem Problembewusstsein für Bildung oder soziale Gerechtigkeit entspricht.
Dass für den Umwelt- und Klimaschutz neben Politik und Wirtschaft auch Einzelne »etwas tun« können, ist klar. Seltsam ist hingegen, wie sehr in Sachen Konsumkritik in privaten Gesprächen wie öffentlichen Polemiken das Reisen per Flugzeug im Vordergrund steht.

Zwar verursacht das Fliegen pro Kopf und Kilometer einen höheren CO2-Ausstoß als das Bahn- oder Autofahren. Dennoch nützte es wenig, würde plötzlich gar niemand mehr fliegen – machte doch der weltweite Flugverkehr 2014 nur zwei Prozent der Kohlendioxidbelastung aus, wie im vergangenen Jahr ein Forschungsteam der Universität von Kalifornien ermittelt hat.
Das ist erheblich weniger als etwa die Produktion von Zement.

Da muss die Frage erlaubt sein, ob bei der verbreiteten Verdammung des Flugverkehrs neben der ökologischen Ebene auch etwas anderes mitschwingt. Die Autorin Şeyda Kurt hatte jüngst eine Vermutung: »Das Fliegen wurde im deutschen Diskurs um Klima und Umwelt erst zum Ursprung allen Übels erklärt, als es demokratisiert wurde.«
Steckt in der Kritik am Fliegen, die ja oft als Verdammung des »Billigflugs« auftritt, auch eine hintergründige Trauer über den Verlust seiner Exklusivität in den vergangenen 20 Jahren?
Auch der Fleischkonsum wurde erst zum Problem ernannt, als Menschen mit weniger Geld ihn sich leisten konnten.
Ein gesättigtes Milieu macht Leuten Verhaltensvorschriften, die ihre diesbezüglichen Bedürfnisse erst jüngst – und nur im Ansatz – befriedigen können.

Wer weniger hat, lebt »ökologischer«, freilich wider Willen. Wie klingt es in diesen Ohren, wenn gesagt wird, »wir« müssten jetzt verzichten lernen?
Der Subtext dieses Satzes lautet: »Die Party, zu der du nie eingeladen warst, ist jetzt vorbei!«
Und nicht selten wird diese Ermahnung – paradox – mit weltläufigen Erfahrungen begründet, die im Grunde nur per Flug zu erwerben sind: »Wenn du einmal mit einem Fischer auf den Malediven sprichst, dann wird dir das klar.«

Man kann gewiss einwenden, dass die Demokratisierung von Fliegen wie Fleisch den Absatz von Flügen und Steaks steigert – und damit auch die ökologischen Probleme dieser Produkte. Dennoch sollte mehr über jenen Unterton der Debatte gesprochen werden. Denn dieser ist hier und heute nicht weniger wirksam, als es eine Reduzierung des Flugverkehrs in der Zukunft wäre.

Nach einer aktuellen Erhebung ordnen sich bei »Fridays for Future« 70 Prozent selbst der Mittel- und drei Prozent der Oberschicht zu.
Yasmine M’Barek hat in der »taz« von einem »elitären Gehabe« in dieser Bewegung gesprochen. Sie meinte, dass nur manche Leute »das Privileg haben, für solche Dinge auf die Straße gehen zu können«.

Man kann hinzufügen, dass sich in diesem Auf-die-Straße-Gehen jenes Privileg reproduziert. Denn obwohl ihre Forderungen nicht sogleich befolgt werden, erleben sich diese Kinder der Mittel- und Oberschicht in ihrer Bewegung seit Monaten als Menschen, die etwas zu sagen haben, über die man sich in den Talkshows den Kopf zerbricht *).
Das hinterlässt Spuren – auch bei denen, die in derselben Debatte spüren, dass es auf sie weniger ankommt.
So wird eine bestehende Machtverteilung unterstrichen: Was richtiges und falsches Handeln ist, bestimmen Menschen mit mehr Ressourcen und Diskursfähigkeit.
Weniger Privilegierte werden auch weniger berücksichtigt. Und da sie sich dessen bewusst sind, beteiligen sie sich weniger an Debatten – und an Wahlen.

Die Sehnsucht der Prekären, wahrgenommen zu werden, zeigt sich besonders im Verhältnis zum Konsum. Die Konsumkritik der Satten hat keine Vorstellung davon, was derselbe für Ärmere bedeutet.
Es geht nicht nur um das Erworbene, sondern um die Erfahrung von Resonanz: Wer sonst unsichtbar ist, Gegenstand negativer Schlagzeilen oder lästiger Bittsteller auf Ämtern, spürt im Kaufakt seine Gegenwart in der Welt: »Wir haben Sie sehr vermisst«, »Einen schönen Aufenthalt«, »Besuchen Sie uns bald wieder«: Noch in den Floskeln des Warenmarktes kann ein seltener Moment von Anerkennung fühlbar sein, denn hier sind alle Kunden König.

Der Unterton der Überlegenheit, der mit der Klimadebatte oft einhergeht, kommt auf den Punkt in der Ermahnung zum »langfristigen Denken« für »die Zukunft«.
Denn wer prekär lebt, muss kurzfristig handeln.
Wie Aladin El-Mafaalani schreibt, wird den Armen ein »Management von extremer Knappheit« zur zweiten Haut. Diesem Habitus der unmittelbaren Notwendigkeit steht, so würde es Pierre Bourdieu sagen, ein Klassenethos des langfristig Vernünftigen gegenüber.
Dies ist eine saturierte Haltung: Wer jeden Monat mit der Miete kämpft, hat »die Zukunft« – und auch »das Klima« – weit weniger im Blick als Leute, die ihr Wohneigentum über Jahre souverän zu »finanzieren« in der Lage sind.

Man mag das bedauern, aber so sind die Verhältnisse: Für die maledivischen Fischer ist das Klima keine Zukunfts-, sondern schon eine Gegenwartsfrage, sozusagen Teil des Kampfs um die Miete. Hierzulande aber kommt das »Zukunftsdenken« nur zu denen, die erwarten können, eine Zukunft zu haben. Und das sind gerade diejenigen, die auf den Freitagsdemos beklagen, eine inkonsequente Klimapolitik verspiele »die Zukunft«.
Auch ein »besserer« Politikunterricht an Schulen unterhalb der Gymnasien würde daher allein nicht weiterhelfen. Hierfür wären ganz andere Reformen nötig.
So ist die fortgesetzte soziale Spaltung auch ein zentrales Hindernis für den Klimaschutz: Sie verhindert hartnäckig, dass sich bestimmte Sozialschichten mit dem Thema befassen (können). Und deshalb ist es im besten Sinn der Klimadebatte, ihren Unterton zu hinterfragen – auch, um zum Anfang zurückzukommen, was das Fliegen angeht.

Wer in Deutschland Angst haben muss, im Regionalzug aufgrund des Äußeren angepöbelt zu werden, wird den ökologisch korrekten Naherholungsurlaub vielleicht nicht so attraktiv finden.
Die Möglichkeit, per Flugzeug in wenigen Stunden Tausende Kilometer zurückzulegen, ist für manche auch eine Chance auf Ferien vom Rassismus.
Und oft dienen diese Reisen ja nicht nur der eigenen Erholung, sondern auch der familiären Sorge und dem Zusammenhalt.

