Das Bedingungslose Grundeinkommen – ein illusorischer Ladenhüter ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Mal ein kritischer Artikel zum Thema von Michael Wendl:
https://www.blickpunkt-wiso.de/post/2331

Ich selber muss sagen, dass es mir bis heute schwer fällt, dazu eine klare Position zu finden – zu unterschiedlich sind die vorgeschlagenen Modelle. Um so besser, dass es dazu inzwischen experimentelle Projekte gibt. Ich glaube an die Empirie, dazu https://josopon.wordpress.com/2017/01/31/die-freiheit-geb-ich-dir-warum-wir-ein-bedingungsloses-grundeinkommen-brauchen/.

Die Diskussionen über ein Bedingungsloses Grundeinkommen sind nicht nur älter, sondern auch illusorischer, als viele meinen: Warum ein BGE weder emanzipatorisch ist, noch einen Ausweg aus der kapitalistischen Ausbeutung bietet.

Die Debatten über ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) markieren einen Ladenhüter in der Geschichte sozialer Ideen. Begonnen hatte die aktuelle Diskussion bereits in den 1980er Jahren, als die zunehmende Digitalisierung der Produktion Hannah Arendts (1962) These vom Ende der Arbeitsgesellschaft wieder aktualisieren konnte.
In den 1980er Jahren hieß das BGE noch GME, also Garantiertes Mindesteinkommen. Die Debatte hatte wie heute zwei ideologisch aufgeladene Quellen, einmal eine neoliberale, die sich gegen den damals noch keynesianischen Wohlfahrtstaat richtete, und eine emanzipatorisch verstandene utopische Idee, die von der Überwindung falscher oder entfremdeter Lohnarbeit träumte.
An diesen beiden ideologischen Strömungen hat sich nichts geändert und auch die Angst vor dem Ende der Arbeitsgesellschaft, anders gesagt vor technologischer Arbeitslosigkeit, ist geblieben oder wieder erneuert worden. In dieser Debatte geht es um mehrere Aspekte.

Erstens geht es um die Größenordnungen der Kosten eines BGE und die damit verbundenen Größen der Einkommensumverteilung.
Es geht also darum, ob ein existenzsicherndes BGE im Rahmen des Kapitalismus überhaupt finanzierbar ist.

Zum zweiten geht es um die Rückwirkungen eines Grundsicherungs- bzw. Grundeinkommensmodells auf die bestehenden Sozialversicherungen, hier die Renten- und die Arbeitslosenversicherung.
Darber hinaus ist zu prüfen, welche Effekte die Verteilungswirkungen eines emanzipatorisch verstandenen existenzsichernden BGE auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft insgesamt haben.

Zum dritten geht es um den strategischen Stellenwert des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) im Rahmen einer Systemtransformation.
Das heißt: Ist das ein Modell im Kapitalismus, um diesen erträglicher oder sozialer zu machen? Oder ist es ein Instrument zur Veränderung in dem Sinn, dass mit der Einführung des BGE gleichsam systemfremde Elemente im Kapitalismus durchgesetzt werden, um diesen zu einem Mischsystem zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu machen, in dem Sinne, dass es Märkte und kapitalistische Produktion gibt, aber daneben einen breiten und differenzierten nichtkapitalistischen Sektor, der einerseits aus dem staatlichen Bereich und andererseits aus einer Bandbreite von über Grundeinkommen finanzierten Tätigkeiten besteht?
Oder provokant gefragt, geht es nur um ein bescheidenes Schlaraffenland für Erwerbslose und Altersarme, das einfach besser ist als das Elend und die Schikanen im Hartz IV-Regime?

Viertens: Was sind die Bewusstseinsformen oder die ideologischen Grundlagen, die sich hinter der Utopie eines bedingungslosen Grundeinkommens verbergen? In die Zukunft gedacht: Ist es eine neue kommunistische Utopie? Diese zielt auf ein Grundeinkommen für alle in einer nichtkapitalistischen Gesellschaft.
Wer aber mehr haben will, arbeitet zusätzlich in einer vergesellschafteten Ökonomie, die ihre Überschsse einmal für Investitionen (gerade in Bildung und Forschung), zum anderen für das Grundeinkommen ausgibt.

Zunächst gibt es zwei Probleme: Derart strategisch wird die Debatte über Grundsicherung oder Grundeinkommen nicht angegangen. Es gibt einen simplen Streit über Höhe und Sanktionsfreiheit nach dem Motto, die weitergehende Forderung muss die bessere Forderung sein.
Zum Zweiten wird überhaupt nicht reflektiert, dass mit der Forderung nach dem BGE eine neue Klassengesellschaft gefordert wird: die Unterscheidung zwischen Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit. Die gibt es heute bereits, allerdings umgekehrt: die Unterscheidung zwischen Rentiers, also den Beziehern von Kapitaleinkommen ohne eigene Arbeitsleistung und arbeitender Bevölkerung, bei der die sozialen Transfers bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter auf vorhergegangener Arbeitsleistung beruhen.
Mit der Forderung nach dem BGE tritt eine neue Klasse von allerdings alternativen Rentiers (in einer extrem bescheidenen Variante) auf die politische Bühne.

1. Umverteilung

Ein bedingungsloses Grundeinkommen in der populären Höhe von individualisiert 1000€ wird rund 1000 Mrd. pro Jahr kosten. Bedingungslosigkeit bedeutet, dass es keine Voraussetzungen für den Bezug des BGE, wie Bedürftigkeit oder Arbeitslosigkeit geben wird, was dazu führt, dass jedes Gesellschaftsmitglied ab einem bestimmten Alter Anspruch auf ein BGE hat. Das ist eine enorme Fehlallokation von finanziellen Ressourcen, da nur eine kleine Minderheit ein solches BGE aus materiellen Gründen, also wegen Arbeitslosigkeit oder Altersarmut benötigt. Diese enorme Verschwendung von öffentlichen Einnahmen ist der Preis für die Bedingungslosigkeit des Einkommens. Wie können diese mindestens 1000 Mrd. finanziert werden?

Das Volumen der Einnahmen aus Bundessteuern lag 2017 bei knapp 310 Mrd. . Ein Rckgriff auf Lnder- und Gemeindesteuern ist unrealistisch, weil damit diesen Gebietskörperschaften die Finanzgrundlage entzogen werden.
Von diesen 310 Mrd. können staatliche Transfers, wie die Ausgaben für Hartz IV-Transfers, die dann nicht mehr anfallen, für ein BGE verwendet werden. 2017 waren das rund 40 Mrd. .
Damit benötigen wir für ein ein BGE von 1000 ein erhöhtes Aufkommen aus den Bundessteuern in einer Größenordnung von rund 960 Mrd. . Das werden dann Einkommenssteuern auf hohe Arbeitsentgelte, Vermögens- und Unternehmenssteuern und die Umsatzsteuer sein.
Das Problem besteht hier darin, dass 2017 das gesamte Volkseinkommen 2,457 Bio. beträgt. Es zerfällt in 1,669 Bio. Arbeitnehmerentgelte und 778 Mrd. Unternehmens- und Vermögenseinkommen. Dazu kommen noch die Abschreibungen, wobei ich hier davon ausgehe, dass sie nicht für ein BGE verwendet werden knnen, weil das die Substanz einer nationalen Ökonomie beschädigen wrde. Aus diesen beiden Größen Arbeitnehmerentgelte und Kapital- und Vermögenseinkommen müssen daher 960 Mrd. zur Finanzierung eines BGE abgezweigt werden.
Es gibt dazu Verteilungsrechnungen aus dem Kreis der BGE-Befürworter. Eine, die von den Jusos aus Pinneberg stammt (Vorwärts 24.01.2019) zielt darauf, alle Einkommen, die über die Höhe des BGE hinausgehen, mit 50 % zu versteuern. Es gibt dazu jährlich einen Freibetrag von 12000 plus 12000 Grundeinkommen, die ausbezahlt und nicht versteuert werden. Die darüber hinaus gehenden Einkommen werden mit 50 % versteuert.
Das würde den Teil der Arbeitnehmerentgelte und Renten, der oberhalb von 2000 liegt und die Gewinn- und Vermögenseinkommen faktisch halbieren.
Die föderalen und kommunalen Steuereinnahmen, die aus der Verteilung der Einkommenssteuer auf die drei Gebietskörperschaften stammen, werden damit auch für die Finanzierung des BGE verwendet und führen zu einer entsprechenden Verminderung des Steueraufkommens von Bund, Ländern und Gemeinden.
Die staatlichen Sozialtransfers werden in diesem Fall zu einem großen Teil ebenfalls für die Finanzierung des BGE verwendet. Die Zukunft der Sozialversicherungen bleibt hier unklar. Unstrittig ist nur ein Beitrag für eine Krankenversicherung und bestimmte staatliche Transfers wie das Kindergeld.
Nach diesem Modell werden zunächst 1000 pro Kopf ausgeschüttet und danach plus einer deutlichen Steuererhöhung bei rund 80 % der Bezieher wieder eingetrieben. Insofern ist dieses Modell nicht bedingungslos, da nur Bedürftige mit einem Einkommen bis 1000 nicht besteuert werden. Ab einem Einkommen von ca. 3000 pro Monat (für Ledige) wird die zukünftige Steuerlast höher sein als im geltenden Steuersystem.

Hier gibt es einen fundamentalen Zielkonflikt mit der an der keynesianischen Theorie orientierten Linken in Parteien und Gewerkschaften. Diese strebt eine, wenn auch erheblich geringere Umverteilung ebenfalls an, aber sie will einen großen Teil davon für öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Erziehung und Bildung, für eine Ausweitung der öffentlichen Beschftigung und für einen ökologischen Umbau verwenden. Die Keynesianer plädieren für Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft, eine Zukunft, in der Arbeitslose wieder Beschäftigung finden und nicht durch ein Grundeinkommen vom Arbeitsmarkt abgekoppelt werden, um dadurch den Arbeitsmarkt zu entlasten. Die Anhnger des BGE pldieren dagegen einmal für den zeitnahen Konsum, in der Perspektive für den Ausstieg aus der Erwerbsarbeit (Ende der Arbeitsgesellschaft).

Um diesen Zielkonflikt aufzulösen, können wir noch mindestens einmal 150 Mrd. dazurechnen, um die Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur zu finanzieren. Im Klartext: Es müssen mit Hilfe der staatlichen Gesetzgebungsmacht den reichen Privathaushalten und den profitablen Unternehmen rund 1100 Mrd. jährlich als Daueraufgabe abgenommen werden. Das gesamte Steueraufkommen wrde damit einschlielich der indirekten Steuern von auf rund 1800 Mrd. ansteigen.

Das Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen lag 2017 bei 788 Mrd.. Auch wenn dieses konfiskatorisch besteuert wird, können daraus höchstens 250 Mrd. zusätzliche Einkommen generiert werden, weil ein bestimmtes Volumen für zusätzliche Investitionen in einer Größenordnung von 300 bis 400 Mrd. weiter zur Verfügung stehen muss. Zudem sind in diesen Einkommen auch die rein rechnerischen Mietwerte selbst genutzten Wohneigentums sowie die Einkommen von Selbständigen enthalten.

Dann fehlen aber noch mindestens 750 Mrd. , die aus den Arbeitnehmerentgelten oder dann doch aus indirekten Steuern abgezweigt werden mssen.
Theoretisch ist es vorstellbar, dass die mittleren und hohen Arbeitnehmerentgelte sehr hoch besteuert werden, aber bei einem Gesamtvolumen der Lohn- und veranlagten Einkommenssteuer von 250 Mrd. (2017) ergeben sich daraus vielleicht noch einmal gerade 50 Mrd. , weil dieses Steueraufkommen insgesamt nicht ausreichend groß ist. Deshalb wird kein Weg daran vorbeigehen, dass das Finanzierungsvolumen des Sozialstaats (Sozialversicherungen und staatliche Transfers) deutlich verringert werden muss, wie das zentral aus der neoliberalen Sicht gefordert wird (siehe unter 3.).

Die mit Umverteilungsprozessen in solchen Größenordnungen verbundenen politischen Auseinandersetzungen sind gewaltig, das Aufkommen aus der Körperschaftssteuer msste sich dann rund vervierfachen, aber auch das Lohnsteueraufkommen würde sich zu Lasten der mittleren und hohen Arbeitseinkommen um rund ein Viertel erhöhen. Zugleich würden Leistungen der sozialen Sicherung dramatisch reduziert.
Im Kern läuft es auf eine groß dimensionierte Umverteilung zulasten der höheren Arbeitnehmerentgelte hinaus, deren stärkere Besteuerung im Volumen deutlich höher ist als die 1000 , mit den sie vorher subventioniert wurden.

Das verstößt klar gegen das Leitbild sozialer Gerechtigkeit, das auf der Vorstellung eines auf eigener Arbeit basierenden Einkommens basiert. Die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten wird die deutliche Reduzierung ihrer auf eigener Arbeit basierenden sozialen Ansprüche entschieden ablehnen. Daher wird sich sofort die Durchsetzungsfrage stellen.

Der Hinweis auf die hohen privaten Vermögen (Geld ist genug da), zielt auf Vermögen, also auf eine Bestandsgröße, nicht aber auf Einkommen, also auf eine Stromgröße. Einkommen können aber nur durch Einkommen finanziert werden, nicht oder nur zeitweise durch das Abschmelzen von Vermögen. Dieses hat sich zu Kapital materialisiert und erzeugt aus der Anlage von Kapital und die damit verbundene Nutzung von Arbeitskraft Profite, Zinsen und (Boden-)Renten. Wenn es abgeschmolzen wird, verringern sich die daraus resultierenden Einkommen, deren konfiskatorische Besteuerung gerade die Grundeinkommen finanzieren soll.

Beide Sichtweisen, die neoliberale und die emanzipatorisch-utopische, basieren darauf, dass die eigentlichen Quellen der Wertschöpfung, die lebendige Arbeit und die Ressourcen der Natur nicht gekannt werden. So wird dem Kapital eine eigene Potenz der Wertschöpfung und Wertvermehrung (1) angedichtet, an der jetzt endlich etwa auch die Erwerbslosen partizipieren wollen – obwohl ihr eigenes Arbeitsvermögen, also ihre Arbeitskraft, aus dem Wertschöpfungsprozess ausgegrenzt worden ist. Ihre unentgeltliche Mehrarbeit ist nicht mehr gefragt, was sie im Gegenzug zwingt, am gesellschaftlichen Reichtum über soziale Transfers teilzuhaben. Bis 2004 wurde diese Abhängigkeit durch die Arbeitslosenversicherung geregelt. Abzüge vom Lohn sicherten ein Einkommen für Phasen der Arbeitslosigkeit.
Mit den Hartz-Reformen wurde dieser Klassenfonds der abhängig Beschäftigten in eine staatliche Armutsverwaltung mit dem Ziel des Lohndumpings im Niedriglohnbereich transformiert. Damit ist aber auch der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Arbeitseinkommen und der daraus abgeleiteten Sozialeinkommen verloren gegangen.

Weil dieser grundstzliche Zusammenhang der Entstehung von Einkommen und ihrer Verteilung in einer kapitalistischen Gesellschaft aber nicht verstanden wird, kommt es zu dieser verrückten Vorstellung, die Höhe der aus dem gesellschaftlichen Mehrprodukt abgeleiteten sozialen Transfers sei allein eine Frage des Willens und der Entschiedenheit bei der Artikulation der Forderungen und zum zweiten, es gehe dabei in erster Linie um eine Beschneidung der Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit und Vermögen.
Diese Sicht wäre angemessen, wenn der so genannte Produktionsfaktor Kapital eine eigene Potenz der Wertschöpfung htte. Dann könnten wir uns über die Verteilung der daraus resultierenden Wertzuwächse entsprechende Gedanken machen. (2)

Wenn dies aber nicht der Fall ist, wird der Blickwinkel völlig anders: Dann geht es darum, das aus der Ausbeutung der Lohnarbeit resultierende gesellschaftliche Mehrprodukt rational zu verteilen. Aus dieser Sicht ist es sinnvoller, in Erziehung, Bildung, Forschung und in eine ressourcenschonende Umweltpolitik zu investieren, als in den bloßen Konsum etwa von Erwerbslosen. Was diese betrifft, ist es wiederum sinnvoller, in ihre Beschäftigung, das heit in die gesellschaftliche Nutzung ihres Arbeitsvermögens zu investieren, als einen sozial abgefederten dauerhaften Abschied in den Sektor der Nichterwerbsarbeit zu subventionieren.
Dies ist auch im Interesse der Erwerbslosen, die eine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit der Alternative eines öffentlich subventionierten Müßiggangs auf bescheidenem Niveau in der Regel vorziehen werden.
Gegenwärtig zwingt die mit den Bedingungen von Hartz IV verbundene persönliche Demütigung die Menschen dazu, dass die Rolle des bescheidenen, alternativen Rentiers attraktiv wird.

2. Abbau des Sozialstaats

Welche Auswirkungen hat ein bedingungsloses Grundeinkommen auf die bestehende Sozialversicherung?

Berührt sind davon direkt die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung. Bezogen auf die Arbeitslosenversicherung besteht die Folge darin, dass diese durch ein allgemeines Grundeinkommen überflüssig wird. Arbeitslosigkeit führt dann zum Grundeinkommen. Bezieher höherer Arbeitseinkommen, die in der Phase der Arbeitslosigkeit mit der Höhe des Grundeinkommens nicht zufrieden sein knnen, also nahezu alle höher qualifizierten Beschftigten, mssen dann eine zusätzliche Versicherung abschließen, die möglicherweise auch öffentlich angeboten wird (ob es dazu noch eine Beteiligung der Arbeitgeberseite gibt, ist wenig wahrscheinlich). Allgemein gilt, dass die Arbeitgeberseite sich mit der Einführung eines allgemeinen steuerfinanzierten Grundeinkommens aus der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung zurückzuziehen versuchen wird.
In der Rentenversicherung ist die Situation komplizierter: Ein allgemeines Grundeinkommen wird die gesetzliche Rentenversicherung finanziell entlasten und in der Folge in eine Zusatzversicherung für abhängig Beschäftigte mit höheren Einkommen, die zum Grundeinkommen hinzu kommt, transformieren.
Da es sich hier aber um eine langfristig angelegte und eigentumsrechtlich garantierte Umlagefinanzierung handelt, werden die Beitrge für die nächsten 30 bis 40 Jahre hoch bleiben, da über die Beiträge bereits gegebene Rentenzusagen finanziert werden mssen. Diese sind als eigentumsähnliche Ansprüche verfassungsrechtlich geschützt; zudem wäre das BGE nicht bedingungslos, wenn dafür Renten gekürzt oder gestrichen würden.

Erst nach einem bestimmten Stichtag tritt dann die Kombination von allgemeinen Grundeinkommen und individuell erworbenen Rentenansprüchen in Kraft.
Im Kern ändern sich dadurch nicht die Kosten für die Finanzierung der nicht mehr Erwerbstätigen, sondern nur die Verteilung dieser Kosten.
Die Arbeitgeberseite wird einerseits entlastet durch eine Verringerung der Rentenversicherungsbeitrge, sie wird andererseits belastet durch die Steuerfinanzierung des allgemeinen Grundeinkommens.
Die Arbeitnehmerseite wird ebenfalls entlastet, was die Beitärge zur Rentenversicherung betrifft, andererseits wird sie durch Steuererhöhungen stärker belastet. Unter dem Strich werden aber im theoretischen Modell beide Seiten stärker zur Finanzierung der Nichterwerbstätigkeit herangezogen, weil ein Grundeinkommen nivellierende Wirkungen hat: Wer mittlere oder höhere Einkommen hat, muss stärker privat vorsorgen, um seinen Lebensstandard im Alter halten zu können.
Im Kern verändert sich das bisherige System der Sozialversicherung als einer an den vorhergehenden Arbeitseinkommen orientierten Grundsicherung in eine Zusatzversicherung für die mittleren und höheren Arbeitseinkommen. Die Funktion der Grundsicherung wird dann von dem allgemeinen steuerfinanzierten Grundeinkommen übernommen. Die Kosten der Altersversorgung werden aus dem kollektiven System der Umlagefinanzierung ausgegliedert und individualisiert.

Rechtlich ist dieser Formwechsel hoch riskant. Abzüge von den Arbeitseinkommen für die soziale Sicherung begründen eigentumsähnliche Ansprüche, bei einer steuerfinanzierten Grundsicherung ist dieser Zusammenhang völlig offen. In wirtschaftlichen Notzeiten können dann steuerfinanzierte Leistungen anders als beitragsfinanzierte Leistungen drastisch reduziert werden.

Auch makrokonomisch spricht nichts för die Finanzierung von sozialen Transfers ber Steuern statt über die Löhne. Das wrde insgesamt zu einer deutlich höheren Steuerquote in der Gesellschaft führen.
Ob eine solche Gesellschaft bereit ist, darüber den komfortablen Ausstieg eines Teils der Gesellschaft in die Rolle von bescheidenen Rentiers zu alimentieren, ist mehr als zweifelhaft. Die Gemeinschaft der Steuerzahler wird verlangen, dass die so subventionierten Gesellschaftsmitglieder für zumutbare Arbeit zur Verfügung stehen. Über die Frage, was in diesem Zusammenhang zumutbar heißt, wird dann sicher politisch gestritten werden. Da gibt es andere Lösungen, als diejenigen, die mit Hartz IV fixiert worden sind.
Aber auch in einem stärker steuerfinanzierten Sozialstaat wird es kein finanziell attraktives bedingungsloses Grundeinkommen geben. Es ist auch unter diesen veränderten Bedingungen in dem erforderlichen Volumen nicht finanzierbar (siehe oben).

Die nächste Frage zielt auf die makroökonomischen Effekte des BGE. Die hier vorgenommene Umverteilung führt auch zu einer Veränderung der aggregierten Nachfrage. Die öffentliche Nachfrage nach Investitionen wird schrumpfen, weil ein größerer Teil des Steueraufkommens für den Konsum ausgeben wird.
Das hat einmal negative Auswirkungen auf die löffentliche Infrastruktur und führt durch die Anhebung der Nachfrage nach Konsumgtern zu Preisanstiegen. Gleiches gilt für die Überwälzung der höheren Unternehmenssteuern auf die Preise. Unter bestimmten Bedingungen kann ein leichter Anstieg der Inflation makrokonomisch sinnvoll sein. Es ist aber zugleich damit zu rechnen, dass die privaten Investitionen zurückgehen werden.
In der allgemeinen Tendenz sind mit dieser Variante von Umverteilung erhebliche Risiken für die zukünftige Wertschpfung und die Weiterentwicklung des gesamtgesellschaftlichen (privaten wie öffentlichen) Kapitalstocks verbunden. Eine Ausweitung des Konsums ohne ein entsprechendes Ansteigen der Wertschöpfung führt nur zu höheren Preisen, was die Kaufkraft der Grundsicherung verringert.
Insofern stellt eine direkte Finanzierung des Staates durch die Zentralbank, wie das im Rahmen der Modern Monetary Theory diskutiert wird, keine Lösung dar. Der Staat msste die vermehrte Ausgabe von Geld durch höhere Steuern wieder zurückholen, damit es nicht zu einer Inflation kommt. (3)

3. Gesellschaftstransformation?

Die dritte Frage nach dem Stellenwert dieser Forderung im Rahmen einer Transformation des kapitalistischen Systems in eine postkapitalistische oder sozialistische Gesellschaftsordnung ist einfach zu beantworten. Das BGE wird nicht als Einkommensform einer nichtkapitalistischen Gesellschaft betrachtet, sondern als mgliche Variante der Einkommensverteilung in den bestehenden kapitalistischen Gesellschaften.
Für eine solche Interpretation spricht, dass ein allgemeines Grundeinkommen auch zum wirtschafts- und sozialpolitischen Repertoire neoliberaler Reformvorschläge (zum Beispiel bei Milton Friedman in der Form einer negativen Einkommenssteuer) gehrt und auch die linken Befürworter des BGE (wie zum Beispiel Claus Offe) diesen Vorschlag in die gegenwärtige Finanzierungskrise des Sozialstaats einordnen.
Diese wiederum thematisieren mit ihrem Päldoyer für ein BGE ein zentrales Problem: Das BGE kann aus dieser Sicht eine selbst gestaltete Lebensführung der Menschen ermöglichen, weil diese sich nicht mehr dem Diktat unterwerfen mssen, jede Arbeit anzunehmen. Systemfremd sind solche Vorschläge allerdings nicht. Die Alimentierung von Nichterwerbstätigen durch die Erwerbstätigen gehrt zu den Grundanforderungen, die jede Gesellschaft leisten muss.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen markiert hier einen weiteren Schritt, weil vom politischen Anspruch gesehen, die soziale Kontrolle der so subventionierten Gesellschaftsmitglieder aufgehoben wird. Allerdings sind die mit dem BGE verbundenen Einkommenserwartungen vllig illusionär. Über die Begrenzung dieser Sozialeinkommen – siehe oben – wird sich indirekt wieder eine soziale Kontrolle und Begrenzungen der Transfers durchsetzen, die zur Aufnahme von Lohnarbeit zwingen.

Die Frage des Arbeitszwangs lsst sich aber einfacher lösen: durch eine Änderung der Zumutbarkeitsbedingungen von angebotener Arbeit. Wenn nicht zumutbare Arbeit ohne Sanktionen abgelehnt werden kann, wie dies vor 1982 im Arbeitsförderungsrecht (AFG) geregelt, war stellt sich diese Frage nicht.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn Hartz I bis IV einfach zurückgenommen würden und die Einkommensformen des AFG mit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe mit dem Verständnis von zumutbarer Arbeit vor 1982 wieder institutionalisiert würden. Damit würde die absurde Vorstellung, die Arbeitslosen seien an ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld, fundamental korrigiert.

4. Warum ist die Ideologie eines BGE populär?

Aus makroökonomischer Sicht absurde Regelungen wie die Hartz-Gesetze und ihre Praxis provozieren ähnlich absurde Reaktionen. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen gehört dazu. Aus einer ideologiekritischen Sicht geht es darum, zu erklären, warum so phantastische Modelle populr werden.
Aus der neoliberalen Sicht ist diese Erklärung einfach. Der Neoliberalismus ist eine politische Utopie, die durch einen unbeirrbaren Glauben an die Effizienz freier Märkte bestimmt wird. Märkte erreichen hier aus sich selbst heraus eine gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen, deren Unterschiede auf entsprechend unterschiedliche Leistungen zurückzuführen sind. Wenn alle ihrem eigenen Nutzen folgen und Staat und Gewerkschaften sie dabei nicht behindern, wird ein Optimum an Wohlfahrt gewonnen.
Die der politischen Utopie des Neoliberalismus zugrundeliegenden ökonomischen Theorien werden zusammenfassend als neoklassisch bezeichnet, auch wenn sich unter diesem Begriff verschiedene Varianten wie der Monetarismus, der deutsche Ordoliberalismus und die österreichische Schule zusammenfassen lassen. In der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie oder -doktrin gibt es keine unfreiwillige oder konomisch erzwungene Arbeitslosigkeit, sondern nur freiwillige. Wer arbeitslos ist, hat nach dieser Ideologie beschlossen, dass der individuelle Nutzen von Nichtarbeit größer ist als das Leid der Arbeit, genauer der Lohnarbeit.
Mit dem BGE wird für diese nutzentheoretisch bestimmte Entscheidung ein geeigneter institutioneller Rahmen bereitgestellt.

Aus einer emanzipatorisch verstandenen Sicht kann das als Weg zur Autonomie des Individuums, das zwischen selbstbestimmter Eigenarbeit und fremdbestimmter Lohnarbeit whlen kann, verstanden werden. Eine solche Sicht weist darauf hin, dass sich die Individuen in reifen kapitalistischen Gesellschaften in erster Linie als Individuen und nicht mehr als Angehrige einer sozialen Klasse oder eines sozialen Milieus verstehen, also von Gruppen, die in einer Klassengesellschaft eine ökonomisch und sozial bestimmte Position einnehmen. Sie verstehen sich als sozial ungebundene Individuen, die ihr Leben frei bestimmen wollen und dabei von den sozialen Voraussetzungen und Einschrnkungen von Autonomie abstrahieren oder frei sein wollen. Eine sozial ungebundene Autonomie wird selbst zur Utopie eines freien Lebens.
Dieser Individualisierungsprozess ist aber, gerade bei denen, die ihn ausleben wollen, ein Resultat sozialstaatlicher Sicherheit, der dazu geführt hat, dass bestimmte, früher als sozialer Stand oder Klasse bezeichnete Schranken in den Hintergrund getreten sind. Sie bestehen aber nach wie vor.
Dieser Schein von Abwesenheit oder Unsichtbarkeit sozialer Schranken wirkt ganz überwiegend nicht für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten, deren Individualität durch die Machtverhältnisse im System der Lohnarbeit und durch die Höhe der Löhne bestimmt wird. Diese Vorstellung der Rationalität individuell motivierter Handlungen hat zur Folge, dass die Menschen zwar bewusst handeln, aber kein oder nur ein unzureichendes Bewusstsein über die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen haben, unter denen sie handeln. Sie kennen die gesellschaftlichen und sozialstaatlich fundierten Voraussetzungen ihrer individuellen Handlungen nicht (mehr) und führen individuelle Handlungen auf autonome persönliche Entscheidungen zurück. Mit dem BGE wollen sie für diesen Zusammenhang eine materielle Mindestsicherung.

Diese Entwicklung kann auch erklären, warum die Parteien der politischen Linken, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr in makrokonomischen oder gesamtgesellschaftlichen Zusammenhngen denken. Das Individuum sieht aber nicht, warum sein Horizont so beschränkt ist.
Mikroökonomische Entscheidungen fallen aus einer nutzentheoretischen Sicht, aus der das BGE bewertet wird. Was nutzt es mir bei meiner Lebensgestaltung? Hinter diesem theoretisch nicht reflektierten Alltagshandeln stehen aber ökonomische Kalküle und entsprechende neoklassische Theorien.
Deshalb ist es kein Zufall, dass die Debatten um ein Grundeinkommen durch neoliberale Varianten geprägt werden. Die Anhänger des BGE sind mit ihren Alltagsvorstellungen tief in der bürgerlichen Gesellschaft verankert, auch wenn sie hier nur eine ganz bescheidene Rolle spielen wollen.

In der Konsequenz bedeutet diese Forderung die intellektuelle Resignation oder Kapitulation vor der Herausforderung einer politischen Gestaltung und Überwindung von kapitalistischen Gesellschaften. In der Frage der Höhe dieses Einkommens geht es darum, für wie viel Geld potenzielle gesellschaftliche Opposition und Konflikte eingekauft und politisch stillgelegt werden können.
Das Tragische an diesem Angebot liegt darin, dass die ökonomischen und politischen Eliten die Erwerbslosen noch nicht einmal als gesellschaftliche Opposition identifiziert haben. Warum sollten sie für politische Abstinenz mehr bezahlen als das absolute Existenzminimum?
Das emanzipatorisch gedachte Grundeinkommen gibt es nur als neoliberale Inszenierung. Diese hat eine offene, gut erkennbare Gestalt in der neoklassischen Utopie einer freiwilligen Arbeitslosigkeit, für die ein Existenzminimum garantiert werden soll.
Sie nimmt eine verdrehte, mystifizierte und illusorische Form an, wenn sie als Emanzipation von der Lohnarbeit verstanden werden soll.

Anmerkungen

(1) Zur Kritik dieser Vorstellung einer Wertvermehrung des Kapitals aus sich selbst, siehe Karl Marx in: Das Kapital Bd. 1 (MEW 23) S. 652 und Band 3 (MEW 25) S. 838.

(2) Die Forderung nach einer Maschinensteuer beruht auf der gleichen Illusion oder Mystifikation.

(3) Die Modern Monetary Theory ist eine post-keynesianische Theorie der Beschreibung der Geldschöpfung und der Staatsfinanzierung über das Zusammenwirken von Geschäftsbanken, Zentralbank und Staat. Beschäftigungspolitisch zielt sie auf die Herstellung von Vollbeschäftigung und gerade nicht auf einen Ausstieg aus der Erwerbsarbeit.

Jochen

Höhere Löhne statt Nationalismus

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Hier setzte im Mai ein Experte noch Hoffnungen in die SPD. Seine wirtschaftspolitische Analyse kann ich teilen, es geht in die Richtung von Per Molander, „Die Anatomie der Ungleichheit“ *).

https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/hoehere-loehne-statt-nationalismus-3481/

Auszüge:

Wir brauchen nicht mehr nationale Identität, sondern eine Wirtschaftspolitik, die die Gesellschaft zusammenhält.

Nationalistische Anliegen haben in Deutschland wieder Konjunktur: Allenthalben heben linke Intellektuelle hervor, dass die Nation als Referenz für Solidarität besonderes Gewicht habe. Wenn liberale Eliten nicht mehr weiterwissen, werden sie patriotisch. Wie wäre es aber, wenn sie statt­dessen die Bekämpfung der wirtschaftlichen Missstände in Angriff nähmen, die hinter der Angst vor Zuwanderern stecken?
Stattdessen glauben sie zu wissen, dass die Beseitigung der Prekarität auf den Arbeitsmärkten nicht möglich ist.
Vollbeschäftigungspolitik durch Lohnsteigerung wird als populistisch abqualifiziert.
Und Keynesianismus kommt nur als Erhöhung von Staatsausgaben vor, die zu Schulden führt und damit zu Lasten zukünftiger Generationen geht.

Eine keynesianische Politik besteht aber nicht im Schuldenmachen. Schuldenfinanzierte Staats­ausgaben stehen nur dann auf der Tagesordnung, wenn neoliberale Wirtschaftspolitik das Wachs­tum durch Austeritätspolitik abgewürgt hat und eine Konsum-Krise bekämpft werden muss.

Wollen die Sozialdemokraten an Profil gewinnen, müssen sie über durchaus löbliche sozial­politische Forderungen hinaus ein Konzept vorlegen: eines, mit dem sie die Wirtschaft im Inter­esse der arbeitenden oder ins Prekariat gezwungenen Bevölkerung steuern können.
Allein die bisherige neoliberale Strategie zur Optimierung der Volkswirtschaft vermischt mit ein wenig Heilsarmee-Aktivität, um die Loyalität der eigenen Anhänger zu sichern, kann nicht überzeugen.

Zwei neoliberale Argumente dienen verlässlich als Speerspitze gegen eine andere Wirtschafts­politik.
Erstens: Profite sind notwendig, um Investitionen zu finanzieren, sonst fallen Arbeitsplätze weg.
Zweitens: Niedrige Löhne verbessern die internationale Wettbewerbsfähigkeit und schaffen damit Arbeitsplätze.

Dem widersprechen einige sehr einfache ökonomische Einsichten: In jeder Wirtschaftskrise gibt es hohe ungenutzte Kapazitäten und damit die Möglichkeit, Überschüsse zu produzieren, die inve­stiert werden könnten. Gleichwohl sinken in allen Krisen die Beschäftigung und die Investitionen.
Im Aufschwung dagegen steigen Investitionen sowie Profite und Beschäftigung – bis Vollbeschäf­tigung erreicht ist.
Empirisch spricht also nichts dafür, dass Investitionen vom Rückgang des Konsums abhängen.

Keynesianische Ökonomen haben dafür seit 70 Jahren eine überzeugende Begründung: Damit Unternehmen der Konsumgüterbranche überhaupt Profit machen und ihre Produkte zu höheren Preisen als ihren Kosten verkaufen können, muss es ausreichend Einkommen aus geleisteter Arbeit geben.
Der Arbeitslohn generiert zusätzliche Nachfrage und erlaubt die Entstehung von Profit.

Will man höhere staatliche Schulden vermeiden und zugleich auf permanente Exportüber­schüsse verzichten, weil sie Partnern die Möglichkeit zum Wachstum nehmen, dann müssten die Löhne in Deutschland kräftig steigen.

Denn die aus diesen höheren Löhnen generierte Nachfrage würde das Wachstum antreiben. Speziell die Produktion von neuen Investitionsgütern ist hier entscheidend.

Niemand kauft allerdings eine zusätzliche Maschine, wenn die Nachfrage nach den damit produ­zierten Konsumgütern nicht steigt.

Wenn die Löhne nicht ausreichend steigen, bleibt nur ein Aus­weg: Die zusätzlichen Güter müssen ins Ausland exportiert werden.
Die Exportüberschüsse ent­stehen also automatisch, wenn der Konsum im Inland zu gering ist.

Der neoklassische Mainstream glaubt, Kapitalismus sei ein Null-Summen-Spiel, bei dem man nur investieren kann, was man spart und daher nicht schon konsumiert hat. Deshalb lehnen sie stei­gende Löhne einfach ab.
Wenn Investitionen aber von steigender Nachfrage ausgelöst werden, bedeutet ein Befolgen dieser neoliberalen Rezepte wirtschaftliche Stagnation.

Es wird sogar noch schlimmer: Diese fehlgeleiteten Ökonomen fügen ihrer generellen Ablehnung von Lohnsteigerungen hinzu, dass diese zur Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt führen. Über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet aber vielmehr der Wechselkurs – denn die Lohnkosten werden international auf der Basis des Wechselkurses wirksam.
In der Zeit der nationalen Währungen im Euroraum wurde die D-Mark permanent aufgewertet, weil Deutsch­land so viel exportiert hat. Die Guthaben der Reicheren in dieser Republik nahmen aufgrund der Exporte zu.

Die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft wurde dadurch jedoch nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Aufwertung gefährdete die deutsche Wettbewerbsfähigkeit.
Das Beschäftigungs­wunder zu Anfang der rot-grünen Regierungszeit war Folge der Spekulation des internationalen Kapitals gegen den als krisengefährdet eingestuften Euro.
Der niedrige Eurokurs verbilligte die Preise deutscher Exportgüter auf dem Weltmarkt.

Forderungen nach einer Rückkehr zur nationalen Währungspolitik sind allerdings illusionär. Denn auch in der Zeit der freien und der regulierten Wechselkurse nach dem Zusammenbruch des Bret­ton-Woods-Systems hat die deutsche Regierung Aufwertungen so begrenzt, dass Deutschlands Wirtschaftspartner unter ihren Möglichkeiten blieben beziehungsweise stagnierten.

Innerhalb des Euro-Raumes ist die Lage anders, weil hier kein Wechselkurs ausgleichend wirken kann. Gerade hier hat die deutsche Lohnpolitik zu permanenten Exportüberschüssen des Landes geführt. Etwas höhere Löhne und höhere Investitionen und somit weniger deutsche Wettbe­werbs­fähigkeit aber würde den Partnern nützen und Deutschland nicht schaden, sofern die Binnen­nach­frage hierzulande ausreichend steigt.

Die Arbeiterschaft hat diese Politik des Exportüberschusses regelmäßig durch Lohnzurück­hal­tung unterstützt, weil sie glaubte, damit ihre eigenen Arbeitsplätze zu schützen.
Das hatte jedoch – ausgelöst durch die geringere Kaufneigung der Arbeiterschaft bei geringeren Löhnen – den Rück­gang der Beschäftigung in den binnenmarktorientierten Industrien zu Folge. Dessen ungeachtet loben einige der „neuen Nationalisten“ das als Überlegenheit eines deutschen Lohnfindungs­prozesses nach dem Motto: Sparen ist eine nationale Leistung.
Die deutschen Arbeitnehmer seien eben vernünftiger als die Arbeitnehmer in den Südländern der EU.

Wenn die Sozialdemokratie nicht dafür sorgen kann, dass durch steigende Löhne ein angemes­se­nes Nachfrageniveau in Deutschland entsteht, muss es anderswo entstehen: etwa durch Kreditauf­nahme im Süden der EU wie vor der Euro-Krise.
Die Krise hat aber gezeigt, dass eine solche Ver­schuldung der anderen Euro-Länder dauerhaft nicht möglich ist.
Es bleibt dann nur die Möglich­keit, den anderen EU-Partnern wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, um dort eine ausreichende Nachfrage zu erzeugen.

Auf europäischer Ebene können die Sozialdemokraten zwar auf kleine Kurskorrekturen hinwirken, zum Beispiel auf mehr Investitionen und eine Arbeitslosenversicherung. Diese Politik hat aber wegen des geringen Volumens solcher Programme eine begrenzte Wirkung.