Jüngst ist viel von »Flygskam« zu lesen: In Schweden sei das Gefühl, sich für das Fliegen schämen zu müssen, schon weit verbreitet. Der Aktivismus scheint das als Mittel der Bewusstseinsbildung zu begrüßen.
Dass es auch darauf verschiedene Perspektiven geben kann, ist einer sloganhaften und monolithischen Ethik egal.
Dabei könnte man sich auch einmal fragen, ob »Shaming« an sich – also das Provozieren individueller schlechter Gefühle ohne innere Erkenntnis – jemals zur Lösung sozialer Probleme beitragen kann.

Nadire Y. Biskin, Jahrgang 1987, hat Philosophie, Ethik und Spanisch in Berlin studiert. Sie ist Autorin und Journalistin mit dem Schwerpunkt Gesellschaft und Diskriminierung.

*) Das Thema Armut spielt in Talkshows, im Hinblick darauf, dass 1/6 der Deutschen davon betroffen sind, eine sehr untergeordnete Rolle.
Bewegungen wie „Aufstehen!“, die das gezielt thematisieren, werden von den Leim-Medien totgeredet.

Jochen

Stuttgart 21 wird krachend scheitern – Bisher sind alle Voraussagen der Gegner eingetroffen !

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Nicht zu vergessen das von Anfang an bekannte und vershwiegene Anhydrit-Problem: Das den Tunnel umgebende Gestein wird Feuchtigkeit aufnehmen, sich ausdehnen und fließen. Ein Zwang zu regelmäßigen aufwändigen Sanierungsarbeiten, die Tiefbaufirmen freuen sich auf Aufträge.

Auch hier war Stuttgart21 schon Thema: https://josopon.wordpress.com/2014/01/14/strafanzeige-gegen-po-falla-wegen-druck-auf-mitglieder-des-aufsichtsrats-zum-weiterbau-von-stuttgart-21/

und https://josopon.wordpress.com/2014/10/30/fur-die-demokratie-bedrohliche-seuchen-die-s21-krankheiten/

Heute in der KONTEXT Wochenzeitung:
http://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/298/stuttgart-21-wird-krachend-scheitern-4071.html

Von Gastautor Volker Lösch
Dort auch beachtenswerte Kommentare
Auszüge:

Die große Linie im Kleinen aufzuspüren, ist das Bestreben des S-21-Widerständlers Volker Lösch.
Was Politikverdrossenheit, rechte Demagogen und den Stuttgarter Tiefbahnhof verbindet, zeigt der Regisseur in seiner Rede zur 350. Montagsdemo auf.
Hier in gekürzter Version.

Alles, was auf 350 Montagsdemos kritisiert und vorausgesehen wurde, ist so eingetreten.

Deshalb wird auch die vielleicht am häufigsten geäußerte Voraussage Wirklichkeit werden: Stuttgart 21 wird scheitern, es wird so krachend scheitern, dass nichts außer ein paar grotesker Anekdoten davon übrig bleiben wird.

Dass wir gegen ein Projekt protestieren, welches fast niemand mehr haben will, hat wohl mit der Zeit zu tun, in der wir leben – einer mutlosen, visionsfreien und angstbesetzten Zeit. Diese Zeit schreibt gerade viele Geschichten – und davon soll mein Exkurs handeln: von einer großen und einer kleinen Geschichte der politischen Destruktion.

Die kleine Erzählung kennen wir alle: In Stuttgart betreibt eine Gruppe von Bahnmanagern, Politikern und Lobbyisten gegen jede Vernunft ein Bau- und Immobilienprojekt und nennt es dann „Tiefbahnhof“ – die Entfaltung der destruktiven Kräfte dieses Vorhabens spüren alle, die hier leben.

Die große Erzählung ist die des bundespolitischen „Weiter-so“. Sie beschreibt ein ganz ähnliches, vernunftfreies Vorgehen: alle relevanten Fakten ignorierend, wird eine grundfalsche Politik betrieben, und damit unsere Demokratie aufs Spiel gesetzt. Und da alles mit allem zusammenhängt, lohnt es sich, diese Geschichten genauer zu betrachten.

Die ganze Wahrheit ist dunkler

Am Anfang steht immer eine Behauptung. Angela Merkel – die Protagonistin der „Weiter-so“-Politik – behauptet immer wieder: Deutschland geht es gut.
Die ganze Wahrheit ist aber vielfältiger, differenzierter – und sie ist dunkler.
Denn es ist auch wahr, dass sich in Deutschland die Armut rapide ausbreitet, und dass soziale Ungleichheit immer mehr zunimmt. Davon redet Angela Merkel aber niemals. Will sie es nicht, oder weiß sie nichts davon?

Sie müsste nur die richtigen Bücher lesen. In Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ rechnet der Ökonom beeindruckend vor, wie sich in einem unregulierten Kapitalismus die Vermögen immer stärker bei den Reichen konzentrieren. Mit dem Ergebnis, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung über mehr Geld verfügt, als der Rest der Welt zusammen.

Mit dem Bürgerchor gab Lösch dem Widerstand gegen S21 eine besondere Stimme

Die Ungleichheit zwischen Reichen und Armen nimmt weltweit zu, und in Deutschland ist sie bei Vermögen, Einkommen und Chancen besonders hoch.
Beim Vermögen besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte mindestens 63 Prozent des Gesamtnettovermögens, die untere Hälfte nur 2,5 Prozent.
Das Vermögen in Deutschland ist noch ungleicher verteilt als in Mexiko oder in Kolumbien.
Der Unterschied zwischen Armen und Reichen ist bei uns wesentlich größer als in Spanien oder Griechenland.

Beim Einkommen verdient hierzulande das oberste Zehntel der Bevölkerung acht mal soviel wie das untere. Es gibt doppelt so viele Teilzeitbeschäftigte wie vor 25 Jahren, einen breiten Niedriglohnsektor, eine beschämende Kinderarmut und zunehmende Altersarmut. Dazu kommt, dass unsere Infrastruktur vielerorts marode, die Situation vieler Schulen und Kindergärten katastrophal ist.

Wir leben in einer Welt, deren Regeln für die Reichen, für die Großkonzerne, für die Gewinner gemacht sind. Und dieses Prinzip gilt auch für S 21.
Denn auch von S 21 profitieren nur wenige, die Allgemeinheit bleibt auf der Strecke. In dieser von politischer Seite maßgeblich unterstützten Stadtzerstörung wird der Ausverkauf unserer Städte an Investoren beispielhaft vorgeführt: S 21 macht ein paar wenige reicher, und sehr viele ärmer – vor allem die Stuttgarter Öffentlichkeit.
Ihre Steuerabgaben werden dazu verwendet, um einem exklusiven Kreis Vorteile zu verschaffen.

Betrug an der Allgemeinheit

Dass dieser offensichtliche Betrug an der Allgemeinheit heute immer noch weitergeführt wird, ist einer der größten öffentlichen Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik.
Die pauschale Behauptung, S 21 sei ein vernünftiges und lohnenswertes Projekt für alle, entspringt derselben undifferenzierten und oberflächlichen Betrachtungsweise, wie die Behauptung, dass es Deutschland gut gehe.

In Wahrheit leben wir schon längst in einer Kultur der Ungleichheit. Denn unsere derzeitige politische Kultur legt den Schwerpunkt auf wirtschaftliche Belange.
Der Preis, den wir dafür zahlen, ist eine massenhaft verbreitete Angst. Es ist traurig, aber wahr: Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist das, was unsere Gesellschaft am meisten verbindet.

Und ist es angesichts der weit verbreiteten Abstiegsängste wirklich überraschend, dass viele den rechten Demagogen auf den Leim gehen, die behaupten, dass Geflüchtete und Migranten schuld an dieser Perspektivlosigkeit sind?

Das „Weiter-so“ der neoliberalen Politik, für die die CDU/CSU und große Teile der SPD und der Grünen stehen, hat durch die Etablierung einer Kultur der Ungleichheit perfekte Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich so viele den Rechtspopulisten und der AfD anschließen, dass Rassismus und Hass wieder gesellschaftsfähig werden konnten.

Mit ihrer Politik der sozialen Spaltung sind Merkel und Co. die Hauptverantwortlichen für den Rechtstrend in Deutschland. Aber trotz dieser fatalen Entwicklung nehmen sie das Problem der wachsenden Ungleichheit gar nicht zu Kenntnis! Fakten, Untersuchungen und Studien konsequent ignorierend, lautet nach wie vor ihr stumpfes Mantra: „Deutschland geht es gut“.

Postfaktische Politik

Auch in Stuttgart hat sich die sogenannte postfaktische Politik durchgesetzt. Alle Fakten, die das Bauprojekt immer wieder existentiell in Frage stellen, werden von der Mehrheit der Parteien mit einer schon unheimlichen Konsequenz ignoriert. Es geht um Hunderte von seriösen Gutachten und Untersuchungen zu allen möglichen Themen, aber die vielen Expertenmeinungen werden so behandelt, als gäbe es sie nicht. Und wenn dann mal rauskommt, was seit Jahren kritisiert wird – zum Beispiel beim Thema Anhydrit – werden Gutachten einfach geheim gehalten.

Und dann geht es noch um die vielen leeren Versprechungen.

Oberbürgermeister Kuhns Versprechungen einer „vernünftigen Klärung aller offener Fragen“ zu Stuttgart 21 haben sich als leer erwiesen.
Ministerpräsident Kretschmann
s Versprechen des „kritischen Begleitens“ von S 21 hat sich als leer erwiesen.

Die Versprechen der Grünen von „mehr Bürgerbeteiligung“ haben sich ebenfalls als leer erwiesen.

Protest am 30.9.2010- dem Schwarzen Donnerstag

Mit dieser Politik erzeugt man eine schwer zu steigernde Unlust am Politischen. Kaum jemand glaubt mehr daran, von diesen Politikern angemessen vertreten zu werden.
Die Lust, sich selber politisch zu engagieren, tendiert bei diesen Vorbildern gegen Null.

Die Vertreter der Tunnelparteien – zu der sich die Grünen inzwischen hinzugesellt haben – , die große, unbewegliche „Weiter-so“-Fraktion aus dem Ländle, ist mit ihrer Politik der Arroganz, der Ignoranz und der deprimierenden Inhaltsleere mitverantwortlich für Politikverdrossenheit und den Vertrauensverlust ins Politische.
Diese Politikerinnen und Politiker können alles – außer gute Politik!

Natürlich sind nicht alle Politiker Versager. Es gibt sie selbstverständlich, die guten Politikerinnen und Politiker.
Aber in Deutschland ist eine politische Klasse an der Macht, die seit vielen Jahren beweisbar versagt.

Und dieses politische Versagen hat eine existentielle Dimension, denn wenn sich eine Gesellschaft so tief spaltet wie die unsrige, dann führt das zu Unzufriedenheit, Unmut, Unruhe und zu Gewalt. Soziale Ungleichheit lässt unsere Gesellschaft auseinanderfallen, zerstört den sozialen Zusammenhalt, und kündigt jede Form von Solidarität langfristig auf.
Eine Politik, die das nicht sieht, ist schlechte Politik!

Die Grünen haben die Seiten gewechselt

Auf nationaler Ebene haben wir uns daran gewöhnt, der Neoliberalismus existiert schon eine geraume Weile. Das Politik-Versagen in Baden-Württemberg kam dann aber doch überraschend. Denn es erstaunt, wie schnell die einstigen Gegner von S 21 und Vertreter der Verkehrswende die Seite gewechselt haben.
In atemberaubendem Tempo haben sich die Grünen den Interessen der Autolobby, der Bahn und der Immobilienwirtschaft verschrieben. Dass Macht korrumpiert, wusste man auch vorher, nur hat man bei den Grünen erwartet, dass sie wenigstens versuchen, einen Teil ihrer kritischen Substanz zu bewahren.

Stattdessen aber legitimieren sie ihre S 21-Politik immer wieder mit dem lächerlichen Volksabstimmungs-Argument. Jeder in dieser inzwischen fast profillosen Partei weiß genau, dass das kein gültiges Argument mehr ist, da die Grundlagen für die Volksabstimmung alle entfallen sind.
Und jeder bei den Grünen weiß auch ganz genau, dass es immer um Baugrundstücke und schnellen Profit ging, und nie um einen fortschrittlichen Bahnhof.
Alle in dieser Partei wissen, dass der Schienenrückbau nicht im Interesse der Menschen, sondern allein im Interesse der Auto- und Immobilienlobby stattfindet.

Wie man das beweisen will? Man muss sich nur die Reden anhören, die vor dem März 2011 hier, auf dieser Bühne, von Kretschmann, Hermann und Co. mit dem Gestus der Empörung und der Attitüde der Politiker gehalten wurden, die es mal besser machen werden, falls man sie denn nur lässt. Viele von uns haben sie ob dieser Versprechen dann auch gewählt.

Und deshalb ist dieses charakterlose Umfallen der Grünen doppelt schlimm. Es beschämt, da man es hätte besser wissen müssen, und es macht wütend, da man es nicht ändern kann. Oberbürgermeister Kuhn sieht entgegen aller Gutachten keinen Rückbau, und geht von einer Leistungssteigerung um 30 % gegenüber dem heutigen Kopfbahnhof aus. Ministerpräsident Kretschmann erteilt mit dem Sprüchlein, dass in der Demokratie die Mehrheit, und nicht die Wahrheit entscheidet, jeder weiteren Diskussion um S 21 endgültig eine Absage.

Dieser Politik fehlt etwas Entscheidendes: der politische Wille, dieses Projekt wenigstens – wie angekündigt – kritisch zu begleiten.
Es fehlt der politische Wille zu einer Politik, die nicht in erster Linie Rücksicht auf die Interessen des Kapitals nimmt. Es gibt keinen politischen Willen, um ein offensichtlich destruktives Projekt zu kippen, keinen politischen Willen, um wider besseren Wissens Schaden von der Öffentlichkeit abzuwenden.

Und an dieser Stelle laufen die beiden Erzählungen, die große aus Berlin, und die kleine aus Stuttgart, zusammen.