Deutlich mehr können die Sozialdemokraten im nationalen Maßstab durch die Abkehr von ihren neoliberalen Trugbildern erreichen.

Dann sind die Stärkung der EU und die Erweiterung der Nachfrage in Deutschland nur zwei Seiten derselben Medaille.

Hartmut Elsenhans gilt als einer der führenden Theoretiker des globalen Keynesianismus.

Zuletzt lehrte und forschte er als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Politökonomie des Internationalen Systems sowie Entwicklungsstrategien und soziale Bewegungen im globalen Süden.

* Titel:gebrauchtes Buch – Molander, Per – Die Anatomie der Ungleichheit - Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Die Anatomie der Ungleichheit – Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können

Die Linke muss verhindern, dass die Arbeiterklasse unter Zuwanderung leidet

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

IPGlogo.gifAus dem ThinkTank des DGB, der Hans-Böckler-Stiftung, Argumente für Aufstehen!:
https://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/die-wirklichkeit-nicht-ignorieren-3068/
Auszüge:

Seit einigen Jahren verschwindet die Linke immer mehr von der politischen Bühne. Gleichzeitig gewinnt die extreme und populistische Rechte zunehmend an Boden. In Frankreich, Griechenland und den Niederlanden sind die sozialdemokratischen Parteien auf einstellige Wahlergebnisse abgerutscht; in Deutschland droht ein ähnlicher Niedergang.
In den genannten Ländern und innerhalb der Mitte-Links-Parteien selbst wird intensiv darüber diskutiert, wie es weitergehen soll. Zentrales Thema sind dabei immer wieder die Folgen des Dritten Weges, der die Aufmerksamkeit der gemäßigten Linken von der Arbeiterklasse weg hin zur Mittelschicht gedrängt hat.
Seitdem die Interessen der unteren Mittelschicht von der Linken so vernachlässigt wurden, haben die Wähler ein tiefes Vertrauensproblem mit sozialdemokratischer Regierungspolitik. Dieses Vertrauensdefizit könnte sogar dann weiter andauern, wenn sich die Linke wieder verstärkt um sie kümmern sollte.

Viele politische Beobachter vertreten die Ansicht, die gemäßigte Linke solle sich auf ihre traditionelle Kernpolitik wie Umverteilung, dem Kampf gegen die Armut, den sozialen Wohnungsbau und die Prioritäten der öffentlichen Investitionen besinnen. Das Thema Einwanderung dagegen wird zwar in vielen EU-Ländern heftig diskutiert, als heißes Eisen aber in der Linken beinahe als Tabu behandelt.
Diejenigen, die sich darauf einlassen – wie die neue deutsche Linksbewegung Aufstehen oder einige sozialdemokratische Bürgermeister, die vor Migrantengettos in ihren Städten warnen -, werden dafür oft angegriffen.
Colin Crouch warnt in einem aktuellen Artikel vor einer „einwanderungsfeindlichen Stimmung“. Er schreibt: „Die Behauptung, die Konkurrenz polnischer Bürger auf dem lokalen Arbeitsmarkt setze die Löhne britischer Arbeitnehmer unter Druck, ist keine sozialistische Kritik am Kapitalismus, sondern eine zynische Nebelkerze. Im Gegensatz zur abstrakten Idee des Kapitalismus sind die vor Ort sichtbaren Polen sehr präsent. Es ist leichter, sie zu hassen.“

Migranten in Hassobjekte zu verwandeln ist natürlich widerlich, und eine offene Gesellschaft muss auf rassistische und fremdenfeindliche Rhetorik eindeutig reagieren. Bedeutet dies aber, dass die Linke nicht über Migration reden sollte?
Zu den Auswirkungen der Zuwanderung auf das Lohnniveau gibt es umfangreiche Untersuchungen. Sie deuten darauf hin, dass Einwanderer die Löhne von Arbeitnehmern mit ähnlichen Qualifikationen negativ beeinflussen.
Die Löhne Höherqualifizierter aber werden positiv beeinflusst. Das sollte uns nicht überraschen.
Es scheint so, dass sich die Zuwanderung von Arbeitskräften auf das Lohnwachstum insgesamt negativ auswirkt, da gering qualifizierte Migranten für niedrigere Löhne eingestellt werden. Beispielsweise konnte die Deutsche Bundesbank in einem Bericht vom April zeigen, dass die Nettoeinwanderung aus der EU nach Deutschland einen negativen Einfluss auf das Lohnwachstum im Land hatte – insbesondere ab dem Jahr 2013..

Darüber hinaus deuten Studien über die Entsendung von Arbeitskräften in der EU darauf hin, dass es große Probleme mit der Ausbeutung von Arbeitsmigranten gibt. Die Gewerkschaften haben in Sektoren mit hohem Migrantenanteil Probleme, den gewerkschaftlichen Zusammenhalt und die gemeinsame Verhandlungsmacht aufrecht zu erhalten. Diese aber sind Voraussetzung für höhere Löhne und eine stärkere Regulierung des Arbeitsmarktes.
Insgesamt besteht die Gefahr, dass hohe Zuwanderungszahlen die Institutionen zur Regulierung der Arbeitsmärkte schwächen können, auf denen das europäische Sozialmodell beruht.
Die Linke kann nun beschließen, zu diesem Thema zu schweigen – aus der Angst, dass schon die Analyse oder Erwähnung der Folgen der Zuwanderung bereits schon fremdenfeindlich sei.
Diese Strategie könnte allerdings übel nach hinten losgehen.

So lange die Zuwanderung derart chaotisch behandelt wird, dient sie der populistischen Rechten weiterhin als Sündenbock.

Im Gegensatz zu Großbritannien, dass ein Einwanderungsziel hat – welches das Land Jahr für Jahr verfehlt -, hat die deutsche Regierung in diesem Bereich keinerlei Strategie.
Seit 2014 gibt es in Deutschland eine jährliche Nettomigration von über 500.000 Menschen. Die Zuwanderung liegt momentan bei über einer Million pro Jahr.
Gleichzeitig steigen in Städten wie Berlin die Mieten jährlich um 10% und es fehlen in Deutschland schätzungsweise zwei Millionen erschwingliche Wohnungen.
Die Wohnungskrise wurde nicht durch Migration verursacht. Ihre Ursache liegt in der Entscheidung der Regierung vor zehn Jahren, den sozialen Wohnungsbau zu beenden.
Die Krise am Wohnungsmarkt zeigt aber, wie schlecht Deutschland auf hohe Einwanderungsraten vorbereitet ist.

Die deutsche Regierung hat nun einen Plan für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Demnach können Arbeitsmigranten aus Drittländern zur Jobsuche bald eine sechsmonatige Arbeitserlaubnis bekommen. Dies gilt für alle Berufe, so auch Lastwagenfahrer oder Reinigungskräfte.
Die deutschen Industrievertreter loben diesen Vorstoß. Ihren eigenen Untersuchungen zufolge mangelt es bei „Türstehern“, „Restaurantangestellten“ und anderen gering bezahlten Berufen an „qualifizierten“ Arbeitskräften.
Aber sollten wir nicht darauf bestehen, dass die Arbeitserlaubnis für Menschen aus Drittländern an einen Mindestlohn oder einen Arbeitsvertrag gebunden ist, um im Niedriglohnsektor Lohndumping zu verhindern?
Oder an eine finanzielle Arbeitgeberabgabe für die Integration von Migranten oder gegen die Wohnungskrise?

Viele Einwanderer sprechen kaum Deutsch und wissen nicht ausreichend über ihre Rechte Bescheid. Deshalb werden sie an ihren Arbeitsplätzen oft ausgebeutet.
Die arbeitsrechtlichen Kontrollen sind schwach und häufig gibt es keine Möglichkeiten, sich zu organisieren.
Es gibt keine zentrale Behörde gegen die Ausbeutung von Arbeitnehmern wie zum Beispiel die britische Gangmasters- & Labour Abuse Authority (Arbeitsmissbrauchsbehörde) in Deutschland.
Dass die sozialen Standards in Sektoren mit hohen Anteilen von Arbeitsmigranten kaum umgesetzt werden, führt zu unfairem Wettbewerb und letztlich zu einer Schwächung dieser Standards.

Die Linke muss zu einer Einwanderungspolitik finden, die einerseits Rassismus entschieden ablehnt, aber andererseits die Wirklichkeit nicht ignoriert.

Sollen die nationalistischen und migrantenfeindlichen Tendenzen der britischen und US-amerikanischen Politik nicht auch nach Deutschland kommen, muss das Land für die Werte der offenen Gesellschaft kämpfen – indem es garantiert, dass die untere Mittelschicht nicht unter der Einwanderung leiden muss.
In der Bevölkerung herrscht immer mehr der schleichende Verdacht vor, Zuwanderer kämen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, um ihrer Armut zu entfliehen. Das liegt nicht zuletzt an der chaotischen Vermischung von Asyl- und Arbeitseinwanderung, die viele Menschen zutiefst beunruhigt.

Diskussionen und Maßnahmen zum Umgang mit Migration sind nicht gleichbedeutend damit, mögliche fremdenfeindliche und rassistische Vorurteile der Wähler zu übernehmen.
Im Gegenteil: Offene Gesellschaften brauchen klare Regeln und starke Institutionen.

Dabei ist heute insbesondere Solidarität gefragt – in Form praktischer Maßnahmen vor Ort, um den Neuankömmlingen bei ihren Problemen zu helfen.
Solidarität bedeutet aber auch, strenge Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass die sozialen Standards durch Zuwanderung ausgehöhlt werden.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

(c) Project Syndicate
Prof. Dr. Anke Hassel ist Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und lehrt Public Policy an der Hertie School of Governance.
Von 2009 bis 2012 war sie Senior Visiting Fellow am European Institute an der London School of Economics. Seit 2008 ist sie Fakultätsmitglied der Berlin Graduate School for Transnational Studies.

Jochen

100 Jahre »Sozialpartnerschaft« – 30 Jahre Reallohnverzicht – Konsens statt Klassenkampf

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

100jahre sozialpartnerschaftZu dem üblen Agieren gewählter Gewerkschaftsfunktionäre, auch „Arbeiteraristokraten“ genannt, und zur Geschichtsklitterung des Bundespräsidenten hier auszügeweise 2 Artikel:
A: https://www.jungewelt.de/artikel/341748.100-jahre-arbeitsgemeinschaft-konsens-statt-klassenkampf.html

DGB und BDA gratulieren sich zu 100 Jahren »Sozialpartnerschaft«.
Bundespräsident feiert antisozialistischen Pakt als »historisches Ereignis«

Von Nico Popp

Geschichte, soll Napoleon mal gesagt haben, sei einfach die Lüge, auf die sich die Historiker geeinigt haben.
In der Bundesrepublik wird beim Basteln einer nützlichen historischen Erzählung ziemlich viel gelogen; und wenn die Sache wirklich wichtig ist, sogar vom Staatsoberhaupt höchstpersönlich.

Am Dienstag feierten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) im Hof des Deutschen Historischen Museums »100 Jahre Sozialpartnerschaft«.
Die soll, so wurde hier erzählt, am 15. November 1918 mit dem Arbeitsgemeinschaftsabkommen zwischen freien und christlichen Gewerkschaften auf der einen und den großen Unternehmerverbänden auf der anderen Seite »begonnen« haben – für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein »wahrhaft historisches Ereignis«, von dem, wie er bedauernd hinzufügte, »nicht mehr viele« in Deutschland wüssten.
Leider, denn damals sei eigentlich die Weiche in Richtung »Wohlstand«, »Demokratie« und »soziale Marktwirtschaft« gestellt worden. Man solle sich doch nur einmal Länder anschauen, in denen diese »Sozialpartnerschaft« nicht so »ausgeprägt« sei – »wilde Arbeitskämpfe« und »politische Streiks«.

Steinmeier erwähnte selbstverständlich nicht, was dieses Abkommen eigentlich ausmachte:
In den ersten Tagen der deutschen Revolution von 1918/19, als der alte Staatsapparat gelähmt war, suchten die Industriellen nach handlungsfähigen Verbündeten gegen die radikale Arbeiterbewegung.
Sie fanden sie in den Gewerkschaftsführern, die in vier Jahren Krieg viel Erfahrung bei der Bekämpfung der Antikriegsopposition gesammelt hatten.
Diese Funktionäre wurden nun schnell und nicht ohne Geschick als »Vertreter« der Belegschaften »anerkannt«; den Achtstundentag gab es dazu, denn der war immer noch besser als der Sozialismus.
Das war nach dem August 1914 die nächste strategische Parteinahme der Gewerkschaftsbürokratie für Kapital und Klassenstaat.

Steinmeier nannte diesen Vorgang »unglaublich mutig«. Jemand muss ihm erzählt haben, dass sich die Revolution insbesondere gegen die Gewerkschaften gerichtet hat: In der »von einem sozialistischen Rätestaat gesteuerten Industrie« brauche man nämlich »keine freien Gewerkschaften«.
Den versammelten Spitzenfunktionären der Einzelgewerkschaften und der Unternehmerverbände rief er zu: »Was Sie leisten, ist wichtig für unser Land.«

Danach diskutierten DGB-Chef Reiner Hoffmann und BDA-Präsident Ingo Kramer ganz arbeitsgemeinschaftlich miteinander. Man weiß nun, dass Kramer und Hoffmann ab und an telefonieren: »Wir beide haben unsere Handynummern.« Kramer beschwerte sich über den Mindestlohn; den habe der Staat gemacht, und das sei ein Schlag gegen die Autonomie der Tarifparteien.
Nach dem Geplauder meldete sich Verdi-Chef Frank Bsirske zu Wort und sorgte mit der Forderung, angesichts der »dramatischen Tarifflucht vieler Unternehmen« die Tarifbindung »deutlich zu stärken« – etwa bei der öffentlichen Auftragsvergabe –, für Unruhe bei Kramer, der sich sicherheitshalber wiederholte: »Wer nach dem Staat ruft, stärkt nicht die Tarifautonomie.«

Die deutsche Kapitalistenklasse muss nicht nach dem Staat rufen, um mit den Gewerkschaften fertig zu werden.
Es hat sich – das dürfte vielen Gewerkschaftsfunktionären schon lange klar sein – nicht wirklich gelohnt, der Eigentumsordnung 1918/19 das Leben zu retten. Sie würden es beim nächsten Mal aber sicher wieder tun.

Erinnerung meinerseits: Herr Steinmeier war einer der führenden Köpfe bei den Hartz-Reformen, die damals auch von Funktionären der Gewerkschaften, Kirchen und des VdK durchgewunken wurden und es den Arbeitgebern erlaubten, im eigenen Betrieb Leiharbeiter als Billiglohnkonkurrenten einzuführen. Siehe hier:
https://www.jungewelt.de/artikel/332391.agenda-2010-architekt-als-partner.html

B: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1103865.sozialpartnerschaft-der-widerspenstigen-zaehmung.html

Der Widerspenstigen Zähmung

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände erneuern ihre Sozialpartnerschaft – warum eigentlich?

Es ist eine auf den ersten Blick innovative Forderung, die ver.di-Chef Frank Bsirske aufstellt. Er spricht sich für einen neuen Steuerfreibetrag für Gewerkschaftsmitglieder in tarifgebundenen Unternehmen aus. Konkret würde das einem Betrag von 1300 bis 1700 Euro im Jahr entsprechen. Die Forderung ist Konsens im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Bsirske erläuterte den Vorschlag im Rahmen eines besonderen Jubiläums. Dieser Tage begehen Gewerkschaften und Arbeitgeber 100 Jahre Sozialpartnerschaft, die mit dem Stinnes-Legien-Abkommen ihren Anfang nahm.
Der Name geht auf die federführenden Unterzeichner, den Ruhrpott-Industriellen Hugo Stinnes und den Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Carl Legien, zurück, die das Abkommen am 15. November 1918 besiegelten.

Kernpunkte waren der Acht-Stunden-Tag, die Einrichtung von Arbeiterausschüssen (Vorläufer der Betriebsräte) und die Vereinbarung, dass die Arbeitsbedingungen in Kollektivvereinbarungen festgelegt werden. Das regelt heute das seit 1949 geltende Tarifvertragsgesetz. Vor allem sicherte es die Freiheit, sich gewerkschaftlich zusammenzuschließen und zu streiken. Diese Koalitionsfreiheit ist heute ein wichtiges Grundrecht.
100 Jahre später beim Festakt in Berlin: Lob und warme Worte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nennt die Sozialpartnerschaft in dieser Woche einen Stabilitätsanker, mit dem Deutschland gut durch die Wirtschaftskrise gekommen sei. DGB-Chef Reiner Hoffmann mahnt: »Unternehmerischer Erfolg ist undenkbar ohne Beschäftigte, die sich täglich für dieses Ziel einsetzen. Dafür verdienen sie fairen Lohn, gute Arbeitsbedingungen und Respekt.«
Diese »sozialpolitische Erfolgsgeschichte« müsse fortgeschrieben und die Tarifbindung deutlich erhöht werden.
Und Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) postuliert: »Die Unabhängigkeit von staatlichem Einfluss und das verantwortungsvolle Zusammenwirken müssen ein starkes Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands bleiben.«

100 Jahre Erfolgsgeschichte also? Mitnichten, hiesige Arbeitsgerichte haben immer noch mit Kündigungen von Streikenden zu tun; die Tarifbindung sinkt seit Jahren; Unternehmen wie Ryanair, Amazon oder Zalando wehren sich mit Händen und Füßen gegen den Tarifvertrag. Das sieht in vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht besser aus.
Und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten meldete jüngst, dass die öffentliche Hand im vergangenen Jahr Niedriglöhne mit 4,2 Milliarden Euro aufstocken musste – letztlich eine staatliche Lohnsubventionierung.
Ingo Kramer warb in der »FAZ« vorige Woche für eine Neuausrichtung der Tarifpolitik. Es sollten verstärkt »modular aufgebaute Tarifverträge« vereinbart werden: Unternehmer sollten nehmen, was sie für ihren Betrieb als passend erachten; beispielsweise den Entgelttarifvertrag – ohne an den Manteltarifvertrag gebunden zu sein, der die Arbeitsbedingungen regelt. Das könne auch ein Weg gegen den Mitgliederschwund der Verbände sein.
Der Flächentarifvertrag ist den Verbänden lange schon ein Dorn im Auge. Gewerkschaftschef Bsirske hält nichts davon: In vielen Unternehmen, die sich einzelne Bausteine aus Tarifverträgen herauspickten, seien Lohndumping und schlechtere Arbeitsbedingungen zu beobachten.

Nicht nur Unternehmerverbände, auch die Gewerkschaften verlieren seit Jahren Mitglieder. Damit wird es für sie schwerer, Tarifverträge durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einem Steuerfreibetrag für Gewerkschaftsmitglieder zu sehen. Beschäftigte hätten einen Anreiz, sich zu organisieren, Unternehmen einen, Tarifverträge abzuschließen, um mit guten Arbeitsbedingungen um Fachkräfte zu werben.

Bei der BDA findet der Vorstoß dennoch wenig Gegenliebe: »Subventionen für Sozialpartnerschaft lehnen wir ab, die Sozialpartner müssen sich aus sich selbst heraus fort- und weiterentwickeln. Das ständige Rufen nach Staatshilfe wirkt weder selbstbewusst, noch ist es ein Beitrag, irgendeine Herausforderung zu bewältigen«, heißt es auf nd-Anfrage.

Die Diskussion, die sich in der Vergangenheit um derlei Vorschläge entspann, zeigt, wie dehnbar der Begriff der Sozialpartnerschaft ist. Die Unternehmerverbände wollen die Aufweichung des gesetzlichen Acht-Stunden-Tages. Seit Jahren wettern sie gegen den Flächentarifvertrag und rufen nach einer Novellierung des Tarifvertragsgesetzes. Die Gewerkschaften fordern ihrerseits Gesetze, wenn sie es aus eigener Kraft nicht schaffen; so geschehen beim Mindestlohn. Auch damals hatten Unternehmerverbände die Wichtigkeit von Tarifautonomie betont.

Anno 1918 sahen viele Beschäftigte die Sozialpartnerschaft als Erfolg. Sie waren nach Jahrzehnten harter Klassenkämpfe als Verhandlungspartner anerkannt – wohlgemerkt im Rahmen des bestehenden Systems. Die Unternehmer lenkten mit dem Stinnes-Legien-Abkommen ein, um die nach der Novemberrevolution drohende Enteignung und Vergesellschaftung abzuwenden.
Die Kritik von links an der Sozialpartnerschaft war schon damals scharf. Die SPD habe einen »Burgfrieden mit dem Kapital« geschlossen, hieß es.
An den Ausbeutungsverhältnissen im Industriekapitalismus änderte sich grundlegend nichts, sie wurden vielmehr zementiert.
Und wenn es ihnen passt, kündigen Unternehmer die Partnerschaft einseitig auf.

Jochen

April 1998 – Als Gysi vor dem Euro warnte

Auszüge aus der Redaktion des Makroskops: https://makroskop.eu/2018/04/als-gysi-vor-dem-euro-warnte/

In heute geradezu verblüffender Klarheit skizzierte Gregor Gysi am 23. April 1998 im Bundestag, welche Folgen die bevorstehende Euro-Einführung für Europa haben werde. Genau 20 Jahre später wissen wir: Er sollte bis ins Detail Recht behalten.

An manchen Stellen glaubt man, es wäre der 1. Juli 2015 und Gregor Gysi würde seinen Redebeitrag zur Griechenland-Debatte des Bundestages halten. So zutreffend zumindest sind seine Prognosen, als ob er über jene Krise resümieren würde, die seit 2008 die gesamte Eurozone erfasst hat. Doch die Rede stammt vom 23.4.1998 und war Teil eines siebenstündigen Schlagabtausches im Bundestag über die Einführung des Euro als neue europäische Gemeinschaftswährung.

Dort gehörten Gysi und die PDS mit der Ablehnung des Euros, ohne ausreichende politische und wirtschaftliche Integration, zu einer Minderheit. Nur 35 Abgeordnete stimmten gegen das “Jahrhundertereignis” (Kohl), davon waren 27 Angehörige der PDS-Gruppe. Damit wurde gegen den Willen der breiten Bevölkerungsmehrheit der Deutschen votiert. Neun Tage später, am 2. Mai 1998, wurde die Einführung des europäischen Bargeldes auch von den Staats- und Regierungschefs der EG beschlossen.

Doch dass die Minderheit mit ihren Warnungen in vielem Recht behalten sollte, zeigt sich nun im Kontext der nicht enden wollenden Eurokrise. Im Rückblick wird die Währungsunion weitgehend konsensual als Geburtsfehler ausgemacht. So bleibt die Rede Gysis ein hochaktuelles Dokument außerordentlichen politischen Weitblicks.

Der Text im Wortlaut:

Ein Kontinent ist nicht über das Geld zu einen

Dr. Gregor Gysi, Gruppe PDS, am 23.4.1998 im Deutschen Bundestag, zur Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst noch ein Wort an den Abgeordneten Hans-Dietrich Genscher: Sicherlich sind die politischen Unterschiede zwischen uns beiden, aber vor allem auch zwischen der Gruppe der PDS und der Fraktion der F.D.P. und den dahinterstehenden Parteien gewaltig, insbesondere wenn ich an die Wirtschafts- und Finanzpolitik denke. Das ändert aber nichts daran, daß wir diese Gelegenheit Ihrer Abschiedsrede im Bundestag nutzen möchten, um Ihnen unseren Respekt für Ihre Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten sowohl im Bundestag als auch in der Bundesregierung zum Ausdruck zu bringen.

Es war hier viel die Rede von europäischer Integration. Zweifellos ist die Einigung Europas ein großes politisches Ziel. Ich erinnere mich an die Tage, als die Mauer fiel, als die Diskussion um die Herstellung der deutschen Einheit begann und als die bange Frage gestellt wurde: Was wird das nun? Wird das ein deutsches Europa, oder wird es ein europäisches Deutschland? Diese Frage hat damals nicht nur die Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker in diesem Land und in anderen Ländern bewegt, sondern viele Menschen.

Die Frage, die sich bei der heutigen Debatte ergibt, ist meines Erachtens eine andere: Wie kommt man zu einer europäischen Integration? Kommt man tatsächlich zu einer europäischen Integration, indem man ein Europa der Banken schafft? Oder käme man nicht viel eher zu einer europäischen Integration, wenn man über den Weg der Kultur, wenn man über den Weg der Chancengleichheit in den Gesellschaften, wenn man über den Weg der Angleichungsprozesse und das Ziel der sozialen Gerechtigkeit ein solches Europa integriert?

Das ist unsere grundsätzliche Kritik an dem Vorhaben, über das es heute zu beschließen gilt. Man kann einen Kontinent nicht über Geld einen. Das hat in der Geschichte noch niemals funktioniert, und das wird auch hier nicht funktionieren. Sie, Herr Genscher, haben vor allem davor gewarnt, daß es schlimme Folgen hätte, wenn die Europäische Währungsunion scheiterte. Ich behaupte, sie kann auch scheitern, wenn man sie einführt, nämlich dann, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen.

Darüber müßte nachgedacht und, wie ich finde, auch länger diskutiert werden. Ich sage: Im Augenblick wird das ein Europa für erfolgreiche Rüstungs- und Exportkonzerne, für Banken, vielleicht noch für große Versicherungen. Es wird kein Europa für kleine und mittelständische Unternehmen, kein Europa für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, kein Europa für Gewerkschaftsbewegungen und auch kein Europa für die sozial Schwächsten in den Gesellschaften der Teilnehmerländer.

Wie verhält sich denn Deutschland zu diesem wirklichen europäischen Integrationsprozeß? Ist es nicht so, daß es die Union — auch unter Kritik der F.D.P. — vor kurzem abgelehnt hat, auch nur den Kindern von Eltern, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und die noch eine andere Staatsangehörigkeit haben, die deutsche Staatsangehörigkeit zu gewähren?

Wer dazu nein sagt, will doch gar keine Integration, zumindest nicht auf dieser kulturellen, auf dieser menschlichen Ebene, auf die es in diesem Zusammenhang ankäme.

Ich weise darauf hin, daß die Bundesregierung den Euro vehement gefordert und gefördert hat, es aber gleichzeitig abgelehnt hat, die Arbeitslosigkeit europapolitisch anzugehen. Von dem, der die Arbeitslosigkeit nicht europäisch bekämpfen will, behaupte ich, daß dessen Integrationswille nur auf einer Strecke ausgebildet ist, und zwar im Hinblick auf das Geld, aber nicht bezüglich der sozialen Frage, bei der dies wichtig wäre.

Wir alle wissen, daß wir es mit sehr ernstzunehmenden, auch rechtsextremistischen Erscheinungen in unserer Gesellschaft zu tun haben, daß Rassismus zunimmt, daß zum Beispiel in einem Land wie Sachsen-Anhalt das Ansehen rechtsextremistischer Parteien leider zunimmt. Das alles macht uns große Sorgen. Ich sage: Da ist eine richtige, eine die Menschen mitnehmende, an ihre sozialen Interessen anknüpfende europäische Integrationspolitik entscheidend. Wenn man sie unter falschen Voraussetzungen betreibt, dann wird sie der Keim zu einem neuen Nationalismus und damit auch zu steigendem Rassismus sein. Das ist unsere große Sorge, die wir hier formulieren wollen.

Hier ist gesagt worden, daß es in Europa ohne Euro keinen Abbau von Arbeitslosigkeit geben werde. Das verstehe ich überhaupt nicht. Täglich wird uns erzählt, daß in bestimmten europäischen Ländern Arbeitslosigkeit durch verschiedenste Maßnahmen erfolgreich abgebaut wurde, ohne daß es den Euro gab. Ich halte es immer für gefährlich, wenn scheinbar zwingende Zusammenhänge hergestellt werden, die in Wirklichkeit nicht existieren, nur um ein anderes Ziel damit begründen und erreichen zu können.

Im Gegenteil, der Euro birgt auch sehr viele Gefahren für Arbeitsplätze, und es bringt uns gar nichts, auf diese nicht einzugehen. Der Bundeskanzler ist heute mehrmals historisch gewürdigt worden. Ich werde mich an dieser Würdigung zu Ihrem Wohle nicht beteiligen, Herr Bundeskanzler.

Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so sehr in der Vergangenheit definieren lassen. Das birgt ja auch Probleme. Man kann natürlich leicht den Euro einführen, wenn man sagt: Es wird eine andere Regierung sein, die ihn auszubaden hat. Das ist natürlich auch ein Problem, vor dem wir hier stehen.

Ja, unterhalten wir uns über die Voraussetzungen. Fangen wir mit den Demokratiedefiziten an, die es in Europa gibt. So haben zum Beispiel sehr viele Juristen erklärt, ob wir heute im Bundestag ja oder nein zum Euro sagten, ob der Bundesrat morgen ja oder nein zum Euro sagen werde, sei unerheblich. Er werde in jedem Falle kommen, weil dies nämlich längst mit dem Vertrag von Maastricht ratifiziert sei und im Grunde genommen kein Weg daran vorbeiführe.

Am 2. Mai tagt das Europäische Parlament. Hat es in der Frage der Einführung des Euro, in der Frage der Herstellung der Währungsunion etwas zu entscheiden? Es hat nichts zu entscheiden. Es hat nur mitzuberaten. Selbst wenn dort eine große Mehrheit nein sagen würde, würde das an der Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 nichts mehr ändern. Da wird das gesamte Defizit deutlich, das dieser Vertrag in Fragen der Demokratie mit sich bringt.

Wir schaffen eine europäische Währung, haben aber keinen europäischen Gesetzgeber, keine europäische Verfassung, keine garantierten europäischen Rechte und verlagern die Funktionen vom Parlament auf die Exekutive in Brüssel. Das heißt, wir heben die Gewaltenteilung in der Gesellschaft schrittweise auf, damit sich dann die jeweilige Bundesregierung und auch die Regierungen der anderen Länder und deren Parlamente auf Brüssel herausreden und sagen können: Wir können in diesen Fragen gar keine nationale Politik mehr machen, weil uns die Möglichkeiten genommen sind. Aber wir haben eben kein demokratisches europäisches Äquivalent. Das ist ein Hauptmangel der Verträge von Maastricht und Amsterdam.

Ich behaupte, der Euro kann auch spalten; denn er macht die Kluft zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union und jenen, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, nicht kleiner, sondern größer. Der Weg gerade für die osteuropäischen Länder, für die sich Herr Genscher so eingesetzt hat, in die Europäische Union wird dadurch nicht leichter, sondern schwieriger werden. Er unterscheidet innerhalb der Mitgliedsländer der EU zwischen jenen, die an der Währungsunion teilnehmen, und jenen, die daran nicht teilnehmen. Das ist das erste Mal eine ökonomische und finanzpolitische Spaltung zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union.

Er unterscheidet aber auch und stärker die Euro-Länder. Ob Frau Matthäus-Maier, ob die Sprecherin der Grünen, ob CDU/CSU oder F.D.P., alle würdigen am Euro, daß sich die Exportchancen Deutschlands erhöhen würden. Wenn das dann so ist, dann müssen doch andere Produktionsunternehmen in anderen Ländern darunter leiden. Anders ginge es doch gar nicht.

Das heißt, wir wollen den Export Deutschlands erhöhen und damit die Industrie in Portugal, Spanien und anderen Ländern schwächen. Die werden verostdeutscht, weil sie diesem Export nicht standhalten können. Das ist eines der Probleme, das zu einer weiteren Spaltung innerhalb Europas führt. Das zweite ist: Es geht selbst innerhalb der verschiedenen Länder um unterschiedliche Regionen. Es haben doch nur die Regionen etwas davon, die in erster Linie vom Export leben. Was ist denn mit jenen Regionen auch in Deutschland, die kaum exportieren? Sie wissen, daß der Exportanteil der ostdeutschen Wirtschaft fast null ist. Sie hat überhaupt nichts davon. Im Gegenteil, die Binnenmarktstrukturen werden durch Billigprodukte und Billiglöhne systematisch zerstört werden.

Deshalb sage ich: Es ist ein Euro der Banken und der Exportkonzerne, nicht der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind, nicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Wir haben es mit einem weiteren Problem zu tun, nämlich dem, daß der Reichtum in diesem Europa wachsen wird, aber in immer weniger Händen liegen wird. Dafür ist Deutschland ein lebendiges Beispiel. Lassen Sie mich nur eine Zahl nennen. 1990, nach der Herstellung der deutschen Einheit, hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland ein Sparvermögen von etwas über 3 Billionen DM. Das sind 3000 Milliarden DM. Ende 1996 hatten wir ein privates Sparvermögen von 5 Billionen DM, das heißt, von 5000 Milliarden DM.

Im Durchschnitt hat jeder Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland ein Sparguthaben von 135 000 DM. Nun können sich die Bürgerinnen und Bürger einmal ausrechnen, wie weit sie unter diesem Durchschnitt liegen. Dieser Durchschnitt kommt dadurch zustande, daß in 10 Prozent der Haushalte der Reichtum so gewachsen ist.

Da sagt doch der Herr Merz von der CDU/CSU, daß es die größte Katastrophe wäre, wenn nach einem Regierungswechsel die Reformen rückgängig gemacht würden. Was heißt denn das? Wollen Sie ein Europa, einen Euro mit immer mehr Kürzungen des Rentenniveaus? Wollen Sie ein Europa mit immer mehr Zuzahlungen für Kranke bei Medikamenten und bei ärztlichen Behandlungen? Das waren doch Ihre Reformen. Wollen Sie ein Europa, in dem 10 Prozent der Bevölkerung sinnlos immer reicher werden und andere immer mehr draufzahlen müssen? Das ist das Ziel Ihrer Politik. Ich finde, diese Reformen müssen unbedingt rückgängig gemacht werden.

Was hat denn die Vermehrung des privaten Vermögens bei 10 Prozent der Bevölkerung um 2000 Milliarden DM in sechs Jahren — das muß man sich einmal überlegen — der Wirtschaft gebracht? Welche Investitionen sind denn davon getätigt worden? Welche Arbeitsplätze wurden denn geschaffen? Weder im Osten noch im Westen hat es etwas gebracht. Der wachsende Reichtum hat nur zu noch mehr Arbeitslosen geführt. Deshalb ist das der falsche Weg nach Europa.

Mit der Demokratiefrage hängt übrigens auch zusammen, daß Finanz- und Geldpolitik kaum noch möglich sein werden. Die Zuständigkeit hierfür wird an die Europäische Zentralbank abgegeben. Sie wird dadurch anonymisiert. Damit wird erreicht, daß sich die Regierungen herausreden können, indem sie es auf die Bank schieben und erklären können, daß sie keine politischen Spielräume haben, weil die Europäische Zentralbank bestimmte Vorgaben gemacht hat. Wer so eine Politik einleitet, zerstört Demokratie, denn Auswahl haben die Menschen nur in der Politik und nicht bei der Bank. Da haben sie nicht zu entscheiden. Das ist die Realität in dieser Gesellschaft und auch in anderen europäischen Gesellschaften.

Unsere größte Kritik richtet sich aber auf einen anderen Punkt; das ist das Wichtigste: Wer europäische Integration will, muß europäische Angleichungsprozesse einleiten. Dazu würde gehören, die Steuern zu harmonisieren, die Löhne und Preise anzugleichen und auch soziale, ökologische und juristische Standards anzugleichen. Es macht ökonomisch einen großen Unterschied, ob es gegen irgend etwas ein Einspruchsrecht gibt oder nicht. In dem einen Fall ist es nämlich teurer als in dem anderen Fall.

Wenn Sie das alles politisch nicht leisten und statt dessen sagen, wir führen eine Einheitswährung ein, um die Angleichungsprozesse zu erzwingen, dann sagen Sie damit doch nichts anderes, als daß Sie ganz bewußt Lohnwettbewerb, also in Wirklichkeit Lohndumping und Kostendumping, organisieren wollen.

Den größten Vorteil hat immer derjenige mit den niedrigsten Steuern, den niedrigsten Löhnen, den niedrigsten Preisen und den niedrigsten ökologischen, juristischen und sozialen Standards; dieser wird sich durchsetzen. Das führt zu einem Europa des Dumpings, des Abbaus nach unten. Wer so etwas organisiert, der – das behaupte ich -organisiert nicht nur Sozial- und Lohnabbau, sondern er organisiert auch zunehmenden Rassismus. Das mag nicht bewußt geschehen, aber es wird die Folge sein. Heute erleben wir das schon auf den Baustellen in Deutschland und in anderen Ländern.

Deshalb sagen wir: Das ist der falsche Weg. Wir hätten hier einen anderen einschlagen müssen. Erst wenn wir die Angleichungsprozesse politisch gemeistert hätten, hätte man am Schluß der Entwicklung als Krönung eine Einheitswährung einführen können. Wer aber die Angleichung über die Währung erzwingt, der erzwingt eine Angleichung nach unten mit all ihren katastrophalen sozialen Folgen. Alle Fraktionen, die heute zustimmen, haften dann auch für die Folgen, die dadurch eintreten, unabhängig davon, welche Motive sie dabei haben.

Es ist davon gesprochen worden, daß eine Währung Frieden herstellen kann. Ich glaube das nicht. Das gilt nur, wenn die Voraussetzungen dafür stimmen. Nämlich nur dann, wenn es gelingt, Spannungen abzubauen, ist eine Währung friedenssichernd. Wenn aber dadurch neue Spannungen entstehen, kann auch eine gegenteilige Wirkung erzielt werden. Das wissen Sie. Sie wissen, daß die einheitliche Währung in Jugoslawien keinen Krieg verhindert hat. Er war einer der schlimmsten der letzten Jahre.

Lassen Sie mich als letztes sagen: Der Hauptmakel dieser Währungsunion wird bleiben, daß Sie die deutsche Bevölkerung nicht gefragt haben. Sie hätten in dieser entscheidenden Frage einen Volksentscheid durchführen müssen. Dann hätten Sie auch Ihrer Aufklärungspflicht nachkommen müssen. Das widerspricht, Herr Kollege Merz, nicht parlamentarischer Demokratie. Auch Frankreich, Dänemark und Irland sind parlamentarische Demokratien und haben dennoch einen Volksentscheid durchgeführt. Nein, man kann das Volk nicht nur wählen lassen. In wichtigen Sachfragen muß man es auch zu Entscheidungen und zum Mitmachen aufrufen. Anders wird man Integration in Europa nicht erreichen.

Aus der Dreckschleuder der Arbeitgeberpresse: Der Mythos vom verkrusteten Frankreich

Die Redewendung vom „Beseitugen von Verkrustungen“ tauchte in der deutschen Arbeitgeberpresse (FAZ, Welt, WirtschaftsWoche u.s.w.) schon seit dem Lambsdorff-Papier 1982 auf. Eine Schönrednerei des Abbaus sozialer Sicherheit – die Arbeitgeber setzten unter Kohl und später Schröder üble Verschlechterungen der Arbeitnehmerrechte, z.B. beim Kündigungsschutz, durch, Heute dazu in der Neuen Welt:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1055287.der-mythos-vom-verkrusteten-frankreich.html

Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.Für Jörg Goldberg zielt das verzerrte Bild vor allem darauf ab, die Sozialsysteme im Nachbarland zu schleifen

Wenn hierzulande von Frankreich die Rede ist, dann fällt mit Sicherheit das Wort verkrustet – während Deutschland reformfreudig und anpassungsfähig sei, leide Frankreich unter »verkrusteten« politischen Strukturen. Man hat das schon so oft gehört, dass die Absurdität dieser Behauptung kaum noch auffällt: Ein Land, in dem eine einzelne Partei und eine einzelne Person seit 2005 die Regierung bestimmt, das sich gerade auf eine dritte »Große Koalition« unter eben dieser Person einstellt, wirft dem westlichen Nachbarland, das über eine lebhafte politische Kultur verfügt, »Verkrustung« vor.