Maßgebliche Politikerinnen und Politiker in Baden Württemberg, die Parteien der großen Koalition, die Vertreterinnen und Vertreter der Politik der Mitte, des „Weiter-so“ – sie alle entleeren die Politik durch die Unterordnung unter ökonomische Zwänge.

Das Kretschmannsche Wort des „Käs, der gesse isch“, das Merkelsche Mantra der Alternativlosigkeit schadet der Demokratie, denn das Gegenteil ist wahr: Gute Politik kann die Welt auch heute zum Besseren verändern. Mit verantwortungsvoller Politik kann man an Alternativen arbeiten, mit mutiger Politik kann man neue Ideen entwickeln, sogar eine Ethik vertreten.

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Von wegen „gesse“ – der kampf gegen den „KÄS“ geht weiter !

Man kann eine Politik machen, die es wert ist, dass man alles für sie gibt. Und der „Käs“, lieber Herr Kretschmann, der ist niemals „gesse“!

Eine Politik, die der Spaltung der Gesellschaft entgegentritt, muss mutig sein. Wenn wir den Aufschwung der Rechtspopulisten verhindern wollen, dann muss ein Wirtschafts- und Finanzsystem installiert werden, von dem nicht nur wenige, sondern alle profitieren.
Oder anders formuliert: Relevante Politik muss den Reichtum antasten, wenn sie die Armut bekämpfen will. Sie muss diejenigen in die Pflicht nehmen, die jahrzehntelang von Bankenrettung, Finanzkapitalismus und der Politik der Umverteilung von unten nach oben profitiert haben.

Und es gibt genügend Vorschläge, diese Politik konkret umzusetzen: Man kann die Vermögenssteuer wieder einführen, mit hohen Freibeträgen, damit die Mittelschicht unangetastet bleibt. Man kann die Erbschaftssteuer auf große Vermögen anheben. Man kann Steuererhöhungen für sehr reiche und vermögende Menschen beschließen. Man kann Konzerne und finanzstarke Unternehmen höher besteuern. Man kann Steuerflucht wirksam bekämpfen.

Mutige Politik würde die gesellschaftliche Spaltung beenden

Eine ehrliche und verantwortungsvolle, eine mutige und visionäre Politik muss das Ziel haben, die Spaltung der Gesellschaft zu beenden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Und die größte Spaltung ist die zwischen Armen und Reichen. Ohne Umverteilung von oben nach unten geht es nicht. Die Umverteilung von Reichtum ist überfällig.

In Baden-Württemberg, dem Stammland der grünschwarzen Reaktion, wird es in naher Zukunft natürlich keine linksliberale Regierung geben.
Aber es gibt den außerparlamentarischen Widerstand gegen Stuttgart 21 und gegen die Politik der schwäbischen Variante des „Weiter-so“. Wir können immer wieder darauf bestehen, dass die soziale Frage ernstgenommen wird, immer wieder die entscheidenden Fragen stellen.

Was bringt S 21 der Allgemeinheit? Wen macht Stuttgart 21 reicher, und wen ärmer? Worum geht es wirklich, wenn nicht um einen Bahnhof? Wo zieht S 21 Geld ab, und wem kommt das zugute? Wer profitiert wirklich davon?

Die Antworten kennen inzwischen alle. Da aber nur noch wir diese Fragen stellen, kommt unserer Protestbewegung eine besondere Verantwortung zu. Wie ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft praktiziert werden kann, wird hier gezeigt! Hier wird der Druck auf Parteien durch Demonstrationen ausgeübt, durch Petitionen und Kundgebungen, Bürger- und Stadtteilinitiativen wird aktive Politik betrieben. Von hier aus werden immer wieder Auswege aus der Krise gesucht, es wird für Volksbegehren gekämpft, in Flüchtlingsinitiativen gearbeitet, von hier aus werden Demokratie- und Kulturprojekte angestoßen, und es wird an Alternativen für morgen gearbeitet, wie das beeindruckende „Umstieg-21“-Konzept beweist.

So kann die Demokratie verbessert werden: als glaubwürdiges Projekt der Bürgermacht im Kampf um einen wirklichen Sozialstaat, in dem Projekte wie S 21 keinen Platz mehr haben. Durch den hartnäckigen, kompetenten und gewaltfreien Widerstand gegen S 21 wird die Demokratie auf lokaler Ebene gestärkt.
In ganz Baden Württemberg wird nur hier – beim zum 350. Mal Montags-versammelten Widerstand gegen Stuttgart 21 – die Politik betrieben, die den Namen Politik auch verdient!

Das Märchen von der Unumkehrbarkeit

Liebe CDU, Grüne und SPD, ihr seht an dieser Bürgerbewegung, dass es möglich ist, sich politisch zu bewegen. Euer ständiger Hinweis darauf, dass es keine Mehrheiten gegen Stuttgart 21 gibt, passiere was da wolle, ist dagegen ein politischer Offenbarungseid.

Wo bitte steht denn, dass sich Mehrheiten politisch nicht bewegen können, wenn Situationen sich verändern?
Was ist das für ein erbärmliches Verständnis von Politik, wenn man zwanghaft und selbstgerecht die eigene geistige und politische Unbeweglichkeit vor sich herträgt?

Liebe Politikerinnen und Politiker, hört endlich auf, das Umstiegskonzept zu ignorieren! Hört auf damit, den angeblichen Baufortschritt überzubetonen! Hört auf, gefällte Bäume als Argument für den Weiterbau anzuführen! Hört auf, von Magistralen, von kürzeren Fahrzeiten nach Ulm, von architektonischen Wundern, von der besten Planung, von der Moderne, von dem garantierten Kostendeckel, der Unumkehrbarkeit, der Verdoppelung von Kapazitäten, von Alternativlosigkeit, neuen Lebenswelten, Einkaufszentren, neuen Stadtvierteln und tollen Freiflächen zu faseln, zu labern, zu schwätzen und zu lügen! Hört auf, ständig von „politschem Gewolltsein“ zu reden! S 21 darf politisch nicht mehr gewollt sein!

Die zunehmend katastrophale Entwicklung von S 21 macht auch unter bestehenden Mehrheitsverhältnissen ein Umschwenken möglich und notwendig. Andere Aus- und Umstiege – von „Schnellem Brüter“ über „Transrapid„, von der Atomkraft bis hin zur Energiewende oder dem bevorstehenden Ausstieg aus den Verbrennungsantrieben – sind auch erfolgt oder werden innerhalb der parlamentarischen Machtverhältnisse erfolgen. Bewegt euch also.
Es gibt keine ewigen Mehrheiten für dieses Projekt, nichts ist unabänderlich. Schafft die politischen Rahmenbedingungen für einen Umstieg und einen Ausstieg. Macht endlich Politik!

Liebe CDUler, SPDler und Grüne! Gute Politik zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie Fehler eingesteht. Und ihr kennt die Wahrheit: Das Beenden von S 21 ist überfällig und es ist machbar. Für einen Ausstieg aus diesem fatalen Projekt ist es immer noch nicht zu spät.
Verweigert dieser korrupten Gelddruckmaschine für die Bau- und Immobilienwirtschaft den politischen Zuspruch, und zeigt uns, zeigt euch, zeigt allen, dass eine verantwortungsvolle Politik möglich ist.