Für die deutsche und französische Wirtschaftspolitik zentral ist die verbreitete These, Frankreich sei im wirtschaftlichen Niedergang begriffen, der nur dann aufgehalten werden könne, wenn man sich endlich entschließen würde, das deutsche Vorbild – insbesondere die Maßnahmen der Agenda 2010 – zu kopieren. An dieser Darstellung ist – ähnlich wie am Vorwurf der politischen »Verkrustung« – fast alles falsch. Dies gilt zu allererst für die Demografie. Seit Langem hat Frankreich einen deutlichen Geburtenüberschuss – dort werden (pro Frau) durchschnittlich zwei Kinder geboren, in Deutschland sind es etwa 1,4. Infolgedessen ist Frankreichs Bevölkerung jünger: Fast ein Drittel ist unter 25 Jahren, in Deutschland sind es weniger als ein Viertel. Dafür sind bei uns 21,5 Prozent der Menschen älter als 65, in Frankreich weniger als 19 Prozent, obwohl die Lebenserwartung dort zwei Jahre höher ist als in Deutschland. Der Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung ist in Frankreich mit 13,6 Prozent mehr als drei Prozent niedriger als in Deutschland – trotz der deutlich höheren registrierten Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen. Aber es gibt eben in Frankreich auch mehr Jugendliche als in Deutschland.

Ökonomen pflegen sich nur selten für soziale Fragen zu interessieren – für sie sind angeblich »harte« Fakten wie Wachstum, Produktivität und Investitionen wichtiger. Aber auch hier ist das Bild der französischen Wirtschaft anders als behauptet: Zwischen 2000 und 2017 (Prognose) war die französische Wachstumsrate in fünf Jahren deutlich höher als in Deutschland, in fünf Jahren war es umgekehrt. Über die gesamte Periode hinweg sind die beiden Volkswirtschaften gleich stark gewachsen – um 1,3 Prozent jährlich. Auch für 2017 wird für beide Länder eine ähnliche Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP; ca. 1,5 Prozent) erwartet.

Anders sieht es bei den Investitionen aus – angeblich erstickt die (historisch begründete) höhere Staatsquote Frankreichs die Investitionstätigkeit. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anteil der Investitionen am BIP, also die Investitionsquote, ist seit 2002 in Frankreich kontinuierlich höher als in Deutschland. In einzelnen Jahren beträgt die Differenz mehr als drei Prozent. Der Internationale Währungsfonds schätzt die Investitionsquote in Frankreich 2017 auf 20,8 Prozent, für Deutschland auf 19,4 Prozent. Da verwundert es nicht, dass die französische Arbeitsproduktivität nicht nur höher ist als die deutsche, sondern auch rascher zunimmt: Die europäische Statistikbehörde Eurostat gibt an, dass die reale Arbeitsproduktivität je Stunde zwischen 1999 und 2014 in Frankreich von 39 auf 47 Euro gestiegen ist, in Deutschland von 37 auf 42 Euro.

Wie kommt es, dass Deutschland trotzdem seinen Exportüberschuss gegenüber Frankreich steigert – von 16 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 36 Milliarden 2016? Das Geheimnis heißt Lohnstückkosten: Zwischen 1999 und 2014 sind diese in Deutschland um 15 Prozent gestiegen, in Frankreich (trotz höherer Produktivität) um 30 Prozent. Deutschland hat gegenüber Frankreich, geschützt durch den Euro, eine Art Lohndumping betrieben. Darum geht es bei der aktuellen »Reformdiskussion« in und um Frankreich: Sozialsysteme und Arbeitskosten sollen reduziert, Schutzstandards gesenkt werden. Wenn von »Verkrustung« gesprochen wird, ist die (relative) Stabilität des Sozialsystems gemeint.

Angesichts der französischen Geschichte der sozialen Bewegungen ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass sich diese Hoffnungen erfüllen werden – im Gegensatz zur deutschen Situation sind die Konfliktfähigkeit der französischen Arbeiter und Angestellten und ihre Bereitschaft zu spontanen Formen der Konfliktaustragung in Frankreich alles andere als verkrustet.

Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.

Eine progressive Vision nationaler Souveränität für die Europäer ?

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Ein recht ausführlicher und ehrlicher Artikel von Thomas Fazi auf dem Makroskop:
https://makroskop.eu/2017/06/eine-progressive-vision-nationaler-souveraenitaet/
speziell in der Vorbereitung des Linken-Parteitags.
Dem Text fehlt aber noch viel konkretes „Fleisch“, das von alternativ denkenden Oekonomen erarbeitet werden müsste, ebenso die psychologische Begleitung mit der Zielsetzung, daraus auch eine Begeisterungsfähigkeit für diese Vision zu entwickeln, wie sie unter Willy Brandt noch spürbar war und auf deren Mangel u.a. A.Müller ständig hinweist.

Auch ich bin noch in einem inneren Diskussionsprozess, prinzipiell überzeugter Europäer und zerrissen bei der Frage, ob ich mir eine Regierungsbeteiligung der Linken wünschen soll oder lieber eine ausgedünnte Opposizion gegenüber einer neuen GroKo.
Hier Auszüge:

Eine progressive Vision nationaler Souveränität

Von Thomas Fazi

Die Meinung, dass nationale Souveränität mit rechtsgerichtetem Gedankengut einhergeht, hat bei vielen Linken den Status eines Dogmas und verhindert, das Thema als Antrieb für einen progressiven gesellschaftlichen Wandel zu nutzen.

In den letzten 12 Monaten hat eine Bewegung gegen das Establishment den Westen im Sturm erobert. Dazu zählt das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Wahl Donald Trumps in den USA, die Ablehnung Matteo Renzis konstitutioneller Reform in Italien, der wachsende Zuspruch für den Front National in Frankreich und anderer hauptsächlich rechter Parteien in ganz Europa. Auch wenn hinter diesen Phänomenen unterschiedliche Ideologien und Ziele stehen, sind sie alle als Ablehnung der (neo-)liberalen Ordnung zu interpretieren.

Obwohl die unmittelbaren Ursachen dieser Phänomene offensichtlich sind – sinkender Lebensstandard, wachsende soziale Ungleichheit, Angst vor Migranten usw. –, hat die derzeitige Krise viel tiefer gehende Wurzeln, die bis in die 70er Jahre zurückreichen; in die Zeit, als das fordistisch-keynesianische Modell der Nachkriegszeit – welches die Grundlage für ein 30-jähriges wirtschaftliches Wachstum bildete – in eine tiefe strukturelle Krise rutschte.
Damit wurde der Weg für ein grundlegend anderes Sozial- und Wirtschaftsmodell geebnet, das sich durch die folgenden Charakteristika auszeichnet: Handelsliberalisierung und Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, Lohnzurückhaltung, Schwächung der Gewerkschaften, Privatisierung staatlicher Unternehmen und fiskalischer Einsparungen. In einem Wort: Neoliberalismus.

Diese „Gegenrevolution“ wurde durch die regierenden Eliten initiert, um die Macht ihrer Klasse wiederherzustellen, die aufgrund der wachsenden Forderungen organisierter Arbeitnehmer und radikaler sozialer Bewegungen extrem geschwächt wurde [1].
Der Erfolg dieser Gegenrevolution manifestierte sich in einem dramatischen Absinken des Anteils der Gehälter am Nationaleinkommen und somit der Kaufkraft der Arbeiterschaft [2].
Paradoxerweise droht dieser Erfolg das Ziel dieser Politik zunichte zu machen: Die Profitmaximierung. Denn Profite können nur erzielt werden, wenn ausreichend effektive Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen besteht – und dabei spielt die Lohnhöhe eine entscheidende Rolle.

Finanzialisierung

Die Antwort des Kapitalismus auf die Widersprüche des neoliberalen Politikmodells war die Finanzialisierung und der schuldenbasierte Konsum. Haushalte, die mit stagnierenden Löhnen und sinkender Kaufkraft konfrontiert waren, wurden dazu ermutigt, immer mehr Geld zu leihen, um die Differenz zwischen Einkommen und Ausgaben wettzumachen.
Das führte zu einem kolossalen Anstieg privater Schulden, speziell in den USA, aber auch in vielen europäischen Ländern.

Diese Form des „privatisierten Keynesianismus“ war zusätzlicher Treibstoff für die Entwicklung von Kreditblasen, die schließlich 2008 platzen. Sie erlaubte zudem einem winzigen Teil der Weltbevölkerung, immer mehr Vermögen anzuhäufen. Das alles geschah ohne nennenswerten Widerstand der „unteren Klassen“.
Diese waren durch wirkungsvolle neoliberale Diskurse eingeschläfert, die die liberalisierende Dynamik des „freien Marktes“ (vom Garagenerfinder à la Steve Jobs beispielhaft illustriert) gegen den verkrusteten und ineffizienten Staat (vom Papierschieber des Staates beispielhaft illustriert) in Stellung brachten.

Mit der Finanzialisierung war es möglich, die zur Stagnation beitragenden Effekte der neoliberalen Politik der Profitmaximierung vorübergehend hinaus zu schieben, führte aber dazu, dass dieses Akkumulationsregime 2007/2009 in Flammen aufging. Es lodert bis heute, da der Berg an Schulden, der in den vorhergehenden Jahrzehnten angehäuft wurde, krachend von der Decke ins Wohnzimmer fiel und die Weltwirtschaft einzuschmelzen drohte.

Zwar konnten die westlichen Regierungen einen GAU vermeiden und (für gewisse Zeit) die aus der Finanzkrise resultierenden negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen in Grenzen halten, indem sie – mit noch mehr Nachdruck – die Finanzialisierung erneut als Hauptmotor der Wirtschaft einsetzten.
Doch es half nicht, die wirtschaftliche Stagnation in vielen entwickelten Volkswirtschaften zu überwinden.

Der schuldenbasierte Konsum stand jetzt aufgrund der „Liquiditätsfalle“ und dem Schuldenabbau des Privatsektors nach der Krise nicht länger als Quelle autonomer Nachfrage zur Verfügung. Eine angemessene Gesamtnachfrage mittels lohnbasiertem Konsum lässt sich unter der derzeitigen Politik nicht aufrechterhalten – denn wie erwähnt sank die Kaufkraft der Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten. In diesem Sinne sollte die derzeitige Stagnation als Folge der langen Krise gesehen werden, die bereits in den 70er Jahren ihren Anfang nahm.

Indes verschlimmert(e) sich die Situation nach der Krise weiter. Eine Reihe von westlichen Staaten sahen mit der Finanzkrise die Chance, einen noch radikaleren neoliberalen Kurs einzuschlagen.
Politische Maßnahmen wie die fiskalische Austeritätspolitik und Lohndeflation gereichten den Reichen und dem Finanzsektor zum Vorteil – und zum Nachteil aller anderen.

Kapitalisierung von Unzufriedenheit

Inmitten wachsender Unzufriedenheit, sozialer Unruhe und Massenarbeitslosigkeit (in verschiedenen europäischen Ländern), reagierten die politischen Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks mit business-as-usual-Politik und -Diskursen.
Als Folge ist das soziale Verhältnis zwischen Bürgern und Regierungen angespannter als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. In einigen Ländern wurde das Verhältnis bereits zerstört, wie eine Reihe von „Protestwahlen“ in diversen Ländern bezeugen. Der Protest richtete sich dabei, trotz der unterschiedlichen Umstände, unter denen diese Wahlen stattfanden, immer gegen den gleichen „Gegner“: Globalisierung, Neoliberalismus und das politische Establishment, welches die beiden Doktrinen befördert hat.

Viele sehen diese neonationalistische, gegen die Globalisierung und das Establishment gerichtete Revolte als Ankündigung des Endes der (neo-)liberalen Ära und das Einläuten einer neuen globalen Ordnung. Insbesondere Trump hat mit der Ankündigung und Implementierung „protektionistischer Maßnahmen“ Politiker und Kommentatoren weltweit in Alarmbereitschaft versetzt.

Doch ohne den symbolischen und ideologischen Wert dieser Entscheidungen kleinreden zu wollen, war die Globalisierung bereits weit vor der Wahl Trumps in Schwierigkeiten. Seit 2011 wuchs der Welthandel signifikant geringer als das globale BIP. Und mittlerweile sinkt er sogar, obwohl die Weltwirtschaft – wenn auch nur im Schneckentempo – wächst.
Die globalen Finanzströme haben seit dem Höchstwert kurz vor der Krise um 60% abgenommen.

In diesem Sinne sind der Wahlsieg Trumps, der Brexit und der Aufstieg populistischer Parteien „nur Begleiterscheinungen bedeutsamer Verschiebungen in der globalen Volkswirtschaft und internationaler geopolitischer Anpassungen, die seit den 70er Jahren stattfinden“, wie Vassilis K. Fouskas und Bulent Gokay analysieren. Und zwar:

  • die Krise des neoliberalen Wirtschaftsmodells und der neoliberalen Ideologie, die nicht länger in der Lage ist, die immanenten stagnierenden und polarisierenden Tendenzen zu überwinden und gesellschaftlichen Konsens bzw. eine gesellschaftliche Vormachtstellung (in materiellem bzw. ideologischem Sinne) herbeizuführen. Darüber hinaus ziehen selbst die Unterstützer des Neoliberalismus immer weniger Nutzen aus ihm.
  • die Krise der Globalisierung, die nicht länger dem erbarmungslosen Druck der Überakkumulation und Überproduktion entrinnen kann, die vor allem der verstärkten Konkurrenz aus Ländern wie China geschuldet ist (die wiederum mit der eigenen Überakkumulation zu kämpfen hat);
  • die ökologische Krise, d.h. Grenzen hinsichtlich der Energieversorgung und Versorgung mit anderen biophysischen Ressourcen, die den wirtschaftlichen Prozess am Laufen halten und auf dessen Funktionalität Einfluss haben;
  • die Vorherrschaftskrise der USA, die nicht länger in der Lage sind, einseitig die globale neoliberale Ordnung durchzusetzen, weder durch weiche Macht (d.h. durch pro-westliche multilaterale Institutionen wie dem IWF und der Weltbank) wie während der 90er Jahre, noch durch harte Macht (d.h. mit reiner militärische Stärke) wie in den frühen 2000er Jahren – was sich vor allem durch den (bisher) fehlgeschlagenen Versuch des Westens, Assad in Syrien zu stürzen, zeigt. Trumps unnachgiebige Haltung bezüglich Chinas und anderer Überschussländer (wie Deutschland), die er der Währungsmanipulation bezichtigt, und seine Pläne zur „Wiederverstaatlichung“ der US-Wirtschaftspolitik sollten daher im Kontext mit dem sich abzeichnenden Kollaps der neoliberalen Ordnung verstanden werden.

Wovon wir Zeuge werden, ist nicht das Ende der Globalisierung. Sie wird weitergehen, auch wenn sie höchstwahrscheinlich durch verstärkte Spannungsfelder zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des internationalen Kapitals und einer Kombination aus Protektionismus und Internationalisierung gekennzeichnet sein wird. Was wir erleben, ist eher die Geburt einer post-neoliberalen Ordnung.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie diese Ordnung aussehen wird. Bisher liegt keine neue kohärente Ideologie oder kein neues Akkumulationsregime auf der Lauer, um den Neoliberalismus zu ersetzen.

Antonio Gramsci beschrieb organische Krisen, wie die, die wir gerade erleben, treffend als Situationen, in denen „das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann“. „In dieser herrscherlosen Phase“, so Gramsci, ist es nicht selten, dass „eine große Vielfalt an Krankheitssymptomen“ – so wie die, die ich oben geschildert habe – in Erscheinung treten.

Was diese „Krankheitssymptome“ als dominante Reaktion auf den Neoliberalismus und die Globalisierung hervorgerufen hat, ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass die Kräfte des rechten Lagers den Unmut der Massen, die aufgrund des vierzigjährigen neoliberalen Klassenkampfs von Oben entrechtet, an den Rand gedrängt, verarmt und enteignet wurden, viel effektiver als die linken bzw. progressiven Kräfte aufgegriffen haben.

Letztendlich waren sie die einzigen Kräfte, die eine (mehr oder weniger) schlüssige Antwort auf das weitverbreitete – und wachsende – Verlangen nach mehr territorialer und nationaler Souveränität liefern konnten. Denn dies wird zunehmend als der einzige Weg gesehen, um einen gewissen Grad an kollektiver Kontrolle über Politik und Gesellschaft – in Abwesenheit effektiver supranationaler Mechanismen der Repräsentativität – zurückzuerlangen.

Da der Neoliberalismus einen Krieg gegen die nationale Souveränität führt, sollte es nicht verwundern, dass „Souveränität das Grundgerüst zeitgenössischer Politik darstellt“, wie Paolo Gerbaudo anmerkt. Denn letzten Endes war das Aushöhlen der nationalen Souveränität und die Beschneidung gängiger demokratischer Mechanismen – was auch als Entpolitisierung definiert wurde – das essentielle Element des neoliberalen Projekts. Es zielte darauf, makroökonomische Politik von populären Streitfragen abzuschirmen und jegliche Hindernisse, die dem wirtschaftlichen Austausch und den Finanzströmen in den Weg gelegt wurden, zu beseitigen.

Laut Stephen Grills haben Neoliberalismus und Globalisierung somit nicht dazu geführt, dass – wie viele linke Studien behaupten – sich der Staat gegenüber dem Markt zurückgezogen hat. Eher hat er sich umgestaltet, um die Befehlsgewalt über die Wirtschaftspolitik „in die Hände des Kapitals und primär die der finanziellen Interessen“ zu legen.
Aufgrund der schädlichen Effekte der Entpolitisierung ist es nur normal, dass der Aufstand gegen den Neoliberalismus zuallererst in Form von Forderungen nach einer Repolitisierung des nationalen Willensbildungsprozesses erfolgen muss.

Rückgewinnung von nationaler Souveränität

Dass die Vision von nationaler Souveränität, welche im Zentrum der Kampagnen um Trump und den Brexit stand und derzeit den öffentlichen Diskurs dominiert, als reaktionär und quasi-faschistisch bezeichnet werden kann,[3] sollte kein Argument gegen das Konzept der nationalen Souveränität sein.
Die Geschichte zeigt, dass nationale Souveränität und Selbstbestimmung keine reaktionären oder chauvinistischen Konzepte sind. Tatsache ist, dass diese Konzepte den Kämpfen unzähliger Sozialisten und linker Freiheitsbewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts Ziele vorgaben.

Selbst wenn wir unsere Analyse auf die Kernländer des Kapitalismus beschränken, ist es offensichtlich, dass nahezu alle großen sozialen, ökonomischen und politische Fortschritte der letzten Jahrhunderte den Institutionen des demokratischen Nationalstaats zu verdanken sind und nicht den internationalen, multilateralen oder supranationalen Institutionen. In Wirklichkeit werden letztere in einer Vielzahl von Fällen genutzt, um gerade diese Fortschritte rückgängig zu machen.

Am besten lässt sich das im Kontext der Eurokrise beobachten. Supranationale Institutionen (die größtenteils niemandem Rechenschaft schuldig sind) wie die Europäische Kommission, die Eurogruppe und die EZB haben ihre Macht und Autorität genutzt, um einschneidende Austeritätsmaßnahmen gegen in Not geratene Länder zu verhängen. Das Problem, um es kurz zu sagen, ist nicht die nationale Souveränität, sondern der Umstand, dass das Konzept in den letzten Jahren größtenteils von den Rechten und Rechtsextremen für sich in Anspruch genommen wurde. Diese Gruppierungen sehen es als einen Weg, ihre ausländerfeindliche und identitäre Agenda durchzudrücken.

Warum also war es dem Mainstream der Linken nicht möglich, eine alternative, progressive Sicht auf die nationale Souveränität als Antwort auf die neoliberale Globalisierung zu entwickeln?

Die Antwort lautet, dass im Verlauf der letzten dreißig Jahre der Großteil der Linken das falsche Narrativ akzeptiert haben. Nämlich, dass Nationalstaaten im Wesentlichen durch den Neoliberalismus und/oder die Globalisierung überflüssig gemacht worden seien und daher bedeutsame Veränderungen nur auf internationaler/supranationaler Ebene herbeigeführt werden könnten. Übersehen wird, dass diese Entwicklungen hauptsächlich vom Staat selbst herbeigeführt wurden.

Hinzu kommt, dass die meisten Linken mittlerweile den makroökonomischen Mythen Glauben schenken, die das neoliberale Establishment nutzt, um den Staat davon abzuhalten von seiner fiskalischen Kapazität Gebrauch zu machen.
Beispielsweise wurde fraglos die sogenannten Haushaltsbudget-Analogie akzeptiert: Regierungen, die eine eigene Währung ausgeben, sind demnach genauso wie Haushalte in ihrem finanziellen Spielraum beschränkt; fiskalische Defizite führen zu Schulden, die die kommenden Generationen belasten.

Von dieser Analogie wird in der europäischen Debatte erfolgreich Gebrauch gemacht. Trotz der desaströsen Effekte der institutionellen Ausgestaltung der EU und der Währungsunion klammern sich die Mainstream-Linken weiterhin an diese Institutionen.
Sie glauben, dass diese in eine progressive Richtung reformiert werden können – ungeachtet der Faktenlage, die das Gegenteil beweist.
Zudem lehnen sie jegliche Diskussion über eine progressive Agenda auf Grundlage einer wiederhergestellten nationalen Souveränität ab.
Ein „Rückzug auf nationalistisches Terrain“ würde den Kontinent zwangsläufig mit einem Faschismus wie in den 30er Jahren überziehen, so die Überzeugung.

Damit überlässt man das weitläufige politische Schlachtfeld im Kampf gegen den Neoliberalismus dem rechten Lager bzw. den Rechtsextremen. Wenn progressiver Wandel nur auf globaler oder europäischer Ebene herbeigeführt werden könnte, bleibt den Wählern nur die Wahl zwischen reaktionärem Nationalismus und progressiver Globalisierung. Die Linke hätte den Kampf dann bereits verloren.

Das muss aber nicht so sein. Eine progressive, emanzipierte Vision von nationaler Souveränität, die eine ernsthafte Alternative zu den Rechten und den Neoliberalen darstellt, ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Sie basiert auf der Volkssouveränität, der demokratischen Kontrolle über die Wirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung von reich zu arm, Inklusion und gewissermaßen der sozioökologischen Transformation der Produktion und Gesellschaft.

Das alles muss auch nicht auf Kosten der europäischen Kooperation gehen. Ganz im Gegenteil: Die Fakten belegen, dass die schraubstockartige Umklammerung durch die Eurozone die nutzstiftenden Aspekte in Gefahr bringt, die mit der Gründung der Europäischen Union einhergegangen sind.
Demonstriert wurde das unlängst durch die Reaktion Europas auf die Flüchtlingskrise. Diese Umklammerung führt zu einer Verschärfung zwischeneuropäischer Divergenzen und zu weitreichender sozialer Verwüstung. Sie schürt nationale Ressentiments, wie man sie seit der Nachkriegszeit nicht mehr gesehen hat.
Der wahre Wert des Europäischen Projekts besteht in seiner Fähigkeit, multilaterale Kooperationen hinsichtlich von Problemen wie der Immigration, dem Klimawandel, dem Menschenhandel, die einzelne Nationen alleine nicht lösen können, in Gang zu bringen und zu koordinieren.

Wenn man die monetären und fiskalischen Werkzeuge, die man zur Sicherstellung des Wohls der eigenen Bürger benötigt, den nationalen Regierungen wieder zurückgeben würde, wäre diese Art der Kooperation nicht untergraben.
Im Gegenteil: Es würde die Basis für ein erneuertes Europäisches Projekt – und im allgemeineren Sinne für eine neue international(istisch)e Weltordnung – legen, die auf der multilateralen Kooperation zwischen souveränen Staaten basiert.

Der Artikel erschien in englischer Sprache ursprünglich im Green European Journal und wird hier in leicht gekürzter und deutscher Fassung mit Zustimmung des Autors nachgedruckt.

Deutsche Gewerkschaften leugnen Lohndumping und beweihräuchern arbeitnehmerfeindliches Rentenkonzept

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Wer das Theater um den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft mitbekommen hat, beginnt zu begreifen, dass eine Institution vom Kopf her anfängt zu stinken. Die Entartung von sozialdemokratischen Arbeitnehmervertretern zu einer „Arbeiteraristokatie“ wurde schon trefflich von Erich Mühsam um 1920 beschrieben.
Auch hier habe ich dazu gelegentlich Stellung genommen, z.B. https://josopon.wordpress.com/2016/07/12/die-schwache-der-deutschen-gewerkschaften-und-die-schwache-des-euro/

Es kann einen verzweifeln lassen, wie die einstmals vorbildlich für Arbeitnehmerrechte kämpfenden Organisationen sich haben kaufen lassen, angefangen mit der „Neue Heimat“-Affäre. Das hiesige DGB-Ortskartell z.B. hatte der Deutschen Friedensgesellschaft zur 1.Mai-Feier 2016 nicht gestattet, einen Infostand zu machen.
Die Fake-News von Schulz und die Vorgänge um die Wohnungspolitik in Berlin machen auch keine Hoffnung auf Rot-Rot-Grün.
Misstrauisch hätte man schon bei dem erbärmlichen Tarifabschluss von Ver.di werden können – mit 2% pro Jahr ist der Reallohnverlust gesichert.
Hier 2 Kapitel, von Prof. Flassbeck zum Lohndumping und Albrecht Müller zu Nahles‘ Rentenplänen.
Trotzdem empfehle ich auch weiterhin meinen Patienten, die über schlimme Arbeitsbedingungen klagen, in die zuständige Gewerkschaft einzutreten. Denn Veränderungen auch in den Gewerkschaften können nur von unten in Gang gesetzt werden.

 

A: Löhne in Deutschland: Sind die Gewerkschaften zu Lohndumping-Leugnern geworden?

Flasbeck2013https://makroskop.eu/2017/03/loehne-deutschland-sind-die-gewerkschaften-zu-lohndumping-leugnern-geworden/
Auszüge:
Deutsches Lohndumping kann man nicht bestreiten, und selbst einige konservative Kommentatoren beginnen das zu begreifen.
Nun aber drehen die deutschen Gewerkschaften durch, bestreiten, was nicht zu bestreiten ist, und setzen ihre europäischen Kollegen unter Druck.

Kaum hatte der neue amerikanische Präsident seine Vorstellungen vom internationalen Handel und seine Parole von „America first“ in die Welt gesetzt, begann der Neoliberalismus, und insbesondere seine deutsche Variante, die Neoliberalismus mit Merkantilismus verbindet, wild um sich zu schlagen.
Kein Argument war und ist einigen Mainstreammedien zu blöde, um nicht im Kampf gegen diesen schrecklichen Gegner eingesetzt zu werden (ich bin hier schon auf einige eingegangen).

Bei dieser wilden Prügelei sind aber die Fronten schon jetzt ganz schön verschoben worden. Während auf der rechten Seite immer weniger Unbelehrbare das Unbestreitbare verleugnen, sind nun auf der Linken die Leugner und Bestreiter stark gewachsen. Bei einigen deutschen Gewerkschaftlern scheint regelrecht Panik ausgebrochen zu sein, die darin mündet, dass diejenigen, die schon seit einiger Zeit in den Industriegewerkschaften das Sagen haben, nämlich die Betriebsratsvorsitzenden der großen deutschen Automobilunternehmen, nun direkt an die Öffentlichkeit gehen, um den „Freihandel“ und den deutschen Merkantilismus zu verteidigen und jede deutsche Schuld an der Eurokrise zu leugnen (hier).

Zahlen ohne jeden Sinn

Dass der journalistische Mainstream mit Trump in heillose Verwirrung gestürzt worden ist, kann man unmittelbar an der Tatsache ablesen, dass die letzten Bestreiter des Unbestreitbaren sich auf jede Zahl stürzen, die einer der Ihrigen – aus welchen Quellen auch immer – in die Welt gesetzt hat. So schreibt Uwe Jean Heuser in der Zeit (hier) wie viele andere auch, man könne Deutschland Lohndumping nicht mehr vorwerfen, weil es in den vergangenen drei Jahren sechs Prozent Reallohnsteigerung gegeben habe. Das heißt nur überhaupt nichts, weil es gar nicht auf die Reallöhne, sondern auf die Nominallöhne und die Lohnstückkosten ankommt.
Die deutschen Reallöhne sind zudem ja nur wegen des Zufalls gestiegen, dass die Konsumentenpreise für eine Zeit sehr niedrig waren. Außerdem geht es um Lohndumping über mehr als ein Jahrzehnt, da ist der Verweis auf ein paar Jahre ohne Relevanz.

Auch die Zahl von den 25 Prozent niedrigeren Lohnstückkosten in den USA, die – ohne jede Referenz und ohne jede Erklärung – von Nikolaus Piper von der SZ in die Welt gesetzt wurde (siehe den Hinweis unter dem obigen ersten Link), wird sofort begierig aufgegriffen. So schreibt ein gewisser Christian Ortner in einem Gastkommentar der Wiener Zeitung (hier) diese Zahl (wie auch die obigen sechs Prozent von Heuser) einfach ab und wirft all denen, die nicht an diese Zahl glauben vor, „fake news“ zu verbreiten. Das ist in hohem Maße unverschämt, zumal man mit jeder Zeile merkt, dass der Mann überhaupt nichts von dem versteht, was er da schreibt. Schließlich zitiert er die SZ, die „nicht eben als Zentralorgan des Neoliberalismus bekannt“ sei, um zu „beweisen“, dass die These vom deutschen Lohndumping Unsinn sei. Das ist von einer Absurdität, die schon fast wieder lustig ist.

Die meisten Journalisten begreifen nicht, dass sie sich mit solchen Aussagen nur lächerlich machen, weil ihnen, selbst wenn sie nicht ideologisch total verbohrt sind, einfach das Fachwissen fehlt, um solche Zusammenhänge beurteilen zu können.
Noch einmal: Lohnstückkosten sind eine Art Lohnquote (nominales Bruttoeinkommen der Beschäftigten durch reales BIP der Erwerbstätigen zumeist). Diese Quote ist absolut gesehen, also zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen zwei Ländern, ebenso wenig zu interpretieren wie eine normale Lohnquote, die (auf der Basis der realen Einkommen der Beschäftigten) die Verteilung des Einkommens zwischen Arbeit und Kapital misst.

Hinzu kommt, dass bei allen absoluten Vergleichen von Löhnen oder beim Vergleich einer solchen Quote Zähler und Nenner immer in eine einheitliche Währung umgerechnet werden müssen. Das bedeutet, dass man Verzerrungen durch Währungsrelationen in den Vergleichen hat, die es nicht zulassen, aus absoluten Differenzen einfach Schlussfolgerungen zu ziehen.
Erst wenn man Veränderungen solcher Größen über längere Zeiträume betrachtet und die Rolle der Währungsrelationen (bzw. deren Veränderung) hinzunimmt (wie etwa hier geschehen), kann man ernstzunehmende Schlussfolgerungen ableiten.

Ein offenbar nicht auszurottendes Argument betrifft die Qualität der Produkte, von der auch die Automobilbetriebsräte (siehe das Zitat weiter unten) glauben, sie sei ein eigenständiges Argument gegen Lohndumping. Das ist, wie wir schon oft gezeigt haben (hier z. B. in aller Ausführlichkeit) kompletter Unsinn.
In jeder halbwegs funktionierenden Marktwirtschaft hat jedes Produkt den Preis, der seiner Qualität entspricht. Qualitätsmäßig hochwertige Produkte sind teurer als Produkte von geringerer Qualität. Wenn ein hochwertiges Produkt gegenüber einem billigen Produkt dadurch günstiger wird, dass die Löhne bei seiner Produktion weniger steigen, wird der Preis künstlich gedrückt und entspricht nicht mehr der Relation der unterschiedlichen Qualitäten.
Folglich wird das bessere Produkt vermehrt gekauft, selbst wenn es absolut noch teurer sein sollte.

Aber Sinn macht jetzt Sinn

Aber neben den sturen Leugnern gibt es auch in konservativen Kreisen Bewegung. In einem Interview mit Roland Tichy etwa hat Hans-Werner Sinn sehr klar auf die deutsche Unterbewertung in der Währungsunion hingewiesen, was von Tichy so beschrieben wird (hier zu finden):

«Navarro (das ist der amerikanische Handelsbeauftragte, HF) trifft einen wunden Punkt. 2016 hat die Bundesrepublik nach vorläufigen Zahlen für 310 Milliarden Dollar mehr Waren und Dienstleistungen aus- als eingeführt. Auch der Vorwurf der Währungsmanipulation ist nicht aus der Luft gegriffen: „Deutschland ist im Euro unterbewertet, und der Euro selbst ist unterbewertet. Das macht deutsche Produkte im Ausland extrem billig“, sagt der langjährige Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn: Um jeweils 20 Prozent im Verhältnis zum Dollar und innerhalb Europas sei Deutschland zu billig. Der Euro als Einheitswährung überdeckt die unterschiedliche Leistungsfähigkeit: unterschiedlich hohe Lohnniveaus, unterschiedliche Produktivität und Infrastruktur. Gemessen daran müssten Länder wie Griechenland und Italien abwerten, die Deutschen aufwerten. Weil dies im Euroraum nicht geschieht, panzern deutsche Exporteure ihre europäische Konkurrenz nieder. Selbst brutalstmögliche Lohnsenkungen in diesen Ländern würden der Wirtschaft nicht mehr aufhelfen – so schnell kann man Fabriken nicht aufbauen, wie sie mit dem Eurosprengstoff weggeschossen werden.»

Das ist beachtlich, weil sich hier ein sehr konservativer Journalist von einem konservativen Ökonomen erklären lässt, was wir seit vielen Jahren sagen und was unter vernünftigen Menschen unbestreitbar ist: Deutschland ist derzeit zweifach unterbewertet und das ist der Kern der Eurokrise.

Gewerkschaften im Panikmodus

Genau an der Stelle fragt man sich, was deutsche Betriebsräte reitet, die nun, wo selbst konservative Kreise die zu niedrigen Löhne in Deutschland nicht mehr bestreiten, die Tatsache der Unterbewertung glatt leugnen. In dem Aufruf, auf den oben hingewiesen wurde, heißt es:

«Den Vorwurf unlauterer Wettbewerbsbedingungen weisen wir entschieden zurück. Als Arbeitnehmervertreter haben wir entscheidenden Anteil daran, dass die Absatz- und Exporterfolge der deutschen Automobilindustrie nichts mit Lohn- und Sozialdumping zu tun haben: Starke Gewerkschaften und Betriebsräte, eine hohe Tarifbindung, die gute und sichere Einkommen sicherstellt, sowie ausgeprägte Schutz- und Mitbestimmungsrechte für die Beschäftigten bilden das Fundament der deutschen Automobilindustrie. Auf dieser Grundlage bestehen die deutschen Automobilbauer mit hochwertigen Produkten im internationalen Qualitätswettbewerb.»

Und man fragt sich, ob es in der IG-Metall niemanden mehr gibt, der den Anführern für eine solche Aktion in den Arm fällt und dafür sorgt, dass auch Betriebsräte in den Genuss einer minimalen volkswirtschaftlichen Weiterbildung kommen. Dort würde man nämlich schon ganz zu Anfang lernen, dass es in einer Marktwirtschaft überhaupt niemals einen Qualitätswettbewerb ohne Preiswettbewerb gibt (siehe die obige Erklärung).

Fast noch schlimmer aber sind gewerkschaftliche Querschüsse aus Brüssel. In einem Beitrag für „Social Europe“ schreibt ein Mitarbeiter des Gewerkschaftsinstituts ETUI (hier) im Rahmen der pay rise Kampagne (wir haben dazu hier berichtet), Lohnstückkosten hätten nichts mit Wettbewerbsfähigkeit zu tun und man müsse jetzt dafür sorgen, dass es eine schnellere Konvergenz zwischen den Niedriglohnländern und den Hochlohnländern dadurch gebe, dass in ersteren die Löhne schneller und nicht in Abhängigkeit von der Produktivität steigen.
Steigende Lohnstückkosten, sagt er und bringt dafür ein Länder-Beispiel, könnten durchaus mit steigenden Exporten einhergehen. Das wird alles ausgeführt, ohne Deutschlands Lohndumping im ersten Jahrzehnt der Währungsunion auch nur zu erwähnen.

Machen wir uns nichts vor. Die Brüsseler Gewerkschaftler stehen offenbar unter mächtigem Druck der deutschen Kollegen, nicht über Lohndumping zu sprechen.
Die deutschen Gewerkschaften sind offensichtlich fest entschlossen, genau das Falsche zu tun, nämlich deutsches Lohndumping zu leugnen, um von ihren eigenen Fehlern aus der Agenda-Zeit abzulenken und um die deutsche Exportposition zu verteidigen.

Was die deutschen Gewerkschaftler nicht begreifen, ist die einfache Regel, dass ein Gewerkschaftler, der gegen jede Vernunft argumentiert, viel unglaubwürdiger und angreifbarer ist als ein Journalist, der unangenehme Dinge verschweigt. Während sich ein Journalist auf den Druck der Verhältnisse und seine Abhängigkeit berufen kann, können die Spitzen der Gewerkschaften genau das nicht, ohne sich selbst aufzugeben.
Wer seinen Kollegen die deutsche Wahrheit des Lohndumping vorenthält, um es einmal milde zu sagen, zeigt damit nämlich, dass er die ganz kurzsichtigen Interessen der Unternehmen vertritt.
Gewerkschaftler als Unternehmensvertreter aber sind ein Widerspruch in sich und werden scheitern, weil die Arbeiter über kurz oder lang und zu Recht fragen werden, wofür sie ihre Beiträge bezahlen.

 

B. DGB-Rentenkampagnenbeschluss – Eine wirkliche Enttäuschung. Unterstützung für Nahles, die Arbeitgeberseite und die Versicherungswirtschaft

http://www.nachdenkseiten.de/?p=37323

a mueller k

Aus DGB-Kreisen erhielten wir den Beschluss des Bundesvorstandes des DGB zur Rentenkampagne von Ende Februar. Die PDF Datei ist unten angehängt. Der Beschluss enttäuscht rundum. Albrecht Müller.

Die Kernpunkte werden vom DGB so zusammengefasst:

  • Ohne gesetzlichen Eingriff sinkt das Rentenniveau von heute 48 Prozent bis 2045 auf unter 42 Prozent. Der DGB fordert eine Stabilisierung des Rentenniveaus auf dem heutigen Stand von 48 Prozent und im weiteren Schritt die Anhebung, etwa auf 50 Prozent.
  • Die individuelle Versorgung soll durch eine tarifvertraglich vereinbarte und vom Arbeitgeber mitfinanzierte Betriebsrente zusätzlich verbessert werden.
  • Wir wollen den Solidarausgleich stärken. Dazu gehört auch die Rente wegen Erwerbsminderung zu verbessern, indem wir die Abschläge von regelmäßig knapp 11 Prozent abschaffen.
  • Dies ist erreichbar über eine Stärkung der Basis an Beitragszahlern inkl. Ausweitung des Schutzes der Rentenversicherung auf Selbstständige, mehr Steuermittel und einem voraussichtlichen Beitragssatz in den 2040er Jahren von bis zu 25 Prozent
  • Notwendigerweise muss dieses begleitet werden von entsprechenden Maßnahmen am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaftspolitik und der Wiederherstellung der Beitragsparität in der gesetzlichen Krankenversicherung.

So weit, so unbefriedigend!

Denn: das ist fast 1:1 das vorliegende, nicht akzeptable Konzept der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles. Lediglich verziert mit ein wenig „Kosmetik“ bei der (höheren) Forderung nach dem künftigen Rentenniveau und der Forderung, die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrentnern abzuschaffen.
Der Gesetzentwurf des BMAS sieht hier nur eine höhere Zurechnungszeit vor. Von abschlagsfreien Erwerbsminderungsrenten ist dort nichts zu lesen.