Stimmt mit ein in den besten Slogan, der je für diese Stadt erfunden wurde:

oben_bleibenOben bleiben!

Jochen

Rot-Rot-Grün? Jetzt durchsetzen!

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Aktuell im Neuen Deutschland:

Es gibt im Bundestag eine Mehrheit links von Merkel. Wer einen Politikwechsel will, muss die schnell nutzen, meint Michael Schlecht.

Ein Gastbeitrag

Es geht ein Gespenst um in Deutschland: Ein Regierungsbündnis aus SPD, Grünen und DIE LINKE. Ein solches Bündnis macht natürlich nur Sinn mit einem Politikwechsel, dazu gehört insbesondere die Bekämpfung von Befristungen, Leiharbeit und Werkverträgen.
Schaut man in die Wahlprogramme von 2013 der drei Parteien, ließe sich hier eigentlich schnell ein Konsens finden. Dumm ist nur, dass Rot-Rot-Grün in den Wahlumfragen keine Mehrheit hat; das Bündnis dümpelt bei 42 bis 44 Prozent.

Aber aktuell gäbe es im Bundestag eine Mehrheit. Warum die nicht nutzen?
So ließe sich im Jahr vor der Bundestagswahl durch konkretes Regierungshandeln demonstrieren, wie segensreich solch ein Bündnis für die Menschen sein kann.
Aus meiner Sicht die einzige Chance, damit Rot-Rot-Grün auch aus der Bundestagswahl 2017 als Sieger hervorgeht.

Allenthalben wird beklagt, dass Deutschland von einer zunehmenden sozialen Spaltung gekennzeichnet ist. Nicht zuletzt hierin wird die Ursache für Verzweiflung und Abstiegsängste von vielen Menschen ausgemacht, die sich auf Flüchtlinge projiziert und damit die Rechtspopulisten hochspült.

In der Tat, die Hauptspaltung findet am Arbeitsplatz statt. Auf der einen Seite die prekär Beschäftigten: Befristete, Verliehene oder Scheinselbstständige. Auf der anderen Seite die sogenannte Stammbelegschaft, die vorgeführt bekommt, dass man Angst haben muss genauso abzurutschen. Oder noch schlimmer, die Angst hat arbeitslos zu werden und zu Armut in Hartz IV verdammt zu werden.

Es muss Schluss sein damit, dass viel zu viele Menschen in unsicheren Jobs arbeiten müssen und nicht wissen, wie es morgen weitergeht.
Und es muss Schluss damit sein, dass gerade diese Prekarisierung dazu führt, dass Millionen Menschen Armut im Alter droht. Die Absenkung des Rentenniveaus ist verhängnisvoll und muss wieder korrigiert werden. Auch das ist ein Thema, dass bei SPD und Grünen diskutiert wird.

Die Spaltung in der Arbeitswelt drückt sich vor allem darin aus, dass immer weniger Menschen sich trauen ihre Interessen aktiv zu vertreten. Klar, wer befristet oder in Leiharbeit arbeitet traut sich kaum mit seinen Kollegen zu streiken.
Dies hat dramatische Folgen für gewerkschaftliche Interessenvertretung. Haben vor 15 Jahren noch 75 Prozent der Beschäftigten unter dem Schutz eines Flächentarifvertrages gearbeitet, so sind es heute nur noch 50 Prozent. Die Tarifbeschäftigen haben seit 2000 nur Lohnerhöhungen durchsetzen können, die unterhalb der Preis- und Produktivitätssteigerung lag. Die Beschäftigten ohne Tarifvertrag haben seit 2000 einen Reallohnverlust von durchschnittlich 18 Prozent erlitten. Dies markiert die Spaltung der Gesellschaft am eindrücklichsten!

Deshalb muss jede Chance genutzt werden, die zugrunde liegende Prekarisierung in der Arbeitswelt zu beseitigen oder zumindest zurückzudrängen!
Nimmt man die Wahlprogramme von 2013 von SPD und Grünen ernst, dürfte es kein Problem sein dies mit einem Bündnis von Rot-Rot-Grün zu vereinbaren.

Die SPD grübelt immer noch, weshalb sie in den Wahlumfragen so schlecht dasteht. Eigentlich doch kein Wunder. Die Menschen haben erlebt, wie sich mit der Politik der Agenda-2010 ihre Lebenssituation verschlechtert hat.
Wenn Sigmar Gabriel in einer Talkrunde mit Susi Neumann, einer Putzfrau aus NRW seine Bereitschaft zur Korrektur bei Befristungen bekundet, aber auf die Abhängigkeit von der CDU verweist, bleibt er unglaubwürdig. Auf die Frage von Susi Neumann: »… und warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?« weiß Sigmar Gabriel keine Antwort.
Dabei liegt sie auf der Hand. Nur mit einer Abkehr von den »Schwatten«, nur mit einer konkreten Hinwendung zu einem alternativen Bündnis, das die Lebenssituation erfahrbar verbessert, kann die SPD wieder Glaubwürdigkeit gewinnen.

Auch DIE LINKE hat so ihre Probleme. Weshalb verharrt die Wählerzustimmung bei 9 oder 10 Prozent? Dabei hat DIE LINKE doch ein so tolles Programm. Weg mit Hartz IV durch eine bedarfsgerechte Grundsicherung, Verbot der sachgrundlosen Befristung und der Leiharbeit. Zurück zu einem Rentenniveau von 53 Prozent und der Rente ab 65. Und vieles mehr.

Das Problem: Für viele Wählerinnen und Wähler, die der Linken zustimmen, bleiben die Forderungen Luftnummern. Bislang gab es auf Bundesebene keine erfolgreiche Durchsetzungsstrategie für diese Forderungen. Und das ist für viele Menschen entscheidend, auch wenn manch eine oder einer in der LINKEN sich gut eingerichtet hat in dem Wohlgefühl fortschrittliche Forderungen zu vertreten und die anderen scharf zu kritisieren. Für zu viele gerät das zu rechthaberischen Sprüchen.

Mit einem Bündnis Rot-Rot-Grün könnte DIE LINKE zum ersten Mal auf Bundesebene zeigen, dass sie Teile ihre Forderungen durchsetzt und dass damit die Lebenssituation konkret verändert wird. Dies wäre auch der Weg um die Zehn-Prozent-Marke zu überwinden.

In der LINKEN wird für diesen Weg noch viel Überzeugungsarbeit anstehen. Denn für viele besteht linke Politik im Aufstellen von Forderungen, und zwar möglichst weitreichenden. Prinzipienfestigkeit ist ein hohes Gut, aber ohne zu sehen, dass linke Politik gerade an konkreten Ergebnissen für die Menschen zu messen ist, wird sie schnell zu Dogmatismus und Selbstisolation.

Michael Schlecht ist Bundestagsabgeordneter der Linken und wirtschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion.

Sichrlich diskussionsbedürftig, nicht nur bei den Linken. Wo gibt es die Ansprechpartner bei der SPD, die gerade CETA durchwinken will, und den kriegerischen Grünen ?
Über Kommentare hier würde ich mich freuen.

Jochen

Restart Europe Now! – Für eine andere Europapolitik – Aufruf hier unterzeichnen !

EuroExitJochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Liebe Freunde, Kollegen, Genossen,

zunächst der aktuelle Kommentar zum Brexit von Oskar Lafontaine aus den NachDenkSeiten:

Großbritannien verabschiedet sich aus der EU. „Ein trauriger Tag für Europa und Großbritannien“, sagt Außenminister Steinmeier. „Sieg der Freiheit!“, jubelt die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine le Pen. Von Oskar Lafontaine.

Die europäische Idee hat einen schweren Rückschlag erlitten. Aber nicht erst seit gestern. Und nicht so sehr durch das Votum der Briten, sondern schon seit Jahren durch die verheerende Austeritätspolitik. Rückportrait_msichtslos hat die Regierung Merkel den anderen Staaten eine Kürzungspolitik aufgedrückt und die Interessen der deutschen Banken, Konzerne und vor allem der deutschen Export-Wirtschaft bedient. Bedenkenlos wurde in Griechenland die Demokratie außer Kraft gesetzt, um diese Politik mit Brachialgewalt durchzusetzen. Dazu kommen Merkels Alleingänge, die in den europäischen Hauptstädten auf wenig Verständnis stießen. Die Kanzlerin hat somit an erster Stelle das zunehmende Misstrauen gegenüber der europäischen „Lobbykratie“ zu verantworten, das jetzt zum Brexit geführt hat.
 
Nicht nur in Großbritannien erleben die Bürgerinnen und Bürger Europa nicht mehr als Zukunftsversprechen und historische Chance. Vielmehr steht die EU derzeit für Sozialabbau, für das Schleifen von Arbeitnehmerrechten und für die Zerstörung der Demokratie.

 
Wer die europäische Idee retten will, der muss daher für einen Neuanfang in Europa sorgen. Europa muss sozial und demokratisch werden und seiner Jugend wieder eine Zukunft geben, oder es wird zerfallen.

Auch wenn hier überwiegend SPD- und Grüne Parteiprominente mit unterschrieben haben, finde ich den folgenden Aufruf genauso unterstützenswert wie die Initiative von Varoufakis:

http://restart-europe-now.eu/unterstuetzen/

Wir wollen für eine bessere Europapolitik sorgen.

Europa ist in seiner bislang schwersten, ja in einer existenziellen Krise, die an die faktischen und die moralischen Wurzeln des Zusammenschlusses geht.
Die britische Abstimmung über einen Verbleib des Königreichs in der EU, die noch immer nicht gelöste Euro-Krise, die zunehmende Polarisierung gegenüber Russland und die Zuspitzung des Flüchtlingsdramas, in dem die Abschottung zwischen den Staaten zunimmt und Europa zu jener Festung zu werden droht, die es nie werden wollte – alles dies unterminiert unsere Wertegemeinschaft und trägt zur Auflösung des europäischen Zusammenhalts bei.

Gleichzeitig steht eine Reihe von Mitgliedsländern in der Union unter dem Druck rechtskonservativer, rechtsextremistischer und europaskeptischer Parteien, die bei einem Wahlerfolg dem britischen Vorbild nachfolgen dürften.
Die jüngsten Studien der OECD erkennen, mit Ausnahme der skandinavischen Länder, eine zunehmende soziale Spaltung in den europäischen Mitgliedsländern, die ebenfalls zu einer Stärkung der rechtsextremen Parteien beiträgt.

Die Austeritätspolitik, die auf Druck Deutschlands alternativlos durchgesetzt wird und die demokratische Legitimation der EU schon seit Jahren unterminiert, stärkt zudem Fliehkräfte, die das grenzenlose Europa erst schwächen und dann zerstören können. Darunter leidet auch ganz offensichtlich die Attraktivität der Europäischen Idee bei den jungen Europäerinnen und Europäern, die besonders stark von Arbeits- und Perspektivlosigkeit betroffen sind.
Um dagegen anzugehen, haben sich Mitglieder verschiedener Parteien, von Gewerkschaften, Kirchen, der organisierten Zivilgesellschaft, ebenso wie aus der Wirtschaft und Wissenschaft zusammengefunden, um öffentlich für die demokratische und soziale Festigung und Weiterentwicklung der Europas zu kämpfen.

Die Europäische Union gründet im freien Zusammenschluss der europäischen Staaten und im Respekt vor ihrer Vielfalt. Sie ist eine Antwort auf die Zerstörung Europas im zweiten Weltkrieg und auf eine deutsche Hybris, die sich das vielfältige Europa untertan machen wollte, nicht zuletzt durch eine Politik und durch Ordnungsvorstellungen, die den Nachbarn aufgezwungen werden sollten. Der Erfolg dieser inneren Einheit Europas wurde in den letzten Jahren gerade auch durch deutsche Politik zunehmend aufs Spiel gesetzt.

Deshalb müssen wir dringend umsteuern. Auf neuen Wegen müssen wir zur Wiederbelebung der einigenden Europäischen Idee durch konkrete wirtschaftliche, soziale, friedenspolitische und kulturelle Initiativen und Strategien gelangen und damit den Europäischen Zusammenhalt stärken und weiterentwickeln.

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„Restart Europe Now!“ ist eine überparteiliche Initiative, die den vorherrschenden Lösungsstrategien bei der Überwindung der Krisen in der Europäischen Union eine klare Alternative entgegensetzen möchte.
Wir sind davon überzeugt, dass eine echte Schubumkehr dringend notwendig ist. Dafür kritisieren wir die fatalen Auswirkungen einer gescheiterten Austeritäts- und Abschottungspolitik und formulieren konkrete Vorschläge, um einen nachhaltigen Ausgleich zwischen den europäischen Interessen zu erreichen.
Wir suchen den Austausch und die Zusammenarbeit mit allen Kräften, die für ein solidarisches Europa in Frieden, Wohlstand und sozialer Sicherheit eintreten.
Der beste Aufruf und die besten Ideen nützen wenig, wenn keine*r sie unterstützt und verbreitet. Hier können Sie deshalb unseren Aufruf unterstützen.
Wir würden uns sehr freuen wenn dieser Aufruf nicht nur von vielen Menschen unterzeichnet, sondern auch verbreitet wird um ihn bekannt zu machen!
Jochen

Geheimdienste, politische Komplizen und rechter Mob unterwandern die Demokratie!

Die Zerstörung der demokratischen Zivilgesellschaft schreitet sowohl in Europa als auch in Deutschland immer weiter voran. Kaum ein Tag, an dem nicht „wegen des Terrors“ oder „wegen Köln“ weitere Grundrechtseinschnitte, ein Bundeswehreinsatz im Inneren oder anderes erwogen werden. Doch wie kommt es dazu? Fällt derlei vom Himmel, entwickelt sich also ganz von allein?Ganz sicher nicht, meint Bestsellerautor Jürgen Roth im Gespräch mit Jens Wernicke und konstatiert das Vorhandensein klandestiner Strukturen, die alsStaat im Staate gezielt die Unterwanderung der Demokratie betreiben.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Roth, soeben erschien Ihr BuchDer tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob, in dem Sie argumentieren, es gäbe einen „Staat im Staate“, dessen Agieren zunehmend die Demokratie unterminiere. Warum dieses Buch? Wie kam es dazu?