Der DGB nennt seine Ideen zur Rentenpolitik „zukunftsgerichtet“. Die vom DGB beschriebene Zukunft kann in groben Zügen so zusammengefasst werden:

  • Das Drei-Säulen-Modell ist (angeblich) nicht gescheitert. Im Gegenteil: es wird mit stärkerer Förderung der Riesterrente und der Stärkung der Betriebsrenten noch weiter ausgebaut. Ganz nebenbei wird zwar die Stärkung der ersten Säule, der gesetzlichen Rentenversicherung, auch gefordert. Das ist aber unehrlich, denn eine Anhebung auf 50 % reicht bei Weitem nicht aus, die durch die von der Regierung Schröder erfolgten massiven Einschnitte auch nur annähernd wieder auszugleichen. Außerdem wird durch die nachgelagerte Rentenbesteuerung Vieles davon wieder „aufgefressen“
  • Die Riester-Rente, in jüngster Zeit von Vielen zu Recht für gescheitert erklärt, soll laut Gesetzentwurf des BMAS weiter gefördert werden. Einen Aufschrei des DGB gegen diese unsinnige und lediglich weiter die private Versicherungswirtschaft stützende Maßnahme sucht man vergebens.
  • Die betriebliche Altersversorgung, die dann ihren Namen verdienen würde, wenn sich die Arbeitgeber zwingend daran beteiligen müssten, ist ein Modell, das ebenfalls der privaten Versicherungswirtschaft zusätzliche Einnahmequellen verschafft. Gleichzeitig wird durch die Beitragsfreiheit der Beiträge aus Entgeltumwandlung die Rente des Arbeitnehmers geringer und der Arbeitgeber kann seinerseits Abgaben sparen. Zwei Beteiligte gewinnen, Einer verliert.

Der DGB blendet offensichtlich die Lebenswirklichkeit vieler Versicherter und Rentnerinnen und Rentner aus. Oder wie ist es sonst zu verstehen, dass die Weiterführung der Riesterrente mit noch mehr staatlichen Zuschüssen nicht kritisiert wird?
Wie ist es sonst zu verstehen, dass das Betriebsrentenstärkungsgesetz mit der Entgeltumwandlung als Kernelement und sehr „übersichtlicher“, aber dennoch steuerbegünstigter Arbeitgeberbeteiligung nicht kritisiert wird? Auf die Fallstricke der geplanten Regelungen haben wir auf den Nachdenkseiten schon hingewiesen.
Der DGB nennt das „vom Arbeitgeber mitfinanzierte Betriebsrenten“. Das ist ein netter, aber durchsichtiger Beschönigungsversuch. Weshalb wird kein Rentenniveau jenseits der 50 % gefordert?

Auf Seite 9 des DGB-Konzepts angelangt, fragt sich der einigermaßen kundige Leser, ob es sich vielleicht um Satire handeln könnte. Dort wird doch tatsächlich eine Prognos-Studie als Zeugin bemüht:

„Die Modellrechnungen von PROGNOS sind in unserem Sinne also nicht schön gerechnet, sondern folgen einem eher neo-klassischen inspirierten Wirtschaftsmodell. Insoweit können wir die Ergebnisse nach Außen durchaus als entsprechend solide vertreten. Zumal PROGNOS auch von GDV, INSM u.a. beauftragt wird, die Ergebnisse also nicht angreifbar sind.“

PROGNOS? Waren das nicht die, die zusammen mit Bert Rürup den Paradigmenwechsel mit eingeläutet und damit der Versicherungswirtschaft sprudelnde Einnahmequellen beschert haben? Sie erinnern sich?:

Sicher wäre es billiger gewesen, wenn sich der DGB die Prognos-Untersuchungen direkt beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft oder der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft besorgt hätte.

Vernünftiger wäre es gewesen, sich aus den eigenen Reihen zu bedienen. Im gewerkschaftlichen Debattenportal des DGB „Gegenblende“ ist ein Artikel über das österreichische Rentensystem erschienen und warum dieses ein Vorbild für Deutschland sein könnte. In der Tat wäre das ein Modell, das nicht nur Kosmetik wäre.
Warum sich der DGB auf diese Diskussion nicht ernsthaft und mit Konsequenz einlässt, ist nicht nachzuvollziehen.

Wenn es bei diesem „Papier“ bleibt, ist die von den Gewerkschaften und vom DGB großartig angekündigte Rentenkampagne als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Für die Versicherten und die RentnerInnen ist das nicht der Durchbruch, der dringend notwendig wäre, um auch im Alter ein menschenwürdiges Leben führen zu können.
Die Profiteure dieser „zukunftsgerichteten“ Rentenpolitik sitzen dann weiterhin anderswo.

Anhang:

Anmerkung: Nicht nur der jetzt in die Kritik geratene Vorsitzende der Polizeigewerkschaft kassiert für Aufsichtsratsmandate in einer Versicherungsgesellschaft schöne Aufwandsentschädigungen von etlichen hunderttausend Euro.

Jochen

Hartz IV: Jobcenter-Mitarbeiterin rebelliert gegen menschenverachtende Anweisungen und verliert den Prozess

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

Es ist eine Schande, die Hartz-4-Diktatur !

Hannemann

Die Hartz IV Diktatur

Es gibt nur eine Partei, die diese ernsthaft abschaffen will.
Man hätte sich wünschen mögen, solche Schreibtischtäter wären seit 1945 nicht mehr in deutschen Amtsstuben zur Aktion gekommen.
Aber, wie Frau Hannemann es geschildert hat, der Fisch stinkt vom Kopfe her ! Sie betreibt nach wie vor den Blog

https://altonabloggt.com/

Hier auszugsweise ein neues beschämendes Beispiel:
http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/hartz-iv-jobcenter-mitarbeiterin-rebelliert.php

Hartz IV Jobcenter-Mitarbeiterin von Gericht abgewiesen

12.01.2017

Eine Fallmanagerin des Jobcenters in Osterholz-Scharmbeck wehrte sich dagegen, menschenfeindliche Praktiken zu vollstrecken.
Jetzt kündigte sie ihre Stelle, ist selbst erwerbslos und muss zudem die Gerichtskosten für ihre Klage gegen die Unmenschlichkeit bezahlen.
Die Frau verklagte ihren Arbeitgeber, das Jobcenter, weil dieser sie dazu zwänge, Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose zu verhängen.
Die Behörde hatte zuvor Eingliederungsvereinbarungen in Serie an Hartz-IV-Empfänger verschickt, ohne zuvor den Einzelfall zu prüfen.

Die Hartz-IV-Abhängigen sollten pauschal mindestens fünf Bewerbungen pro Monat schreiben, ein Praktikum absolvieren und Kinderbetreuung organisieren.
Es fand nicht nur keine Prüfung im Einzelfall statt, zu den Empfängern gehörten auch Kranke und Menschen mit Migrationshintergrund, die die Vereinbarung nicht lesen konnten.

Außerdem sollten die Betroffenen eine Lüge unterschreiben, nämlich dass vorher ein Beratungsgespräch stattgefunden hätte, was nicht der Fall war. Individuelle Vereinbarungen gab es nur, wenn jemand widersprach.

Sanktionen bei „Verstoß“

Die Klägerin hätte gegen die Hartz-Abhängigen Sanktionen verhängen müssen, wenn diese gegen die Auflagen verstoßen hätten – also ihnen das Geld kürzen.
Sie hielt das für rechtswidrig und gegen die Würde des Menschen, klagte vor dem Arbeitsgericht in Verden.

Das Gericht wies die Klage in erster Instanz ab, mit der Begründung, das Projekt sei jetzt beendet, und sie müsse daher die Sanktionen, um die es in der Klage ging, nicht mehr verhängen.

Die Mitarbeiterin des Jobcenters hält dieses Urteil für falsch, denn wenn Hartz-IV-Abhängige während des Projekts Mittel gestrichen worden seien, hätten sie bei einem weiteren „Verstoß“ höhere Kürzungen in Höhe von 60 % zu befürchten. Als Fallmanagerin hätte sie dann als Folge der standardisierten „Vereinbarung“ höhere Sanktionen verhängen müssen.

Erneute Klage scheitert an Geld

Die jetzt Arbeitslose wäre gerne in Berufung gegangen, vor allem, um diese Praktiken von Jobcentern allgemein juristisch als rechtswidrig anzuerkennen.
Sie hat dafür aber kein Geld. Als Verliererin des Verfahrens muss sie circa 3000 Euro abbezahlen, was ihr bereits sehr schwer fällt.

Sie kündigte, damit sie die menschenunwürdigen Sanktionen nicht umsetzen muss. Zudem stand sie an ihrem Arbeitsplatz wegen ihrem Widerstand unter verschärfter Überwachung ihrer Vorgesetzten.

Sie sagt: „Kein Geld der Welt und auch kein unbefristeter Vertrag darf es wert sein, seine Moral und seinen Verstand morgens an der Tür abzugeben.“

Reform innerhalb des Systems?

So merkwürdig es Menschen erscheint, die den Demütigungen, dem Druck und ihrer Rechtlosigkeit im Hartz-IV-System ausgesetzt sind: Auch unter den Mitarbeitern der Jobcenter gibt es manche, die sich ein soziales Gewissen bewahrt haben.

Das Scheitern der Fallmanagerin zeigt aber, wie schwierig es ist, innerhalb eines unmenschlichen Systems Menschlichkeit einzufordern. Nicht nur Hartz-IV-Abhängige, sondern auch ethisch vorbildiche Mitarbeiter der Jobcenter spüren den Terror des Systems ungeschminkt, wenn sie sich zur Wehr setzen.

Solidarität statt Resignation

Der Schritt, gegen eine bestimmte Praxis innerhalb dieses Unterdrückungssystems für die Ärmsten der Armen vor Gericht zu ziehen, ist lobenswert.
Zwar gilt es, das Hartz-IV-System in Gänze durch eine menschenwürdige Unterstützung für Erwerbslose zu ersetzen, doch hilft das den Entrechteten im Hier und Jetzt wenig. Deshalb gilt es zumindest, den schlimmsten Drangsalierungen etwas entgegen zu setzen.

Das hat die Fallmanagerin aus Osterholz-Scharmbeck getan. Ihr Widerstand wurde vom Jobcenter und Arbeitsgericht zermahlen. Das hinterlässt leider die bittere Botschaft: Versucht gar nicht erst, Kritik zu üben.

Statt jetzt aber den Kopf einzuziehen, gebührt der mutigen Frau, die den Kampf gegen die Unterdrückung aufnahm, Solidarität. (Dr. Utz Anhalt)

Diese Zivilcourage braucht Unterstützung ! Wir sollten für die Prozesskosten sammeln !

Dazu noch Auszüge aus einem Kommentar hier von dem ehemaligen Vorsitzenden der Linken, MdB Klaus Ernst: http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/hartz-iv-wenn-die-wuerde-nichts-wert-ist-90016377.php

Heute sind Hinweise aufgetaucht, dass Tony Blair unter dem Einfluss US-amerikanischer Geheimdienste stand. Bei Schröder besorgten das Carsten Maschmeyer und dessen Freunde.

„Wenn Würde nichts mehr wert ist“

Anleitung zum Schleifen des Sozialstaats

Die ganze Agenda 2010 und mit ihr die Hartz-IV-Gesetze folgten einem Masterplan: dem Schröder-Blair-Papier, das Gerhard Schröder und Tony Blair am 8. Juni 1999, wenige Tage vor der damaligen Europawahl, gemeinsam veröffentlichten. Das Papier trägt den euphemistischen Namen „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ und war nichts weniger als eine Anleitung zum Schleifen des Sozialstaats. Die Sozialdemokraten setzten den Sozialabbau brutaler fort als es Kohl je gewagt hätte: Die Rente wurde mit der Riester-Rente teilprivatisiert. Praxisgebühren für Arztbesuche wurden eingeführt. Für Kapitalgesellschaften wurde die Körperschaftssteuer gesenkt, Veräußerungsgewinne für Unternehmen steuerfrei gestellt. Der Spitzensteuersatz wurde von 52 Prozent auf 43 Prozent gesenkt, was für eine Person mit einem Einkommen von 1 Million Euro ein Steuergeschenk von etwa 100.000 Euro bedeutet.

Gewerkschaften zwischen Schockstarre und Aufbegehren

Wir Gewerkschafter der IG Metall in Schweinfurt haben wie schon zu Kohls Regierungszeit versucht, massiv Widerstand zu leisten – bis hin zu Arbeitsniederlegungen gegen die Riesterrente. Doch viele in den großen Gewerkschaften waren paralysiert, betrachteten sie doch die Regierung Schröder als die ihre, welche sie selbst im Wahlkampf unterstützt hatten.

Unerträgliche Entwertung der Arbeit

Als Schröder 2003 seine Agenda verkündete und den Arbeitsmarkt weitgehend deregulierte durch Entgrenzung von Leiharbeit und befristeter Beschäftigung, war Hartz IV ein weiterer Schritt zu dem Ziel, das eigentlich im Zentrum stand: einem drastischen Absenken der Löhne. Mit der Einführung von Hartz-IV ging es nun darum, die Versorgung von Menschen ohne Arbeit, die nicht mehr im AGL I Bezug waren, auf das absolute Minimum zu drücken. Sie sollten gezwungen sein, Arbeit aller Art anzunehmen, egal bei welcher Qualifikation und welcher Bezahlung. Die Einführung der Ein-Euro-Jobs bedeutete eine unerträgliche Entwertung der Arbeit. Die Regelung der Bedarfsgemeinschaft bedeutete, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, obwohl sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, ohne jegliche Unterstützung blieben, wenn ein Familienmitglied noch über eine bestimmte Einkommensgrenze verdiente. Die Angst, arbeitslos zu werden und in dieses System zu fallen, war selbst bei in Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so groß, dass viele bereit waren, unterhalb der tariflichen Bestimmungen zu arbeiten.

Größter Niedriglohnsektor Europas

Zehn Jahre nach der Einführung von Hartz IV ist Deutschland ein Billiglohnland mit einem der größten Niedriglohnsektoren Europas. Die Löhne in Deutschland stagnierten seit dem Jahr 2000 inflationsbereinigt nicht nur, sondern sie sanken. Jede fünfte Arbeitsstelle ist heute prekär. Rentnerinnen und Rentner haben in den letzten zwölf Jahren rund ein Drittel ihre Kaufkraft verloren. Nur bei den Unternehmern und Kapitaleignern knallen die Champagnerkorken: Trotz der Finanzkrise sind die Gewinn- und Unternehmenseinkommen seit 2000 real um 24 Prozent gestiegen.

Widerstand leisten

Warum musste das so kommen? Hätte diese Entwicklung nicht verhindert werden können? Mehrere Initiativen mit dem Versuch, die SPD zu einem Umdenken zu bewegen, scheiterten. Nach dem Ausschluss vieler Mitstreiter und mir aus der SPD und angesichts der zögerlichen Haltung der Gewerkschaften war bald klar, dass letztendlich nur der Schritt blieb, eine neue Partei zu gründen. Nur eine Partei, die auch im Westen und in der organisierten Arbeitnehmerschaft verankert ist, würde in der Lage sein, gegen die Agenda-Reformen Widerstand zu leisten. Es war die Geburtsstunde der WASG, die ihr Hauptanliegen im Namen trug: Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Der Zusammenschluss mit der Linkspartei.PDS stellte den Widerstand auf eine gesamtdeutsche Basis.

Demokratisches und soziales Korrektiv in Deutschland

Und dieser Widerstand bleibt weiter nötig, unsere Kritik an der Agenda-Politik von Schröder nach wie vor richtig. Es ist unglaublich, das sich Sozialdemokraten und Grüne bis heute für die Agenda 2010, die selbst vom Verfassungsgericht korrigiert werden musste, noch immer auf die Schulter klopfen. Die Gewerkschaften wurden massiv geschwächt und damit, von Deutschland ausgehend, ein europaweites Lohndumping eingeleitet. Hartz IV hat die SPD zu einer neoliberalen Partei gemacht, in der Folge hat sie ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Die LINKE ist heute das demokratische und soziale Korrektiv in Deutschland. Auch wenn das Hartz-IV-System nach wie vor besteht: Ohne den Kampf der LINKEN und der Gewerkschaften gäbe es nicht mal den – wenn auch deutlich zu niedrigen – Mindestlohn von 8,50 Euro, der die Rutschbahn der Löhne zumindest ein wenig stoppt. Doch es bleibt noch viel, für das wir streiten müssen. Der Preis der Arbeit ist das eine. Der Wert der Würde das andere.

Deshalb bleibt es dabei: Hartz IV muss weg! Wir brauchen eine bedarfsdeckende sanktionsfreie Mindestsicherung.

 

Jochen

Präsidentschaftskandidat Christoph Butterwegge zum Abbau des Sozialstaats, vermehrter Armut sowie zur Verelendung per Gesetz

Jochens SOZIALPOLITISCHE NACHRICHTEN

butterwegge2016

Prof. Butterwegge hatte sich schon hier vorgestellt: https://josopon.wordpress.com/2016/11/29/christoph-butterwegge-wir-brauchen-einen-solidarischen-ruck/ und http://www.neues-deutschland.de/artikel/956691.vom-sozial-zum-suppenkuechenstaat.html

Zwei aktuelle Beiträge aus der jungen Welt:

A.Schatten des Reichtums

https://www.jungewelt.de/2016/12-12/055.php

Christoph Butterwegge benennt die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse als Ursache

Von Jana Werner
Der Winter und mit ihm die Weihnachtszeit nähern sich. Und damit auch die Zeit des Mitleids und karitativen Engagements.
Kaum ein »Leistungsträger« wird sich die Chance entgehen lassen, sich medial dabei in Szene zu setzen, wie er in einer Suppenküche Essen oder Schokoladenweihnachtsmänner an arme Kinder verteilt.

Die strukturellen Ursachen von Armut in den Blick zu nehmen, »Hintergründe zu erhellen und Zusammenhänge herzustellen«, ist hingegen das Anliegen des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge. In seinem Buch »Armut«, das 2016 in der Reihe »Basiswissen« des PapyRossa-Verlags erschienen ist, geht er den Fragen nach, warum wenige reich und viele immer ärmer werden, wie und warum die Bundesregierung den Reichtum fördert und warum Arme nur dann als arm und bedürftig gelten, wenn sie Mangel an lebensnotwendigen Gütern leiden.

Butterwegge konstatiert, dass in reichen Gesellschaften wie Deutschland Armut »vorwiegend systemisch, d. h. durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt« sei. Obwohl auch in Deutschland bereits bis zu 800.000 Personen, zumeist Obdachlose, Drogenabhängige, Illegalisierte, von »absoluter Armut« betroffen seien, und diese Zahl zukünftig durchaus ansteigen könne, herrsche aber noch weitestgehend »relative Armut« vor.

Dass es sich dabei um Armut handele, sei allerdings keineswegs gesellschaftlicher Konsens, denn nach wie vor gelte Eliten und Meinungsführern hierzulande nur derjenige als arm, der Lumpen trage und trockenes Brot esse. Dabei käme im Umkehrschluss wohl keiner mehr auf die Idee, Reichtum am Besitz von Pferden, Kutschen, Brokat o. ä. zu messen.
»Armut und Reichtum sind aber zwei Seiten einer Medaille.« Darum könne man sie nicht »unabhängig voneinander, d. h. losgelöst von Raum und Zeit bestimmen«, sondern müsse »das Wohlstandsniveau der jeweiligen Gesellschaft als Vergleichsmaßstab berücksichtigen.«
Soziale Ausgrenzung infolge fehlender Mittel zu kultureller, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, sei daher in einem reichen Land wie Deutschland als »relative Armut« zu qualifizieren und als solche auch zu bekämpfen, denn mit 1,26 Euro pro Monat im Sozialhilfe– bzw. ALG II-Satz sind z. B. Kino- und Theaterbesuche nicht möglich.

Die soziale Ungleichheit nehme kontinuierlich zu, da alle Regierungskoalitionen der vergangenen vier Jahrzehnte im wesentlichen Politik nach dem Matthäus-Prinzip machten:
»Wer hat, dem wird gegeben«, was besonders gut bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer illustriert werde und im Ergebnis dazu geführt habe, dass während »die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fast 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen, die ärmere Hälfte nur auf ein Prozent kam.«
Fast 40 Millionen Menschen hierzulande lebten dauerhaft von der Hand in den Mund – nur eine Krankheit, Kündigung oder einen Schicksalsschlag von der Armut entfernt.
Dabei sei durchaus Geld da, befinde sich nur in der falschen Tasche: das private Nettovermögen habe sich zwischen 2006 und 2011 um 1,5 Billionen auf stolze zehn Billionen erhöht.

Diese, im vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung offenbarte Verteilungsschieflage veranlasste die damalige konservativ-liberale Regierung lediglich dazu, prüfen zu wollen, »wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender in Deutschland für das Gemeinwohl eingeworben werden kann«.