Das Motiv? Eine Mischung aus Zorn, Empörung und ebenso tiefer Ohnmacht. Ich bin, ehrlich gesagt, am Verzweifeln gewesen und bin dies nach wie vor. Daher das Buch.

Da sind zum einen die soziale Kälte und die rassistische Gewalt, die inzwischen das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland und Europa beherrschen, und die kaum auszuhalten sind. Und da ist zum anderen meine Einschätzung, dass momentan der gefährlichste Angriff seit rund vierzig Jahren gegen unsere lebendige demokratische Zivilgesellschaft stattfindet.

Mir ging es daher unter anderem darum, die Gründe für diese Entwicklungen aufzuzeigen. Und zwar bis zu den Wurzeln, bis also hin zum Rassismus, Nationalismus, der Menschenfeindlichkeit und tiefen sozialen Spaltung, die bekanntlich ihre Ursachen auch und gerade in der Nazi-Vergangenheit unseres Landes haben.

Das heißt, es gibt einen politischen Fingerabdruck aus dieser Zeit, der sich nahtlos von den durch die CIA geförderten Nazi-Netzwerken im Sicherheitsapparat Ende der vierziger Jahre bis heute nachweisen lässt. Dass dieser politische Fingerabdruck des Autoritarismus, des Elitismus, völkischen Nationalismus und Rassismus bis heute vorhanden ist, wird in der derzeitigen politischen Diskussion jedoch ausgeblendet, obwohl es gerade jetzt, im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage, so wichtig ist, diesen Fingerabdruck in Erinnerung zu rufen. Ohne ihn ist die derzeitige Situation nicht zu verstehen.

Was genau darf ich mir denn unter diesem „Staat im Staate“ vorstellen? Sind das Netzwerke, sind das Elitenklüngel? Über wen und was reden wir hier genau?

Elitenklüngel und deren Netzwerke hat es ja schon immer gegeben. Sie versuchen, mehr oder weniger erfolgreich, ihre partikularen Interessen in der Politik durchzusetzen.

Staat im Staat meint, dass es innerhalb der staatlichen demokratischen Machtstrukturen, also in Nachrichtendiensten, Justiz und Polizei einflussreiche Strömungen gibt, die zusammen mit nationalkonservativen wie rechtspopulistischen Politikern und rechtsradikalen Terroristen mehr oder weniger unbehelligt daran arbeiten können, die zivile und soziale Bürgergesellschaft zu zerstören.

Sie verorten die Entstehung dieser „Tiefenstruktur“ im Staate ja im Kontext von Gladio und anderem. Sie meinen also, derlei Netzwerke haben bis heute überlebt?

Die politischen Initiatoren und Köpfe von Gladio bzw. ihre Nachfahren im Geiste sind ja, sofern sie nicht verstorben sind, immer noch vorhanden..

Gladio war in Zeiten des kalten Krieges das Instrument von NATO-Staaten, eventuelle kommunistische oder systemkritische demokratische Bewegungen zu bekämpfen. Gladio war eine demokratisch nicht legitimierte Machtstruktur innerhalb demokratischer Staaten, in der Geheimdienste, rechte Politiker und Militär eine bedeutende Rolle im Kampf gegen soziale Befreiungsbewegungen oder den drohenden Kommunismus spielten.

Es ging darum, die herrschenden Eliten vor sozialen Revolutionen oder sozialen Reformen zu schützen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR war Gladio im Prinzip überflüssig, weil nur noch das kapitalistische Wirtschaftssystem konkurrenzlos agieren konnte. Der politische Fingerabdruck jedoch, der bei Gladio zu finden war, ist auch später noch vorfindbar. Besonders deutlich sichtbar übrigens, was die letzten Jahre angeht…

Das Argument ist also, dass vieles, das gerade das gesamte politische Spektrum immer weiter gen Menschenfeindlichkeit verschiebt, nicht aus Zufällen resultiert, sondern hier auch eine Art Steuerung im Hintergrund vorfindlich ist? Das klingt aber ganz schön nach Verschwörungstheorie … Zielen Sie da explizit auf den sogenannten NSU? Und nur auf diesen oder was alles noch?

Da ich all meine Argumente nicht nur in den Raum werfe, sondern auch dezidiert belege, ist der Vorwurf, Verschwörungstheoretiker zu sein, hanebüchen wie sooft und vernebelt, was er wohl auch explizit soll, gar zu leicht den klaren Blick. Lassen Sie mich ein wenig ausführen, dann wird sicher deutlich, worum es mir geht…

Beginnen wir mit dem Oktoberfestattentat in München und dem politischen und geheimdienstlichen Umfeld um Franz Josef Strauß, mit seinen engen Verbindungen zu geheimen wie offen neofaschistischen Netzwerken wie dem Cercle Violet. Ähnliches ist nun wieder beim sogenannten NSU nachweisbar: Für die Professoren Micha Brumlik und Hajo Funke zeigt die Nichtaufklärung der Hintergründe der Morde des NSU, wie der sogenannte Tiefe Staat in Deutschland funktioniere. Das schrieben sie am 25. April 2014 in einem Kommentar in der taz und begründeten es folgendermaßen:

„Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie aber, mit der die Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates.“

Und Timo Reinfrank von der Amadeu Antonio Stiftung stellt fest:

„Die Morde des NSU sind nur die Spitze eines Eisberges, der sich in vielen Kommunen und Städten als rechtsextremer Alltagsterror darstellt.“

Und was tun diese Kreise im Hintergrund denn genau? Welches Wirken zeichnet sie aus?

Sie sehen doch im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage oder der Eurokrise genau was diese Kreise tun. Ich erinnere an die Aussage des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis:

„Als ich in die Politik kam, habe ich einiges erwartet. Aber ich war dann doch überrascht, wie wenig den wichtigsten Akteuren Demokratie bedeutet, wie egal ihnen die konkreten Auswirkungen ihrer Politik sind. Dass ihre Politik Hunderttausende, nein, Millionen Menschen verelenden lässt. Als ich in der Eurogruppe darüber reden wollte, blaffte mich Dijsselbloem an: ‚Darüber reden wir nicht, das ist zu politisch!’ Es geht denen nur um Macht, Kontrolle. Sie wollen ihre verdammten Strukturen erhalten. Es geht ihnen in Wahrheit nicht um die Wirtschaft, auch nicht um Wachstum – und schon gar nicht um die Menschen. Die sind ihnen egal.“

Der von Varoufakis erwähnte Jeroen Dijsselbloem ist der Vorsitzende der europäischen Finanzminister in der Eurogruppe. Und zum deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble hat der griechische Ex-Finanzminister ebenfalls eine klare Meinung, die Ihre Frage beantwortet:

„Schäuble sagt es ja ganz offen: Er will ein strafferes, ein autoritäres Europa. Weniger Sozialstaat. Dank dieser Krise können sie all die Dinge umsetzen – Lohnkürzungen, Rentenkürzungen, Privatisierungen –, all die quälenden Dinge, für die ein Volk bei Wahlen nie stimmen würde.“

Der Eindruck drängt sich also auf, dass jene europäischen Politiker, Ökonomen und Wirtschaftsrepräsentanten, die das griechische Volk praktisch entmündigten, längst eine tiefe und grundlegende Feindseligkeit gegenüber einer sozialen und demokratischen Bürgergesellschaft in Europa entwickelt haben.

Und diese Kräfte zeichnen sich, wie einst in den fünfziger bis in die neunziger Jahre, durch institutionellen Rassismus, Autoritarismus, völkischen Nationalismus und Menschenfeindlichkeit aus, weil sie die Grundrechte-Charta der Europäischen Union, die sich „auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität gründet“ bekämpfen.

Haben Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für deren Wirken parat?

Nehmen wir Entrepreneur Roundtable mit Sitz in Berlin und Zürich. Deren Mitglieder bestimmen die wirtschaftliche und damit politische Agenda sowohl in Deutschland als auch der Schweiz. Sie haben die „Themenführerschaft“ in allen Bereichen von sozialer, politischer und wirtschaftlicher Relevanz und repräsentieren sozusagen den Klassenkampf von Oben.

Aufgenommen wird nur derjenige, der als Unternehmer mehr als 500 Millionen Euro Umsatz macht. Es ist ein Mix aus Elite-Kapitänen aus Finanz, Wirtschaft, Politik und Medien, in dieser Form einmalig in der Welt.

In der Schweiz gehören ihm inzwischen ca. 200 Führungskräfte an, in Deutschland 150. Frauen sind nicht zugelassen. Und es wird nur der aufgenommen, der von Clubmitgliedern empfohlen wurde. Sie sind alle handverlesen – auch die Politiker und Medienvertreter, die sich circa zehnmal jährlich an wechselnden Orten treffen. Nichts dringt nach Außen, wenn man sich bei den geselligen Veranstaltungen in noblen Orten trifft.


Jürgen Roth: »Der tiefe Staat«


Wie machtvoll sind diese Kreise denn? Sehen Sie hier wirklich offene Kooperationen auch mit Geheimdiensten und Faschisten?

Das ist wohl eher eine rhetorische Frage. Die Beschäftigung mit dem NSU-Prozess zeigt doch die offensichtliche Kooperation zwischen Teilen der Geheimdienste und Neonazis. Ohne die skrupellose Finanzierung eines führenden Neonazis aus Thüringen gäbe es wahrscheinlich überhaupt keinen NSU.

Die stille Komplizenschaft von Teilen der Polizei mit den Rechten und Rechtsradikalen, ein tiefsitzender Rassismus und Hass, der sich in der Regel gegen alles Linke – was immer auch darunter auch zu verstehen ist – richtet, ist doch überhaupt nicht mehr zu leugnen. Sachsen ist ein leuchtendes Negativbeispiel für diese Kooperation, und ich gehe im Buch auch ausführlich darauf ein.

Man möge mir einmal zu erklären versuchen, warum täglich Flüchtlingsheime brennen und Migranten angegriffen werden ohne dass der sogenannte Verfassungsschutz hiervon etwas weiß.

Apropos: Was halten Sie denn von den Geschehnissen in Köln? Massenhysterie, unglaubliche Übertreibungen, unklare Beweislage, keinerlei vorgelegte Videoaufnahmen bei mehr oder minder lückenloser Überwachung des Tatortes – und am Ende dann eine Presse, die in breiter Front gegen „die Flüchtlinge“ oder „die Nordafrikaner“ hetzt… Das spielt dem Sicherheitsstaat und anderem doch massiv in die Hände… Statt über Arm und Reich, über die Krise des Systems reden alle nun plötzlich über Ethnien, Nationalitäten und vermeintlich „andere Sozialisationen“; ein gefundenes Fressen für alle Rassisten im Land.

Köln war in der Tat der ideale Vorwand für die Nationalkonservativen, die Rechtspopulisten und Neonazis im Land, die sich noch nie um die soziale Ungerechtigkeit gekümmert hatten, hemmungslos Agenda Setting zu betreiben.

Wobei ich die Nationalkonservativen, insbesondere die CSU und Teile der CDU, noch gefährlicher finde als die Neonazis und Rechtspopulisten. Denn sie waren in der Vergangenheit, von 1945 bis 2015 jene, die jegliche politische und wirtschaftliche Systemveränderung mit allen Mitteln bekämpften und daher auch zur tiefen sozialen Spaltung der Gesellschaft beigetragen haben, die heute wiederum der Nährboden für den grassierenden Rassismus und Demokratiefeindlichkeit ist. Und sie stets auch diejenigen, die in trauter Einheit mit den Neonazis linke Parteien und systemkritische demokratische Bewegungen bekämpft haben.

Und ich frage mich inzwischen, das Verhalten der Männer und Frauen in Lichtenhagen im Jahr 1992 oder das derjenigen, die heute gegen Flüchtlinge demonstrieren und Asylunterkünfte anzünden, nicht ziemlich genau der Dreißigerjahre entspricht.

Und: Ja, ich gehe davon aus, dass das nicht vom Himmel fällt, sondern sehr wohl gewollt ist, wie es ist. Von den genannten Kreisen eben, denen an Demokratie wohl längst nichts mehr liegt.

Wenn Sie recht haben mit Ihrer Einschätzung, ist die Lage wohl äußerst ernst. Was wäre aktuell also am ehesten zu tun, um gegen diese Kreise und eine immer reaktionärer werdende Politik im Lande anzugehen?

Zum einen gilt es, die demokratischen Parteien zu stützen, die für eine transparente, eine demokratische und soziale Gesellschaft kämpfen. Und es gibt glücklicherweise genügend zivilgesellschaftliche Organisationen, die einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass die unkontrollierte Macht offengelegt und eingedämmt wird.

Noch wichtiger ist es aber, den Nationalkonservativen, den Rechtspopulisten und Neonazis, die kein Interesse an einer demokratischen Zivilgesellschaft haben, aktiven Widerstand entgegenzusetzen. Und zwar auf allen Ebenen. Es gibt ein schönes Zitat von August Thalheimer aus dem Jahre 1929, das den Ernst der Lage wunderbar beschreibt:

„Die Diktatur ist noch nicht da. Sind aber die Bedingungen geschaffen, so wird sich die nötige Figur irgendwie und irgendwo finden. Sind die sozialen und politischen Bedingungen bereit, so genügt die ordinärste Blechfigur.“

Noch ein letztes Wort?

Ich habe das Buch Ende 2015 abgeschlossen und danach geglaubt, dass der Rassismus, der Hass und die Menschenfeindlichkeit eigentlich nicht mehr zu toppen wären.

Ich dachte, die Vernunft würde langsam in den Köpfen der politisch Verantwortlichen Oberhand gewinnen. Ich habe mich getäuscht. Die demokratische Zivilgesellschaft war noch nie so gefährdet wie sie es heute ist.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Jürgen Roth, geboren 1945, ist einer der bekanntesten investigativen Journalisten in Deutschland. Seit 1971 veröffentlicht er brisante TV-Dokumentationen und aufsehenerregende Bücher über Politik, Korruption und Kriminalität. Zuletzt erschienen von ihm „Der stille Putsch“, „Gazprom – Das unheimliche Imperium“ und „Gangsterwirtschaft“, die allesamt Bestseller waren.