Eine wachsende Anhängerschaft aus allen politischen Lagern wolle dagegen den zunehmenden sozialen Verwerfungen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) begegnen. Diese »Sozialpolitik nach Gießkannenprinzip« sei aber kein probates Mittel zur Armutsbekämpfung, da es privaten Reichtum weder antasten noch umverteilen wolle.
Daher sei es – jedenfalls in seinen medial wahrgenommenen und deshalb mit den größten Realisierungschancen verbundenen Modellen – weit eher geeignet, die bestehende »Verteilungsschieflage zu legitimieren und zu zementieren«.

Dem setzt der Autor das Prinzip der »bedarfsgerechten Mindestsicherung im Rahmen der solidarischen Bürgerversicherung« entgegen, bei der es »im Unterschied zum BGE nicht um einen Systemwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung des bestehenden So­zial­systems« gehe. Es gelte die jahrzehntelange Entwicklung einer Umverteilung von unten nach oben umzukehren, um dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft wieder nach Prinzipien der Solidarität reorganisiert werde.
Allerdings seien reale Verbesserungen unabhängig von wechselnden Regierungskoalitionen nur durch starke außerparlamentarische Bewegungen durchsetzbar.

Das Buch legt in kompakter, gut lesbarer Form dar, dass Armut nicht als isoliertes Phänomen in den Blick genommen werden sollte, sondern als größer werdender Schatten des in Privatbesitz konzentrierten Reichtums hierzulande. Dass diese Zusammenhänge in der herrschenden Armutsdebatte weitgehend ausgeblendet oder negiert werden, und statt dessen Armut als persönliches Schicksal oder Versagen individualisiert wird, illustriert die verbreitete geistige Armut neoliberalen Denkens.
Dabei ist es mitnichten eine neue Erkenntnis: Mit Reichtum verhält es sich wie Mist – auf einem großen Haufen stinkt er, fein verteilt leistet er hingegen gute Dienste.

B.Verelendung per Gesetz

https://www.jungewelt.de/2016/12-05/050.php

Die Teilprivatisierung der Rente unter SPD und Grünen hat das Problem der Altersarmut noch verschärft. Eine Lösung boten auch die jüngsten Beratungen der Bundesregierung nicht. Dabei gibt es eine Alternative: eine solidarische Bürgerversicherung für alle

Ältere bilden hierzulande seit geraumer Zeit die Bevölkerungsgruppe, deren Armutsrisiko stärker wächst als das jeder anderen. Vielerorts gehören Seniorinnen und Senioren, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen, wenn nicht gar Essensresten wühlen, beinahe zum »normalen« Stadtbild. Umfragen zeigen regelmäßig, dass ein Großteil der Befragten Angst vor Altersarmut hat.
Im bevorstehenden Bundestagswahlkampf dürfte die Rentenpolitik daher eine noch größere Rolle spielen als in der Vergangenheit, zumal CDU, CSU und SPD trotz monatelanger Beratungen keinen Konsens darüber erzielt haben, wie sie das Problem lösen wollen, von der Einleitung wirksamer Reformmaßnahmen ganz zu schweigen. Umso notwendiger ist es, über erfolgversprechende Gegenstrategien und alternative Handlungsmöglichkeiten nachzudenken.

Versicherungswirtschaft gefördert

CDU, CSU und SPD halten an dem von der rot-grünen Koalition mit der Rentenreform im Jahr 2001 institutionalisierten Drei-Säulen-Modell fest. Schon vor ihren zwei »Rentengipfeln« im November 2016 einigten sich die Regierungsparteien auf einen Ausbau der betrieblichen Alterssicherung als mittlerer Säule neben der gesetzlichen Rente als erster und der privaten Vorsorge (»Riester-Rente«) als dritter Säule. Zuletzt war die Riester-Reform wegen extrem niedriger Renditen vieler der ca. 250 Vorsorgeprodukte in Verruf geraten.

Den inhaltlichen Kern der großkoalitionären Rentenreform bildet das Betriebsrentenstärkungsgesetz, welches auf denselben Prämissen beruht wie das Altersvermögensgesetz und das Altersvermögensergänzungsgesetz, mit denen Walter Riester seinerzeit Parlamentsmehrheiten für eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge organisierte.
Der Gesetzesentwurf wurde von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) am 4. November vorgelegt. Wie beim privaten »Riestern« sollen die lohnabhängig Beschäftigten ab 2018 nicht bloß durch Steuernachlässe, sondern auch durch staatliche Zulagen dazu verleitet werden, Verträge mit Versicherungsunternehmen, Banken oder Finanzdienstleistern abzuschließen, diesmal jedoch über ihren Betrieb.

Damit hat Nahles dem Druck einflussreicher Lobbygruppen nachgegeben: Die deutschen Unternehmer wollen trotz erwarteter Kostensteigerungen vor allem Beitragssatzanhebungen der Rentenversicherung so lange wie möglich vermeiden. Denn niedrigere Beiträge ermöglichen höhere Gewinne. Und die Versicherungsbranche möchte neue Kunden für ihre Altersvorsorgeprodukte gewinnen.
Da sich Union und SPD auf eine Ausweitung der sogenannten Entgeltumwandlung (steuer- und sozialversicherungsfreie Umwandlung eine Teils des Bruttolohns für die betriebliche Altersvorsorge, wobei im Gegenzug die spätere Rentenzahlung aber einkommensteuerpflichtig ist) verständigten, haben beide Interessengruppen ihr Wunschziel erreicht.

Beschäftigte können fortan sieben Prozent statt bisher vier Prozent ihres Bruttoeinkommens steuerbefreit der betrieblichen Altersvorsorge zuführen. Gleichzeitig werden tarifgebundene Unternehmen aus der sogenannten Arbeitgeberhaftung für die betriebliche Altersvorsorge und die Garantiepflicht einer Mindestleistung entlassen.
Selbst wenn das Unternehmen aufgrund eines Tarifvertrages verpflichtet ist, einen »Sicherungsbeitrag« in Höhe von mindestens 15 Prozent des bei Entgeltumwandlung sozialabgabenfreien Lohn- bzw. Gehaltsanteils an die Versorgungseinrichtung zu zahlen, wird er durch die reine Beitragszusage gegenüber der früher üblichen Leistungszusage entlastet.

War die Riester-Rente wegen der Widerstände in den eigenen Reihen am Ende nicht obligatorisch, sondern optional, können Tarifverträge künftig eine betriebliche Altersvorsorge vorschreiben. Beschäftigte, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssen dies in einem »Opting-out-Modell« ausdrücklich erklären.
Durch einen neu geschaffenen und bis zur Hälfte des Regelbedarfs für Alleinstehende (2016: 202 Euro) reichenden Freibetrag in der Grundsicherung sollen mentale Hürden aus dem Weg geräumt werden, die vor allem Geringverdienende bisher davon abhielten, einen Riester-Vertrag abzuschließen oder betriebliche Altersvorsorge zu betreiben. So wird eine kapitalmarktabhängige Altersvorsorge, die bisher wenigstens freiwillig war, für Menschen mit niedrigem Einkommen attraktiver und nahezu verpflichtend gemacht, also ausgerechnet für eine Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige vorher höchst selten Riester-Verträge abschlossen, weil sie mit ihrem kargen Gehalt ohnehin kaum über die Runden kamen. Dies stellt ein weiteres Förderprogramm für Versicherungskonzerne, Banken und Finanzdienstleister dar.

Trotz des durch hohe Abschluss- und Verwaltungskosten, unrealistische Sterbetafeln (die eine zu hohe Lebenserwartung ansetzen), ungünstige Leitzinsentscheidungen der Europäischen Zentralbank und Finanzmarktrisiken zustande gekommenen Riester-Desasters kümmert sich die große Koalition nur um ein anderes Etikett.
Sie eröffnet der Versicherungsbranche ein weiteres lukratives Geschäftsfeld und beschert ihr erneut saftige Profite und Provisionen, ohne dafür zu sorgen, dass die Versicherten im Alter vor Armutsrisiken gefeit sind.

Es sind nicht etwa gute Argumente, sondern mächtige Interessen, die CDU, CSU und SPD veranlassen, auf eine kapitalmarktabhängige Altersvorsorge statt auf das bewährte Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung zu setzen. CDU, CSU und SPD wiederholen den Kardinalfehler der rot-grünen Koalition, diesen Teil des Sozialversicherungssystems zu demontieren und die Altersvorsorge stärker über Kapitalmärkte zu organisieren.
Stand damals die private Altersvorsorge im Mittelpunkt des Verwertungsinteresses der Versicherungswirtschaft, so ist es jetzt die betriebliche. Beide müssen Renditen für Anleger erbringen und sind für die, die solche Verträge unterschreiben, entsprechend risikoreich.

Viel Lärm um wenig

Andrea Nahles erörterte im Rahmen eines auf drei Sitzungen beschränkten »Regierungsdialogs Alterssicherung« unmittelbar vor den Koalitionsgipfeln zur Rente sowohl mit Vertretern der Tarifvertragsparteien wie der Versicherungswirtschaft und Wissenschaftlern mögliche Reformmaßnahmen. Spitzenpolitiker der Unionsparteien übernahmen dabei den Vorschlag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das gesetzliche Renteneintrittsalter an die allgemeine Lebenserwartung zu knüpfen, auf den die SPD jedoch nicht einging.
Ulrich Grillo
, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), hatte bereits im Oktober 2015 verkündet, dass ein Renteneintrittsalter von 85 Jahren angemessen sei, wenn die Menschen eines Tages durchschnittlich 100 Jahre alt würden. – Nur Arbeiten bis zum Tod käme die Rentenkasse noch billiger.

Abgesehen davon, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer und der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen – man denke nur an Dachdecker, Altenpflegerinnen und Straßenarbeiter – deutlich nach unten abweicht, was unberücksichtigt bliebe, wird schon jetzt mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre eine genau 100 Jahre alte Errungenschaft aufgegeben, was ein sozialer und kultureller Rückschritt sondergleichen ist: 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde das unter Bismarck geltende Renteneintrittsalter von 70 Jahren nämlich auf 65 Jahre herabgesetzt.
Und die um ein Vielfaches reichere Gesellschaft der Bundesrepublik soll es sich nicht leisten können, ihre Bürgerinnen und Bürger im selben Lebensalter wie das kriegführende Kaiserreich aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand zu entlassen? Natürlich werden die Rentnerinnen und Rentner heute in der Regel älter und beziehen daher auch über einen längeren Zeitraum eine Altersversorgung. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist jedoch die gegenwärtig und zukünftig erheblich höhere Arbeitsproduktivität und nicht der Rentenbezugszeitraum.

Ein großer rentenpolitischer Wurf gelang der Bundesregierung im Spätherbst 2016 nicht. Vielmehr dokumentieren die Ergebnisse der beiden »Rentengipfel« letztlich ihre Kapitulation vor der Altersarmut. Außer der schrittweisen Verlängerung der Zurechnungszeit von 62 auf 65 Jahre für Erwerbsgeminderte, die übrigens erst im Jahr 2024 vollständig wirken und auch nur für Neurentnerinnen und -rentner gelten soll, ist nichts Substantielles beschlossen worden, um die Not der Menschen zu lindern, die mit ihrer Rente kaum über die Runden kommen.
Um den Schutz bei Erwerbsminderung grundlegend zu verbessern, müssten außerdem die Rentenabschläge gestrichen werden. Schließlich ist es für die Betroffenen keine freie Entscheidung, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.
Für eine krankheitsbedingte Frühverrentung darf in einem Sozialstaat, der diesen Namen verdient, niemand mit der Kürzung seiner ohnehin kargen Rente bestraft werden!

Die von Angela Merkel (CDU) schon bei ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin versprochene, nunmehr in fünf Trippelschritten erfolgende und erst zum 1. Juli 2025 abgeschlossene Angleichung der Rentenwerte in Ost- und Westdeutschland trägt zwar der Vereinigung von BRD und DDR endlich Rechnung. Aber der parallel dazu stattfindende Wegfall der als »Hochwertung« bezeichneten Umrechnung ostdeutscher Löhne benachteiligt gerade jene Beschäftigten im »Beitrittsgebiet«, die bis heute Opfer des dort nach der »Wende« eingeleiteten Lohndumpings sind.

Kein Rezept gegen Altersarmut

Wochenlang erweckte Andrea Nahles im Herbst 2016 den Eindruck, dass sie rechtzeitig ein rentenpolitisches Gesamtkonzept vorstellen würde, auf das sich die große Koalition verständigen könne. Denn genauso wie Merkel wollte die Ministerin das Thema aus dem bevorstehenden Wahlkampf möglichst heraushalten. Es blieb bis zum zweiten Rentengipfel bei vagen Andeutungen, wie es nach dem Jahr 2030 weitergehen soll.
Nahles, deren Ministerium im September 2016 der Öffentlichkeit alarmierende Zahlen über das 2045 auf 41,7 Prozent des Durchschnittseinkommens sinkende Rentenniveau präsentierte, sprach anfangs nur von einer »verlässlichen Haltelinie«, die sie für den genannten Zeitraum beim Nettorentenniveau vor Steuern markieren wolle, um massenhafte Altersarmut zu verhindern. Bald darauf war jedoch bloß noch von einer »doppelten Haltelinie« die Rede, weil sich offenbar die Unternehmerverbände mit ihren Warnungen vor Gefahren für den hiesigen Wirtschaftsstandort aufgrund explodierender »Lohnnebenkosten« (sprich: »Arbeitgeberbeiträgen« zur Rentenversicherung) bei der Arbeits- und Sozialministerin Gehör verschafft hatten.

Erst als der zweite Rentengipfel am 24. November 2016 keinen Durchbruch innerhalb der Koalition gebracht hatte, stellte Nahles der Öffentlichkeit am nächsten Morgen ihr »Gesamtkonzept zur Alterssicherung« vor, das die Blaupause für den sozialdemokratischen Bundestagswahlkampf bilden dürfte. Demnach soll das Sicherungsniveau vor Steuern, welches derzeit 48 Prozent beträgt, zwar weiter sinken, aber bei 46 Prozent stabilisiert werden und der Beitragssatz bis zum Jahr 2045 die Höhe von 25 Prozent nicht überschreiten. Nötig wäre jedoch die Rückkehr zum Rentenniveau der Jahrtausendwende, als es 53 Prozent betrug und den Lebensstandard von jahrzehntelang sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand noch weitgehend garantierte.
Ein höherer Beitragssatz wäre dann kein Problem, wenn die Unternehmer gezwungen würden, sich wieder paritätisch an der Finanzierung der gesetzlichen Rente zu beteiligen, was das Auslaufen der Riester-Förderung unter Bestandsschutz für die laufenden Verträge einschlösse.

Auch die von Nahles vorgeschlagene »gesetzliche Solidarrente«, die einen zehnprozentigen Zuschlag auf die regional unterschiedlich hohe Grundsicherung im Alter vorsieht (wenn 35 Beitragsjahre zu Buche schlagen, wobei Erziehungs- und Pflegezeiten ebenso berücksichtigt werden sollen wie bis zu fünf Jahre Arbeitslosigkeit), wird aufgrund der niedrigen daraus resultierenden Gesamtsumme, die noch unter der EU-Armutsgrenze (60 Prozent des mittleren Einkommens) liegt, nur wenige Bezieherinnen und Bezieher aus der Armut herausführen.

Die rentenpolitische Quadratur des Kreises ist der Bundesarbeitsministerin – wie zu erwarten – nicht gelungen: Sie versucht erfolglos, mittels einer »doppelten Haltelinie« gleichzeitig die Steigerung des Beitragsniveaus und die Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente nach unten zu begrenzen.
Weder ist jedoch die Finanzierung durch einen »Demographiezuschuss des Bundes« gewährleistet, wie ihn Nahles fordert – selbst die Herstellung der sogenannten Renteneinheit über Steuermittel war zwischen CDU, CSU und SPD nicht gleich konsensfähig –, noch dürfte die Propaganda der Unternehmerverbände gegen höhere »Lohnnebenkosten« durch Beitragssatzsteigerungen nachlassen.

Solidarische Bürgerversicherung

Armut im Alter hat zwei Hauptursachen: die Deformation des Sozialstaates im allgemeinen und die der gesetzlichen Rentenversicherung im besonderen sowie die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Als Beispiele seien hierfür genannt: der Einbau sogenannter Dämpfungsfaktoren (»Riester-Treppe«, »Nachhaltigkeitsfaktor« und »Nachholfaktor«) in die Rentenanpassungsformel, die Anhebung der Regelaltersgrenze und die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge.
Dazu kommen die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- und Midijobs sowie die Liberalisierung der Leiharbeit.

Gegenstrategien müssen vor allem an den beiden Kardinalfehlern (Destabilisierung der Rentenversicherung und Deregulierung des Arbeitsmarktes) ansetzen. Die in Zukunft eher wachsende Altersarmut muss mit einer Rückbesinnung auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beantwortet werden.
Dazu gehören die Durchsetzung des früheren bestehenden sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisses (nicht nur für Männer) sowie eine Rückabwicklung der mit den Namen von Walter Riester (SPD) und Bert Rürup verbundenen Rentenreformen.
Zu rehabilitieren ist die Lohnersatzfunktion der gesetzlichen Rente, also das Lebensstandardsicherungsprinzip. Außerdem muss das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 65 Jahren bleiben und die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet werden, für Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher wieder (ausreichend hohe) Beiträge in die Rentenkasse einzuzahlen.

Den durch Deregulierungsmaßnahmen hervorgerufenen Veränderungen am Arbeitsmarkt, die eine Verschlechterung für jene Menschen darstellen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um leben zu können, oder die sie zu (Solo-)Selbständigen gemacht hat, denen es häufig nicht besser geht, sollte vorrangig durch eine Ausdehnung der Versicherungspflicht begegnet werden. Da abhängige und selbständige Arbeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen bzw. zu besonderen Bedingungen abgesichert werden (Beamte, Landwirte, Handwerker, Künstler und andere freie Berufe).

Eine solidarische Bürgerversicherung würde dem Rechnung tragen. »Solidarisch« meint, dass sie zwischen ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellen muss. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung – sind Beiträge zu erheben.
Dabei darf es weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Andererseits muss finanziell aufgefangen werden, wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann.
Nur im Falle fehlender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit der Versicherten hätte also der Staat die Aufgabe, Beiträge bedarfsbezogen zu »subventionieren«, also Mittel dafür aus dem allgemeinen Steueraufkommen zuzuschießen.

In die Bürgerversicherung wären sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner einbezogen. So würde die Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems verbreitert und der Kreis seiner Mitglieder im Sinne der Schaffung eines inklusiven Sozialstaates erweitert.
Eine solche Versicherung« bedeutete schließlich, dass gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau der Versicherung beteiligt.

In die Bürgerversicherung sollte eine armutsfeste und bedarfsdeckende Mindestrente integriert sein, deren Niveau die heutige Grundsicherung deutlich übersteigt. Eine an den Gesetzen des Marktes orientierte Rente sichert ein Alter in Würde gerade nicht. Wenn in Zukunft, wie allenthalben prognostiziert, hierzulande mehr Menschen ein Lebensabend in Armut droht, muss das Solidaritäts- gegenüber dem Äquivalenzprinzip an Bedeutung gewinnen.
Dazu wäre die Auf-, zumindest jedoch eine starke Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze notwendig, ohne dass Spitzenverdienern viel höhere Renten als den übrigen Versicherten gezahlt werden müssten. Eine stark degressive Ausgestaltung der Leistungskurve entspräche eher dem bewährten Modus bei Dienst- und Sachleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Dort erhält der Abteilungsleiter trotz seines höheren Beitrages schließlich auch nicht mehr Grippetabletten, wenn er krank ist, als eine Sekretärin mit demselben Krankheitsbild. Außerdem müssten nicht bloß (Solo-)Selbstständige in die zur Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickelnde Rentenversicherung einbezogen werden, wie Andrea Nahles fordert, sondern auch Beamte, Abgeordnete, Ministerinnen und Minister sowie Kanzlerinnen und Kanzler.

Literatur

– Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012

– Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl. Wiesbaden 2014

– Butterwegge, Christoph: Armut, Köln 2016

Ich vermute, dass die mit den Entscheidungen befassten Funktionäre der SPD wie schon andere für ihren Lobby-Kotau bald fürstlich belohnt werden. Schließlich sind dort noch viele gut dosierte Pöstchen zu vergeben.

Jochen